Christoph Parry: Schreiben jenseits der Nation. Europäische Identitätsgestaltung in der deutschsprachigen Literatur seit 1918
Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2021 – ISBN 978-3-11-070627-7 – 99,95 €
https://doi.org/10.14361/zig-2023-140215
Freimütig räumt der Verf. gleich zu Beginn seines Buches ein, dass ihm bereits als »Kind einer Mischehe im frühen Nachkriegseuropa« alles »Nationale« »suspekt« gewesen sei (VII). Die Ergründung dieses Unbehagens ist mitverantwortlich dafür, weshalb sich im Laufe seiner späteren Karriere als mehrsprachiger Auslandsgermanist in Finnland die scheinbar banale Frage, was denn »deutsch« an der deutschen Literatur sei, als »ein vielfältiges Arbeitsgebiet« erwies (VII). Als Summe eines Forscherlebens gibt das Buch Auskunft sowohl über die Suche nach einer Antwort als auch über die gefundene Antwort.
Aufgeteilt ist der Band in 9 Kapitel, von denen das erste unter dem Titel »Nationalliteratur und andere Missverständnisse« gerafft die Geschichte zentraler Begriffe wie Heimat, Gemeinschaft, Gesellschaft, Identität, Nation, Nationalstaat und Nationalliteratur erläutert, mit denen wir uns heute die Welt erklären. Es wird aufgezeigt, dass sich seit Aufklärung und Säkularisierung die (literarische) Öffentlichkeit als der Grundmechanismus moderner Gesellschaften durchsetzt, der zwischen personaler oder Ich-Identität und kollektiver oder Wir-Identität vermittelt. Daraus folgt erstens, dass sowohl das Ich als auch das Wir auf die Anerkennung durch andere angewiesen sind, um die jeweils eigene Identität zu stabilisieren und zu bearbeiten. Zweitens folgt daraus, dass sich Identitäten einerseits auf eigene Erfahrungen und damit auf Reales beziehen, andererseits aber auch durch Hörensagen und Lesen auf Vorgestelltes, auf Imaginäres. Und drittens ergibt sich, dass Identitätsarbeit auf kommunikativem Austausch gründet, weshalb sich gerade die Literaturwissenschaft für jene Formen des Erzählens interessiert, in denen die dialektische Identitätsarbeit zwischen Individuum und Gesellschaft verhandelt wird. Was nun die Herausbildung von nationalen, also kollektiven Identitäten und von Nationalsprachen angeht, so zeigt sich, dass diese Gebilde historisch auf sehr unterschiedlichen Wegen ausgeformt werden. Anders als etwa Frankreich oder das Vereinigte Königreich gehört(e) Deutschland zu den Ländern,
deren nationales Selbstverständnis seit den Anfängen des modernen Nationalismus aufs Engste mit der Sprache verbunden ist. Grundlage der Idee der Sprachgemeinschaft als Grundstein einer Nation ist die von Herder propagierte und von der Romantik emphatisch betonte Vorstellung von einem Volksgeist, der sich in der Dichtung und in den Sagen eines Volkes äußert. Solchen Vorstellungen gemäß, wurde schließlich im Verlauf des 19. Jahrhunderts die volkssprachliche Dichtung in ihren erhabensten Werken zum gleichwertigen Bildungsgut neben dem klassischen Kanon der Antike gehoben. Der übertriebene Anspruch ist Ausdruck des nationalen Enthusiasmus einer politisch impotenten intellektuellen Bewegung, die außer der Sprache nichts spezifisch Nationales vorzuweisen hatte. (23)
Im 18. und 19. Jahrhundert war Deutsch jedoch als Verkehrs- und Bildungssprache »besonders in Nord- und Mittel- und Osteuropa weit verbreitet« (23) und daher »in Wirklichkeit viel mehr als nur das Bindemittel eines einzigen Volkes« (24). Und genau diesen Sachverhalt nicht erkannt zu haben, »ist der Kern dessen«, was der Verf. als »nationalromantisches Missverständnis« bezeichnet, das »in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem tragischen Verlauf der europäischen Geschichte« im 20. Jahrhundert steht (24).
Auf Grundlage des skizzierten historisch-theoretischen Referenzrahmens will die literatursoziologische Studie den Nachweis erbringen, dass ein »beachtliche[r] Teil der ›deutschen Literatur‹ der letzten anderthalb Jahrhunderte ein sehr ambivalentes Verhältnis zur deutschen Nation« (26) mit ihren ethnisch-kulturellen Homogenitätsvorstellungen pflegte und deutschnationalen Identitätsvorgaben grenzüberschreitende Identitätsentwürfe mit anderen Ich- und Wir-Vorstellungen entgegenhielt. Daher wurden für die Analyse über 100 Texte ausgewählt, die von 45 mehrsprachigen Autorinnen und Autoren mit multikulturellen Lebensläufen in deutscher Sprache verfasst wurden und sich somit von vornherein nicht in ein nationales Korsett zwängen lassen. − Die folgende Besprechung konzentriert sich auf die Argumentation und erwähnt nur einige der im Buch ausführlich analysierten literarischen Texte. Vorweggenommen werden kann, dass das literaturkritische Echo auf die behandelten entnationalisierenden Werke lange Zeit meist zwiespältig, oft zurückhaltend oder sogar ablehnend ausfiel, was sich erst in der jüngsten Vergangenheit in Richtung von gesteigerter Weltoffenheit ändert.
Unter dem Titel »Die Welt von gestern und ihr gewaltsames Ende« rekonstruiert Kapitel II die zentralen Elemente des aristokratisch-großbürgerlichen Kosmopolitismus (wie bspw. Mehrsprachigkeit, häufige Wohnortwechsel, europäische Bildung, übernationales Denken und Tun) am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert sowie die paneuropäischen Ideen, die im Vorfeld und Schatten des Ersten Weltkrieges in literarischen Kreisen kursierten. An Thomas Manns Zauberberg werden die damals miteinander wetteifernden Weltbilder der gebildeten Elite profiliert, im Kontrast hierzu an Ödon von Horváths Ewigem Spießer die prinzipiell mögliche Emanzipation der kleinen Leute vom unmerklichen Zwang zur Identifikation mit der Nation. Ganz anders weist Stefan Zweigs Welt von Gestern bereits nach, dass Ideen eines kosmopolitischen Europäertums bereits Vergangenheit waren, bevor sie überhaupt zur Kenntnis genommen wurden. Leben und Werk Joseph Roths verdeutlichen, wie durch »Heimatverlust« infolge des Zusammenbruchs der Donaumonarchie »die Erfahrung von Diaspora, Wanderschaft und Exil in allen Variationen« (51) zur Bejahung kultureller Vielfalt und zur Ablehnung jeder Form von Nationalismus führte, auch des zionistischen. Schließlich wird am Beispiel Jean Amérys (Hanns Mayer) der »Extremfall von nationalem Identitätsverlust« (52) untersucht, der nicht nur in der gewaltsamen Ausgrenzung jüdischer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger bestand, sondern besonders schmerzhaft eben darin, dass ihnen, »die sich sehr bewusst mit den Bildungswerten deutscher Kultur identifiziert und sich gerade deshalb als Deutsche empfunden hatten« (53), jeder Anspruch auf das angeeignete deutsche Kulturerbe verwehrt wurde. Im Nachkriegseuropa blieb dem KZ-Überlebenden Améry jegliches Heimatgefühl verwehrt, stets fühlte er sich als »zwischen den Nationen baumelnde[r] Emigran[t]« (59).
Die »Exilgeschichten« im dritten Kapitel rücken die unterschiedlichen Ansichten der »zwangsläufig pluralistische[n] Gemeinschaft« der Flüchtlinge über die Gestaltung eines »anderen« Deutschland nach dem Ende des Krieges ins Licht (62). Zunächst zeigt sich, wie sich infolge der Flucht aus Europa »die alte Dichotomie von (deutscher) Heimat und Fremde« »in das Gegensatzpaar Europa und Amerika« verwandelt (67). Abermals am Beispiel von Thomas Mann, aber auch am Beispiel Theodor Adornos, wird dargelegt, wie die Erfahrung des Exils das Überlegenheitsgefühl der deutschen »Kultur« gegenüber der amerikanischen kommerziellen »Zivilisation« zugleich aktiviert und erschüttert. Textnah wird nachgewiesen, welche intellektuellen Herausforderungen die Überwindung des Gedankens von »der Unverträglichkeit von Demokratie und deutscher Kultur« hervorrief (69) und über welche Identitätsbrüche aus dem »Deutschen« schließlich der »Europäer« Thomas Mann wurde. Auch in Hilde Spiels Roman The Darkened Room/Lisas Zimmer, in dem der Kontrast Europa-Amerika unter europäischen Emigranten in den USA »als Katalysator unterschiedlicher Identitätskonstruktionen« wirkt (74), spielt der kulturelle Überlegenheitsanspruch der Alten Welt eine entscheidende, jedoch selbstwidersprüchliche Rolle, da die Emigranten einerseits die Vorzüge des sicheren Exils genießen, andererseits jedoch ihr Gastland und seine Bewohner verachten. Obwohl sich die fiktiven Personen der damals auch in der realen Welt greifbaren Selbst- und Fremdbilder bedienen, besteht ein Kunstgriff Spiels darin, diese stereotypen Dichotomien zu unterlaufen und subversiv anzudeuten, dass bspw. die amerikanische Demokratie selbst Gefahr läuft, von dem aufkommenden McCarthyismus faschistisch vergiftet zu werden.
Kapitel IV, »Wege aus der Isolation«, beschäftigt die Frage, wie die Konstruktion von persönlichen und kollektiven Identitäten im Nachkriegsdeutschland verlief. Anders als in der DDR, in der der Literaturbetrieb nahtlos an die Arbeiterbewegung und das Projekt des Sozialismus anknüpfen konnte, verbot sich in der BRD ein Rückgriff etwa auf das prekäre Erbe der Weimarer Republik. Da die ›Nation‹ durch den Zweiten Weltkrieg als Identitätskonzept ausgedient hatte, blieben als Alternativen nur die Konstruktion entweder einer regionalen oder einer europäischen Identität. Beide Konzepte wurden von den Alliierten durch den Aufbau föderalistischer Strukturen bei gleichzeitiger Grundlegung einer europäischen Integration nachhaltig begünstigt. An Leben und Werk von Alfred Andersch (z.B. Kirschen der Freiheit, Sansibar oder der letzte Grund, Efraim u.a.m.) wird aufgezeigt, wie ambivalent sich das Bemühen um Vergangenheitsbewältigung, um das Eingeständnis kollektiven Versagens und eigener Schuld sowie die Arbeit an demokratischer Weltoffenheit in der Literatur niederschlug und auf welches ambivalente Echo sie in der Öffentlichkeit stießen. Sich der Sprache des Dritten Reichs zu entledigen, »Desertion« als Heldentat zu ehren oder die Niederlage Nazi-Deutschlands als »Befreiung« zu feiern, stieß die Mehrheit vor den Kopf, denn solche Aussagen unterwanderten »die Unschuldsbekundungen der Mehrheit der zum Kriegsdienst verpflichteten Männer, indem [sie] das Rechtfertigungsargument, nur ihre Pflicht getan zu haben, zunichtemachte[n]« (109). In diesem Kontext werden Heinrich Bölls Reisebeschreibungen als Kunstwerke gewürdigt, die bei Lesenden ein europäisches Zusammengehörigkeitsgefühl auslösen, da sie regionale mit europäischen Identitäten verschmelzen. Die »unterschwellige Präsenz irischer Literatur« bspw. im Irischen Tagebuch verleiht dem Text »einen transnationalen Charakter und wirkt der viele Reiseberichte oft belastenden auktorialen Kolonisierungstendenz entgegen« (128).
An den Beispielen von Paul Celan und Czernowitz sowie Günter Grass und Danzig zeichnet Kapitel V nach, wie im Nachkriegsdeutschland von der »Peripherie« aus der Anschluss an die moderne Poesie und Dichtung in den internationalen »Metropolen« gelang (129). Celans hermetische Gedichte bspw. im Band Niemandsrose, die »im Spannungsfeld zwischen der Weltsprache der modernen Poesie und der Unsagbarkeit der Erfahrung von Weltkrieg und Shoah« (132) stehen, belegen, dass das »jüdisch geprägte Czernowitz seiner Kindheit unwiederbringlich verloren sein« mag, dass jedoch »Sprache und Dichtung« dem Lyriker »eine sehr reale Identitätsgrundlage« bieten (141). Im Unterschied etwa zu Bölls sanftem Moralismus in Billiard um halbzehn wurde Grass’ teils obszöne und blasphemische Blechtrommel durch »die Betonung des Pikaresken« »quasi entnationalisiert und in den Kontext einer großen europäischen Tradition« gestellt (147f.). Während »die Wahl der zeitlosen und weltliterarisch bewährten Gattung des Schelmenromans« Grass und der Blechtrommel Welterfolg bescherten, »hielt sich Celan noch als bereits renommierter Lyriker bis an sein Lebensende am Rande« von Literaturbetrieb und Öffentlichkeit auf (149).
Getragen von der Einsicht, dass das »Europa der Nationen zwangsläufig auch ein Europa der En- und Exklaven« ist (151), spürt Kapitel VI, »Exklaven und Relikte«, am Beispiel der Sprachinseln Banat und Südtirol die sozialen, religiösen sowie sprachlichen Unterschiede auf, die literarisch zwischen Enklaven und ihrem Umland geltend gemacht werden. An Herta Müllers früher »Antiheimatliteratur« (z.B. Niederungen, Der Teufel sitzt im Spiegel) wird einerseits nachgewiesen, dass der äußere Druck des Umlands im Innern der Enklave zu Gegendruck und Konformitätszwang führt und im Fall der rumänischen Diktatur zu einer doppelten Überwachung der Enklavenmitglieder von außen und von innen. Andererseits wird darauf aufmerksam gemacht, dass sich Müller, umgeben von der rumänischen Sprache, in »ihrer oft lyrischen Sprache einer Bilderwelt [bedient], die in der deutschen Sprache sonst eher selten ist«, und »aus der Not der diasporischen Lage die Tugend einer multikulturellen Bereicherung [macht]«, welche »die Geschlossenheit und den Stillstand der Enklave« durchbricht (162). Vergleichbare Prozesse werden in Joseph Zoderers Roman Die Walsche dargestellt, dessen Protagonistin Olga ihr deutschsprachiges Bergdorf verlassen hat, mit ihrem italienischsprachigen Freund in der zweisprachigen Stadt Bozen/Bolzano ein Café betreibt und anlässlich der Beerdigung ihres Vaters von den Einheimischen als Abtrünnige angefeindet wird. Der Vergleich Banat und Südtirol/Alto Adige erweist, dass Autorinnen und Autoren wie Herta Müller und Joseph Zoderer dazu beitragen, »ihre jeweilige Heimat bekannt zu machen und den Minderheiten Anerkennung zu verschaffen, aber sie warnen auch vor den Gefahren von Isolation und introvertierter Pseudoidentität« (170).
Das folgende Kapitel VII beschäftigt sich ausführlich mit den literarischen Identitätsentwürfen der beiden »Ausgewanderten« W.G. Sebald und Peter Handke, die ihre jeweilige Heimat nicht gezielt als »Auswanderer« verließen, sondern die durch den Ausbruch aus der provinziellen Enge ihrer Elternhäuser und Heimatdörfer eher ungeplant im Ausland ansässig wurden, der eine in England, der andere in Frankreich. Beide Autoren gehören zur ersten Nachkriegsgeneration und streben nach Überwindung der selbst erfahrenen »Erziehung zur Unmündigkeit« mit Autoritarismus, Rassismus, Nationalismus und Sexismus (174). In Sebalds Texten wie Unheimliche Heimat, Luftkrieg und Literatur, Die Ausgewanderten und Austerlitz werden die poetischen Verfahren aufgespürt, mit denen er die »Archäolo[gie] seiner eigenen Identität« (185) betreibt und immer wieder »den inhärenten Zusammenhang von Topographie und Geschichte« fokussiert (187). Wohin es Sebald auch verschlägt, stets erkennt er in der zerstörten postindustriellen Landschaft »das menschliche Leiden, das immer wieder als Preis für den Fortschritt zu zahlen ist«, und weiter, dass »Krieg und Shoah in einem Zusammenhang mit der hemmungslosen Ausbeutung von Menschen und Natur« stehen (190). In Werken wie Wunschloses Unglück, Die Lehre der Sainte-Victoire, Über die Dörfer oder Die Wiederholung kritisiert Handke »die ostentative Zurschaustellung patriotischer Selbstzufriedenheit« (199) in seiner österreichischen Heimat, die in vormoderner Abschottung Österreichisches gegen Slowenisches und Fremdes ausspielt und die »Illusion einer natürlichen und archaischen Solidarität« gegen moderne Herausforderungen verteidigt (203). Erst ein Aufsatz wie Abschied des Träumers vom Neunten Land lässt erkennen, dass Handke in Jugoslawien lange Zeit das Idealbild eines Vielvölkerstaates sah, von dem er annahm, dass durch die gemeinsame Verpflichtung auf Werte wie den Antifaschismus nationalen Partikularismen der Boden entzogen werden kann. In der Morawischen Nacht deutet Handke allerdings an, dass sich die in seinem »Niemandsbucht« genannten Pariser Domizil gelebte Multiethnizität und Multikulturalität inzwischen faktisch auch im Makrokosmos der gewandelten »europäischen Verhältnisse« durchsetzen (205).
Kapitel VIII widmet sich freiwillig in den deutschen Sprachraum ›eingewanderten‹ Autoren und Autorinnen, die in deutscher Sprache schreiben und aus unterschiedlichen Blickwinkeln Fremdheitserfahrungen thematisieren, wobei sie den Gebrauch der deutschen Sprache nicht als Anpassungszwang, sondern als Befreiung, gar als »Spracheroberung« (210) erleben. Im Anschluss an eine kleine thematische Typologie der Einwandererliteratur (Autobiographie, Bildungsroman, Gesellschafts- und Kulturkritik, Selbstparodie, Unterhaltung) konzentriert sich die Darstellung exemplarisch auf solche Werke, »welche die Begegnung der Kulturen und der Sprachen ernsthaft thematisieren, Stereotypie überwinden und die eigene Hybridität reflektieren« (214) und deshalb als »exonational« (215) bezeichnet werden. An Selam Berlin von Yadé Kara, Alle Tage von Terézia Mora und Das nackte Auge von Yoko Tawada wird detailliert gezeigt, dass die reflektierte Begegnung der Protagonisten mit Fremdem entgegen landläufiger Meinung zu Kulturüberschreitung und Erfahrungserweiterung führt. Im Ergebnis unterscheiden sich diese drei Texte »nur durch die Sprache von den entsprechenden multikulturellen Literaturen der anderssprachigen Nachbarländer« und tragen als »kulturpluralistische und hybride Literatur dazu bei, den literarischen Diskurs zu entnationalisieren« (224).
Ausgehend von Robert Menasses Roman Die Hauptstadt behandelt Kapitel IX, »Jüdische Geschichten«, die Tatsache, dass (nicht nur) in literarischen Texten Auschwitz »die Grundlage eines ›negativen Gründungsmythos‹ für das ganze Nachkriegseuropa bildet« (226), der allerorten »zur Respektierung der Menschenrechte« (227) verpflichtet. Nachgegangen wird der Frage, wie »europäische Juden heute mit dem Faktum des Genozids« aus Opfersicht umgehen und andere Europäer damit aus Tätersicht. Obwohl z.B. die jüdischen Protagonisten in Robert Schindels Gebürtig selbst keine Erfahrung als Opfer gemacht haben und ihre nichtjüdischen Freunde selbst keine Täter sind, spielt die Täter-Opfer-Dichotomie unterschwellig doch immer eine identitätsstiftende Rolle, die uneingestandenes »Unbehagen und Misstrauen« (231) zwischen den Beteiligten verursacht. Mit dem Leben als Nachgeborene der Opfergeneration beschäftigt sich auch der autofiktionale Roman So sind wir von Gila Lustiger. Das Buch präsentiert »ein Mosaik aus verschiedenen Schicksalswegen«, »das jeden Versuch von Identitäts- und Rollenzuschreibung absurd erscheinen lässt« (235). Daraus wird im Buch einerseits der Schluss gezogen, dass »Herkunft, Religion und Nationalität nichts als ein eingebildetes Gefängnis sind« (236), andererseits aber auch, dass das kollektive Gedächtnis sehr selektiv und fragil ist, weshalb man bei der Erzählung der eigenen Geschichte vom Anspruch auf »zweifelsfreie Wahrheit« Abschied nehmen muss (238). Auch Barbara Honigmanns Band Damals, dann und danach führt vor, dass die Herkunftssuche zwar einen fortlaufenden Prozess bildet, der es allerdings auch ermöglicht, »verschiedene Komponenten« der »eigenen Identität« zu entdecken und »sie zueinander in Beziehung zu setzen« (241). Dies führt dazu, dass die Autorin sich zum kosmopolitischen Erbe ihrer Vorfahren bekennt und deren gescheiterten Assimilierungsprozess wieder aufnehmen will, »nunmehr allerdings ohne demütige Unterwerfung, sondern selbstbewusst und in vollem Stolz auf das [übernationale; E.R.] jüdische Erbe« (241). Die Unwägbarkeiten grenzüberschreitender Erinnerungsarbeit deutet bereits der Titel des Buches Vielleicht Esther der in Kiew geborenen Katja Petrowskaja an, in dem das Schicksal einer bis nach Amerika und Israel verstreuten Verwandtschaft recherchiert wird. Die autofiktionale Darstellung besteht aus einer selbstbewussten »Mischung von Recherche, Ausfabulieren und Reflexion« (244), wie ihr Nachsinnen über den internationalen Charakter des KZ Mauthausen belegt: »Dreißig Nationen waren hier vertreten […], hier kann ich mir das Europaparlament besser vorstellen als in Brüssel, wer im KZ war, darf auch in die EU« (247). Fazit der exemplarischen Textanalysen ist, dass die »Verschränkung des Schicksals des Kontinents mit dem der europäischen Juden die Grundlage des heutigen Europas [bildet]«, weshalb die »behandelten jüdischen Geschichten im wahrsten Sinne auch europäische Geschichten« sind (247).
Nachdem die Suche nach einer Antwort auf die Frage, was »deutsch« an der deutschen Literatur ist, überzeugend dargelegt wurde, fasst die »Schlussbetrachtung« die ermittelte Antwort kurz und bündig zusammen: Die behandelten literarischen Werke sind »deutsche Literatur«, insofern sie »auf Deutsch geschrieben und in den deutschsprachigen Ländern zunächst erschienen und somit im deutschen Literaturbetrieb verankert sind«, »doch thematisch und von ihren vielen Ursprüngen her [stellen sie] eine für das heutige Europa nicht untypische exonationale Literatur« dar (252).
Diesem Urteil wird man sich kaum verschließen können. Im Rahmen der gegenwärtigen Diskussion besteht der springende Punkt der Darstellung in der Erkenntnis, dass die deutsche Literatur nicht erst durch die sog. Migrantenliteratur thematisch und formal denationalisiert und also internationalisiert wurde, sondern dass die ›deutsche‹ Literatur bereits ursprünglich vornational bzw. übernational war und erst durch eine radikale Ideologisierung des Nationalen den Anschluss an moderne Entwicklungen verlor. Ein großer Vorzug des Buches besteht darin, dass die Einzeltextanalysen mitsamt den synthetisierenden Schlussfolgerungen stets nachvollziehbar dargestellt werden, wobei bewusst auf eine Reproduktion der Kontroversen um Inter-, Multi- und Transkulturalität verzichtet wird. Da gegenwärtig allerorten der Bedeutungsverlust der Literatur im öffentlichen Gespräch beklagt wird, besteht ein weiteres Verdienst des Buches darin, sich des entscheidenden Beitrags zu vergewissern, den die Literatur zur Demokratisierung und Internationalisierung der Nachkriegsgesellschaften in Deutschland und Österreich geleistet hat. Schließlich ist die wohltuend zurückhaltende und sachlich-nüchterne Darstellungsweise zu würdigen, die den gesamten Band auszeichnet. Unverkennbar wurde er am nördlichen Rand Europas geschrieben, wo man kein Bildungsbürgertum kennt und sich Literaten und andere Künstler auf allgemein verständliche Art und Weise um die Gunst der Öffentlichkeit bemühen.