Exil und Literatur
Erich Auerbach und die Weltphilologie
AbstractThe German philosophy of history, in particular Hegel’s world history, which proceeds from the East across the Mediterranean to the West and thus finds its realization in the European cultural area, has an impact on philological concepts, among other things. For example, the literary scholar Erich Auerbach established a philology of world literature whose conceptual background was the Hegelian tradition. Auerbach examines the possibility of philology extending beyond the national sphere. Auerbach, who fled from the National Socialists to a Mediterranean country in 1936, to the then newly founded, west-oriented Kemalist Turkey, addresses the loss of old European knowledge traditions that have lost priority over the increasing self-confidence of national literatures. His main work Mimesis: The Representation of Reality in Western Literature, which he wrote between 1942 and 1945 in his Istanbul exile, is based on the historicity of European literature. Auerbach, who taught at Istanbul University from 1936 to 1947, seems to anticipate a trend that turned to interculturally oriented comparative studies in philological and literary studies. The present study was intended to clarify whether this tendency can originally be confirmed in its core question and method.
TitleExile and Literature: Erich Auerbach and World Philology
KeywordsErich Auerbach (1892–1957); exile; Hegelian tradition; Goethe’s world literature; world philology
1. Das Mittelmeer oder die Frage der Heimat
Das Mittelmeer und seine Umgebung sind nicht nur die populärsten Reisedestinationen von heute und gestern, sondern bilden vielmehr einen (inter‑)kulturellen Raum, in dem Mythologie und Literatur, Philosophie und Ideologie, Krieg und (Zu‑)Flucht miteinander verwoben sind. Schon ein Blick auf die Irrfahrten des mythischen Helden Odysseus, auf seine lange Heimreise, reicht aus, um zu erkennen, dass das Mittelmeer als Korridor zwischen drei Kontinenten der Alten Welt dient. Odysseus gelangt an verschiedenste Ufer des Mittelmeers, bis er nach zehn Jahren als Fremder nach Ithaca, seiner Heimatstadt, zurückkehrt. In diesem Sinn ist die Odyssee das früheste europäische Epos, das heute nicht nur eine touristische Route rekonstruiert, sondern schon die Begriffe Heim, Heimat und Heimkehr problematisiert, die uns seit geraumer Zeit verfolgen und wohl auch weiterhin beschäftigen werden.
Klassisch ist hier die Formulierung von Adorno und Horkheimer: »Heimat ist Entronnensein« (Adorno/Horkheimer 2000: 97). Die während des Zweiten Weltkriegs geschriebene Dialektik der Aufklärung definiert den Begriff nicht als territorial begrenzten Raum, wie er häufig verstanden wird, sondern vielmehr als ein mobilitätsbedingtes Motiv. Erst im Entronnensein, d.h. durch erzwungene Mobilität, wird eine Heimat(‑idee) wieder möglich, die am Ende keine ursprüngliche ist. Gewiss ermöglicht dies kein Zurück ins Bekannte, denn aus jenem Bewegungsmotiv entsteht eine neue Heimat, die zuvor nicht zugänglich und nicht erlebbar war. So erlauben die Irrfahrten des Odysseus ihm auch keine Heimkehr im traditionellen Sinn: Der durch seine Narbe gekennzeichnete Held ist nun sich selbst und seiner Heimat so fremd geworden, dass er zu einem Unbehausten, einem »heimkehrenden Heimatlosen« (Ette 2013: 315) wird.
Adorno und Horkheimer betonen, dass sich in der Odyssee »die Erinnerung an Geschichte niederschlägt, welche Seßhaftigkeit, die Voraussetzung aller Heimat, aufs nomadische Zeitalter folgen ließ.« (Adorno/Horkheimer 2000: 97) Auch wenn die mittelländischen Küsten nicht von Dämonen und Naturgottheiten bewohnt sind, wie es in der homerischen Sage heißt, gestaltet das Mittelmeer naturgemäß einen Berührungspunkt zwischen Europa, Asien und Afrika. Jedoch ist das Mittelmeer mehr als ein Berührungspunkt: Mal trennt das Meer, mal verbindet es; jedenfalls reguliert das mare nostrum, wie es die Römer nannten, die Begegnung der Kulturen seit mehr als zweitausend Jahren – sei es hinsichtlich einer friedlichen Koexistenz, sei es hinsichtlich einer krisenhaften Entwicklung der jeweiligen Weltpolitik.
Ein Resultat dieser Begegnungen ist gewiss das Pathos des Exils. Erich Auerbach, der 1936 vor den Nationalsozialisten in ein Mittelmeerland flüchtete, in die damals neugegründete, westlich orientierte, kemalistische Türkei, lehrte ein Jahrzehnt lang an der Romanistikabteilung der Istanbul Universität. Im Folgenden möchte ich mich auf diesen historischen Moment konzentrieren, in dem ein einzigartiger Zufluchtsort entsteht. In diesem Zusammenhang zielt die vorliegende Studie darauf ab, die geistigen Quellen eines deutschen Wissenschaftsexils nach 1933 in den Blick zu nehmen, das unter dem Schlagwort ›Auerbach in Istanbul‹ zusammengefasst wird. Ferner soll hier gezeigt werden, wie sich in seinem im Istanbuler Exil verfassten Hauptwerk Mimesis (1942–1945) und später die von ihm konzipierte Idee der Weltphilologie (1952) auf der Grundlage der hegelianischen Geschichtsphilosophie erhebt.
2. Mittelmeer als Herz der Welt und Wissenschaften
Das Mittelmeer, das von homerischer Zeit bis in die gegenwärtige geopolitische Realität nicht selten als Konfliktraum erfahren wurde und wird, zeichnet sich bei Hegel durch seine vereinende Rolle aus. Hegels Geschichtsmodell, das heute als eurozentrisch gilt, beruht zwar auf einer ähnlichen imaginär-geographischen Lokalisierung wie die Odyssee, schreibt aber dem Mittelmeer eine andere Rolle zu: Seine Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1837) weisen immer wieder auf das Mittelmeer hin und legen den Akzent auf die zentrale Rolle des mittelländisch-maritimen Raums als dem Vereinigenden in der Weltgeschichte:
Für die drei Weltteile ist also das Mittelmeer das Vereinigende und der Mittelpunkt der Weltgeschichte. Griechenland liegt hier, der Lichtpunkt in der Geschichte. Dann in Syrien ist Jerusalem der Mittelpunkt des Judentums und des Christentums, südöstlich davon liegt Mekka und Medina, der Ursitz des muselmännischen Glaubens, gegen Westen liegt Delphi, Athen, und westlicher noch Rom; dann liegen noch am Mittelländischen Meere Alexandria und Karthago. Das Mittelmeer ist so das Herz der Alten Welt, denn es ist das Bedingende und Belebende derselben. Ohne dasselbe ließe sich die Weltgeschichte nicht vorstellen. (Hegel 1989: 115)
Konkret bezieht sich Hegels Betrachtungsweise auf die damals geltende geographische Konzeption, zu der er sich in seiner Vorlesung Geographische Grundlage der Weltgeschichte kritisch äußert – nämlich dazu,
daß die Staaten notwendig durch Naturelemente getrennt sein müßten, dagegen […] ist wesentlich zu sagen, daß nichts so sehr vereinigt wie das Wasser […]. Nur dadurch, daß es Meer ist, hat das Mittelländische Meer Mittelpunkt zu sein vermocht. […] Das Meer gibt uns die Vorstellung des Unbestimmten, Unbeschränkten und Unendlichen, und indem der Mensch sich in diesem Unendlichen fühlt, so ermutigt dies ihn zum Hinaus über das Beschränkte. (Ebd.: 118)
Hegel widerspricht dem allgemein akzeptierten Verständnis der zeitgenössischen Geophilosophie, die den kontinentalen Raum in den Fokus zu stellen pflegt. Im Gegensatz zu diesem Fokus auf den kontinentalen Raum erkennt Hegel den Strömen und Meeren eine Schlüsselposition zu. Hegel orientiert sich am maritimen Raum – nämlich am Mittelmeerraum, den er als Europas Jugend bezeichnet. Dadurch beschränkt sich die hegelianische Weltgeschichte des Altertums »auf die um das Mittelländische Meer herumliegenden Länder.« (Ebd.: 115) In seinen Vorlesungen erklärt Hegel hierzu, dass das ferne Ostasien nicht mehr an der Weltgeschichte teilnimmt. Und selbst Nordeuropa träte erst später in die Weltgeschichte und spiele deshalb im Altertum keine Rolle. Die Weltgeschichte, die vom Osten über das Mittelmeer in den Westen geht, findet bei Hegel ihre absolute Verwirklichung und Vollendung in Europa, »denn Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte, Asien der Anfang.« (Ebd.: 134)
Hegels oben zitierte Worte sind nicht nur ein relevanter Referenzpunkt für die deutsche Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts, sondern sie haben später auch Auswirkungen unter anderem auf philologische Konzeptionen. So etablierte der Literaturwissenschaftler Erich Auerbach eine Philologie der Weltliteratur, deren gedanklichen Hintergrund die hegelianische Tradition bildete. Auerbach, der als ein Exilant des nationalsozialistischen Deutschlands schon 1933 aus der deutschen Universität vertrieben wurde, trat als Professor für Romanistik und Leiter der Fremdsprachenschule die Nachfolge des Romanisten Leo Spitzer an der Istanbul Universität an. Sein Hauptwerk Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (Auerbach 2015), das er zwischen 1942 und 1945 in seinem Istanbuler Exil verfasste, fußt auf der Geschichtlichkeit europäischer Literatur, die ihren Ursprung in der hegelianischen Tradition nimmt. »Mimesis versucht Europa zu verstehen«, schreibt Auerbach später in der Epilegomena (1954) zu seinem Werk und fährt fort, indem er seine Vorbilder nennt:
[A]ber es ist nicht nur wegen der Sprache ein deutsches Buch. Wer die Struktur der Geisteswissenschaften in den verschiedenen Ländern ein wenig kennt, sieht das sofort. Es ist aus den verschiedenen Motiven und Methoden der deutschen Geistesgeschichte entstanden; es wäre in keiner anderen Tradition denkbar als in der der deutschen Romantik und Hegels; es wäre nie geschrieben worden ohne die Einwirkungen, die ich in meiner Jugend in Deutschland erfahren habe. (Auerbach 2007: 477)
Mimesis, ein Exil-Buch par excellence, behandelt in insgesamt zwanzig Kapiteln ein breites Spektrum von Themen und Werken europäischer Literatur. Das Buch beginnt mit einer einleitenden Abhandlung zum homerischen Epos Odyssee und zur biblischen Geschichte, an die sich die folgenden Studien vor allem zur romanischen, aber auch zur europäischen Literatur anschließen. Vom Rolandslied über Die Göttliche Komödie und das Decamerone bis hin zu den Werken von Rabelais, Shakespeare, Cervantes, Goethe, Stendhal, Joyce, Proust und Woolf stellt Auerbach in Mimesis einen literarischen Kanon zusammen, an dem er die geschichtlichen Momente der dargestellten Wirklichkeit in der europäischen Literatur demonstriert. Durch eine genaue Lektüre der aus dem jeweiligen Werk ausgewählten Ausschnitte entwickelt Auerbach eine Interpretation, die die stilistische Analyse mit dem Gesamtbild des sozialen und geistigen Kontextes verbindet. Mimesis ist in diesem Sinn mehr als eine Sammlung der explication de texte; es ist ein Werk für die Aufrechterhaltung der europäischen Kultur, die unter der Herrschaft des Nationalsozialismus zum Untergang verurteilt ist (vgl. Green 1982; Damrosh 1995). Auf dieser Grundlage geht Auerbach der Kernfrage nach, ob und wie Philologie imstande ist, sich auf einen Fluchtpunkt jenseits des Nationalen zu richten. Auerbach setzt sich mit dieser Frage auseinander und thematisiert den Verlust alteuropäischer Wissenstraditionen, die gegenüber dem zunehmenden Selbstbewusstsein der Nationalliteraturen den Vorrang verloren haben.
3. Mittelmeer und mehr
Philologie der Weltliteratur
Auerbach, der zwischen 1936 und 1947 an der Romanistikabteilung der Istanbul Universität lehrte, bevor er in die USA emigrierte, scheint eine Tendenz vorwegzunehmen, der sich in der philologischen bzw. literaturwissenschaftlichen Entwicklung die interkulturell ausgerichtete Komparatistik zuwendet. Wie Mimesis gleich verrät, betont der der Komparatistik zugrunde liegende Begriff der abendländischen Literatur eine hegelianische Vorstellung von Geschichte. Und genau das hegelianische Geschichtsverständnis ist es, das Auerbach mit dem goetheschen Ideal der Weltliteratur verknüpft. In einem seiner letzten Essays, der den Titel Philologie der Weltliteratur (1952) trägt, befasst er sich mit eben dieser Kombination und schreibt geradezu programmatisch:
Jedenfalls aber ist unsere philologische Heimat die Erde; die Nation kann es nicht mehr sein. Gewiß ist noch immer das Kostbarste und Unentbehrlichste, was der Philologe ererbt, Sprache und Bildung seiner Nation; doch erst in der Trennung, in der Überwindung wird es wirksam. Wir müssen, unter veränderten Umständen, zurückkehren zu dem, was die vornationale mittelalterliche Bildung schon besaß: zu der Erkenntnis, daß der Geist nicht national ist. (Auerbach 1967: 310)
Der in diesen Worten hegelianisch anmutende Geist ist nicht nur die geschichtsphilosophische Voraussetzung für die Rückkehr zu einer mittelalterlichen, pränationalen Erkenntnis, die Auerbach in Mimesis verfolgt, sondern auch die Begrifflichkeit der goetheschen Weltliteratur. Laut Fritz Strich deutet der Begriff Weltliteratur, den Goethe zum ersten Mal 1827 im Gespräch mit Eckermann verwendete, keinesfalls auf eine »internationale, charakterlose, kosmopolitische Literatur« hin, sondern verweist auf eine Literatur, in der Nationen »einander gewahr werden, sich begreifen, und wenn sie sich wechselseitig nicht lieben mögen, sich einander wenigstens dulden lernen.« (Strich 1928: 59) Eine vielmehr utopische Interpretation des Begriffs bieten die beiden Literaturwissenschaftler René Wellek und Austin Warren an – und zwar folgendermaßen: »›World literature‹ was used by him [Goethe; Ş.S.] to indicate a time when all literatures would become one. It is the ideal of the unification of all literatures into one great synthesis, where each nation would play its part in a universal concert.« (Wellek/Warren 1956: 48)
Dieses utopische Ziel führte Goethe zu dem universalistischen Anspruch, dass die Weltliteratur an die Stelle der Nationalliteratur treten werde: »Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit.« (Goethe 1908: 329) Was die Nationalliteratur betrifft, bewegt sich Auerbach stets im Konkreten, richtete sich von Beginn an gegen die Idee der Nationalliteratur und wendet sich dennoch gegen den goetheschen Begriff der Weltliteratur, der eng mit Philhellenismus assoziiert sei. Dementsprechend stellt er die Frage, »welchen Sinn das Wort Weltliteratur, in goethescher Weise auf das Gegenwärtige und das von der Zukunft zu Erwartende bezogen, noch haben kann.« (Auerbach 1967: 301; Hervorh. Ş.S.) Auch wenn Auerbach mit dem Rückgriff auf Goethes Weltliteratur vorrangig die Perspektive der Philologie vom Nationalen ins Universale zu erweitern intendiert, löst er den Begriff aus dem goetheschen Kontext heraus und versucht ihm einen historischen Hintergrund zu verleihen. Die Akzentverschiebung, die wir bei Auerbach finden, kann in eine abendländische Traditionslinie eingeordnet werden, »welche für Auerbach notwendig jenseits von Nationalismus, aber auch jenseits von Rassismus und Antisemitismus anzusiedeln war.« (Ette 2017: 33)
Auerbachs philologische Studien zur europäischen Literatur fußen auf den Krisen-, Verlust- und Exilerfahrungen, die der Zweite Weltkrieg ausgelöst hat. Vor diesem Hintergrund schlägt sein Essay Philologie der Weltliteratur aus dem Jahr 1952 einen pessimistischen Ton an und zeigt die Konsequenzen dieses Ideals auf: »[D]ie sich vollziehende Standardisierung der Erdkultur« (Auerbach 1967: 304) erweist sich als unabwendbar, und nach seiner Exilerfahrung glaubt Auerbach, dass das goethesche Ideal der Weltliteratur nicht mehr gelten könne. Denn im Exil hat jede philologische Tätigkeit ihren festen Boden verloren und ist »die Philologie von Erich Auerbach […] zu einer Literaturwissenschaft ohne eine territoriale Verankerung geworden.« (Ette 2020: 30) Allerdings droht im Schatten des Nationalsozialismus jedem Ideal solcher Art eine Homogenisierung, die auch Goethes Weltliteraturkonzept infrage stellt und die Diversität der einzelnen Literaturen gefährdet. Schon 1956, nach den Erfahrungen und Konsequenzen des Zweiten Weltkriegs, zeigen Wellek und Warren genau diese Gefährdung auf:
Goethe himself saw that this is a very distant ideal, that no single nation is willing to give up its individuality. Today we are possibly even further removed from such a state of amalgamation, and we would argue that we cannot even seriously wish that the diversities of national literatures should be obliterated. (Wellek/Warren 1956: 48f.)
Auerbach, der »die heimatlos gewordene Philologie« (Hofmann 2008: 99) neu zu konstruieren versucht, geht davon aus, dass der weltgeschichtliche Prozess nur unter der Dominanz der europäischen Perspektiven zu denken ist. Laut Auerbach ist das führende Ziel der Philologie nicht das Auffinden oder Erforschen des textlichen Materials, sondern »seine Durchdringung und seine Verwertung für eine innere Geschichte der Menschheit, für den Erwerb einer in ihrer Vielfalt einheitlichen Vorstellung vom Menschen.« (Auerbach 1967: 304) Dieses von Hegel und Goethe geprägte Konzept der Weltliteratur bringt den »mannigfaltigen Hintergrund eines gemeinsamen Geschicks« (ebd.) der Menschheit zum Vorschein und damit auch »an act to civilisational survival« (Said 1993: 47). Indem Auerbach Diversität und Einheit derart miteinander in Verbindung setzt, konzipiert er die Idee seiner Weltphilologie.
Dass diese Ausführung von Auerbach nicht nur nach Hegel und Goethe, sondern auch eurozentrisch klingt, ist hier nicht zu übersehen. Tatsächlich ist Auerbachs Position genauso europaorientiert wie die von Hegel und Goethe. Jedenfalls behauptet dies Edward W. Said in Culture and Imperialism, wenn er sagt: »To speak of comparative literature […] was the speak of the interaction of the world literatures with one another, but the field was epistemologically organized as a sort of hierarchy, with Europe and its Latin Christian literatures as its center at top.« (Ebd.: 45)
Was hinter diesen Worten steckt, ist im Prinzip Universalismus. Said, einer der wichtigsten Kritiker des Kolonialismus, betont hierzu, dass die Idee einer solchen Komparatistik nicht nur das philologische Verständnis des Universalismus verrät, sondern auch eine nahezu krisenfreie, ideale Welt symbolisiert. Im Mittelpunkt dieses philologischen Weltkonzepts steht Europa, und der Blick ruht auf den europäischen Literaturen und ihrer Verbundenheit. Die grundlegende geographische und politische Realität in Auerbachs Studien weist jedoch auf Europa hin. Dieses Verständnis ist im Grunde hegelianisch. Anlehnend an Hegels Weltgeschichte und Goethes Weltliteraturkonzept bietet Erich Auerbach eine paradoxe Versöhnung von Welt und Nation an. Man kann allerdings nicht ausschließen, dass sein Werk aus dem Aspekt territorialer Verortung, d.h. transterritorialer Krise und anschließender Exilerfahrung, entstanden ist. Auerbach, selber heimatlos wie die heimatlose Philologie, kehrte aus Istanbul nicht nach Deutschland zurück, sondern (re‑)migrierte – Leo Spitzer folgend – aus dem Mittelmeerraum weiter in die Vereinigten Staaten, wo er bis zu seinem frühen Tod 1957 an der Yale University lehrte. Der romanistische Migrant hat sich im Gegensatz zu Odysseus keine Heimkehr gegönnt.
Literatur
Adorno, Theodor W./Max Horkheimer (122000): Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M.
Auerbach, Erich (1967): Philologie der Weltliteratur. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. Hg. v. Gustav Konrad. Bern/München, S. 301–310.
Ders. (2007): Epilegomena zu Mimesis. In: Karlheinz Bark/Martin Treml (Hg.): Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen. Berlin, S. 466–479.
Ders. (112015): Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern.
Damrosh, David (1995): Auerbach in Exile. In: Comparative Literature 47, H. 2, S. 97–117.
Ette, Ottmar (2013): Migration und Konvivenz. In: Doerte Bischoff/Susanne Komfort-Hein (Hg.): Literatur und Exil – Neue Perspektiven. Berlin/Boston, S. 297–320.
Ders. (2017): WeltFraktale: Wege durch die Literaturen der Welt. Stuttgart.
Ders. (2020): ReiseSchreiben. Berlin/Boston.
Green, Geoffrey (1982): Literary Criticism and the Structure of History: Erich Auerbach and Leo Spitzer. Lincoln.
Goethe, Johann Wolfgang von (1908): Goethes Gespräche mit J.P. Eckermann. Neu hg. u. eingel. v. Franz Deibel. Bd. 1. Leipzig.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (21989): Werke in 20 Bde. Hg. v. Eva Moldenhauer. Bd. 12: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Frankfurt a.M.
Hofmann, Franck (2008): Spannung als »philologische Heimat« des Menschen? Zum Verhältnis von Erfahrung und Weltliteratur bei Erich Auerbach. In: Jean-Marie Valentin (Hg.): Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005 »Germanistik im Konflikt der Kulturen«. Bd. 5: Kulturwissenschaft vs. Philologie? Bern, S. 99–104.
Said, Edward W. (1993): Culture and Imperialism. New York.
Strich, Fritz (1928): Goethes Idee einer Weltliteratur. In: Ders.: Dichtung und Zivilisation. München, S. 58–77.
Wellek, René/Warren, Austin (1956): Theory of Literature. New York.