Gustav René Hockes Abenteuer in Italien
Der ›südliche Blick‹ in einem Reiseroman der 1930er Jahre
AbstractIn 1939, Gustav René Hocke published the first version of the travel novel The vanished face. An adventure in Italy, in which he searches for a reconciliation between tradition and modernity thought possible in southern Italy and especially in Calabria and Apulia, far from the usual travel routes. The sea, the landscape, where a mythical atmosphere is unexpectedly still perceived, and the people of Italian Magna Graecia, which proves to be a contact zone of cultures, evoke an ecstatic experience that captivates the protagonist of the text. This article aims to analyse the literary imagination of the Mediterranean area and the southern Italian regions explored by the German journalist, narrator and cultural historian Hocke in fascist Italy in more detail. In its marginality, this ›southern perspective‹, which once again delves into the relationship between Europe and its Other, can indeed offer, or at least hint at the possibility of a pause and an alternative life project, and make one particularly feel the distance to an insane time.
TitleGustav René Hocke’s Adventures in Italy. The ›Southern Perspective‹ in a Travel Novel of the 1930s
KeywordsGustav René Hocke (1908–1985); travel novel; Magna Graecia; southern perspective; mediterrean imagination
1. Gustav René Hocke und die Magna Graecia
Der Journalist, Erzähler und Kulturhistoriker Gustav René Hocke, bekannter als Erforscher manieristischer Labyrinthe in Literatur und Kunst (man denke an seine Studien Die Welt als Labyrinth, 1957, oder Manierismus in der Literatur, 1959), ist ein außergewöhnlicher Schriftsteller und Reisender. Hocke, der in Berlin, Bonn und Paris studierte und zum engeren Kreis von Ernst Robert Curtius gehörte, begann 1937 während der Nazidiktatur als Journalist für die Kölnische Zeitung zu arbeiten, wo er als Feuilletonredakteur eine bedeutende Position einnahm. Im gleichen Jahr unternahm er eine Reise nach Italien und besuchte den von ihm als das griechische Unteritalien bezeichneten Landstrich, die sogenannte Magna Graecia (d.h. die von griechischen Siedlerinnen und Siedlern ab dem 8. Jahrhundert v. Chr. kolonisierten Regionen Süditaliens), deren Landschaft mit ihrer unberührten Schönheit ihn sehr beeindruckte. Durch einen weiteren Aufenthalt in Italien konnte Hocke dem nationalsozialistischen Deutschland entkommen, und zwar zog er 1940 als Korrespondent der Kölnischen Zeitung nach Rom, wo er dann in der von den deutschen Truppen besetzten Stadt untertauchte.1 Wie für andere deutsche Schriftstellerinnen und Schriftsteller wurde auch für ihn Italien »zum literarischen Schauplatz eines Versuchs, eine unbequeme Gegenwart zu überwinden, eine Zeit dramatischer Umwälzungen, des Krieges und der materiellen und geistigen Zerstörung«.2 Es stellt sich die Frage – wenn auch nicht in diesem Kontext–, inwieweit Hockes schriftstellerische Entwicklung exemplarisch ist für die Bedingungen des Schreibens jener Gruppierung von deutschsprachigen Autorinnen und Autoren, die Anfang des Jahrhunderts geboren wurden, meistens gegen Ende der Weimarer Republik mit dem Schreiben begannen, während des Dritten Reichs, ohne sich total anzupassen, weiter schreiben und publizieren konnten und wollten und ins faschistische Italien ›auswanderten‹.3
1937 hatte Hocke einen Aufsatz mit dem Titel Reise und Kultur veröffentlicht, in dem er die für ihn besondere Bedeutung des Reiseberichts als Wegweiser aus der Krise der 1930er Jahre erörterte: Reiseliteratur sei eine Art »[p]olitische Moralistik« (Hocke 1937: 12). 1939 publizierte er die erste Fassung seines Reiseromans Das verschwundene Gesicht. Ein Abenteuer in Italien (der 1960 eine erweiterte und überarbeitete zweite Fassung mit dem Titel Magna Graecia. Wanderungen durch das griechische Unteritalien folgte), der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist. Auf dieser Reise wird die Suche nach einer in Süditalien für möglich gehaltenen Aussöhnung zwischen Tradition und Moderne inszeniert, insbesondere in den fern der üblichen Reiserouten liegenden großgriechischen Regionen Kalabrien und Apulien.4 Das verschwundene Gesicht sucht also nach einer Orientierung oder Reorientierung an antiken Vorbildern, als möglicher Perspektive für eine kulturelle Erneuerung in der Gegenwart (vgl. Graf 1995).5
Bereits Ernst Robert Curtius erkannte »im südlichen Endpunkt […] die Wurzel einer europäischen Gesinnung, die schon von altersher Tradition und Modernität vereint« (Hocke 1966: 693), und ganz in diesem Sinne enthält dieser von symbolträchtigen Orten durchdrungene italienische Süden auch für Hocke die Wurzeln der modernen europäischen Kultur. Italiens Magna Graecia verbinde Athen und Rom und habe wichtige Spuren ihrer eigenen Zivilisation hinterlassen: Zu diesen gehören neben Paestum die Tempel von Locri und Metapontum. Seit Ende des 7. Jahrhunderts v. Chr. war Metapontum eine der wichtigsten griechischen Kolonien in Süditalien und auch die Stadt, in der Pythagoras, eine zentrale Figur in Hockes Buch, sein Leben beendete. Ob es sich bei Hocke nur um eine »Fixierung auf Großgriechenland […], die im Begriff der Ordnung und im Bild der dorischen Säule zutage tritt« (Peitsch 1999: 57),6 handelt, wie die These von Helmut Peitsch – auch auf Ernst Jünger und Gottfried Benn bezogen – in einem der wenigen Beiträge zu Hockes Text lautet, möchte ich hier bezweifeln.
2. Anders denken
Der Protagonist des Reiseromans ist ein junger Deutscher namens Manfred, der sich auf eine Reise begibt, um ein unbekanntes, von philosophischer Kultur erfülltes Süditalien zu entdecken. Zwar ist sein Name eine Anspielung auf die von den Staufern gegründete Stadt Manfredonia in Apulien, aber es ist nicht die Geschichte der Staufer und Normannen, die seinen Blick auf die vernachlässigte Kulturlandschaft lenkt. Die Wahl einer bestimmten Reiseroute wird durch eine andere Vorstellung der Antike beeinflusst, die sich u.a. aus der Rezeption der Mythenforschung im Gefolge von J.J. Bachofen (vgl. Hocke 1939: 109; Graf 1995: 228) und aus den Forschungen des im Buch erwähnten Frobenius (Hocke 1939: 29) ergibt. Der Protagonist des Romans führt uns dann in apulische und kalabrische Städte wie Tarent, Metapont, Kroton, Locri oder Sybaris, wo sich seiner Ansicht nach das mathematische Gleichgewicht der architektonischen Schönheit mit der plastischen Harmonie der Statuen verbindet, welche die Mythen des antiken Griechenlands verkörpern. Entlang seiner Reiseroute von Süden nach Norden – von der Kathedrale in Otranto bis zum Stauferschloss Castel del Monte – findet Manfred auch in Gesprächen mit den Einwohnerinnen und Einwohnern von Lecce oder im merkantilistischen Geist der Leute von Bari7 überall dasselbe harmonische Gleichgewicht und den Sinn für die Kultur der antiken Griechen.
Hocke erzählt von der Magna Graecia als der Wiege der Zivilisation in Süditalien, wobei die Ostküste zwischen Brindisi und Manfredonia eigentlich nur geringfügig von Griechen besiedelt war. Römer, Normannen und Staufer hatten auf das historische Schicksal dieses Gebiets einen viel größeren Einfluss. Die älteste griechische Kolonisation geht auf das 8. Jahrhundert v. Chr. zurück, während die eigentliche Auswanderung der Griechen erst im 14. Jahrhundert n. Chr. stattfand, als Folge der Eroberung Griechenlands durch das Osmanische Reich (vgl. Hocke 1939: 39f.). Das Erbe der Magna Graecia stößt nach Ansicht Hockes auf eine geringe Wertschätzung, und so verweist er auf das seltsame »Schicksal eines Landes, das abseits der einmal geschaffenen klassischen italienischen Reiserouten liegt« (ebd.: 31). Diese Situation würde sich in seiner Zeit erneut wiederholen, denn das faschistische Italien habe eines der kulturell und geistig wertvollsten Gebiete der Antike genauso beiseitegeschoben, wie es bereits die alten Römer taten.
Manfreds (und Hockes) literarisches und künstlerisches Reisen durch Süditalien wird nicht nur zu einer Entdeckungsreise, sondern auch zu einer inneren Reise, auf der man einen bedrückenden Alltag hinter sich gelassen hat. Diesbezüglich ist allerdings nur vom Wettlauf um einen irrsinnigen Fortschritt die Rede, genauere historische und politische Angaben werden nicht gemacht. Wenn es in Italien für einen Augenblick gelingt, die Widersprüche des modernen Lebens zusammenzuhalten, Ursprung und Ende der Welt in einem zu erfassen, dann wird gerade die Erfahrung in diesem Land zum Vehikel nicht allein der subjektiven, sondern auch der historischen Erfahrung, derjenigen einer ›Zivilisation‹, die zu einer progressiven Zerstörung traditionsreicher Mythologien führt. Die mythische und imaginierte Vergangenheit wird in den Gesprächen mit den Einheimischen wiederbelebt und bietet nicht nur eine Zuflucht aus der entfremdeten Gegenwart, sondern ermöglicht auch neue mediterrane Imaginationen. Festgemacht wird dies an der Figur des italienischen Grafen C., den Manfred auf seiner Reise durch Apulien kennenlernt und mit dem er sich lange unterhält. Der Graf erzählt viel von dem regen geistigen Leben in dieser Region, das maßgeblich von dem griechischen Mathematiker und Philosophen Pythagoras und seiner vermutlich um 530 v. Chr. in Kroton gegründeten Schule geprägt wurde. Um das Gefühl der in der modernen Wirklichkeit verloren gegangenen Harmonie mit der Welt wiederherzustellen, fordert der Graf eine Neuinterpretation seiner Gedanken. Die Magna Graecia sei der Ort des pythagoreischen Phänomens der mythischen Erneuerung, »Schnittpunkt zwischen Okzident und Orient« (ebd.: 109). Hier befinde sich »[d]ie europäische Heimat dieses erneuernden Willens« (ebd.: 119), in der Landschaft, die nah und neu-alt wirkt. Der auf Pythagoras zurückgehende Gedankengang ist in der Tat nicht neu und ein Anziehungspunkt für jene Gelehrten, die dem Vorhandensein von Elementen religiöser Weisheit im archaischen griechischen Denken und deren möglicher Ableitung aus den Kulturen des Nahen Ostens besondere Aufmerksamkeit schenken (in diesem Zusammenhang ist der Name Walter Burkert zu nennen). Der Figur des Pythagoras wird eine ästhetisch-mathematische Vision des Universums zugeschrieben. Alle Dinge existieren, weil sie geordnet sind, und sie sind geordnet, weil in ihnen mathematische und musikalische Gesetze verwirklicht sind, die sowohl Bedingungen der Existenz als auch der Schönheit sind. Die pythagoreische Vorstellung von der mathematischen Struktur der Wirklichkeit, von der mathematischen Regelmäßigkeit der Dinge und von der mathematischen Ordnung der Natur deutet auf die mathematische Natur des Universums hin und die Anwendbarkeit der Mathematik auf die Phänomene als Schlüssel zum Verständnis der Welt. Die Einzigartigkeit des pythagoreischen Denkens in Hockes Reiseroman hat auch nach der Interpretation des im Text genannten Physikers Werner Heisenberg (vgl. ebd.: 120) etwas mit Süditalien zu tun und mit der Herausbildung der Grundlagen des europäischen Denkens. Laut Graf C. ist Pythagoras »Mythosoph, Künder der Mythen eines goldenen entschwundenen Zeitalters des Pelasger« (ebd.: 104), der erste Schöpfer und Bote eines neuen europäischen Menschen, geistig offen und beseelt von modernen, konstruktiven Absichten. Nach seinem Lehrer habe sich der pythagoreische Orden in allen Städten der Magna Graecia weit verbreitet und »wahre Wunder an Vertiefung und Klärung des Lebensgefühls« (ebd.: 73) bewirkt. Die Vertreibung der Pythagoreer aus Sybaris, nachdem man sie der Intoleranz, des Autoritarismus und der Tyrannei beschuldigt hatte, leitete nach der Auffassung des Grafen ihr Ende ein. Tatsächlich versuchten die Pythagoreer vergeblich, eine Reform der Sitten und eine Wiederbelebung der Werte und Ideale einzuführen, wie sie im Rest der Magna Graecia weit verbreitet waren. Als es zu einer direkten Konfrontation zwischen Sybaris und Kroton kam, wurden die Sybariten trotz klarer zahlenmäßiger Überlegenheit blutig besiegt und die Stadt in Schutt und Asche gelegt.
Am Ende seiner Reise wird Manfred in Apulien, vor der Kathedrale am Meer in Trani, das »verschwundene Gesicht« wiederfinden, »durch das einst die Menschen von ihrer Verbundenheit mit allem Ursprung kündeten […] [.] Gerade hier in diesem Land« (ebd.:239). Die Landschaft, die den autobiographischen Protagonisten des Textes in den Bann zieht, ruft eine ekstatische Erfahrung hervor, wie auf den letzten Buchseiten zu lesen ist:
Die ungefügen Wellenbrecher zogen sich weit ins Meer hinein, schlafende Amphybien der Urzeit, die, den Kopf im weichen Sand gebettet, zu neuem Meeresraub die Kraft schöpfen. […] Und dann stand er im Garten der Stadt, in der Villa, mitten unter betäubenden Orangenbäumen. Oleander blühte, Geranien, in eigener Dichte erstickende Nelken, fast brechende Rosenstöcke, Palmen. […] [D]ie einsame Bank, von der aus man das transparente Juwel ganz überblickte, hatte die Kraft eines Wunders. Saß man auf ihr und schaute man in den Raum hinaus, so verlor die Zeit ihre Dauer. Stunden wirkten wie Sekunden, und jede Sekunde war doch eine zeitlose Ewigkeit. Hier ist alles behütet, was auch für die Zukunft der Heutigen schon als Bereitschaft in den Herzen sich regt. Bilder tauchen auf. Alles Werdende schoß zur Form zusammen (ebd.: 236, 238).
Lebensfreude und -bejahung werden in diesem als Gegenbild zu den aggressiven Bewegungen und Machtpolitiken der Zeit stilisierten Süden ausgesprochen. Dieser wird so zu einer poetischen Stimmung, zu einem inneren Süden, der erlebt und gefunden oder, wie man auch sagen könnte, neu erfunden wird. Er wird zu einem Ort, der einerseits dem Reisenden Erfahrungen vermittelt, aber an dem der Autor Hocke andererseits auch seine Kalligraphie ausübt, die er später in dem Artikel Deutsche Kalligraphie oder: Glanz und Elend der modernen Literatur (1946; vgl. Hocke 1962) als Suche nach einer literarischen Form zur Vorbeugung gegen politische Sanktionen zur NS-Zeit rechtfertigen wird. Dieses Verfahren, das auf den Literaturstreit im Italien der Jahrhundertwende anspielt (calligrafisti, d.h. ›Schönschreiber‹, gegen contenutisti, d.h. ›Inhaltler‹),8 so schreibt er in diesem Artikel, habe damals einen »unmißverständlichen Sinn« gehabt und einige »untadelige Ergebnisse« erzielt, wirke aber in der Nachkriegszeit, da die Gefahr der Zensur nicht mehr gegeben sei, »hohl« und werde »geistig illegitim« (ebd.: 204).
3. Eine mediterrane Alternative?
Mit der Reiseliteratur in der Zeit des Dritten Reiches und insbesondere mit den Reisebüchern von Autoren der sogenannten Jungen Generation haben sich schon einige Studien befasst (vgl. Graf 1995; Brenner 1997; Streim 1999).9 Italien bleibt in den dreißiger Jahren beliebtes Reiseziel, auch im Rahmen einer Wiederentdeckung des Mittelmeerraumes während des Nationalsozialismus. Geopolitisch war die Mittelmeerregion für die Nationalsozialisten zwar nicht so interessant wie Russland oder Polen, aber es gab auch militärhistorische Betrachtungen zur Mittelmeerregion; und wie eine Anzahl von Publikationen Mitte der 1930er Jahre belegt, zeigte man für die mediterranen Länder durchaus Aufmerksamkeit. Auch Italien betrieb bekanntermaßen eine koloniale Expansionspolitik in Nordafrika10 und so wurde die berüchtigte ›Achse‹ Berlin-Rom geschmiedet. Geostrategisch stand man sich im Mittelmeer kaum im Weg: Mussolini wollte in römisch-imperialer Tradition das Mittelmeer zu einem italienischen Binnenmeer machen und gemeinsam unterstützte man u.a. die Franco-Putschisten im Spanischen Bürgerkrieg.
Davon findet sich in Hockes Reiseroman offensichtlich keine Erwähnung. Der Protagonist, ein junger Deutscher, der sich, wie gesagt, auf die Reise begibt, um ein ihm unbekanntes, von philosophischer Kultur durchdrungenes Süditalien zu entdecken, besucht einige besondere, das mediterrane Ambiente prägende Ortschaften, von denen sich Autor und fiktive Romanfigur angezogen fühlen. Hocke greift auf einen spezifischen Teil Süditaliens und des Mittelmeerraums als geistige Ressource zurück und als Chance, kulturelle Kontinuitäten aufzuspüren. Die Gegenwart mit ihrem schweren Gepäck aus Diktaturen, Krieg und Exil spart er dabei völlig aus. Dieser Süden wird für ihn – auch in der zweiten Fassung der 1960er Jahre – zum Bollwerk gegen die Ausbreitung der Hegemonie eines zynischen Kapitalismus, der vor dem ›Amerikanismus‹ bewahren kann (vgl. Hocke 1939: 37). Das gegenwärtige Leben in all seinen Facetten bildet in seiner Erfahrung aber nur die dünnste Schicht von Erscheinungen an der Oberfläche, durch die stets die Vergangenheit durchschimmert. Gerade die Andersartigkeit dieses Südens hält dem modernen Europa den Spiegel einer verlorenen Welt der Antike vor, der unberührten Natur und der ›Ursprünge‹ (»in dem noch ein ursprüngliches Bild des Menschen verborgen ist«, ebd.: 10). An die Stelle konkreter individueller und politischer Freiheiten treten – könnte man sagen – Bilder von räumlich naher Natur und zeitlich ferner Geschichte.
Das Mittelmeer und der Süden als Orte der Andersartigkeit haben bekanntlich lange Tradition und werden in neuen Studien kritisch reflektiert und dekonstruiert. Imagologisch fungierte und fungiert Italien immer noch »als pars pro toto des Mittelmeerraums«, wie Dieter Heimböckel treffend anmerkt, und als »Sinnbild des Südens [und] dessen Marginalisierung« (Heimböckel 2017: 79).11 In den letzten Jahren werden das Mittelmeer und seine Dynamiken dank interdisziplinärem, internationalem und methodisch wie theoretisch innovativem Forschungs- und Diskussionszusammenhang auch im Rahmen eines vieldiskutierten Mediterranismus12 genauer untersucht. An dieser Stelle könnte noch der reflexive Mediterranismus des italienischen Soziologen Franco Cassano herangezogen werden, der das Mittelmeer als einen für ein stabiles menschliches Zusammenleben geeigneten Raum beschreibt, als Alternative auch auf sozialer, kultureller und politischer Ebene. Die von Cassano aufgestellten Thesen von einem pensiero meridiano13(»südliches Denken«/southern thought)14 aus dem Jahr 1996 zielen darauf ab, dem Begriff des Südens einen inklusiven Charakter zu verleihen, d.h., in dieses abgenutzte Etikett ein weites Gebiet von Völkern und Regionen einzubringen, die seit jeher nicht nur den Zustand der Marginalität teilen, sondern auch eine gemeinsame Erfahrung bei der Entschlüsselung des Rätsels der Zeit. Cassano, der sich der Kritik der globalen Moderne anschließt, konzentriert sich auf die menschlichen Folgen des Regimes der zeitlichen Beschleunigung, das durch die kapitalistische Moderne eingeleitet wurde. »Il mondo meridiano«, die Welt des Südens, entsteht hier aus dem Gefühl heraus, am Rande des westlichen Projekts zu stehen – wenn wir mit dem Westen das sogenannte Europa der Märkte und Banken, das ›effizientistische‹ Europa meinen –, und entwirft eine alternative Lesart der Gegenwart, einer Gegenwart, die sich irrigerweise in der vergeblichen Suche nach unerreichbaren Modellen verausgabt. So bahnt sich die Vorstellung von einem Süden an, der sich nicht auf eine einzige Entwicklungslogik reduzieren lässt.15 Die Bedeutung des »südlichen Denkens« liegt, abgesehen von einem Gefühl der Nostalgie, in der Kritik oder Dekonstruktion der Auswüchse der Modernität. Die Einheit, die Originalität und die kulturelle Vielfalt des mediterranen »Pluriversums« (Cassano 2012: 147; Übers. L.P.C.) sind in dieser Perspektive ein historisches und politisches Erbe, das Gefahr laufe, ausgelöscht zu werden, da es von ›transatlantischen‹ Bindungen – wie im Buch L’alternativa mediterranea (Cassano/Zolo 2007) angedeutet – überlagert wird, die nicht nur das Zusammenleben der Mittelmeervölker, sondern auch die internationale Ordnung und den Frieden gefährden.
Was verbindet nun das mediterrane Denken, die mediterrane Alternative und den Text eines deutschen Reisenden in der Magna Graecia? Hockes Einblicke stellen nicht nur eine Flucht in eine alte-neue Mythenwelt dar, die man in den süditalienischen Landschaften und Leuten zum letzten Mal lebendig verkörpert zu sehen glaubt, sondern werden zu einer Lebenserfahrung, die den Kompass des Reiseerlebnisses anders und fruchtbar orientiert. Dieser südliche Blick, der die Beziehung zwischen Europa und dessen ›verschwundenem Gesicht‹ thematisiert, kann tatsächlich die Möglichkeit eines Innehaltens und eines alternativen Lebensprojektes anbieten oder zumindest erahnen und den Abstand zu einer irrsinnigen Zeit spüren lassen. Auf diese Weise wird auch so etwas wie ein mediterranes Denken angedeutet, das Cassanos Buch als eine richtige Alternative aufzeigt, das aber auch in andersartigen Konfigurationen zu finden ist. Eine eigenartige und unerwartete Ausformung eines südlichen Blicks stellt eben Hockes Gedankengang im Roman Das verschwundene Gesicht dar. Der von den beliebten touristischen Routen entfernte Süden, der Süden, den Goethe und die ganze Grand Tour nicht gesehen haben, kann für ihn richtungsweisend für alternative Lebensweisen sein. Dieses Stück Mittelmeerraum wird als ein Raum des Austausches angesehen, in dem bestimmte Arten der Wahrnehmung und der ästhetischen Produktion entstanden sind – kein rückständiger Ort, sondern das Zeugnis eines Andersseins; eine Art Gegenmittel gegen die forcierte Modernisierung, die das Gesicht Europas entstellte. Hier wird er dann Europas ›verschwundenes Gesicht‹ wiederfinden. Die Überreste der Vergangenheit werden dabei zu lebendigen Erinnerungen, zum kulturellen Erbe, auf dem eine andere Zukunft hätte aufgebaut werden können.
4. Fazit
In der dunklen Zeit des Nationalsozialismus, Rassismus und Imperialismus ist die Rückkehr zu einer mediterranen Vision für Gustav René Hocke eine Art der Auflehnung. Es stellt sich natürlich die Frage, ob das dafür ausreichend ist oder ob es sich eher um eine »Zeit- und Gegenwartsbewältigung« (Erhart 1990: 243) handelt. In beiden Fassungen seines Reiseromans will Hocke in diesem Süden einen Ort des Widerstands gegen homologisierende Modelle erkennen. Hocke findet oder eben erfindet in der verdrängten Episteme des antiken griechischen Denkens einen neomediterranen Humanismus, der es ermöglichen soll, einen geopolitischen und geokulturellen Kontext der Koexistenz neu zu entwerfen. So findet er z.B. geglückte Synthesen antiker und christlicher Elemente in den Kirchen – »die Metamorphose des Olymps in einer Heiligenprozession«, »Urbilder der Gottheiten, die ihr Antlitz, nicht aber ihr Wesen verwandeln können« (Hocke 1939: 24) –, welche die Kontinuität einer bedroht erscheinenden abendländischen Kultur bestätigen. Auch wenn seine Vision vorerst eine fragwürdige kulturelle Hypothese sein mag, so gibt sie doch den Anstoß zu einer Wiederentdeckung oder Wiedergewinnung einer differenzierten, autonomen Andersartigkeit. Somit lässt sich mit Cassanos Worten abschließen: »nicht den Süden […] im Lichte der Modernität zu denken, sondern die Modernität im Lichte des Südens zu denken«16 und den Mittelmeerraum als ein »Pluriversum« anzusehen, das »uns erlaubt, jeden fundamentalistischen Anspruch zu dekonstruieren«.17
Anmerkungen
1 1949 wurde er als erster deutscher Pressekorrespondent seit Ende des Zweiten Weltkriegs vom italienischen Außenministerium akkreditiert und nach Rom entsandt. Für seine Studien über die Ewige Stadt erhielt er den von Präsident Gronchi verliehenen Ersten Internationalen Rom-Preis. In Rom wird er später die Werke, die ihn berühmt machen sollten, verfassen: eben Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst (1957), das erst 1989 ins Italienische übersetzt wurde, und das zwei Jahre später verfasste komplementäre Buch zum literarischen Manierismus Manierismus in der Literatur (1959).
2 »[L]uogo letterario di un tentativo di superare un presente scomodo, un periodo di sconvolgimenti drammatici, di guerre e distruzioni materiali e spirituali« (Verrienti 2001: 69; Übers. L.P.C.). »Hockes Eskapismus ist der Versuch, dem politischen und sozialen Totalitarismus zu entfliehen, moderne Geistigkeit und Technik als Gegenwelt zum Nationalsozialismus zu erforschen, und die wandelbare Geschichte als behauptete Dauer zu entdecken und zu verstehen«, so Detlef Haberland in seinem anlässlich des 100. Geburtstags von Gustav René Hocke am 2. März 2008 in der Albert-Vigoleis-Thelen-Stadtbibliothek in Viersen gehaltenen Vortrag (Haberland 2008: 7).
3 Angezogen von den günstigen Bedingungen des deutsch-italienischen Bündnisses (Einreise ohne Visum und Möglichkeit einer Aufenthaltsgenehmigung), den niedrigen Lebenskosten und den optimistischen Einschätzungen des faschistischen Regimes, die sich später mit der Verabschiedung der Rassengesetze im Jahr 1938 als falsch erwiesen, fanden einige Exilantinnen und Exilanten vorübergehend Zuflucht in Italien und lebten in einem Zustand zwischen Exil und innerer Emigration.
4 »Apulien findet man auf einer italienischen Landkarte, es ist eins der unbekannten Teile Italiens, ein altes Land, Teil Großgriechenlands, Langobardenstraße, diffus in seinen Zeugnissen, Sandsteinbarock in Lecce, Gotik in Trani und Bari, griechische Kirchen in Gallipoli […], die Deutschen sind selten bis [hier]her gekommen […] [,] klassische Italienwege führen nicht dorthin«, schreibt Ingeborg Bachmann im Text Zur Entstehung des Titels »In Apulien« (2005: 187). In den Jahren 1953 bis 1957 besuchte Bachmann den Kreis der deutschen Intellektuellen in Rom, darunter Gustav René Hocke, Hermann Kesten und Marie Luise Kaschnitz.
5 Hocke gehört, wie Gregor Streim anmerkt, »zu den jungen deutschen Intellektuellen, die um 1900 Orientierung jenseits von Rationalismus und Irrationalismus suchen« (Streim 2008: 91).
6 »Indem Hocke auf Benns Konzept des Dorischen zurückgriff, erwies sich das Griechische des von ihm bereisten Italien keineswegs als humanistischer Fluchtraum, sondern als Medium einer Identifikation mit dem Faschismus« (Peitsch 1999: 65). Zu dieser Identifikation mit dem italienischen Faschismus finden sich meiner Meinung nach kaum Anhaltspunkte.
7 In Das verschwundene Gesicht ist, wie Graf anmerkt, »[g]erade die positive Darstellung der modernistischen Architektur in Bari mit ihrem an die Bauhausideen angelehnten Baustil des stilo [sic!] razionale […] als Gegenbild zu den reaktionären Tendenzen während des Nationalsozialismus in Deutschland gerichtet« (Graf 1995: 270).
8 Calligrafisti waren die Schriftsteller, die für eine rein ästhetische Kunst der Worte eintraten. Im Gegensatz dazu standen die contenutisti, die für die Wahrhaftigkeit der Inhalte standen. Hocke warnt vor dem Fortwirken des Ästhetizismus nach 1945.
9 Grafs Studie widmet dem Reiseroman Hockes, den er aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet, einen breiten und ausführlichen Abschnitt.
10 »Ein Grund für die Konjunktur des Mittelmeers in der Reiseliteratur der dreißiger Jahre war die wiedergewonnene weltpolitische Bedeutung des Mittelmeerraumes. Durch den Spanischen Bürgerkrieg, die Palästinafrage, die koloniale Expansion Italiens in Nordafrika (Libyen und Äthiopien) oder auch die heute weitgehend vergessenen Krisen um die strategisch wichtigen Meerengen zwischen Gibraltar und Marokko, die Dardanellen und den Bosporus und nicht zuletzt um den Suez-Kanal war das Interesse der Öffentlichkeit in den dreißiger Jahren auf das Mittelmeer gerichtet. Angesichts der damit verbundenen Sensibilisierung des Publikums für das Mittelmeergebiet konnte sich während des Nationalsozialismus eine erfolgreiche Sachbuchliteratur entwickeln, die einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Problemgebieten als Das Weltgeschehen am Mittelmeer bei Margret Boveri oder gar als ›völkischen Entscheidungsraum‹ bei Hans Hummel und Wulf Siebert aufweisen wollte« (Graf 1995: 328f.).
11 »Wofür das Konzept sensibilisiert, ist der Umstand, dass wir es beim Mittelmeer und seinem Raum mit keiner ontologischen Entität, sondern mit einer räumlichen Wahrnehmung und Konstruktion zu tun haben, an deren Erzeugung ganz unterschiedliche Akteure beteiligt sind« (Heimböckel 2017: 81f.).
12 Bekanntlich wurde der Neologismus ›Mediterranismus‹ von dem Anthropologen Michael Herzfeld (1987) in seinem Buch Anthropology through the Looking-Glass entwickelt. Herzfeld hebt hervor, wie die europäische Identität durch eine bestimmte (und willkürliche) Darstellung des Anderen konstruiert und gestärkt wurde, von dem ein vereinfachtes und oft abwertendes Bild vermittelt wurde, das dieses Andere als roh, primitiv und rückständig beschreibt.
13 Der Titel Il pensiero meridiano (meridiano aus dem lat. meridies, »Mezzogiorno«) ist aus Camus’ Roman Der Mann in der Revolte (1951) entlehnt. Anders als bei Camus, der das radikal-humane Moment bezeichnete, das nach seiner Auffassung Ethik und Lebensweise im Mittelmeerraum prägte, bedeutet bei Cassano mediterranes Denken, die Welt vom Süden aus zu verstehen.
14 Southern Thought and Other Essays on the Mediterranean lautet der Titel der amerikanischen Ausgabe (Cassano 2012).
15 Cassano betont eine mediterrane Dimension des Menschen, welche die Hybris oder den Willen zur Macht in Frage stellt, die für die Moderne typisch sind.
16 »Non pensare il sud alla luce della modernità ma al contrario pensare la modernità alla luce del sud« (Cassano 1996: 5; Übers. L.P.C.).
17 »[P]luriverse [that] allows us to deconstruct any fundamentalist claim« (Cassano 2012: 147; Übers. L.P.C.). Als Einheit in der Verschiedenheit transzendiert das mediterrane Pluriversum die epiphänomenalen Unterschiede in eine höhere Einheit: »The Mediterranean exposes the limits of any uni-versalism: it clearly shows that the unity of the human races depends on the plurality of directions, instead of their reductio ad unum. […] The Mediterranean stands there reminding us that between the fundamentalism of the land or the sea there is a balance of measure. There exists […] a civilization accustomed to a multi-dimensional geometry, a civilization that is never puzzled by the complexity of life« (ebd.: 6).
Literatur
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