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Zeitschrift für interkulturelle Germanistik – 14. Jahrgang, 2023, Heft 2: Gerechtigkeit für Jesus und Judas. Max Brods Der Meister (1952) (Hans Richard Brittnacher)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik – 14. Jahrgang, 2023, Heft 2

Gerechtigkeit für Jesus und Judas. Max Brods Der Meister (1952) (Hans Richard Brittnacher)

Gerechtigkeit für Jesus und Judas

Max Brods Der Meister (1952)

Hans Richard Brittnacher

Wer einen Jesusroman schreibt, tritt in Konkurrenz zum Neuen Testament: Wo die synoptischen Evangelien in lakonischer Diktion vieles andeuten, noch mehr verschweigen und oft provozierend lückenhaft sind, wo das Johannesevangelium in fast rücksichtsloser Beschränkung auf theologische Exklusivität sich am Leben des Jesus von Nazareth eher desinteressiert zeigt, bemühen sich Jesusromane um die Darstellung einer mehr oder minder kohärenten Biographie. Selbst wenn man unter ihnen nur jene berücksichtigt, die einem Mindeststandard ästhetischer Qualität entsprechen, zählen sie zu Hunderten. Sie versuchen, Jesus als Menschen, vielleicht sogar mit seinen Schwächen, zu fassen oder sich zugleich dem von seinem messianischen Auftrag beseelten Gottessohn zu nähern. Der Jesusroman setzt sich daher unweigerlich einem doppelten Risiko aus: der peinlichen Banalisierung des göttlichen oder der abweisenden Idolisierung des menschlichen Jesus.1

Unvermeidlich konzentriert sich der Jesusroman in seiner Darstellung von Jesu Lebensweg neben seinem Protagonisten auf die wenigen Weggefährten oder Gegenspieler, die in den Evangelien Umrisse einer eigenen Individualität erhalten: Das sind neben Maria (Mirjam), der Mutter, auch Maria Magdala, die Ehebrecherin, Sünderin und Jüngerin, der Täufer Johannes, der Apostel Petrus, vielleicht noch Johannes, der Lieblingsjünger, und später wohl auch noch der Zweifler Thomas, schließlich, als Gegenspieler und rätselhaft in die Textur des Überlieferungs- und Erlösungsgeschehens verwoben, Gestalten wie Pilatus2 und vor allem Judas. In dem Maße, in dem der Jesusroman eine auktoriale Perspektive vernachlässigt und das Leben Jesu aus der Sicht anderer erzählt, seine irdische Existenz also in der Spiegelung durch ihm nahestehende – oder auch erfundene – Figuren Profil gewinnen lässt, etwa in dem Roman Ben Hur: A Tale of the Christ (1880) von Lewis Wallace, können die Gefahren unziemlicher Annäherung oder abweisender Entrückung verringert oder sogar vermieden werden.

Einen besonderen Stellenwert in der Geschichte des Jesusromans darf die jüdische Perspektive beanspruchen, insofern das Judentum Jesus »nie als den die Welt erlösenden Messias« anerkennen konnte (Bartscherer 2016: 214). Gleichwohl haben wichtige Theoretiker des Judentums wie Martin Buber, Pinchas Lapide und Schalom Ben-Chorin gegen das Übergewicht einer christlichen Einvernahme des Zimmermanns aus Nazareth »das absolut jüdische Kolorit von Jesu Denkart und Gesinnung offengelegt.« (Ebd.: 224) Auch wenn der Jesus des jüdischen Romans nicht von den Toten aufersteht und keine Wunder wirkt, so ist er doch auch in der jüdischen Perspektive ein frommer Mann, betet zu dem einen Gott Israels und gleicht »in wichtigen Hinsichten dem Kulturheros der nichtjüdischen Jesuskonstruktion« (Leutzsch 2017: 123). Das geschieht, indem der Jesusroman den von Nietzsche im Antichrist boshaft als ›Arme-Leute-Jesus‹ bezeichneten Rabbi und Heiler ins Zentrum seiner Darstellung rückt, sei es, dass er in Jesus den solidarischen Bruder im Leiden erkennt oder den volksnahen Sympathisanten des patriotischen Widerstands gegen die römische Knechtschaft.3

Es ist daher kein Zufall, dass gerade der jüdische Jesusroman,4 der apriorisch an der Göttlichkeit Jesu zweifeln muss, dank seiner unbefangeneren Voraussetzung zu durchaus interessanten Interpolationen der Figur gelangt, die auch christliche Leser zu faszinieren vermögen: Schalom Aschs Der Nazarener (Der Man fun Nozeres, 1950) darf als ein frühes, außerordentlich populäres Beispiel, Amos Oz’ Judas (hebr.: הבשורה על פי יהודה, dt.: Das Evangelium nach Judas, 2014) als ein zeitgenössischer Beleg dieser spezifischen Variante eines Jesusromans gelten.

Das jüdische Interesse an der Gestalt Jesu hat auch Konsequenzen für die Bewertung des dubiosesten seiner Jünger. Insofern Judas Iscarioth in christlicher Perspektive zumeist als Verräter und zugleich als exemplarischer Jude infamiert wurde, ist er als paradigmatische Gestalt in die Kulturgeschichte des christlichen Antijudaismus und Antisemitismus eingegangen. Dem jüdischen Jesusroman liegt deshalb zumeist auch an einer Aufwertung der Figur des Judas zu einem treuen Freund, einem aktiven Mitkämpfer oder auch zu einem politischen Gegenspieler, dessen Integrität aber außer Frage steht. Auch zahlreiche nichtjüdische Judasdarstellungen in der neueren Literatur- und Kulturgeschichte seit Klopstocks Messias (1773) bemühen sich nach Jahrhunderten der Infamierung des letzten Apostels um Objektivität und Gerechtigkeit und versuchen, das Handeln des Judas zu verstehen, zu entschuldigen oder sogar zu rechtfertigen. Sie beschreiben ihn als einen Jünger, der den zögerlichen Jesus zur Offenbarung seiner Göttlichkeit zwingen will, vielleicht auch als einen Rivalen um die Gunst des Volkes oder die Liebe einer Frau (zumeist Maria Magdala), als einen Revolutionär und Patrioten, der Jesus zum Kampf gegen die römischen Besatzer drängt, oder aber sie bemitleiden ihn als machtloses Werkzeug des Heilsgeschehens.5 Der jüdische Jesusroman sucht demgegenüber Judas grundsätzlich zu rehabilitieren: etwa in dem Sinne, dass sie in ihm, wie es das in Qumran aufgefundene Judasevangelium nahelegt, den Vertrauten Jesu sehen, der im Dienste des Freundes das schwerste Opfer bringt, nämlich den Freund zu verraten und damit sich selbst der ewigen Verdammnis auszuliefern.6

Gegen Ende seines Lebens, im Alter von immerhin siebzig Jahren, hat auch Max Brod einen Jesusroman vorgelegt – der, als Reminiszenz an das Ungreifbare des Jesus, diesen nicht beim Namen nennt, sondern mit einer ehrerbietigen Anrede bezeichnet: Der Meister (1952).7 Max Brod ist heute weniger durch seine eigenen Dichtungen bekannt – obwohl er als Mitglied des Prager Kreises eine beachtliche Zahl von teils sogar in Riesenauflagen erschienenen Werken, Romanen, Erzählungen, Abhandlungen, Libretti usf. hinterlassen hat8 – als durch die Entscheidung, als Freund und Testamentsvollstrecker Franz Kafkas dessen Bitte, seinen Nachlass zu vernichten, zu ignorieren und das Werk des Freundes, in dem er den ›größten Dichter unserer Zeit‹ erkannt hatte, zu erhalten und zu edieren. Der eigenwillige Freundschaftsdienst hat ihn selbst als Autor ausgelöscht – auch dies legt Parallelen zur Gestalt des Judas nahe, der sich selbst annihilierte, um dem Freund zur Glorie zu verhelfen. Max Brod ist aber auch eine bedeutende Gestalt im Judentum des 20. Jahrhunderts: Unter dem Einfluss Martin Bubers war Brod der zionistischen Bewegung beigetreten und wurde Präsident des jüdischen Nationalrates. Neben seinen literarischen Werken hat er sich auch intensiv mit religiösen Fragen beschäftigt und die hinsichtlich menschlichen Leidens hegemoniale Konzeption der jüdischen Religion begründet, die er in seiner Schrift Heidentum, Christentum, Judentum (1922) ausformulierte. 1939 gelang es ihm, unmittelbar vor dem Einmarsch der deutschen Truppen, zusammen mit seiner Frau mit dem letzten Zug seine Heimat zu verlassen.9 In Israel trug er u.a. als Dramaturg des Habimah-Theaters in Tel Aviv zum Aufbau und kulturellen Selbstverständnis des Staates Israel bei.

Der Meister in drei Perspektiven

Brods Jesusroman Der Meister, geschrieben auf Deutsch, also der Sprache der Täter, nicht im Hebräischen, in dem Brod durchaus auch publizierte, erzählt in sieben – mit Ausnahme des sechsten mehr oder weniger gleichlangen – Kapiteln von der Geschichte eines im Palästina unter römischer Besatzung lebenden und lehrenden heiligen Mannes namens Jeschua (Jeschua ist die hebräische Form des Namens Jesus). Der Autor wählt drei Perspektiven, den Leser mit der Gestalt dieses Mannes vertraut zu machen: Da ist zunächst Meleagros, ein deterritorialisierter Grieche des turbulenten hellenischen Zeitalters. Im griechischen Antikyra hat Meleagros die Barbarei der römischen Besatzer kennenlernen und den Tod seines Bruders Aristobolus, der von den Machthabern gekreuzigt wurde, beklagen müssen. Von den Römern versklavt, als Gladiator, aber auch als Dichter ausgebildet, von den Lehren seines Meisters Epikur maßgeblich geprägt, wird er schließlich von der Bibliothek von Alexandrien an den römischen Landpfleger Pontius Pilatus in Palästina entsandt, um diesem bei der Übertragung von Catull und Horaz ins Griechische zu helfen. »Ein Mensch wird verschenkt« lautet die Überschrift des ersten Kapitels, um die beiläufige Grausamkeit der römischen Weltherrscher auch an ihrem utilitaristischen Umgang mit Menschen zu charakterisieren: »Ein Nichts. Ein Geschenk. Das Geschenk, das ein Statthalter dem anderen schickt, wie man ein Grußtäfelchen aus Elfenbein […] schickt.« (Brod 2015a: 26f.) Meleagros ist ein vergleichsweise typischer, sanguinischer Vertreter der heidnisch-hellenischen Welt: von »leichtbeweglicher, im Grunde glückhaft-männlicher Anlage« (ebd.: 208), hochgebildet, an Literatur und schönen Dingen interessiert, ein reflektierter Jünger Epikurs. Aber er ist auch ein liminaler Charakter, der in außerordentlicher Absorptionsfähigkeit die religiösen und weltanschaulichen Positionen seiner Zeit kennenlernt: Ein politisch eher indifferenter, ganz der Welt des Schönen ergebener Grieche, wird durch den Tod des Bruders zum Verächter der brutalen römischen Kultur, lernt als Mitarbeiter in der Tischlerei Owadjahs den defensiven jüdischen Widerstand, aber auch die gewaltbereiten Varianten des radikalen Pharisäertums (Bilhan) und die duckmäuserischen Vorstellungen der Sadduzäer (Josef Ben Kaiafa) kennen, bis ihm schließlich in Jeschua eine über politische und religiöse Zwistigkeiten erhabene Gestalt begegnet. Dem Wandel seiner weltanschaulichen und religiösen Einstellungen entspricht auch der Wechsel seiner Zuschreibungen des titelgebenden Begriffs ›Meister‹. Zunächst bleibt er Epikur vorbehalten, also dem Vertreter eines lustbetonten, aber auch gelassenen Lebensgenusses, dann wird das Prädikat für den liebenden, predigenden und lehrenden Jeschua verwandt und verschmilzt schließlich, nach Meleagros’ Einsicht in das jesuanische Charisma, dem auch er, der Grieche, sich nicht zu entziehen vermag, mit dem Bild des Sokrates, dem Inbegriff antiker Güte und Lebensweisheit.

Nach einigen oberflächlichen und auch etwas peinlichen Liebesaffären in seiner griechischen Heimat lernt Meleagros in Palästina Schoschana kennen, deren Schönheit und sittliche Festigkeit ihn tief beeindruckt. Sie ist eine Nichte von Mirjam (Maria), Jeschuas Mutter, eine Waise, die als Jeschuas Ziehschwester aufwächst und von dessen lauterem Charakter und tiefer Religiosität so beseelt ist, dass sie sich ganz seinem Dienst geweiht hat: Sie will, auch wenn sie selbst nur undeutliche Einsichten in die Absichten ihres Ziehbruders hat, diesem doch in allem dienen. Meleagros, der sie vor einer Horde marodierender römischer Soldaten in Schutz genommen hat, ist von ihrer Anmut und ihrem lauteren Charakter bezaubert, sie aber weist seine Annäherungen freundlich zurück. Immer wieder wird sie von der Prosa des Romans mit den Insignien orientalischer Anmut geschildert: »Sie trug einen hohen Wasserkrug aus dunklem Ton auf der Schulter, stützte ihn leicht mit gehobener Hand. Ihr schwarzes lockeres Arbeitskleid war nur mit einer schmalen roten Stickerei auf der Brust geschmückt.« (Ebd.: 240)

Aber so verführerisch sie auch wirken mag – »Ziererei lag ihrer reinen Seele nicht« (ebd.: 175) –, Meleagros Werbung bleibt unerhört. Gleichwohl haben die Lobreden Schoschanas auf ihren »erhabenen Bruder« (ebd.: 157) Wirkung auf ihren griechischen Verehrer, der schließlich Einlass in den engeren Kreis um Jeschua erhält und gleichfalls von diesem in seinen Bann gezogen wird.

Eine dritte Perspektive – nach der von Meleagros und Schoschana – findet Brod in der Gestalt des Nihilisten Jason, eines vermeintlich griechischen Freundes von Meleagros. Obwohl er dem Leben allgemein und insbesondere religiösen Weltdeutungen zynisch gegenübersteht, hat er sich doch als verlässlicher Freund erwiesen und pflegt auch noch nach Meleagros’ Entsendung regen brieflichen Austausch mit dem Freund in Palästina. Sarkastisch teilt er ihm brieflich seine Anschauungen über die Bizarrerien paganer Religionen mit und erzählt ausführlich von seinen – natürlichen vergeblichen – Annäherungen an ophitische Mysterienkulte. Meleagros’ Briefe über Jeschua scheinen Jasons Sinn zu ändern: Auch er, der zuvor immer wieder seinem Judenhass Ausdruck gegeben hat, kommt nach Palästina, schließt sich Jeschua an und gesteht schließlich seinem Freund, selbst Jude zu sein und aus dem Dorfe Kerioth im Hebron zu stammen. Bei Jason, der sich mit den Namen des Helden der Argonautensage schmückt, handelt es sich also um Judas Iskariot, der als Letzter der von Jesus gewählten Apostel und als dritter Zeuge Auskunft über Jeschua erteilt. Judas ist, anders als der heitere Meleagros, der vom Roman immer wieder als »der gute Junge« (ebd.: 145 et passim) apostrophierte Held, und anders auch als die liebreizende und sanftmütige Schoschana ein Mann mit einem »zersägenden Verstand« (ebd.: 31 et passim). Obwohl die Natur ihm ein einnehmendes Wesen und angenehme Gesichtszüge verliehen hat, verdüstert seine zersetzende Rationalität, eine zwischen Bitterkeit und Gehässigkeit oszillierende Intellektualität, unweigerlich jedes Gespräch mit dem allezeit zum unbeschwerten philosophischen Disput aufgelegten Meleagros durch die Kompromisslosigkeit seiner düsteren Schlussfolgerungen und Sentenzen.

Die Aktualität eines historischen Romans

Damit sind die Voraussetzungen eines durchaus modern konzipierten polyphonen Romans gegeben, in dessen Zentrum zwar die Gestalt Jeschuas steht, des ›Meisters‹, über die aber aus unterschiedlichen, sogar gegensätzlichen Perspektiven berichtet wird. Ob es sich dabei um einen »relativierenden Polyperspektivismus« handelt (Strelka 1987: 105), mit dem sich Brods Roman gegen die Versuche einer unangemessenen Vereindeutigung der Figur Jesu schützt, ob die Vielfalt der Perspektiven, unter denen Jesus gesehen wird, »impliziert, dass eine einzige Perspektive nicht angemessen wäre« (Leutzsch 2017: 130), ob es sich um eine »der Entzogenheit und Unfassbarkeit der Figur [Jesus; H.R.B.] geschuldete Selbstzurücknahme des Dichters« handelt (Kuschel 2015: 565) oder ob Brod nicht eher bewusst eine ästhetische Strategie gewählt hat, die im Wissen um die Inkommensurabilität ihres Gegenstandes nicht vor dem Risiko ihrer ästhetischen Vergegenwärtigung zurückweichen will, kann wohl nicht mit letzter Sicherheit beantwortet werden. Denn trotz seiner poetischen Ermächtigung zu einer ambivalenten Charakterisierung Jeschuas durch drei so divergierende Perspektiven folgt Brod weitgehend der aus den synoptischen Evangelien, aber auch der christlichen Malerei und Literatur bis hin zu Pasolinis Film Il Vangelo secondo Matteo (1964) überlieferten Ikonographie, die Jesus als feminin wirkenden, hochgewachsenen jungen Mann zeigen, der die ihn Umgebenden um Haupteslänge überragt: »An der Spitze der Ältesten, von den vier Schülern umgeben, kam der Meister näher. Er mochte etwa dreißig Jahre alt sein, war von blühender Jugendkraft erfüllt. Er ging in schnellem Schritt, auch jetzt ragte er von den Schultern aufwärts über alle hinaus.« (Brod 2015a: 271)

Ihn charakterisiert nicht nur wie den Jesus der Evangelien die Sanftmut gegenüber Frauen, Sündern und Kindern, auch eine unnachsichtige Strenge. Diese Ambivalenz,

[d]aß Jeschua das eine Mal sanft redete, alles verzieh, allen Sündenvergebung zusagte, ein andermal zornmütig den Frevlern mit der ewigen Macht drohte, in der Heulen und Zähneklappern ist, – daß er vom Frieden sprach, den er allen anbiete, und dann wieder davon, daß er gekommen sei, das Schwert zu bringen (ebd.: 285),

irritiert seine Zuhörer und schlägt sie zugleich in seinen Bann. Die bezwingende Wirkung seiner Persönlichkeit erfährt Meleagros beim Blick in Jeschuas Augen: »Zum erstenmal schaute der Grieche in die Augen, die unendlich tief waren. Man glaubte durch eine an sich kleine Spalte in einen ungeheuren Lichtraum hineinzusehen, in einen Raum, vor dem man nicht haltmachen konnte, in den man wie angesaugt hineinstürzte wie in einen Wirbel.« (Ebd.: 299) Auch dass Jeschuas Erscheinung und Verhalten namentlich auf seine weibliche Zuhörerschaft wirkt, wird übereinstimmend von den Jesusromanen der unterschiedlichsten Autoren, auch von Max Brod, bestätigt: »Den Frauen schien übrigens gerade diese Mischung von strenger Hoheit und heiterer Anmut besonders zu gefallen.« (Ebd.: 321)

Brod bedarf der drei zusätzlichen Perspektiven, um Jesus in die jüdische Tradition zu integrieren, aber auch, um ihm die Aura des Messias zu belassen, selbst in der Perspektive derer, die keinen Messias kennen, und jener, die ganz unterschiedliche Erwartungen, auch politische und profane, mit dem Messias verbinden. Die Geschichte Jeschuas hat Brod in einer religiös und politisch bewegten Zeit angesiedelt – stärker am Zeitkolorit interessiert als die noch unter römischer Herrschaft verfassten und vielleicht auch deshalb einsilbigen Evangelien, aber auch informiert durch gründliche historische und religionsgeschichtliche Studien, zeichnet Brod, ein poeta doctus, in seinem Roman das Panorama einer religiös gärenden und politisch unruhigen Epoche. Fanatische Eiferer, Rabbis und Wanderprediger, geraten mit ihren Predigten und Visionen einerseits in Konflikt mit der religiösen Orthodoxie, andererseits aber auch mit der Politik der römischen Besatzer und der einheimischen Kollaborateure. Auch die Schriftgelehrten sind gespalten in die Lager der eher romkritischen Pharisäer und der eher um Appeasement gegenüber den römischen Besatzern bemühten Sadduzäer. Die Aufrufe und Reden von Eiferern und Fanatikern zumal im Galil, einem besonderen Landstrich – »Die Landschaft summte vor Wundern« (ebd.: 253) –, dessen gläubige Bewohner sich von Gottes Wort bereitwillig ergreifen lassen, prägen das Gefühl einer End- oder zumindest Umbruchzeit. Charakteristisch für diese kairotische Zeit ist das Auftreten von Johannes dem Täufer – »immer voll von schwarzem Zorn, seine Augen glühen, sind starr, strotzende Kohlen« (ebd.: 201) –, der es wagt, die zweite Ehe des Herodes als gotteslästerlich zu verurteilen.

Eine besondere Bedeutung erhält die Idee eines religiösen Aufbruchs durch das grausame Regiment der Römer. Ihre um die jüdische Religion und Kultur unbekümmerte, vornehmlich auf ökonomische Ausplünderung bedachte Herrschaft provoziert nicht nur die unterschiedlichsten Widerstandsgruppen, sondern trägt auch zur Verbreitung einer apokalyptischen Stimmung bei. Vor diesem Hintergrund erhalten die Fragen an Jeschuas Position in den religiösen und politischen Konflikten ihrer Zeit ihr spezifisches Gewicht und verdeutlichen die prekäre Position seiner Doktrin der Gottes- und Nächstenliebe.

So sehr es Brod auch darum geht, die enthaltsame Prosa der Evangelien mit der Kraft seiner Imagination, mit der Anschaulichkeit sinnlicher Details und dem Wissen um sozial- und kulturgeschichtliche Ereignisse anzureichern und zu veranschaulichen, so wenig geht es ihm um einen faktentreuen historischen Roman. In einer seinem Roman beigegebenen Nachschrift – zu keinem anderen seiner historischen Romane hat Brod solche Nachworte geschrieben10 – beharrt er auf dem Recht des Dichters zur Willkür, was den Gebrauch der Fakten betrifft, um größtmögliche historische Treue zu erreichen. Ausdrücklich insistiert er hier auf dem – seit Aristoteles’ Poetik bekannten – Unterschied von wissenschaftlicher und dichterischer Darstellung. Das Interesse, als Jude einen Jesusroman zu schreiben, begründet er mit dem Hinweis auf die Differenz von Bekenntnis und Dichtung. Daher ist es leicht, aber auch belanglos, auf Differenzen von Realgeschichte und Dichtung zu verweisen: Wohl hat es den Epigrammatiker Meleagros gegeben, aber er lebte Jahrzehnte vor den im Roman dargestellten Ereignissen, die Sekte der Ophiten, von der Jason/Judas so anschaulich berichtet, ist erst durch sehr viel spätere Darstellungen bekannt geworden, die Gräuel des Varus hingegen, der 2000 Juden kreuzigen ließ, fanden früher statt als hier berichtet usf.11

Ein Jesusroman nach der Shoah

Wie alle historischen Romane von Exilanten – man denke an Werke Lion Feuchtwangers oder Heinrich Manns – ist auch Der Meister eine Stellungnahme zur eigenen Zeit, die einen historischen Stoff behandelt, um die Gegenwart zu kommentieren. 1952, nicht einmal sieben Jahre nach der Shoah, ist es kaum denkbar, einen Jesusroman zu schreiben, ohne dabei des Holocaust zu gedenken – zumal Brod selbst einen jüngeren Bruder in Auschwitz, eine Nichte in Bergen-Belsen verloren hat (vgl. Kuschel 2015: 538). Unweigerlich muss sich dem jüdischen Jesusroman vor dem Hintergrund der Shoah auch die Frage nach der Mitschuld des Christentums stellen, in dessen überliefertem Antijudaismus der Faschismus einen willfährigen Verbündeten gefunden hat, der ihm die tatenlose Indifferenz der christlichen Bevölkerung bei der Vernichtung seiner jüdischen Mitbürger garantierte.

In dem mit eiserner Härte und soldatischer Brutalität regierenden Rom ist unschwer eine Allegorie des Faschismus zu erkennen. Zumeist üben sich die römischen Besatzer, zumindest ihre Patrizier, in Gleichmut gegenüber den religiösen Bräuchen des Judentums, aber Schoschanas Bericht über die Exzesse der Soldateska erzählen von der blutigen Wahrheit religiöser Verachtung, in der sich Notzucht und Blasphemie mischen: »Aber jedesmal läßt man die Legionen auf uns los. Heuer im Frühling wurden Hunderte aus meiner Landschaft getötet, während des Opfers vor dem Tempel. Ihr Blut mischte sich mit dem Blut ihrer Schlachttiere.« (Brod 2015a: 91)

Allerdings erscheint das Wüten des »Menschenschunds« (ebd.: 145), der »grausamen Kinder der Wölfin Rom« (ebd.: 27), fast harmlos im Vergleich mit der rasenden eliminatorischen Energie des Nationalsozialismus. Aber die erbarmungslose Effizienz, die buchstäbliche Sogwirkung einer um den Wahn der Vernichtung kreisenden seelenlosen Maschinerie, gewinnt in Meleagros’ Vergleich der Weltmacht Rom mit einem Magnetberg, der alles um sich herum in den Untergang reißt, an Anschaulichkeit:

Es ist der schwarze Magnetberg, der alles außer Rand und Band bringt, wenn das Unglücksschiff sich ihm nähert. Der Schatten Roms, der die ganze Erde verfinstert und den Menschen den Verstand raubt. Alles reißt sich los, tobt der Vernichtung entgegen. Es gibt kein anderes Ziel als die Vernichtung – und alles fliegt, eilt, dreht sich aus den Fugen, um möglichst rasch in den Falten des Nichts angelangt zu sein. Es geht den Dingen wie den Menschen gar nicht schnell genug. Keine Rettung, kein Rat ist sichtbar. (Ebd.: 406)

Der Faschismus findet seine Darstellung aber nicht nur in der naturmythischen Metapher vom Magnetberg, sondern auch im Blick auf das infame Raffinement geheimdienstlicher Bespitzelung, Ausforschung und Unterwanderung. In Gestalt des gefallsüchtigen und hochmütigen Tuscus, der lustvoll als Zuträger agiert, erhält der typische Kollaborateur seine abstoßende Gestaltung. Aber auch die Anklage der Täter schließt Selbstkritik nicht aus: In den Sadduzäern, die sich um politische Unauffälligkeit angesichts der bedrohlichen Präsenz römischer Besatzer bemühen, lässt sich die Position der ganz auf Assimilation eingestellten Juden in der Diaspora wiederfinden, die Brod schon früh als eine Selbstaufgabe des Judentums verstanden hat.

Brods jüdischer Jesusroman ist »gegen die Einstellung geschrieben, derzufolge das Judentum nach der Schoah-Katastrophe ›am Ende‹ sei.« (Kuschel 2015: 555) Brod hat das Kunststück fertiggebracht, einen Jesusroman als Apologie des Judentums zu schreiben. Denn nur im Judentum, wie unterdrückt es auch sein mag, lebt das Sittliche dank der jüdischen Gläubigkeit. In seiner frühen Schrift Heidentum, Christentum, Judentum hat Brod eine religionswissenschaftlich gewiss angreifbare, aber bewegende Verteidigung des Judentums vorgelegt, indem er die unterschiedlichen Toleranzen der drei Religionen gegenüber dem menschlichen Unglück vergleicht. Während das Heidentum jedes Unglück als prinzipiell behebbar betrachtet, sieht das leidensbereite, von Brod in Anlehnung an Friedrich Hebbel »pantragistisch« bezeichnete Christentum in jedem Unglück eine göttliche Prüfung, die es standhaft zu ertragen gilt. Das Judentum hingegen unterscheidet zwischen edlem, also unvermeidlichem, und unedlem, den Menschen von Menschen angetanem oder unschuldig erlittenem Unglück: »Dem edlen Unglück gegenüber, das heißt mit dem Tod und der Vergänglichkeit konfrontiert, beugt sich der Jude in Demut vor Gott; gegenüber dem unedlen Unglück aber – Krankheit, Krieg, soziales Unrecht – ist er zu voller Aktivität aufgerufen.« (Ben-Chorim 2015: 8)

Brods Jeschua, der demütig stirbt, ohne die verzweifelten, seine Gottverlassenheit beklagenden Worte, von denen Markus und Matthäus fast gleichlautend berichten,12 ist in Brods Perspektive ein sichtbares Bild des leidenden Menschen als eines Ebenbildes des leidenden Gottes. In seiner Vollkommenheit weiß Gott auch um das Leiden und entzieht nicht einmal seinen Peinigern seine Liebe, erhöht großmütig in seinen letzten Stunden den reuigen Schächer Dismas. Diese erhabene Theologie des Leids gilt es zu bedenken, wenn auf den Holocaust reflektiert wird, der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Romans noch in der Erinnerung der wenigen Überlebenden schrecklich präsent ist.

Der Roman übersetzt diese drei religiösen Optionen in das Schicksal seiner Charaktere: In den römischen Figuren, anfangs auch in Meleagros und Jason, findet sich die heidnisch-profane, im späteren Meleagros, in Schoschana und natürlich in Jeschua partiell eine christliche, vor allem aber die jüdische Haltung zum Glauben. Das römische Reich erkennt nur das Diesseits an: Das äußert sich etwa in der gelassenen Einstellung Epikurs, der anfangs auch Meleagros verpflichtet ist: »Angstlos sieht der Weise dem Tode entgegen. Denn der Tod geht uns nichts an. Wo wir sind, ist der Tod nicht; und wo der Tod ist, sind wir nicht.« (Brod 2015a: 22) Die Kehrseite dieser metaphysischen Abstinenz ist freilich ein brutaler Materialismus, der sich kraft militärischer Überlegenheit durchsetzt. In der römischen Herrschaft begegnet Meleagros nicht nur die Gleichgültigkeit gegenüber den Errungenschaften der griechischen Kultur, sondern der Materialismus als Vergötzung des Profanen. Die griechische Welt, als staatliche Gemeinschaft längst ausgelöscht, überlebt nur noch in der demütigen Anerkennung der römischen Übermacht – und auch nur, um ihre Kultur als einen bedeutungslosen Ästhetizismus fortführen zu können, etwa in der Gestalt eines Graeculus, eines literarischen Hausgriechen, den sich die »Wolfsrömer« (ebd.: 25) als amüsanten Sklaven halten. Allein das Judentum bringt, gestärkt durch seine tiefe Gläubigkeit, in seinem unbedingten Vertrauen auf Gott, das Sittliche auch im diesseitigen Leben zur Geltung. Wo immer Jeschua in seiner Nächstenliebe, in seiner karitativen Energie, den Kampf gegen das Leiden aufnimmt, handelt er als exemplarischer Jude. In ihm begegnet Meleagros eine Gestalt, die anders als die militanten Revolutionäre seiner Zeit keinen aktiven Widerstand leistet, der nur zu neuen Repressionen führt und damit die Spirale der Gewalt weiterdreht, sondern das Bekenntnis zu einer umfassenden Liebe, die nicht nur Gott, sondern auch den Menschen, sogar den Feinden gilt. Diese buchstäblich grenzenlose Liebe vermag den Gut-böse-Dualismus und die Verkettungen von Rachehandlungen zu entmachten: »Wenn man ihn nur sieht, spürt man schon das, was es ein zweites Mal nicht gibt. Diese Liebeskraft, die von ihm ausgeht.« (Ebd.: 283)

Vor diesem Hintergrund erscheint Brods Roman als Beitrag zu einer »innerjüdischen Neubewertung der Gestalt Jesu« (Kuschel 2015: 543), die Jesus der paulinischen Interpretation entwinden und der jüdischen Tradition zurückgeben will. Gegen die folgenreiche Christusinterpretation des Paulus, eines Diasporajuden, der mit seiner Deklaration eines auferstandenen Gottessohns Jesus für die hellenisch-europäische Welt attraktiv machte, insistiert Brod auf Jesus als einem palästinischen Juden, der immer ein »Glied der jüdischen Geistesgeschichte« geblieben ist (Kuschel 2015: 546). Noch das jesuanische Doppelgebot der Liebe, der Gottes- und der Nächstenliebe (Markus 12,28–34), ist tief in der Tora fundiert (vgl. Kuschel 2015: 561). Die Liebe Christi ist charakterisiert durch eine spezifische Reinheit, die an Rilkes Konzept der ›intransitiven Liebe‹ erinnert: »Solche Liebe bedarf keiner Erwiderung, sie hat Lockruf und Antwort in sich, sie erhört sich selbst.« (Rilke 1966: 898) Auch Meleagros betont an Jesu Liebe deren eigentümliche Selbstlosigkeit: »Es ist die Überenergie der Liebe, die schenkt, nicht verlangt und damit glücklich ist.« (Brod 2015a: 287) Mit diesem dem Judentum zurückgegebenen Jesus kann Brod auch die Anziehungskraft des jüdischen Glaubens belegen, der sich selbst ein freigeistig-skeptischer Zeitgenosse wie Meleagros nicht entziehen kann.

Zum Selbstverständnis von Brods jüdischem Jesusroman gehört, dass sein Jesus genötigt wird, sich als Messias zu offenbaren, selbst aber seiner Sendung nicht sicher ist, wie Schoschana dem Freud Meleagros mitteilt: »Du hast den Kepha [Petrus; H.R.B.] gehört. Sie schreien, daß mein Bruder der Messias ist. Dieser Kepha ist es, der immer drängt und mißversteht und wieder vorwärtsdrängt. Sein guter Wille ist grenzenlos, aber er tappt in einen Fehler nach dem anderen.« (Ebd.: 245)

Schoschana erzählt Meleagros, Jeschua verbiete seinen Jüngern, von seinen Wundern zu sprechen, gesteht ihm aber auch seine Ahnung seines Auserwähltseins zu: »›Ich glaube wohl, daß er sich in der Stille seines Herzens manchmal für den Auserwählten hält, den Retter Messias.‹« (Ebd.: 247f.) Ob er tatsächlich der Messias ist, ob er wirklich von den Toten auferstanden ist, wie es später die paulinische Tradition lehren wird, ist unerheblich, solange Jeschuas Liebe in der Brust der ihm Nahestehenden »Wiederauferstehung und neues Leben« (ebd.: 518) erfährt: Er beginnt für Meleagros »erst jetzt, da er nicht mehr unter den Lebenden ist, in ihm zu leben« (ebd.).

Die Neukonzeption des Judas

Mit der vollständigen Neukonzeption der Figur des Judas hat sich Brod am weitesten von der Vorlage der synoptischen Evangelien, aber auch von den Vorgaben des Jesusromans entfernt. Ursprünglich ein Schüler Epikurs wie Meleagros, wandelt sich der Hedonist Jason zum Apokalyptiker Jehuda, der den Untergang einer verdorbenen Welt noch beschleunigen will. Sein charakteristisches Merkmal ist die Ambivalenz: »[E]r konnte nicht leben, ohne das ganze Dasein mit einer Schicht von Verachtung zu überziehen, sich selbst miteingeschlossen« (ebd.: 40). Seinen abgründigen Hass auf die Welt, selbst seine Beleidigungen spricht er »höflich, leise, fast zärtlich« (ebd.) aus. Der »schrullige Rohling mit dem süßen Ton in der Kehle« (ebd.: 32) flößt Meleagros »immer wieder einigen Widerwillen« (ebd.: 31) ein, aber erweist sich trotz seiner »mißgönnigen, alles verneinenden Spottlust« (ebd.: 341) in Stunden der Not als zuverlässiger »Herzensfreund« (ebd.: 333). Während der »ewig Mißgelaunte« (ebd.: 211) schreckliche Visionen mitteilt – »Du merkst wohl nicht, daß ein großes Sterben durch die Welt geht?« (ebd.: 42) –, bleibt »sein Lächeln […] behutsam und von verführerischer Anmut.« (Ebd.: 42) Nur mit Mühe erträgt er den Blick der anderen und blickt zumeist »schnell zur Seite, wie es […] seine Gewohnheit war« (ebd.: 56), aber Meleagros fühlt sich dennoch von ihm angezogen und möchte »die lastende Wehmut von den schönen Zügen des Freundes durch ein grundlegendes Wort für immer wegscheuchen«. (Ebd.) Jason/Judas ist – wie viele andere Judasgestalten, man denke an die Georg Heyms oder Leonid Andrejews13 – das Opfer in ihm wütender, gegensätzlicher Kräfte, so dass sich Meleagros besorgt nach den Folgen der Obsessionen Jasons fragt: »Wann werden sie das weiche, breite, schön-wehmütige Gesicht Jasons zerstört, förmlich von innen her aufgefressen haben? Es konnte nur eine Frage der Zeit sein.« (Ebd.: 68f.)

Als eigenwillige Idee Brods muss der Einfall gelten, den Juden Judas als verbissenen Antisemiten zu porträtieren, der bereitwillig die verbreiteten antijüdischen Stereotypen aufnimmt und weiterträgt: »Dieses widerlichste Volk von der Erde hält sich […] vor der Wahrheit die Ohren zu. Das widerlichste Volk? Was sage ich? Ich lobe ja noch! Es ist in Wahrheit das einzige widerliche Volk.« (Ebd.: 77) Jasons/Judas’ antisemitische Tiraden durchziehen als Basso continuo den Roman und seine und des Meleagros’ Lebensgeschichte: »Nur die schmutzigen Juden sind immer mit sich selbst zufrieden.« (Ebd.: 345) Den Höhepunkt hat sein antijüdischer Furor erreicht, als er sich selbst als Jude zu erkennen geben muss: »Mit einem Wort: ich bin jüdischer Herkunft. Ja, leider gehöre ich dieser wertlosen, verworfenen Menschenart an.« (Ebd.: 379)

Judas teilt mit dem jüdischen Jesus die Verachtung des Materiellen – aber während Jesus der Herrschaft des Geistlosen das Mitleid und die Liebe zum Menschen entgegensetzt, glaubt Judas als Gnostiker im Judäa des ersten Jahrhunderts u.Z., ein Schopenhauer avant la lettre, nur den besinnungslos sich fortzeugenden Willen des Demiurgen am Werk zu sehen. Seinem Freund Meleagros erläutert er seine Weltanschauung eines besinnungslosen Kreislaufs unablässiger Vernichtung: »Übrigens sind alle Menschen grausam, einer verschlingt den anderen. Alle sind wir Sünder. Es ist das Gesetz des Fleisches, unter dem wir stehen. Ohne Unterschied.« (Ebd.: 34) In seiner gnostischen Verachtung dieser Welt strebt Judas die Erlösung durch die totale Vernichtung des vom Willen des Demiurgen verseuchten Lebens an und glaubt, in Jeschua den Propheten einer solchen gnostischen Askese gefunden zu haben. Jeschua aber will nicht »die Vernichtung der Welt, sondern ihre Erneuerung« (Zangger-Derron 1996: 176). Damit aber wird Jesus in Judas’ Augen zu einem belanglosen Weltverbesserer, wo es die Welt doch zu vernichten gilt. »Ich bin enttäuscht«, gesteht er seinem Freund Meleagros. »Es ist die peinlichste Enttäuschung meines Lebens. Der Mann ist ja ein Moralprediger! Den Witwen und Waisen helfen, den Armen den letzten Rock geben.« (Brod 2015a: 406) Nicht das karitative Anliegen an sich stört Judas, sondern der dadurch perpetuierte Fortbestand einer korrupten Welt: »›Nicht ändern sollen sich die Menschen, sondern ganz aufhören‹, lispelte er zart.« (Ebd.: 409) Eine weitere Verzögerung des Untergangs durch getröstete oder gebesserte Menschen muss Judas verhindern, indem er Jesus verrät. Dieser Verrat hat tragische Züge, da Judas nicht aufhören kann, Jeschua zu lieben. Er glaubt sich exklusiv eingeweiht in Jesu Aufgabe, an die er ihn durch die Auslieferung an seinen Tod erinnern will: »Ich liebe ihn ja, diesen Jeschua. Nur ich liebe ihn wirklich. Man muss ihm nur noch ein wenig helfen, ihn in die klare Richtung drängen.« (Ebd.: 408)14 Die Beseitigung Jesu ist die Bedingung, um doch noch den ersehnten Weltuntergang herbeiführen zu können. Jehuda, der sein Judentum so sehr verachtet, dass er einen griechischen Namen angenommen hat, sieht sich um seine größte Hoffnung, den Untergang des Judentums, gebracht, während Jesus, den die Kulturgeschichte gerne als Überwinder des Judentums bezeichnet hat, in seinem Leben wie auch in seinem mit Geduld ertragenen Sterben bis zuletzt Jude bleibt.

Die größte Ironie von Brods Roman freilich ist, dass Judas, wiewohl zum Verrat entschlossen, Jeschua nicht verraten hat, wie Tuscus, der Kollaborateur, die niederträchtigste Gestalt des Romans, Meleagros offenbart: »Denn das mit Jehuda ist erfunden, vom ersten bis zum letzten Wort. Jehuda hat gar nichts gesagt, nichts verraten.« (Ebd.: 431f.) Der Verrat des Judas war nichts »als eine Erfindung römischer Propaganda« (Bärsch 1992: 84). Gefangennahme, Verurteilung und Kreuzigung des Jeschua haben des Jehudas Verrat nicht bedurft. Mit dem genialen Schachzug, Jehuda freizulassen, hat der Geheimdienst den Grundstein zur Narration von Judas, dem Verräter, gelegt: »Die Freilassung Jehudas war nun sein Kainszeichen.« (Brod 2015a: 433) Der Einwand des Meleagros, die lächerliche Geschichte von den dreißig Silberlingen als Lohn eines Verräters, der für seine Mildtätigkeit und Großmut bekannt sei, werde kaum Glauben finden, scheitert am professionellen Zynismus des Geheimdienstlers, der weiß, wie Legenden konstruiert und wie gern sie geglaubt werden: »Das Volk glaubt alles. Es kommt nur darauf an, daß man es ihm richtig zu fressen gibt.« (Ebd.: 434)

Brods Roman subvertiert also den Antisemitismus des Christentums gleich dreifach:

  1. Judas, der als Inbegriff eines Juden einen Jesus, der sich vom Judentum gelöst hat, verraten haben soll, erscheint bei Brod als ein Abtrünniger vom Judentum, ein von jüdischem Selbsthass Getriebener, eine verirrte Seele, die sich und ihr Judentum vernichten will und deshalb das verrät, was das Beste an ihr ist: einen Jesus, der eben nicht christlich, sondern jüdisch ist (vgl. Zangger-Derron 1996: 177). Explizit hat Jehuda seinen fatalen Irrtum als rassistisches Statement formuliert: »Er ist mir zu jüdisch.« (Brod 2015a: 407) Weil Judas’ Hass auf die Juden zugleich eine Form des jüdischen Selbsthasses ist und Brod einem Juden die etablierten antisemitischen Vorurteile gegen die zänkischen, jederzeit zum Abfall bereiten Juden, die ewigen Apostaten, in den Mund legt, nimmt Brod freilich auch eine Aufwertung des Antisemitismus zu einer Form jüdischer Selbstkritik in Kauf.

  2. Dass Jehuda jedoch Jeschua nicht einmal verraten hat, so sehr er ihn auch verraten wollte, macht den vermeintlichen Verräter, den schuldigen jüdischen Sündenbock, vollends zum unschuldigen Sündenbock einer antijüdischen Infamie.

  3. Am Ende des Romans erhängt sich Judas, so wie es auch das Matthäusevangelium erzählt.15 Aber während das Evangelium nahelegt, Judas habe dies aus Gewissensbissen getan, verhilft der Freitod dem judenhassenden Judas des Romans zu einem letzten Triumph:

Aber die Juden vernichten, die ganze Judenheit zum Auslöschen bringen, das habe ich immer redlich gewollt. […] Wenn das mit dem Verrat und den dreißig Silberlingen Verbreitung gewinnt […], dann bringe ich nach meinem Abscheiden mit meinem bloßen Namen das über meine Mitjuden, was seit je mein heißester Wunsch war […]. Sie werden verflucht und gehaßt, schließlich vernichtet werden um meines Namens willen. Einfach weil sie ›Jehudim‹ heißen, weil sie so heißen wie ich. (Ebd.: 492f.)

So richtig diese retrospektive Prophezeiung des christlichen Antisemitismus auch ist und so sehr sie für den naiven Leser einen unheimlichen diagnostischen Charakter gewinnen mag, so bedenklich ist sie doch, denn sie arbeitet einer unbelehrbaren Konstruktion zu, die sogar am Ursprung antisemitischer Vorurteile wiederum einen allmächtigen Juden sieht – und somit unfreiwillig die Stereotype der Protokolle der Weisen von Zion bestätigt.

*

Gegen Ende seines Romans lässt Brod seinen griechischen Helden eine fundamentale Einsicht in die Größe des Judentums formulieren: »Vielleicht ist dieses Volk sogar der eigentliche Held der Tragödie.« (Ebd.: 446) Dass Brod seinem Helden Meleagros trotz seiner Einsicht die Konversion zum Judentum erspart, zeigt die Toleranz des Dichters. Dass sein Held am Ende des Romans sich den bedächtigen jüdischen Widerständlern anschließt, zeigt das Vertrauen des Autors in die solidarisierende Kraft des Judentums.

Anmerkungen

1 Grundsätzlich zum Jesusroman vgl. Kuschel 1999; ergänzend dazu Hurth 1993; zum Jesusroman des 20. Jahrhunderts vgl. Schirmbeck 2000.

2 Vgl. dazu die originellen Überlegungen von Agamben 2014.

3 Zu markanten Vertretern des jüdischen Jesusromans und der jüdischen Leben-Jesus-Forschung vgl. Kuschel 2015, v.a. S. 541–546.

4 Immerhin wurden allein in den letzten 120 Jahren drei Dutzend Jesusromane aus jüdischer Feder vorgelegt. Vgl. dazu Leutzsch 2017: 120.

5 »Antiheld der Messiaserwartung«, »Werkzeug des Heilsplans«, »Opfer der Liebe« oder »theologische Denkfigur« sind die Rubriken, unter denen eine Judas gewidmete Anthologie lesenswerte Texte versammelt: vgl. Krieg/Zangger-Derron 1996; zur Judas-Tradition in der Literatur vgl. Brittnacher 2015.

6 In dieser Perspektive konvergiert die Tendenz des jüdischen Jesusromans mit Judasdarstellungen aus nichtjüdischer Tradition – in der Literatur etwa narrativ mit der amüsanten Kasuistik von Borges (vgl. 1975), expositorisch-romanhaft bei Jens (vgl. 1975) und Saeger (vgl. 2008).

7 Zur Bedeutung des Begriffs in der jüdischen Tradition vgl. Kuschel 2015: 561.

8 Eine Auswahlausgabe seiner wichtigsten Werke erscheint zurzeit unter der Herausgeberschaft von Hans-Gerd Koch und Hans Dieter Zimmermann im Göttinger Wallstein Verlag.

9 Brods Autobiographie Ein streitbares Leben (1960) beschreibt die Einzelheiten dieser Flucht.

10 Brod kann als routinierter Autor mehrerer historischer Romane gelten: Tycho Brahes Weg zu Gott (2013 [1915]), Rëubeni, Fürst der Juden (1977 [1925]), Galilei in Gefangenschaft (1948), Armer Cicero (1955), Johannes Reuchlin und sein Kampf (2022 [1965]).

11 Vgl. Strelka 1987. Brod selbst hat in seinem Nachwort diese und weitere Diskrepanzen von Literatur und Wirklichkeit freimütig eingeräumt (vgl. Brod 2015b: 530f.).

12 »Um die neunte Stunde aber schrie Jesus auf mit lauter Stimme und sagte: Eli, Eli, lama sabachtani?, das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Matthäus 27,46; die Evangelien werden zitiert nach der Ausgabe Die Bibel 2016); »Und zur neunten Stunde schrie Jesus mit lauter Stimme: Eloi, Eloi, lama sabachtani?, was übersetzt ist: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Markus 15,34). Brod hat die Klage des sterbenden Jesu zu einer Elegie ausgearbeitet, deren Urheberschaft freilich ungeklärt bleibt und die zum Beispiel auch aus der Perspektive eines mitleidenden Betrachters gesprochen sein kann (vgl. Brod 2015a: 507f.).

13 Zur Judasfigur bei Heym vgl. Brittnacher 2016, bei Andrejew Brittnacher 2017.

14 Der Judas des Max Brod erinnert darin an den Judas in Nikos Katzantzakis’ ein Jahr früher erschienenem Roman O telefteos pirasmos (Die letzte Versuchung, 1951), in der es Judas’ Verdienst ist, Jesus wiederholt an seine Pflicht zu erinnern, im Dienste der menschlichen Erlösung sterben zu müssen.

15 Die Apostelgeschichte 18–20 erzählt Judas’ Tod anders.

Literatur

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