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Zeitschrift für interkulturelle Germanistik – 14. Jahrgang, 2023, Heft 2: Text- und Warenverkehr in Konstantin Küsperts Theatertext sklaven leben (UA 2019) (Jens F. Heiderich)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik – 14. Jahrgang, 2023, Heft 2

Text- und Warenverkehr in Konstantin Küsperts Theatertext sklaven leben (UA 2019) (Jens F. Heiderich)

Text- und Warenverkehr in Konstantin Küsperts Theatertext sklaven leben (UA 2019)

Jens F. Heiderich

1. Einleitung

»welchen weg hat die lieblingsjeans genommen?« (Küspert 2019: 4).1 Diese und zahlreiche weitere ökonomiebezogene Fragen nach Warenströmen und -verkehr, Konsumption und Produktion, moderner Sklaverei2 und Ausbeutungsverhältnissen zwischen Globalem Norden und Globalem Süden erkundet Konstantin Küsperts Theaterstück sklaven leben (UA 2019). Dadurch, dass das Werk politisch und sozial Randständige auf die Bühne bringt und prekäre Arbeitsverhältnisse im Zeichen eines »neuen Realismus« (Schößler 2004: 239) ausstellt, knüpft es an die Tradition des sozialen Dramas an (vgl. Schößler 2003; Schößler 2004; Bähr 2012: 14). Dabei verfährt der als Werkauftrag für die Frankfurter Positionen verfasste, 2019 am Schauspiel Frankfurt unter der Regie von Jan-Christoph Gockel uraufgeführte, noch im selben Jahr als Hörspielfassung für hr2-kultur vertonte, 2020 im Rahmen des 37. Heidelberger Stückemarktes präsentierte und darüber hinaus 2020 von Juliane Kann am Staatstheater Meiningen inszenierte Theatertext häufig intertextuell.

Das Werk ist montageartig komponiert und verschränkt vier Handlungsstränge:3

  1. a) Auf einer Metaebene gibt die als Erzählerfigur (zum Erzähltheater vgl. grundlegend Paule/Steiner 2020) konzipierte »Autorin« (3) eine Einführung in das Stück, indem sie die unterschiedlichen Handlungslinien benennt.4 Zudem profiliert sie, humoristisch verfremdet, beschienen im Lichte von bis heute in Ländern mit Niedriglöhnen wirksamen tayloristisch-fordistischen Prinzipien, prekäre Arbeitsbedingungen an Theatern.

  2. b) »was, wenn die weltgeschichte sich anders entwickelt hätte?« (3) Diese Alternative zur Realität eruiert die zweite Säule, einer What-if-Logik folgend und die bestehende Bifurkation pervertierend, so dass, in der Fiktion, der Globale Norden durch den Globalen Süden ausgebeutet wird.

  3. c) Verdinglichung von Menschen zu Sklavinnen und Sklaven steht im dritten dramaturgischen Strang in einer historischen und gegenwärtigen Perspektivierung ebenso im Fokus wie Formen der Gegenwehr durch Abolitionistinnen und Abolitionisten, angeführt von einer als »John Brown« (z.B. 8) benannten Figur.

  4. d) Text- und Warenverkehr in interkulturellen Kontexten verschränkt die poetologisch komplexeste, eminent intertextuell geprägte vierte dramaturgische Säule: In insgesamt fünf mit »fabel.zeit maschine [1–5]« überschriebenen Szenen wird unter Bezug auf u.a. Herbert George Wellsʼ Roman Die Zeitmaschine (1895) eine künftige Welt entworfen, in der zwei Arten von Menschen, Eloi und Morlocks, im Zeichen von Ausbeutungsprozessen aufeinandertreffen.

Der am häufigsten vertretene Strang ist der dritte. Er ist formal vielschichtig und aus Untersträngen komponiert, deren jeweilige Zusammengehörigkeit in den Szenentiteln kenntlich gemacht wird. Dies kann etwa durch den Ausweis inhaltlicher, über eine bestimmte Figur vermittelte Gemeinsamkeiten geschehen (z.B. »mono.sklave john brown« [7] und »spiel.kommando john brown« [z.B. 8]) oder über das die entsprechenden Szenen prägende textsortenspezifische Charakteristikum (»spiel.werbung« [z.B. 5]). Die anderen Stränge sind in sich ›geschlossener‹. Die Szenentitel von Strang 4 – »fabel.zeit maschine« (z.B. 3) – weisen diese Geschlossenheit insofern am deutlichsten aus, als sie (bis auf die Szenennummerierung) identisch sind. Im Gegensatz zu den anderen dramaturgischen Säulen, die jeweils entweder mit der Bezeichnung »mono« (z.B. 3) oder »spiel« (z.B. 3) beginnen, um zu kennzeichnen, ob die entsprechende Szene eher mono- oder dialogisch angelegt ist, werden die Szenen des vierten Strangs, der sowohl Zwie- als auch Selbstgespräche und Elemente des Erzähltheaters aufweist, stets zu Beginn mit dem Begriff »fabel« (z.B. 3) bezeichnet. Dieser vierte Strang folgt im Kern dem pyramidalen Bau des Dramas nach Gustav Freytag und bildet folglich eine dramaturgisch von den anderen Szenen unterscheidbare Einheit, die in Inszenierungen möglicherweise mit ›eigenen‹ theatralen Zeichensetzungen umgesetzt wird und als geschlossenes ›Mini-Drama‹ im insgesamt eher offenen Theatertext gelesen werden kann. Dieser Umstand trägt dazu bei, dass trotz des grundsätzlich fragmentarischen Charakters von sklaven leben passagenweise, wie in den Szenentiteln angekündigt, eine ›Fabel‹ als kausal-chronologischer Handlungsverlauf erkennbar wird und damit einhergehend Kohärenz zwischen einzelnen Szenen hergestellt werden kann. Dieser vierte Handlungsstrang als eigenständige und diskursiv komplexe Einheit steht im Zentrum des vorliegenden Beitrages.5 Inhaltlich ist er, wie mehrere Szenen der anderen Handlungssäulen auch, mit denen er nur lose assoziativ verknüpft ist, durch die Verschränkung von Text- und Warenverkehr in ökonomisch-interkulturellen Kontexten gekennzeichnet. Vor dem Hintergrund intertextueller (vgl. Genette 1993),6 diskursanalytischer und wissenspoetologischer Ansätze (zur ökonomischen Wissenspoetologie vgl. u.a. Vogl 2008; zu einem Überblick über Diskursanalyse und Wissenspoetologie im Kontext des Ökonomischen vgl. z.B. Breithaupt 2019) werden folgende Fragen zu klären sein: Welches Wissen, welche Diskurse und Intertexte verarbeitet der vierte dramaturgische Strang des Küspert’schen Werkes zu dem Konnex von globaler moderner Sklavenarbeit und Konsum? Wie verhält sich die literarisch-intertextuelle Darstellung zu diesem Wissen? Die These: Als Fiktion in der Fiktion lässt die Küspert’sche Version von Wellsʼ Zeitmaschine palimpsestartig historische Zusammenhänge von Industrieproletariat und Kolonialismus aufschimmern, skizziert eine Zweiteilung der Welt in eine Produktions- und Konsumptionssphäre, korreliert diese Zweiteilung mit sozialpsychologischen Befunden des Vordenkers der Dekolonisation Frantz Fanon, mit Thorstein Veblens Konzeptionen von Konsum und Muße sowie mit Karl Marxʼ Warenfetischismus (der im kolonialen Kontext einen Exkurs zu Achille Mbembe nahelegt) und wirft darüber hinaus wissenschaftskritische Seitenblicke auf ethnologische Forschungen.

2. Grundlegende Prätexte des vierten Handlungsstrangs

Da sowohl Wellsʼ Zeitmaschine als auch (weniger offenkundig) Fanons Verdammte dieser Erde grundlegend für die Dramaturgie des vierten Strangs von sklaven leben sowie für die intertextuell-poetologische Verhandlung einer (post‑)kolonialen Zweiteilung der Welt sind, seien beide zunächst skizziert.

2.1 H.G. Wellsʼ Zeitmaschine – Biologisierung von Klassenunterschieden, Spencers Sozialdarwinismus und kolonialer Kontext

Wellsʼ Roman Die Zeitmaschine erzählt die Geschichte eines Wissenschaftlers, der sich mittels einer Maschine in den 1890er Jahren auf eine Reise durch die Zeit begibt. Seine erste Station führt ihn ins Jahr 802701 – eine Phase, in der die Evolution zwei Spezies von Menschen, Eloi und Morlocks, hervorgebracht hat. Erstere sind in einer oberirdischen, bukolischen Landschaft beheimatet, führen ein, wie es scheint, sorgenfreies Leben, frönen – physisch und kognitiv schwach – dem Müßiggang. Wer diese vermeintliche Idylle der Untätigen unterhält, erschließt sich dem Zeitreisenden erst in der Begegnung mit den unterirdisch hausenden Morlocks, in ihrer Physiognomie an Tiere erinnernde Menschen, die mithilfe gigantischer Maschinen den Lebensstil der Eloi ermöglichen. Hat es zunächst den Anschein, die ›Unterirdischen‹ seien Sklaven der ›Oberirdischen‹, so wird bald klar, dass sich das Machtgefüge umgekehrt hat: Die körperlich kräftigeren, kannibalistischen Morlocks halten die Eloi quasi als ›Vieh‹. Letzteren entkommt der Zeitreisende nur knapp – und findet sich in einer noch ferneren Zukunft wieder: Die Menschheit ist ausgestorben, krabbenartige Wesen bevölkern die stillstehende, von einem roten Feuerball beschienene Erde. Nach der Rückkehr in die Gegenwart schenkt man den Reiseerzählungen des Wissenschaftlers keinen Glauben. Ausgestattet mit einer Kamera, macht er sich erneut auf in Richtung Zukunft. Von dieser Reise wird er nie zurückkehren.

Die Zeitmaschine gilt als eine der wirkmächtigsten Anti-Utopien und als einer der Anfänge der Science-Fiction-Literatur (vgl. z.B. Gymnich 2009: 316). Die intertextuellen Anleihen in sklaven leben konzentrieren sich neben dem Moment der Zeitreise insbesondere auf die Fiktion der Eloi und Morlocks. Daher seien zunächst mit diesen Spezies im Zusammenhang stehende Deutungen referiert: Ein Strang der Interpretationen ist eingerückt in diskurs- und wissenspoetologische Zusammenhänge zu arbeitsbezogenen Kontexten und Klassenunterschieden im spätviktorianischen England sowie zu dem von Herbert Spencer propagierten, wissenschaftlich nicht belegten Konzept des Sozialdarwinismus, demzufolge sich menschliche Gesellschaften durch einen Prozess der natürlichen Auslese weiterentwickelten (vgl. z.B. Booker/Thomas 2009: 181). So lassen sich die Morlocks als »Nachkommen eines früheren Industrieproletariats« (Matzer 1989: 3131) lesen, zumal der Zeitreisende sich fragt: »Lebt nicht ein Ostendarbeiter schon heute unter so künstlichen Bedingungen, daß er praktisch von der natürlichen Erdoberfläche abgeschnitten ist?« (Wells 1961: 103f.), und Überlegungen zum Unterschied »zwischen Kapitalist und Arbeiter« (ebd.: 103) anstellt. Die Existenzweise der Morlocks versteht er als Fortsetzung einer im 19. Jahrhundert angelegten Entwicklung: »Offenbar, dachte ich, hatte sich diese Tendenz [i.e. die Verlagerung der Industrieproduktion unter die Erde; J.F.H.] gesteigert, bis die Industrie allmählich ihr Geburtsrecht am Himmel verloren hatte« (ebd.). Mit Blick auf die Herausbildung zweier menschlicher Spezies stellt Roland Innerhofer fest: »Die Klassenunterschiede haben sich im Laufe der Zeit biologisiert«, und schlussfolgert: »Diese Reise ist also als Warndystopie konzipiert: Die Klassengegensätze werden, wenn sie nicht überwunden werden, durch die Evolution naturalisiert« (Innerhofer 2013: 449). Für Marion Gymnich verkörpern die Eloi eine infolge von Müßiggang »degenerierte Menschheit«, die Ambitionen, Esprit und Innovationsbemühungen vermissen ließen, wohingegen die Morlocks »als Endresultat von Verrohung und dem Verlust ethischer Prinzipien« (Gymnich 2009: 317) zu lesen seien.

Degeneration und Rückentwicklung in frühere Existenzweisen sind spätviktorianische Ängste, die Spencer durch seine Behauptung, seine Zeitgenossinnen und Zeitgenossen offenbarten ein hohes Maß an Charakteristika einer ›primitiven‹ Vergangenheit, nährte und die ihrerseits verstärkt wurden durch den Kontakt mit ›primitiven‹ Kulturen im Zuge der kolonialen Expansion (vgl. z.B. Cantor/Hufnagel 2006: 42; Booker/Thomas 2009: 181). Vor diesem Hintergrund konstatieren Booker und Thomas (ebd.: 182): »[T]he British imperial experience is extremely important as background to The Time Machine.« Konkret lesen Paul A. Cantor und Peter Hufnagel Die Zeitmaschine vor der Folie von Kolonialromanen der spätviktorianischen Zeit. So erscheint ihnen Wellsʼ Werk als »a Rider Haggard romance in science fiction dress« (Cantor/Hufnagel 2006: 38). Eloi und Morlocks lassen sich so als eine Parallele zu den ›guten‹ und ›bösen‹ Eingeborenen deuten, welche die Kolonialliteratur bevölkern, wobei die Erstgenannten mit stereotypisierten Vorstellungen einer Südseeidylle korreliert sind, die Letztgenannten mit Kannibalismus (vgl. ebd.: 38f.). Dadurch, dass die Handlung jedoch nicht in den Weiten des britischen Empire, sondern in London angesiedelt ist, können die Eloi – so eine andere Lesart – als verweichlichte Abkömmlinge einstiger Kolonialherren figurieren, die von den ehemals unterdrückten ›Wilden‹ entmachtet wurden (vgl. Booker/Thomas 2009: 182).

2.2 Frantz Fanons Verdammte dieser Erde – die kolonisierte Welt als zweigeteilte Welt

Auch in dem Werk Die Verdammten dieser Erde des Vordenkers der Dekolonisation Frantz Fanon geht es – wenngleich in einer anderen Perspektivierung als in dem fiktionalen Werk Wellsʼ – um Unterdrückung und Entmachtung sowie um eine Zweiteilung der Welt.7 Eine der am häufigsten (so auch im Programmheft zur Urinszenierung von sklaven leben) zitierten Passagen aus Fanons Buch ließe sich als Interpretationsthese zu Wellsʼ Zeitmaschine und, wie zu zeigen sein wird, zu Partien des Küspert’schen Werkes lesen: »Die kolonisierte Welt ist eine zweigeteilte Welt« (Fanon 2020: 31; vgl. z.B. auch Ali 2016: 115). Diese Zweiteilung illustriert er anhand von von Kolonialherren bzw. Kolonisierten bewohnten Städten. Bevölkerten Erstere eine Stadt der Überfülle, so fristeten Letztere ein Dasein in einer »ausgehungerte[n] Stadt, ausgehungert nach Brot, Fleisch, Schuhen, Kohle, Licht« (Fanon 2020: 32). Zudem präzisiert er: »[D]iese zweigeteilte Welt wird von verschiedenen Menschenarten bewohnt. […] Wenn man den kolonialen Kontext in seiner Unmittelbarkeit wahrnimmt, so wird offenbar, daß das, was diese Welt zerstückelt, zuerst die Tatsache der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Art, einer bestimmten Rasse ist« (ebd.: 33). Die gewaltvolle Unterdrückung der einen »Menschenart« durch die andere entwickelt sich zwangsweise, wie Jakob Graf resümiert, zur Gegengewalt der Unterdrückten, die »in einem Akt der Befreiung plötzlich zur kollektiven Macht wird und sich gegen den Kolonisatoren [sic!] richtet« (Graf 2020). Gegengewalt ist damit nicht frei wählbar, sie ist vielmehr das einzig mögliche Mittel zur Dekolonisation: »La décolonisation par la violence est le seul moyen d’inverser la violence infligée aux territoires coloniaux et aux sujets coloniaux« (Ali 2016: 1118; vgl. weiterführend Longuet 2013: 99–143). Für Küsperts Theatertext – das wird im Folgenden deutlich werden – sind sowohl die Zweiteilung der Welt infolge der unterschiedlichen ›Menschenarten‹ als auch die Gewaltthematik relevant.

3. Text- und Warenverkehr des vierten Handlungsstrangs

In sklaven leben finden die Fanon’sche und insbesondere die Wells’sche Vorlage in von eins bis fünf durchnummerierten, unter der Überschrift »fabel.zeit maschine« stehenden, in einer »fernen Zukunft« (3) spielenden Szenen Berücksichtigung. In all diesen Szenen werden in nuce die Fiktion der Zeitmaschine bzw. die Thesen Fanons, zwischen Übernahme und Modifikation changierend, ausagiert oder durch die als »Sklave« (z.B. 3) ausgewiesene Erzählerfigur dargeboten. Dazu treten in einzelnen Passagen weitere Intertexte, die den interkulturellen Kontext der Prätexte um weitere ökonomische Dimensionen bereichern.

3.1 Einführung der Eloi und Morlocks – Grundlegung einer zweigeteilten Welt nach Wells und Fanon

Die Einführung der Eloi und Morlocks schafft die für alle Szenen des vierten Strangs gültigen Bezüge zu dem Wells’schen und Fanon’schen Prätext. Küspert übernimmt die binären Ordnungen folgende Figurenzeichnung Wells’, raumsemantisch in ein Oben und ein Unten getrennt, mit der bereits qua Prätext ökonomische und arbeitsbezogene Wissensbestände korreliert sind. Sozialdarwinistische Theoreme und Fanons Überzeugungen von einer qua ›Rasse‹ bedingten Zweiteilung der Welt archivierend, erzählt der »Sklave« in »fabel.zeit maschine 1«: »die menschheit [hat sich] in zwei rassen aufgespalten – die schönen, klugen und wohlhabenden eloi einerseits und die unterirdisch lebenden morlocks – garstige, hässliche und durchtriebene wesen von großer körperkraft, aber geringem verstand – andererseits« (3). Während Erstere, in Unkenntnis der Existenz der Morlocks, »in perfektem einklang mit ihrer umwelt« leben, gar freie Valenzen haben, »die wichtigkeit von nachhaltigem leben« zu erkennen, »ein dasein in friedlicher, stiller zufriedenheit, geschützt und bewirtet von technologien, die ihnen ein leben wie im paradies ermöglichen«, führen, sehen sich Letztere, von Hass und Neid erfüllt, einander bekriegend, existentiellen Bedrohungen wie Hunger und Krankheit ausgesetzt (3). Müssen die Morlocks hart arbeiten, so verfügen die Eloi über ein »Muße-Monopo[l]« (Jäckel 2011: 38). »[E]rwerbsarbeit« (3) ist ihnen fremd. Zur Zerstreuung rezipieren sie Musik, Literatur, Theater und Kunst.

3.2 Konsumptionssphäre der Eloi und Produktionssphäre der Morlocks

Die in der Exposition dieses Handlungsstrangs angelegte Zweiteilung der Welt lässt bereits die Konstitution einer Konsumptions- und einer Produktionssphäre erkennen. Beiden Sphären sind neben Wissensbeständen aus der Zeitmaschine und den Verdammten weitere Intertexte und Diskurse eingeschrieben.

3.2.1 Konsumptionssphäre: Thorstein Veblens Theorie der feinen Leute – Muße und Konsum als Distinktionsmerkmale

Das in der Exposition benannte Fehlen der Erwerbsarbeit und die Hinwendung zur Kunst der Eloi’schen Konsumptionssphäre lassen sich vor dem Hintergrund der vielbeachteten Studie Theorie der feinen Leute (1899) des US-amerikanischen Ökonomen und Soziologen Thorstein Veblen lesen, eines Zeitgenossen von Wells, der die Anfänge der Industrialisierung untersuchte, die Bedeutung von Konsum und Muße für die Erzeugung von Prestige analysierte sowie eine Kritik der Oberschicht vorlegte (vgl. Veblen 1958; zu einen Überblick vgl. Jäckel 2011: 37–49). In diesem Kontext erschließt sich – im äußeren Kommunikationssystem – die Hinwendung zur Sphäre des Schöngeistigen als Ausdruck performativen Hervorbringens und Festigens von Prestige qua Müßiggang sowie als Abgrenzung von der Sphäre der Arbeit. Veblen schreibt: »Muße ist ehrenhaft und wird zum Teil deshalb zum Gebot, weil sie für die Befreiung von gemeiner Arbeit zeugt« (Veblen 1958: 99).

Neben dem von Veblen dargestellten Konzept der Muße greift sklaven leben auf jenes des Konsums (vgl. ebd.: 79–107; Jäckel 2011: u.a. 41–43) zurück. Küspert setzt in seinem Theatertext, ähnlich wie Wells (und im übertragenen Sinn auch Fanon), Konsum als Distinktionsmerkmal zwischen Eloi und Morlocks ein. Poetologisch wird das u.a. dadurch vermittelt, dass Konsumptions- und Produktionssphäre in zwei unterschiedlichen Szenen dargestellt werden, zwischen denen weitere, auf andere Inhalte bezogene stehen.

In »fabel.zeit maschine 2« (4) wird die Konsumptionssphäre genauer charakterisiert. Die Eloi scheinen in einer Welt unbeschränkter Ressourcen, jenseits von Geldwirtschaft und Tauschprozessen, zu leben. Was immer sie auch wünschen – z.B. »einen soy cucumber spice decaf latte« (4), »eine boot cut levi’s 501« (4), »eine jaeger-lecoultre master ultra thin perpetual« (4) –, wird ihnen ohne Gegenleistung geliefert.9 Konsum von ›hip-klingenden In-Produkten‹, Marken- und Luxusartikeln – hier als Steigerung angelegt – wird als eine weit über Grundbedürfnisse hinausgehende, unreflektierte, im Widerspruch zu dem eingangs reklamierten Nachhaltigkeitsbewusstsein der Eloi stehende Alltagspraxis inszeniert. Dieser Konsum wird überdeutlich in Szene gesetzt, so dass sich eine Verbindung zu Veblens Konzept des demonstrativen Konsums aufzudrängen scheint. Man versteht darunter einen ostentativen Konsum kostspieliger Güter (der leisure class) zum Erwerb von Prestige.

Im inneren Kommunikationssystem von sklaven leben ist, solange die Eloi keine Kenntnis von der Existenz der Morlocks haben, das Bedürfnis zur Herstellung von Prestige qua Konsum jedoch obsolet. Auch verheißt Konsum keinen besonderen Genuss, da die Produkte infolge ihrer unbeschränkten Verfügbarkeit den Nimbus der Exklusivität verloren haben. Simmel zufolge ergibt sich der Wert eines Dings durch die Überwindung von Hürden, die zu seinem Besitz genommen werden müssen:

Erst die Repulsionen, die wir von dem Objekt erfahren, die Schwierigkeiten seiner Erlangung, die Warte- und Arbeitszeit, die sich zwischen Wunsch und Erfüllung schieben, treiben das Ich und das Objekt auseinander, die in dem unmittelbaren Beieinander von Bedürfnis und Befriedigung unentwickelt und ohne gesonderte Betonung ruhen (Simmel 1989: 43; vgl. Mein/Schößler 2005: 11).

Die Eloi haben jedoch kein Hindernis zu überwinden. Das unterscheidet sie von den Menschen im äußeren Kommunikationssystem, deren Erwerbsakten i.d.R. Mühen vorausgehen.

3.2.2 Konsumptionssphäre: Karl Marx’ Warenfetischismus, fehlende Tauschgeschäfte und Phantasmagorien des Publikums

Der demonstrative Konsum der Eloi und das Zitat der Markenartikel wecken beim Publikum Begehrlichkeiten, die Karl Marx’ Konzept des Warenfetischismus aufrufen. Bei Marx dient es zur »Kritik an kapitalistischen Produktionsweisen« (Wegmann 2019b: 325). Er übersetzt den Begriff des Fetischismus aus religiösen und ethnologischen Kontexten in ökonomische (vgl. Böhme 2006: 286; Wegmann 2019b: 324): »Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, daß sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken« (Marx 2017: 176). Thomas Wegmann bemerkt: »Im Konzept des Warenfetischismus wird […] jener Mechanismus erkennbar, der alltäglichen Gebrauchsgegenständen bei ihrer Performance auf dem Markt […] die Aura von Wunscherfüllung verleiht« (Wegmann 2019b: 325). Waren als Fetische werden auf diese Weise Attribute, die ihnen nicht per se inhärent sind, qua Projektion zugeschrieben.10 Mit Ausbau der Werbebranche gegen Ende des 19. Jahrhunderts dient das Fetischkonzept zudem dazu, »eine eigene Faszinationsgeschichte der Markenartikel zu schreiben« (ebd.). Marken können »als Fetische firmieren, insofern mit ihnen Erfahrungen und zeitgenössisches Wissen assoziiert sind, die über die rein dinglichen Qualitäten der jeweiligen Waren hinausgehen« (Wegmann 2019a: 207). So konstatierte seinerzeit der bedeutende Markentechniker Hans Domizlaff, dass der Begriff (nicht aber das Konzept) des Fetischs (partiell) durch den Begriff der Marke verdrängt wurde (vgl. Domizlaff 1992: 13; Wegmann 2019b: 325).

Vor dieser Folie dient das Zitat von in unserer Gegenwart geläufigen Marken- und Luxusartikeln in sklaven leben dazu, »über die rein dinglichen Qualitäten« hinausgehende, auf »zeitgenössische[m] Wissen« fußende Phantasmagorien des Publikums zu bedienen.11 Die besagten Artikel können bei Menschen, die über Kenntnisse von Marken- und Luxusprodukten verfügen, ein »Orientierungswisse[n]« (Wegmann 2019a: 206) aufrufen, das warenfetischistische Prozesse zu initiieren vermag. Verstärkt wird dieser Umstand dadurch, dass in der Eigenlogik des Theatertextes das Erhalten eines Dings (oder wie Marx auch sagt: eines »Arbeitsprodukts«, Marx 2017: 177) ohne Tausch möglich ist. Tausch jedoch kann »als humane Basisqualifikation betrachtet werden, als grundlegender kommunikativer sozialer Akt und als Fundament gesellschaftlicher Organisationsformen und Kohäsionskräfte« (Mein/Schößler 2005: 9; vgl. Böhme 2006: 285). Indem die Eloi, ohne zu tauschen, demonstrativ konsumieren, kann ihr Handeln im äußeren Kommunikationssystem im Anschluss an Mein und Schößler als asozialer Akt verstanden werden, der fehlende gesellschaftliche Kohäsionskräfte ausstellt. Zugleich kann eingeräumt werden, dass die Eloi kein Bewusstsein davon haben, dass Waren von jemandem produziert werden müssen. Sie sind sich ihrerseits nicht im Klaren darüber, dass sie in ihrem Lebensstil von den Morlocks abhängig sind.

Diese Szene lässt sich – folglich und als Ausblick auf die Produktionssphäre – als imaginierte, ins Extrem gesteigerte Fortsetzung vergangener und gegenwärtiger Konsumpraktiken lesen, in denen auf die Produktion bezogene Ausbeutungsprozesse und auf den Konsum bezogene Abhängigkeitsverhältnisse verschleiert werden.

3.2.3 Produktionssphäre: Biologisierung und Naturalisierung ökonomischer Deprivationen

Produktionsumstände rückt Küspert in »fabel.zeit maschine 3« (5) in den Blick. Dabei zeichnet er die Morlocks, eng an Die Zeitmaschine angelehnt, als »Nachkommen eines früheren Industrieproletariats« (Matzer 1989: 3131). Ähnlich wie die einstigen Ostendarbeiter Londons leben sie unterirdisch unter »künstlichen Bedingungen« (Wells 1961: 103f.). Neben der bloßen Existenz unter der Erdoberfläche leuchtet (im Wortsinne) Küspert die künstlichen Arbeitsbedingungen im Lichte der Digitalisierung aus: Die Gänge, in denen die Morlocks unter widrigsten Umständen ›schuften‹, sind »spärlich mit einzelnen displays und kontrolllämpchen beleuchte[t]« (5). Die personifizierten Displays (Nachfolgemodelle von Wells gigantischen Maschinen?) »befehlen« (5), welche Arbeit zu verrichten ist. Damit figuriert zynischerweise diese arbeitgebende Instanz – eine undurchsichtige, unhinterfragte, nach eigenen Regeln operierende Macht – als einzige Lichtquelle in einer dunklen Welt. Die Tätigkeiten, die den Morlocks von den »arbeitsdisplays« zugewiesen werden, sind unter größter Eile zu verrichten, mehr noch: »sobald sie [i.e. die Morlocks; J.F.H.] alt genug sind, um zu rennen, tun sie es« (5). Mit dieser Feststellung ist evident, dass die Küspert’schen Morlocks, ähnlich wie die Wells’schen (vgl. Innerhofer 2013: 449), angesichts ihrer Arbeit Prozessen der Biologisierung und Naturalisierung unterliegen. Ihre sozioökonomischen Deprivationen haben sich in ihre Körper eingeschrieben und sind in Verbindung mit ihrer restringierten Sprache (vgl. 5) Bestandteil ihres Habitus, anhand dessen sich ihr niedriger sozialer Status ablesen lässt.

Differenzierungen sind erkennbar zwischen jenen Morlocks, die keine Arbeit haben, jenen, die hin und wieder arbeiten, und jenen, die regelmäßig für die gleichen Tätigkeiten herangezogen werden und auf diese Weise (praktisch, jenseits jedweder theoretischen Ausbildung) einen Spezialisierungsgrad erreichen (vgl. 5). Doch ganz gleich, was immer sie auch tun: Entlohnt werden die Arbeitenden in Form von Naturalien. Sie erhalten Wasser sowie »aus einem rohr eine dünnflüssige proteinsuppe« (5). Dieser unwürdige, aufs Nötigste limitierte Konsum lebensnotwendiger Nährstoffe kontrastiert aufs Schärfste mit der übervollen Konsumptionssphäre der Eloi.

3.3 Stereotypisierung kolonialistischer Narrative und Ethnologie als »koloniale Wissenschaft«

In »fabel.zeit maschine 4« (5) werden die Grenzen zwischen Konsumptions- und Produktionssphäre überschritten, als ein Eloi, »der sein langes, ereignisarmes leben mit etwas leichter höhlenforschung und anthropologie aufpolieren wollte« (5), die Morlocks entdeckt. Schnell erlernen einige Eloi »ein paar brocken morlock«, zeigen sich betroffen, machen umgehend die ›Arbeitsdisplays‹ verantwortlich und beschließen, zu helfen, obgleich auch »mahnende stimmen, etwa derjenigen, die sich in ihrer ewigen freizeit mit philosophie beschäftigten«, zu bedenken geben, dass es »irgendeinen unklaren zusammenhang zwischen [den] bizarren tätigkeiten« der Morlocks und den eigenen Lebensumständen geben könne (5).

Es ist paradoxerweise der Müßiggang, der den Eloi die Entdeckung der Arbeitssphäre ermöglicht. Diese Entdeckung ist, ähnlich wie in der Zeitmaschine (vgl. hier wie im Folgenden Cantor/Hufnagel 2006: 45), korreliert mit plakativ und subversiv ausgestellten Stereotypen kolonialistischer Narrative, darunter die vermeintlich leichte Erlernbarkeit der Sprache einer anderen Kultur. Auch die vorschnellen Schlüsse, die auf der Basis von oberflächlichen Beobachtungen der Morlock’schen Existenz erfolgen, korrespondieren mit der Wells’schen Vorlage. Diesen Umstand kann man als Kritik an eurozentristischer Arroganz lesen.

Dadurch, dass Küspert die Entdeckenden mit »höhlenforschung und anthropologie« in Verbindung bringt, greift er Foucault’sche Theoreme auf, die einen Konnex zwischen Macht und (vermeintlichem) Wissen unterstellen (vgl. z.B. Kerner 2021: 68f.). Konkret hält er die Erinnerung an den Diskurs um das koloniale Erbe der Ethnologie – hier verkürzt: eine »koloniale Wissenschaft« – wach, deren Vertreterinnen und Vertreter »zur Unterdrückung, Ausbeutung, ja sogar Vernichtung ihrer Forschungsobjekte« beigetragen hätten (Schupp 1997: 1). Darüber hinaus wird durch den Verzicht auf die Entdeckerfigur des Reisenden – Küspert kondensiert die Momente des Konsumierens und Entdeckens in der Spezies der Eloi – offenkundig, dass man keine Ausnahmefigur sein muss, um Kenntnis von Ausbeutungsverhältnissen zu erlangen.

3.4 Vom »ende der zeit« zu Achille Mbemes Kritik der schwarzen Vernunft

In »fabel.zeit maschine 5« wird, nachdem sich die »morlockversteher« durchsetzen konnten, gezeigt, wie die Unterirdischen die Welt der Oberirdischen betreten – mit den Konsequenzen, dass keine Konsumprodukte mehr geliefert werden können und die Hilfsbereitschaft, ähnlich wie bei Wells, aus Angst vor dem Verlust eigener Privilegien ein schnelles Ende findet (6). Die als »Sklave« bezeichnete Erzählerfigur kommentiert abschließend:

glücklicherweise waren die morlocks, diese wesen voller angst und hass, von der freundlichkeit und der großherzigkeit der eloi, die alles mit ihnen geteilt hätten, wenn sie dafür nicht selber verzichten hätten müssen, so bewegt, dass sie freiwillig zurück in die höhlen gingen […]. und das war die geschichte vom ende der zeit und von den maschinen, die es dort gibt, und dem dortigen absurden wirtschaftssystem (6).

Vor dem Hintergrund des oben referierten Fanon’schen Verständnisses von Gewalt als einzig möglichem Mittel zur Dekolonisation erscheinen diese Zeilen ironisch-sarkastisch. Mit dem »ende der zeit« und dem »absurden wirtschaftssystem« ist die »fabel.zeit maschine« und mit ihr die allzu ›fabel-hafte‹ Erzählung von den sich zurückziehenden Morlocks auserzählt.

Von hier (und anderen Szenen) aus ergeben sich Anschlussstellen an Mbemes Kritik der schwarzen Vernunft (2013) und an die letzte Szene vor dem Epilog, »mono.sklave prophet« (10). Die Erzählerfigur »Sklave« erscheint als Prophet, führt aus, dass »ausbeutung […] noch genauso statt[findet], wie die sklaverei in den vorantiken gesellschaften, nur überformt durch ›marktwirtschaft‹«, dass Menschen des Globalen Nordens ihrer »selektiven wahrnehmung« erlegen sind, sich in ihre »echokammern des humanismus« ›einmauern‹ (10). Damit ist in den Echokammern das wirksam, was Mbembe für Kolonien konstatiert: »In der Kolonie besteht Macht […] darin, zu sehen oder nicht zu sehen.« (Mbembe 2020: 211; vgl. ebd.: 210f.) Doch die globale Verbreitung des Internets werde, so die Prophezeiung, dazu führen, dass zunehmend mehr Unterdrückte, sehend und sichtbar werdend, »gegen die mauern unserer schön eingerichteten echoräume schlagen«, sie »einreißen« (10). Er schließt mit: »es kann keine friedliche lösung für dieses problem geben ohne massiven systemwandel. wir können froh sein, wenn sie nur teilhabe und gleichheit wollen. und nicht rache« (10). Dieser Wunsch als Schlusssatz der letzten Szene liest sich wie eine Variation auf die letzten Zeilen von Mbembes Schrift, in denen er eine künftige Welt imaginiert, »die befreit ist von der Last der Rasse […] und des Wunschs nach Rache, die jeder Rassismus auslöst.« (Mbembe 2020: 332)

4. Fazit und Ausblick

Die Darstellung von Warenverkehr ist in sklaven leben eng mit Textverkehr verzahnt. Der vierte dramaturgische Strang, die ›anti-utopische‹ Fiktion in der Fiktion um Eloi und Morlocks, verarbeitet eine Vielzahl an Intertexten und Diskursen zu dem Konnex moderne Sklavenarbeit-Konsum und wirft wissenschaftskritische Seitenblicke auf die Ethnologie. Küsperts vierter Handlungsstrang ruft in seiner gesamten dramaturgischen Anlage Wells’ Zeitmaschine und die damit verbundenen Zusammenhänge von Industrieproletariat und Kolonialismus (somit Spencers Sozialdarwinismus und Ängste vor Degeneration) auf, die ihrerseits eine Zweiteilung der Welt in Konsumptions- und Produktionssphäre bedingen, raumsemantisch in ein Oben und Unten codiert. Diese in sklaven leben übernommene binäre Ordnung korrespondiert mit Fanons sozialpsychologischer Analyse, die rassistische Logiken als Quelle für Unterwerfungsprozesse und Gegengewalt als einzig mögliches Mittel zur Dekolonisation herausarbeitet. Sind die Arbeits- und Existenzbedingungen in der Produktionssphäre – biologisiert und naturalisiert sowie im Lichte der undurchsichtigen Macht der Digitalisierung beschienen – katastrophal, so dominieren, in Anlehnung an Veblen, jenseits von Geld- oder Tauschwirtschaft, Muße als das Alteritäre der Arbeit und demonstrativer Konsum. Letzterer lässt in Verbindung mit Marxʼ Konzept des Warenfetischismus und Mbembes diesbezüglichen Einlassungen im kolonialen Kontext sowie vor dem Hintergrund von Markenwissen phantasmagorische Begehrlichkeiten im äußeren Kommunikationssystem erfahrbar werden.

In Verbindung mit den drei anderen Handlungssträngen, deren Poetologie neben Metaisierungsprozessen und Verfremdungseffekten in Brecht’scher Tradition ebenfalls intertextuelle Anleihen aufweist, entsteht in der Gesamtschau eine multiperspektivisch und rhizomatisch angelegte »Ästhetik des Fragmentarischen« (Kurz 2019: 8; vgl. auch Deleuze/Guattari 1977; Gockel o.J.). In diese Ästhetik schreiben sich etwa nichtliterarisches Textsortenwissen von Verkaufsgespräch und Werbung, inklusive ›kultursensitiver Formen‹ und Strategien des ›Ethno-Marketings‹ ein, um die Verdinglichung von Menschen zu Waren zu illustrieren (vgl. hier wie im Folgenden im Detail Heiderich 2023). (Anti‑)Märchenhaftes dient zur Verdeutlichung des Kongogräuels und mittels märchenhaft-fantastischer Elemente werden Ausbeutungsverhältnisse in Sweatshops decouvriert. Im Zusammenspiel der dramaturgischen Stränge sowie ihrer formal-ästhetischen, intertextuellen und inhaltlichen Vielfalt gelingt es, arbeits- und konsumbezogene Wahrnehmungsroutinen und selektive Perzeptionen von Welt zu durchbrechen.

Anmerkungen

1 Zitate aus dem Primärwerk werden im Folgenden ohne Nennung von Autor und Jahr in runden Klammern gemäß dieser Ausgabe nachgewiesen.

2 Moderne Sklaverei, zu der Ausbeutungsverhältnisse wie Schuldknechtschaft, Kinderarbeit und Zwangsprostitution zählen, betrifft dem Global Slavery Index 2021 der Walk Free Foundation zufolge ca. 50 Millionen Menschen. Vgl., auch weiterführend, Walk Free 2023; Marschelke 2015; Zeuske 2020: 986–998.

3 Zu einer genaueren Beschreibung, inklusive einer tabellarischen Darstellung der montageartigen Anlage des Theatertextes, vgl. Heiderich 2023: 96–99.

4 Diese Autoreferentialität, konkret: das partielle Ausstellen der Poetologie des Theatertextes, ist ein Merkmal, das viele neuere Theaterformate aufweisen. Vgl. Schößler 2013a: 13.

5 Die drei erstgenannten dramaturgischen Stränge sind Gegenstand einer eigenen Untersuchung. Vgl. Heiderich 2023. Zudem sind derzeit zwei weitere, fachdidaktisch ausgerichtete Beiträge des Verfassers zu sklaven leben im Entstehen begriffen.

6 Im Kontext des economic criticism skizzieren Martha Woodmansee und Mark Osteen intertextuelle Verweise z.T. als ein Erwerben von Schuldverschreibungen bzw. als ein Tätigen von Anleihen. Zugleich verweisen sie auf Grenzen interdisziplinärer Analogiebildungen. Vgl. Osteen/Woodmansee 1999: 14f.; Schößler 2013b: 104.

7 Bereits kurz nach Erscheinen wurde die Schrift, obwohl sie »keine Apologie der Gewalt« (Kerner 2021: 44; vgl. Ali 2016: 111f.) ist, als »Kampfschrift der antikolonialen Linken« (Eckert 2014: o.S.; vgl. im Folgenden ebd.; Kerner 2021: 43–49) gehandelt; seit den 1990er Jahren dient sie als Referenzwerk postkolonialer Theoriebildung. Der Titel spielt auf das Kampflied der sozialistischen Arbeiterbewegung – »Wacht auf, Verdammte dieser Erde« – an, wobei hier die »Verdammten« »die unterdrückten Kolonisierten« (Eckert 2014: o.S.) denominieren.

8 »Dekolonisation qua Gewalt ist die einzige Möglichkeit, um die Gewalt umzukehren, die den Kolonialgebieten und den Kolonialsubjekten zugefügt wird.« (Übers. J.F.H.)

9 Selbst Medikamente und neue Organe werden zum Konsum bereitgestellt, so dass »krankheit und tod […] ihren stachel verloren« haben (4; vgl. 3). Dieser Befund kontrastiert mit der geringen Lebenserwartung der sozial extrem schwachen Morlocks. Diese Gegensätzlichkeit kann man als Bestandteil eines Diskurses über die Verbindung von sozioökonomischem Status und Mortalitätsrisiko bzw. Lebenserwartung unserer Gegenwart begreifen (vgl. z.B. Lampert/Kroll 2014).

10 Marxʼ Konzept des Warenfetischismus erhält im Kontext von Kolonisierung besondere Bedeutung: So stellt Mbembe, ohne auf Marx einzugehen, dar, dass »[d]ie Unterwerfung der Afrikaner unter die Kolonisierung […] in weiten Teilen über die Ware« (Mbembe 2020: 222) erfolgt sei. Dieser Prozess sei lesbar als eine »Unterwerfung der Menschen unter die Fetische« (ebd.). »Die materielle Welt und die der Objekte, mit denen sie [i.e. die People of Colour; J.F.H.] in Berührung kamen, galten ihnen als Träger von Kausalität nach Art der alten Fetische« (ebd.: 217f.). Demnach erscheint die Kolonie als »eine gewaltige Maschine zur Erzeugung von Wünschen und Phantasien. Sie setzt ein Ensemble aus materiellen Gütern und symbolischen Ressourcen in Umlauf, die von den Kolonisierten geschätzt werden, weil sie selten sind, Neid auslösen und eine Differenzierung […] ermöglichen« (ebd.: 215).

11 Zur Bedeutung von Warenfetischismus in unterschiedlichen Performances vgl. weiterführend Schößler 2013a: 57–60.

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