Editorial
Den acht Beiträgen in der Rubrik Aufsätze liegen zentrale Sujets des Interkulturalitäts-Paradigmas zugrunde: Reisen, Flucht, Exotismus, Orientalismus und Postkolonialismus. Raluca-Andreea Rădulescu zeigt, dass der literarische Ertrag des Aufenthalts von Martin Opitz in dem schon im 17. Jahrhundert imperialen Mächten ausgesetzten Karpatenraum durch eine postkoloniale Lektüre erschlossen werden kann. Einen ähnlichen theoretischen Hintergrund nutzt Stefan Börnchen in seiner luziden Lektüre eines Kapitels des Orientromans Von Bagdad nach Stambul von Karl May zur Re- und Dekonstruktion des Männlichkeitsbildes des Romanerzählers. Den Ambivalenzen des Exotismus in Robert Musils Jahrhundertroman geht Thomas Pekar am Beispiel der Literarisierung der historischen Figur des Soliman nach. Sylwia Werner stellt zentrale Stationen des Zusammenhangs von Italomanie und Italophobie in Reiseberichten im 19. Jahrhundert heraus, wobei die Vereinnahmung des Goethe-Erlebnisses für Prozesse nationaler Identitätsfindung eine wesentliche Rolle spielt. Als eine Art heilsame Ernüchterung kann demgegenüber ein Rekurs auf basale Verständigungsprobleme des Kultur- und Sprachkontakts wirken, wie Anne-Kathrin Gärtig-Bressans sprachwissenschaftliche Analyse von Italianismen in rezenten deutschen Reiseführern demonstriert. Xiaohu Jiang untersucht die Rezeption der Freud’schen Psychoanalyse in einem 1947 erschienenen Roman des chinesischen Autors Qian Zhongshu. In den Bereich der neuesten Gegenwartsliteratur und zu einem anderen Genre führt der Beitrag von Stephan Wolting mit seinen Überlegungen zu den Ausformungen von Fremdheit und Verfremdung in einem Langgedicht der rumänisch-deutschen Autorin Carmen-Francesca Banciu. Corinna Schlicht spürt dem Verhältnis von Krisenerfahrungen und Krisenbehauptungen im literarischen Diskurs über die ›Flüchtlingskrise‹ nach.
In der Rubrik Aus Literatur und Theorie hinterfragt Hamid Tafazoli die reduktionistische Verwendung der Kategorie ›Migrationsliteratur‹ und entwirft mit Blick auf eine transareale Literaturwissenschaft einen erzähltheoretischen Ansatz, der sich stärker auf die ästhetische Modellierung von Migration und die besonderen Erzählverfahren konzentriert. In den Rezensionen wird eine Studie zu Terézia Moras Romantrilogie sowie eine Habilitationsschrift über die Ästhetik des ›Wilden‹ besprochen. Die Rubrik GiG im Gespräch beschließt das vorliegende Heft.
Das kommende Heft hat turnusgemäß ein Schwerpunktthema, das diesmal Berliner Topographien gewidmet ist und von Anne Fleig, Sara Maatz und Matthias Lüthjohann betreut wird.
Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer und Heinz Sieburg
Bayreuth und Esch-sur-Alzette im Juni 2022