Literarische Inszenierungen von kulturellen Europabildern in Anna Seghers Transit
AbstractThe following paper analyses Anna Seghers’ literary European discourse. As argued by Lützeler, literary texts make a great contribution to the articulation of the European imaginary. Starting from the premise that literary texts are embedded in historical and cultural discourses, it seeks to explore which cultural metaphors and topoi of space convey the notion of the European. The aesthetic process of the construction of reality, which will be explained by comparing Anna Seghers’ and Wolfgang Iser’s views on the dynamics of the real and the fictive, points to the strategies of representation and their function. At this point, the focus will be placed on the Atlantic, the Mediterranean Sea and by extension the port Marseille in order to reveal the intercultural and transcultural poetics of space. Nonetheless, not only the cultural representations of spaces, but also the refugee issue, which Hannah Arendt associates with the problem of the European representation of the other, are part of the European discourse.
TitleLiterary Constructions of the European Cultural Images in Anna Seghers’ Transit
KeywordsEuropean discourse; Mediterranean Sea; refugee; intercultural poetics of space; transcultural Utopia
1. Einführung
Im Aufsatz Transit des Europäischen: Poetik und Politik bei Anna Seghers fokussieren sich Till Breyer und Philipp Weber auf die Konstruktion von Europadarstellungen. Dabei zeigen sie den Übergang auf, »der von romantischen nationalen und nicht zuletzt nationalökonomischen Figuren eines europäischen Geistes zu dem Feld einer post-nationalen Problematisierung des Europäischen führt.« (Breyer/Weber 2019: 152) Die vorliegende Arbeit versteht sich als eine Ergänzung zur Aufarbeitung des literarischen Europadiskurses bei Anna Seghers. Anders als Breyer und Brenner, welche die Darstellungen des Europäischen aus einer erzähltheoretischen Perspektive analysieren, wird das Augenmerk auf die Inszenierungsstrategien von Europabildern gelenkt, die sich von »Geschichtsdeutungen, Mythen und Symbolen« (Lützeler 1998: 18; vgl. Conter 2004) ableiten lassen. Lateinamerika dient in dieser Hinsicht als Projektionsfläche europäischer Utopien. »Die Rede über Europa« (Conter 2004: 25) kristallisiert sich im kulturgeschichtlichen Diskurs über andere Räume und Kulturen heraus. In dieser Hinsicht gilt es zu untersuchen, welche europäischen Projektionen sich im Wechselverhältnis von Raum und Geschichte erschließen.
2. Zum Inszenierungsbegriff
In seiner Monographie Das Fiktive und das Imaginäre bezeichnet Wolfgang Iser die Inszenierung als eine »anthropologische Disposition« der Literatur, denn sie beruft sich auf einen Selektionsprozess von Elementen, die sich »aus den vorhandenen Umweltsystemen« speisen (Iser 1993: 24). Dabei bezieht er sich auf die soziokulturelle und historische Dimension der Literatur, denn der Inszenierungsprozess soll »in unterschiedlichen historischen Vorkommensweisen und systematischen Thematisierungen« verstanden werden (ebd.: 16). Das bedeutet, dass die im literarischen Text inszenierten kulturellen Bilder einer kulturgeschichtlichen Kontextualisierung bedürfen. Die literarische Konzeption Anna Seghers’ über Realismus wirft die Frage nach der ästhetischen Inszenierung von Wirklichkeit auf, die hier in Verbindung mit Isers Inszenierungsbegriff gesetzt wird. Beide plädieren dafür, dass die Literatur die Funktion hat, die Wirklichkeit gegenwärtig zu machen. Iser zufolge handelt es sich um eine fingierte Wirklichkeit, denn die Wirklichkeit wird durch den literarischen Selektionsprozess hergestellt: »Die in den Text übernommenen Elemente seiner Umwelt sind nicht in sich fiktiv, nur die Selektion ist ein Akt des Fingierens, durch den Systeme als Bezugsfelder gerade dadurch voneinander abgrenzbar werden, daß ihre Begrenzung überschritten wird.« (Ebd.: 25)
Im Briefwechsel mit Georg Lukács thematisiert Anna Seghers die Herausforderung der literarischen Darstellung des »[U]nmmittelbaren« (Lukács/Seghers 1971: 348). Von einem zweistufigen Schaffensprozess ausgehend,1 stellt Anna Seghers heraus, dass sich der Künstler eher auf die zweite Etappe des Schaffensprozesses fokussieren solle, die darin bestehe, aus der »unbewußten Aufnahme der Realität« »ein wirkliches, gesellschaftliches, zukunftsweisendes Kunstwerk« (ebd.: 347) zu machen. Der Prozess des ›Wieder-Unbewusst-Machens‹ der Realität entspricht der »Wiederholung« der Wirklichkeit, die Wolfgang Iser als einen Selektionsprozess versteht, in dem fiktive und reale Elemente ineinandergreifen (Iser 1993: 20). Die »Wiederholung« der Realität spiegelt die Überwindung der »Unmittelbarkeit« der Realität »der Krisenzeit, der Kriege« bei Anna Seghers wider, die im Schaffensprozess ästhetisch verarbeitet wird (Lukács/Seghers 1971: 348f.). Letzten Endes geht es um die Inszenierung der Realität, die »die Spannung zwischen unmittelbarer und wiedergestellter Präsenz« (Kiening 2006: 48) herbeiführt. Iser suggeriert, dass die Inszenierung »aus dem lebt, was sie nicht ist. Denn alles, was sich in ihre materialisiert, steht im Dienste eines Abwesenden, das durch Anwesendes zwar vergegenwärtigt wird, nicht aber selbst zur Gegenwart darf.« (Iser 1993: 511) In Anbetracht dessen wird untersucht, auf welche Effekte im Roman rekurriert wird, um die europäische Rede zu inszenieren.
Des Weiteren ist der Inszenierungsbegriff für die Beschäftigung mit der Konstruktion kultureller Alterität von erheblicher Relevanz. Die kulturellen Kodierungen des Raums sowie die Repräsentationen des Fremden sind textimmanent erzeugt. Im Zusammenhang damit verweist Mecklenburg darauf, dass die Aufgabe der Literaturwissenschaftler darin besteht, der Literatur die »Mittel zur gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit durchsichtig« (Mecklenburg 2008: 12) zu machen. Anhand der Inszenierung kann man die Darstellungsmechanismen offenlegen:
Die Metapher der Inszenierung deutet an: Die Art und Weise, wie Literatur kulturelle Differenzen und interkulturelle Probleme bearbeitet, hat den Charakter eines Spiels. Egal, ob in einem literarischen Werk kulturelle Differenzen festgeschrieben, umgeschrieben oder ›zerschrieben‹ werden, immer werden sie vorgeführt. Darauf zielt der Begriff des Performativen. Der Geltungsanspruch aller Repräsentationen wird suspendiert und problematisiert durch ihre ästhetische Präsentation oder performance. (Ebd.: 20; Hervorh. i.O.)
Für eine Analyse des literarischen Europadiskurses erweist sich der Inszenierungsbegriff als ergiebig nicht zuletzt deshalb, weil er das Augenmerk auf die zur Inszenierung dienenden Mittel lenkt, wie im Folgenden veranschaulicht werden soll.
3. Lateinamerika als transkulturelle Utopie
Die Flucht aus dem deutschen Konzentrationslager im Jahre 1937, der eine zweite aus dem Arbeitslager in der Nähe von Rouen folgt, führt den Protagonisten in Seghers’ Roman durch europäische Transitorte. Im Schatten der in Europa herrschenden dramatischen politischen Situation konfiguriert sich die Vorstellung von einem paradiesischen Ort, der irgendwo »da drüben« zu finden ist (Seghers 1985: 10). Bereits die Erfindung einer »besseren Zukunft als Alternative« an einem anderen Ort ist für den Europadiskurs unentbehrlich (Lützeler 2019: 306). Die Perspektive auf eine transkulturelle Erfahrung spiegelt sich in der Projizierung eines »da drüben« wider. Die transatlantische Überfahrt verweist auf die Negierung jeder Form von Grenze (vgl. Seiderer 2016: 75). Die Frage des Protagonisten nach der Existenz eines solchen Orts spielt auf die Funktion des Mythos an, der ein utopisches Potenzial zugrunde liegt: »Was machen alle Menschen da drüben, falls sie doch noch ankamen? […] [J]a, wenn es wirklich da drüben gäbe, die vollkommene Wildnis, die alle und alles verjüngt, dann könnte ich fast bereuen, nicht mitgefahren zu sein« (Seghers 1985: 10). Der Überseetopos, der in der europäischen geographischen Imagination mit Südamerika und Südpazifik verknüpft ist, hat sich aus der Reiseliteratur herauskristallisiert. Dass die Schriftsteller auf ethnographische Wissensbestände in ihren literarischen Texten zurückgreifen, kann nicht geleugnet werden. Im Hinblick auf den Roman Transit liegt es nahe, dass sich die Inszenierung von Europabildern von Südseestereotypen und -topoi ableiten lässt, die ein Bestandteil des exotischen Diskurses sind. Hans-Jürgen Lüsebrink definiert die Topoi als »[r]eduktionistische Formen der Fremdwahrnehmung«, die der Konstruktion von kultureller Alterität zugrunde liegen (Lüsebrink 2005: 87). Hierdurch ist die Vorstellung der verzweifelten Flüchtlinge von einer Welt jenseits des Ozeans aufschlussreich, die als Antipode zu in Europa herrschender Unordnung konzeptualisiert wird. Als Beispiel kann die Reise Alexander von Humboldts in die Neue Welt im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert angeführt werden, die Anlass zu europäischen Inszenierungen von Utopien gegeben hat. Somit wird der südamerikanische Kontinent zur »Grundlage paradiesischer Imagos« (Conter 2004: 291). 1799 verlässt der Forschungsreisende Alexander von Humboldt den europäischen Kontinent mit der Hoffnung, jenseits des Atlantischen Ozeans eine neue Welt zu entdecken, die der alten Welt der Aufklärung entgegengestellt wird. Dabei finden sich im Reisebericht Alexander von Humboldts Verklärungen der südamerikanischen Welt, von denen sich eine Europamüdigkeit ableiten lässt:
Seit unserem Eintritt in die heiße Zone wurden wir nicht müde, in jeder Nacht die Schönheit des südlichen Himmels zu bewundern, an dem, je weiter wir nach Süden vorrückten, immer neue Sternbilder vor unseren Blicken aufstiegen. Ein sonderbares, bis jetzt ganz unbekanntes Gefühl wird in einem rege, wenn man dem Äquator zu, und namentlich bei Übergang aus der anderen Halbkugel in die andere, die Sterne, die man von Kindheit auf kennt, immer tiefer hinabrücken und endlich verschwinden sieht. (Humboldt 1989: 40)
Die Erzählungen von der Welt »da drüben« hält der Erzähler dennoch für »Legende« und Gerüchte (Seghers 1985: 26). Bereits der Zweifel des Erzählers an einer glücklichen Existenz in der euen Welt dekuvriert den phantasievollen Charakter des europäischen Projekts. Mexiko stellt für die anderen Figuren nicht nur einen Zufluchtsort, sondern auch einen Sehnsuchts- und Imaginationsort dar. Die Schifffahrten in die »phantastische[n] Städte fremder Erdteile« (ebd.: 303), wie der Protagonist sie beschreibt, spielen auf das utopische Bedürfnis der Flüchtlinge an, in Südamerika eine neue Heimat finden zu können. Denn alle hofften »gerade mit diesem Schiff unseren Erdteil hinter sich zu lassen, ihr bisher gelebtes Leben, womöglich für immer den Tod.« (Ebd.: 72)
Im europäischen kulturellen Gedächtnis (vgl. ebd.: 35) figuriert Mexiko als ein üppig-tropisches Land, das als Chiffre für Exotismus begriffen werden kann. In Anbetracht dessen bringt der Ich-Erzähler exotische Bilder von den südamerikanischen Ländern hervor, »mit denen man schon aus der Knabenzeit vertraut war, ohne sie gesehen zu haben« (ebd.). Beim mexikanischen Konsulat schildert er die Begegnung mit dem Fremden: »Er war der erste Mexikaner meines Lebens. Ich betrachtete ihn neugierig. Auf meine Frage zuckte er nur mit den Achseln. […] Ich stelle mir alle Mexikaner wie ihn vor, breit, schweigsam, einäugig, ein Volk von Zyklopen. Man müßte alle Völker der Erde kennen, träumte ich.« (Ebd.: 36) Aus der Passage geht hervor, dass die Neugierde als eine reduktionistische Form von Fremdwahrnehmung funktionalisiert wird. Dass es sich um eine fiktionalisierte Rede von Lateinamerika handelt, macht der Hinweis darauf deutlich, dass der Protagonist kaum etwas über Mexiko gelesen hatte. Er wusste nur, dass es dort »Erdöl, Kakteen, riesige Strohhüte« (ebd.: 35) gab.
Im Gegensatz zu seinen Freunden ist der Protagonist kaum überzeugt, dass man jenseits des Ozeans eine neue Welt finden kann. Durch seine Entscheidung, in Europa zu bleiben, dezentriert er die kollektive Vorstellung von einem paradiesischen Ort. Die Umkehrung des europäischen Diskurses über die Neue Welt zeigt sich in der Entmystifizierung überkommener Südseestereotype. Somit semantisiert der Erzähler Europa als einen Raum der Möglichkeiten: »Es kommt mir vor, ich kenne das Land zu gut, seine Arbeit und seine Menschen, seine Berge und seine Pfirsiche und seine Trauben.« (Ebd.: 302) Die Möglichkeit, ein »glücklich[es]« und »neues« (ebd.: 9) Leben jenseits des Ozeans zu führen, ist nur eine Projektion des europäischen Flüchtlings, der seinem Schicksal entrinnen will.
4. Kulturelle Zwischenräume
Das Mittelmeer und der Hafen
Die Handlung des Romans spielt sich großenteils in der Hafenstadt Marseille ab, in die sich das Schicksal der ebenfalls zu einem Transit Gezwungenen einschreiben lässt. Der Hafen und das Mittelmeer stellen in kulturhistorischer Hinsicht zentrale Topographien des Europäischen dar. Im Zuge des topographical bzw. spatial turn wird das Augenmerk auf die kulturelle Semantik von Rauminszenierungen gerichtet (vgl. Weigel 2012). Dabei bleibt festzuhalten, dass der Mittelmeerdiskurs nolens volens in den kulturellen Europadiskurs einzubetten ist (vgl. Gross 2018: 6; Heimböckel 2018; Braudel 1990). Die Prägung Europas durch das Meer thematisiert der Ich-Erzähler wie folgt:
Auf einmal fand ich das Geschwätz nicht mehr ekelhaft, sondern großartig. Es war uraltes Hafengeschwätz, so alt wie der Alte Hafen selbst und noch älter. Wunderbarer, uralter Hafentratsch, der nie verstummt ist, solange es ein Mittelländisches Meer gegeben hat, phönizischer Klatsch und kretischer, griechischer Tratsch und römischer, niemals waren die Tratscher alle geworden, die bange waren um ihre Schiffsplätze und um ihre Gelder, auf der Flucht vor allen wirklichen und eingebildeten Schrecken der Erde. Mütter, die ihre Kinder, Kinder, die ihre Mütter verloren hatten. Reste aufgeriebener Armeen, geflohene Sklaven, aus allen Ländern verjagte Menschenhaufen, die schließlich am Meer ankamen, wo sie sich auf die Schiffe warfen, um neue Länder zu entdecken, aus denen sie wieder verjagt wurden; immer alle auf der Flucht vor dem Tod, in den Tod. (Seghers 1985: 98)
An der Passage lässt sich die Dialektik von Land und Meer ablesen. Unter diesem Gesichtspunkt gilt das Gegensatzpaar Land-Meer als Darstellungsprinzip der abendländischen Raumordnung (vgl. Weigel 2012: 34). In der Passage wird das Mittelmeer in den Mittelpunkt der geschichtlichen Transformationsprozesse von der Antike bis zur Neuzeit gerückt, wobei es eher als ein erzwungener Transitort zu begreifen ist. Hinzu kommt, dass die historische Bewegung von Menschen im Mittelmeerraum in einen globalen Zusammenhang eingeführt wird, dem Kolonisierung und Sklaverei zugrunde liegt. Insofern wird das Mittelmeer als interkultureller Schauplatz und Kommunikationsraum sowie imperialer Ort konzeptualisiert. Der Mittelmeerraum wird in der Leseszene nicht in der tradierten romantischen Hinsicht als ein Sehnsuchtsort dargestellt. Im Mittelpunkt stehen hingegen die mit dem Mittelmeer assoziierten komplexen kulturgeschichtlichen Phänomene, die sich aus dem ›Kampf der Kulturen‹ (vgl. Huntington 1996) herauskristallisiert haben.
Das Aufeinandertreffen der phönizischen, kretischen, griechischen und römischen Kulturen stand primär im Zeichen von Handel, Eroberung und Migration, was sich darin erkennen lässt, dass »die Tratscher [niemals] alle geworden [waren]«. Dabei geht es weniger um die Historiographie eines geographischen Raums als vielmehr um die ambivalente Semantik des Meers, auf die Ernst Baltrusch in seinem Text Antike Horizonte. Die Aneignung des Meers aufmerksam macht und die gleichwohl für die Auseinandersetzung mit den Migrationsbewegungen der Gegenwart relevant ist: »[E]s war elementare Bedrohung und beherrschbarer Raum, Trennendes und Verbindendes, Risiko und Chance, Gefängnis und Ort der Freiheit, kommunikatives oder die Kommunikation verhinderndes Element« (Baltrusch 2018: 17).
Die interkulturelle Metapher des »Hafentratsch[es]« bzw. des »Hafengeschwätz[es]« verweist auf die Funktion des Meers in der Geschichte Europas. Das Mittelmeer fungiert als der Zwischenraum, an dem die Kultur- und Austauschprozesse zwischen Europa und dem Rest der Welt nie aufgehört haben. Überdies richtet sie das Augenmerk auf das Phänomen von Mehrsprachigkeit, das die Vielfalt von Kulturen und Sprachen als Strukturprinzip der Europavision hypostasiert. Die diachronische Hinwendung zum Meer führt den Protagonisten zu einem Perspektivenwechsel: Das »ekelhaft[e]« Hafengeschwätz wandelt sich in ein »großartig[es]« um. Darin zeigt sich die Ästhetisierung des Hafens, der als ein transkultureller Erinnerungsort porträtiert wird (vgl. Gradinari 2020: 13). Die Rückbesinnung auf die kulturgeschichtliche Funktion des Hafens, der Meer und Land miteinander verbindet, rückt das Phänomen der Migration ins Blickfeld. Der Hafen verbirgt die kollektiven Erfahrungen der Flüchtlinge und die »Schiffsschicksale« (Seghers 1985: 9). Nicht nur der alte Hafen, sondern auch das Meer wird personifiziert. Hierdurch wird der Hass des Protagonisten dem Meer gegenüber veranschaulicht:
Das Meer lag unter mir. Die Arme der Leuchtfeuer auf der Corniche und auf den Inseln waren noch matt in der Dämmerung. Wie hatte ich doch das Meer gehaßt auf den Docks. Es war mir unbarmherzig erschienen in seiner unzugänglichen, seiner unmenschlichen Öde. Jetzt aber, nachdem ich mich bis hierher gequält hatte und auf einem langen Weg durch das zerrüttete und besudelte Land, da gab es für mich keinen größeren Trost als eben diese unmenschliche Leere und Öde, in ihrer Spurlosigkeit, ihrer Unbefleckbarkeit. (Ebd.: 48f.)
Das Meer hat in dieser Hinsicht keine räumlichen Attribute, sondern es dient als Projektionsfolie der Hoffnungslosigkeit des Erzählers. Der unzugängliche Charakter des Meers verweist auf den iterierten Zweifel des Protagonisten an einer möglichen Zukunft jenseits des Meers. Dem Meer wohnt ein Unbehagen inne, das darauf zurückführbar ist, dass es die Geschichte maskiert. In diesem Zusammenhang stellen die Leere und die Unbefleckbarkeit des Meers die latente Manifestation des Unbehagens der Geschichte dar. Die anfängliche Ruhe, die das Meer dem Protagonisten vermittelt, und seine Zugänglichkeit verwandeln sich rasant in Hoffnungslosigkeit (vgl. Seghers 1985: 47). Der Wandel der ästhetischen Wahrnehmung konfiguriert sich im Wechselspiel von Nähe und Ferne. Nachdem der Protagonist in Marseille angekommen war und zum ersten Mal das Meer erblickt hatte, glaubte er beinah, er sei am Ziel: »Wie ich begriff, daß das, was blau leuchtete am Ende der Canebière, bereits das Meer war, der Alte Hafen, da spürte ich endlich wieder nach soviel Unsinn und Elend das einzige wirkliche Glück, das jedem Menschen in jeder Sekunde zugänglich ist: das Glück, zu leben.« (Ebd.) Jedoch verschwindet die Euphorie des Protagonisten, sobald er sich dem Meer annähert und seiner Unzugänglichkeit bewusst wird.
Im Zuge der oben geschilderten Dialektik von Land und Meer ist der Hafen von großer Bedeutung. In die Architektur der Hafenstädte lässt sich die transitorische Bewegung des Flüchtlings einschreiben. Im Anschluss daran verweist Jürgen Osterhammel darauf, dass die Hafenstädte, zu denen er auch Marseille zählt, nicht nur »Magneten kurzfristigen Reisens und langfristiger Immigration, ›melting pots‹ oder auch Orte, in denen Gemeinschaften von Fremden nebeneinander her leben« (Osterhammel 2004: 178), sondern auch politische Zentren sind. Vor allem Seeherrschaft, Sklavenhandel, Verjagung charakterisieren den Ausgangspunkt der Herausbildung des komplexen Verhältnisses Europas zum Meer. Die kontinentale Identität Europas lief in der Kulturgeschichte stets auf das Land-Meer-Axiom hinaus: »Hier mußten immer Schiffe vor Anker gelegen haben, genau an dieser Stelle, weil hier Europa zu Ende war und das Meer hier einzahnte, immer hatte an dieser Stelle eine Herberge gestanden, weil hier eine Straße auf die Einzahnung mündete.« (Seghers 1985: 98) Für die Flüchtlinge stellt allerdings die französische Metropole, wo Europa zu Ende ist, eine Brücke zur Neuen Welt und zugleich eine Grenze zur Alten Welt dar.
Die historische Kodierung interkultureller Räume des Mittelmeers und des Hafens setzt der Protagonist mit der Historizität der Fluchterfahrung in Verbindung: »Ich fühle mich uralt, Jahrtausende alt, weil ich alles schon einmal erlebt habe […]. Verzweiflung überkam mich, Verzweiflung und Heimweh. Mich jammerten meine siebenundzwanzig vertanen, in fremde Länder verschütteten Jahre.« (Ebd.) Im Hinblick auf das Verhältnis von Geschichte und Raum suggeriert der Erzähler, dass der Flüchtling der Geschichte beraubt ist. Die Flucht wird zum geschichtlichen Vehikel im Leben des Individuums. Denn das Ziel des Flüchtlings besteht dabei nicht darin, »irgendwohin zu fahren« (ebd.: 56). In der Raumbewegung manifestiert sich wiederum die Identität des Fliehenden.
5. Die europäische Rede vom Fremden
Der Flüchtling und der Staatenlose
Wie man mit dem von Hannah Arendt mit der ,,Flüchtlingsfrage« (Arendt 2001: 575) gleichgesetzten »neue[n] Phänomen« der Staatenlosigkeit gesetzlich umgehen sollte, wurde zu einer brisanten europäischen Frage im Zuge der Friedensverträge von 1919 und 1920. Die Herausforderung, vor der die europäischen Nationalstaaten standen, war die Entwicklung eines gesetzlichen Vokabulars und Apparats, die auf die Denaturalisierung des Status des Fremden abzielten. Arendt gemäß stellt »die Denaturalisierung« die Verwandlung des Fremden in den Staatenlosen dar (ebd.: 589). Zum »Chaos« von Benennungskategorien des Fremden zählen »Flüchtling[e], Staatenlos[e], ›Wirtschaftsemigranten‹ und ›Touristen‹« (ebd.: 588). Im Roman Transit wird explizit die terminologische Willkürlichkeit thematisiert, die den Fremden entweder als Staatenlosen, Flüchtling oder Immigranten einordnet. In Hinsicht auf das »Fremdenamt« (Seghers 1985: 74), in dem Menschen betrachtet werden, als kämen sie »nicht von anderen Ländern, sondern von anderen Sternen« (ebd.: 124), wird nahegelegt, dass das Staunen der Beamten primär auf die Fremdheit der Menschen zurückzuführen ist. Dabei spielt das Interesse an der Nationalität der Menschen eine sekundäre Rolle.
Die willkürliche Bedeutungszuschreibung ist mit der Problematik der Identität eng verknüpft. Aufgrund der Tatsache, dass der Protagonist aufgrund seiner Flucht aus dem deutschen Konzentrationslager keine Papiere vorweisen und dementsprechend seine Identität nicht beweisen kann, helfen ihm die Binnets dabei, in Besitz »eine[s] Flüchtlingsschein[s]« (ebd.: 45) zu gelangen. An dieser Stelle lässt sich in erster Linie der Status des Fremden als Flüchtling thematisieren.: »Alles war auf der Flucht, alles war nur vorübergehend, aber wir wußten noch nicht, ob dieser Zustand bis morgen dauern würde oder noch ein paar Wochen oder Jahre oder gar unser ganzes Leben.« (Ebd.: 44) Eklatant ist, dass der Begriff ›staatenlos‹ im Roman vorwiegend implizit zum Ausdruck gebracht wird. Dass »[b]ei uns in Europa kaum mehr jemand die Staatsbürgerschaft seines Ursprungslandes [hat]«, deutet aber auf die Herausbildung des neuen Phänomens der Staatenlosigkeit sowie auf die Tatsache hin, dass Europa von »Fremden« (ebd.: 113) bevölkert wurde. Im Anschluss daran verweist Hanna Arendt pointiert darauf, dass der Verlust der Staatsbürgerschaft keineswegs den Verzicht auf Nationalität impliziert, denn die Nationalzugehörigkeit ist nicht mehr »mit der Zugehörigkeit zu einem staatlich gesicherten Territorium« (Arendt 2001: 590) identifizierbar. Daraus lässt sich schließen, dass sich die Grenzsetzung und -kontrolle nicht vorrangig auf das Räumliche beschränkt. Die Praktiken der Grenzziehungen zielen stattdessen auf den Körper des Fremden ab, der zum »Ort politischer und gesellschaftlicher Ordnungsversuche« (Frenking 2021: 61) avanciert. Auch Hannah Arendt suggeriert, dass die Funktion der Kontrollpraktiken der Nationalstaaten zum ersten Mal während des Zweiten Weltkrieges darin bestand, »direkt über Menschen zu verfügen und zu herrschen.« (Arendt 2001: 597) Entsprechend lässt sich das Europäische in den Praktiken der Dehumanisierung des Fremden zeigen. Die Flucht hat die Menschen entmenschlicht und in »Überreste« (Seghers 1985: 41) verwandelt.
Um die historische Wirklichkeit darzustellen, wird auf die Kontrollpraktiken rekurriert. Die Unmittelbarkeit der historischen Erfahrung, auf die sich Seghers im Briefwechsel mit Lukács bezieht, wird in Transit durch die Inszenierung einer fragmentarischen und transitorischen Welt erreicht, in der dem Individuum jedes Gefühl von Sicherheit und Stabilität genommen wird. Das Beobachten, Durchsuchen, Eingreifen und Einordnen nach äußerlichen Merkmalen gehören zu den häufigsten Herrschaftspraktiken des staatlichen Machtapparats. Die Todesangst, von den Deutschen gefangen zu werden, lässt sich an die rastlosen Wege zum Fremdenamt und an die Kontrollpraktiken knüpfen: »[E]ine unermüdliche Schar von Beamten war Tag und Nacht unterwegs wie Hundefänger, um verdächtige Menschen aus durchziehenden Haufen herauszufangen, sie in Stadtgefängnisse einzusperren, woraus sie dann in ein Lager verschleppt wurden« (ebd.: 42). Da die »Hundefänger« über die Gefühle der Menschen »jede Macht verloren haben«, visieren sie den Körper an (ebd.: 43). Jedoch transzendieren die Flüchtlinge den Verlust der Kontrolle über das Physische durch die transkulturelle Erfahrung der Verbundenheit. Auf der Ebene des Körperlichen werden die Grenzen gezogen, doch vollziehen sich Grenzüberschreitungsprozesse im Transit. Über die politisch markierten Grenzen hinaus treten die »Mittransitäre« in einen kollektiven Austausch, der die Traumata der Flucht zum Gegenstand hat:
Wir begrüßten uns nicht. Wir lächelten uns nur spöttisch an, weil jeder von uns sich im klaren darüber war, daß wir wohl oder übel einander noch hundertmal treffen mußten als Mittransitäre, wodurch das Leben nun einmal verknüpft war, selbst gegen unsere Neigung und gegen unseren Willen und sogar gegen das Schicksal. (Ebd.: 144)
Im Hinblick darauf lenkt Homi Bhabha (2019) in The barbed wire labyrinth: Thoughts on the culture of migration den Fokus auf die aus dem Labyrinth der Kontrollpraktiken entwickelte transkulturelle Solidarität der Migranten. Der Tatsache, dass die transkulturelle Erfahrung auf der Ebene des Individuums und weniger auf der Ebene der Institutionen realisiert werden kann, trägt Transit deutlich Rechnung. Trotz der differenten kulturellen, religiösen und ethnischen Prägungen, aufgrund deren Europa seine Fremden inszeniert, wird der Transit als ein transkultureller Raum hypostasiert, in dem die Mittransitäre mit den anderen »hoffen« und »leiden« (Seghers 1985: 40) können, wenngleich der transkulturelle Raum schließlich suspendiert bleibt.
6. Fazit
In den »institutionelle[n] und kulturelle[n] Europa-Diskurs« (Lützeler 2019: 306) lassen sich die literarischen Inszenierungen der europäischen Bilder im Roman Transit einordnen. In kulturell-geschichtlicher Hinsicht spielen die Raummetaphern des Mittelmeers und des Hafens eine wesentliche Rolle bei der Konstruktion von europäischen Vorstellungen. Dass sich Lateinamerika als Sujet des europäischen Diskurses auffassen lässt, ist dadurch begründet, dass eine der alten europäischen gegenüberstehende Weltordnung jenseits des Atlantiks projiziert wird. Demgegenüber artikuliert sich auf der institutionellen Ebene die europäische Rede vom Fremden, deren Aporien in der Willkürlichkeit der Benennung manifest werden.
Anmerkungen
1 Die erste Etappe des Schaffensprozesses besteht darin, dass der Künstler erst einmal die Realität »›scheinbar‹ unbewußt und ›unmittelbar‹« wahrnimmt, um sie ganz neu aufzunehmen, »als ob niemand von ihm dasselbe gesehen hätte, das längst Bewußte wird wieder unbewußt.« (Seghers 1971: 347)
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