»Die Schrift lügt nicht«
Transkulturalität de- und rekonstruiert: Schermanns Augen von Steffen Mensching
1. Historischer Hintergrund
Zur Zeit der stalinistischen Säuberungen vor und während des Zweiten Weltkriegs gehörten auch Deutsche und Bürger*innen der UdSSR mit ethnischem deutschem Hintergrund zu den Opfern des GULag. Zunächst waren es 350.000 Sowjetbürger*innen deutscher Herkunft, die nach der Liquidierung der Autonomen Sozialistischen Republik (ASSR) der Wolgadeutschen1 am 28. August 1941 als trudmobilizowannyj nemec mobilisiert wurden für die sog. ›Trudarmija‹, die Arbeitsarmee, eine hybride Organisation unter Leitung der GULag-Administration, die aus zwangsrekrutierten Bauarbeiter*innen und politischen Straftäter*innen gebildet wurde (vgl. Krieger 2008: 143).
Den Sowjetbürger*innen deutscher Herkunft muss eine kleinere Zahl von Deutschen, die als sog. Spezialist*innen vor und als Flüchtlinge nach der Machtübergabe an die Nazis im Januar 1933 in die SU emigriert waren, hinzugerechnet werden. Auch wenn es nach wie vor schwer ist, genaue Zahlen zu nennen, dürften Mitte der 1930er-Jahre rund 8000 deutsche Spezialist*innen und Flüchtlinge in der UdSSR gelebt haben (vgl. Stark 1999: 43). Diese vorwiegend politischen Emigrant*innen blieben nicht von den ›Großen Säuberungen‹ verschont. So wurden über 70 % der Mitglieder der KPD in sowjetischem Exil verhaftet, hingerichtet oder zu Zwangsarbeit verurteilt (vgl. Hartmann 2003: 175).2 Soweit Letztere die Lagerhaft überlebt hatten, wurden sie anschließend in die Trudarmija eingegliedert.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die Arbeitslager allmählich geschlossen. Erst nach dem Tode Stalins 1953 wurde den Emigrant*innen aus Deutschland gestattet, dorthin zurückzukehren. Dass die meisten in die DDR entlassen wurden, liegt an der Lektion, die die sowjetischen und DDR-Kommunist*innen aus den Vorgängen um Margarete Buber-Neumann, Susanne Leonhard und ihren Sohn Wolfgang hatten lernen müssen (vgl. Stark 1999: 184; Hartmann 2003: 153). Während Buber-Neumann zwei Jahre im GULag zugebracht hatte und als Kommunistin 1940 an Nazi-Deutschland ausgeliefert worden war,3 war Susanne Leonhard 12 Jahre im Arbeitslager Workuta inhaftiert. Nach ihrer Entlassung in die SBZ war sie in die Westzonen geflohen, gefolgt von ihrem Sohn, der zunächst nach Jugoslawien entkommen war. Im Westen veröffentlichten beide sowie Buber-Neumann zwischen 1949 und 1956 den Funktionär*innen von SED und KPdSU alles andere als genehme Bücher über ihre Erfahrungen in der UdSSR Stalins (vgl. Buber-Neumann 1949; Leonhard 1956; Leonhard 1990, erstmals erschienen 1955).
Zwischen 1951 und 1962 remigrierten ca. 600 Personen aus der UdSSR nach Ostdeutschland, deutlich mehr, als den im Geiste Stalins erzogenen SED-Funktionär*innen recht war. Ihnen galten diejenigen, die während der Stalinʼschen Säuberungen verurteilt worden waren, nach wie vor als unzuverlässig. Obwohl diese Überlebenden des GULag zur Zeit des Tauwetters in der UdSSR rehabilitiert wurden und in der DDR oft zufriedenstellende, wenn auch nicht herausgehobene berufliche Positionen erreichen konnten, so blieb aus offenkundigen politischen Gründen ihre Inhaftierung in der Sowjetunion tabu.4
In den 1970er-Jahren veröffentlichten einige der Remigrant*innen, die ihren sozialistischen Überzeugungen treu geblieben waren, in der DDR Erinnerungen an ihr Leben im Exil, doch schwiegen sie über den Stalinʼschen Terror und ihre eigenen Erlebnisse (vgl. Richter 1972; Damerius 1977; Wangenheim 1977; Zinner 1978). Erst mit dem Zusammenbruch von Sowjetunion und DDR konnten autobiografische bzw. autofiktionale Texte veröffentlicht werden, die von Deutschen als Opfern des GULag handelten. Mit dem Schicksal der Wolgadeutschen befasste sich z.B. der 1934 in Engels geborene Herold Belger, ein kasachischer Schriftsteller mit deutschen Wurzeln, in seinem 2003 auf Russisch veröffentlichten Roman Das Haus des Heimatlosen (Dom skital’sa, vgl. Belger 2014). In Ostdeutschland konnten erst ab 1990 aufrichtigere Erinnerungen von deutschen Überlebenden des GULag publiziert werden.5 Den Anfang machte Elfriede Brüning, die in der Tradition der Protokollliteratur Interviews mit einigen Überlebenden unter dem Titel Lästige Zeugen? Tonbandgespräche mit Opfern der Stalinzeit veröffentlichte (Brüning 1990). Im selben Jahr erschienen die Erinnerungen zweier Überlebender des GULag, und zwar Unter falscher Anschuldigung. 18 Jahre in Taiga und Steppe von Helmut Damerius (1990) sowie Totgesagt. Erinnerungen von Trude Richter (1990), worin beide ihre frühere autobiografische Rückschau revidierten.6 Weitere Erinnerungen erschienen später, meist erst nach dem Tod der Autor*innen und herausgegeben durch deren Kinder. Eine Ausnahme bildete Treibeis am Jenissei von Walter Ruge (2006), der seine Erinnerungen selbst herausbrachte. Es folgten Gelobtes Land. Meine Jahre in Stalins Sowjetunion von seinem Bruder Wolfgang Ruge (2012) und die Erinnerungen Rudolf Hamburgers unter dem Titel Zehn Jahre Lager. Als deutscher Kommunist im sowjetischen Gulag (Hamburger 2013).
Nach dem Tod der Zeitzeug*innen verlagerte sich der Fokus hin zu fiktionalen Texten von Autor*innen mit ostdeutschen Wurzeln. Erwähnt werden sollen In Zeiten abnehmenden Lichts von Eugen Ruge (2011), dem Sohn von Wolfgang Ruge, Trutz von Christoph Hein (2017), Metropol, erneut von Eugen Ruge (2017), und schließlich Schermanns Augen von Steffen Mensching, mit rund 800 Seiten das opus magnum des Autors. Dieser Roman wird im Weiteren im Fokus dieses Beitrags stehen.7
2. Der Roman Schermanns Augen
Die Handlung spielt 1941 im fiktiven Zwangsarbeitslager Safranowka nahe Archangelsk. Im Dezember 1940 wird dort der berühmte polnische Grafologe und Wahrsager Rafael Schermann (1874-1943) eingeliefert, eine historische Person. Der Lagerkommandant Kosinzew will Schermann verhören, da er zwei historische Personen mit demselben Namen verwechselt: den tschechischen Psychiater Oskar Fischer (1876-1942),8 der 1924 ein Buch über Schermann veröffentlicht hatte, und Oskar Fischer alias Otto Schüssler (1905-1982), Sekretär und Leibwächter Trotzkis während dessen mexikanischen Exils. Kosinzew hofft, durch die Aufdeckung einer trotzkistischen Verschwörung seine frühere Position in Moskau zurückzugewinnen. Als Dolmetscher bei den Verhören fungiert der junge deutsche Proletarier und Kommunist Otto Haferkorn, eine fiktive Figur. In Berlin geboren, war er 1934 nach Moskau geflohen, wo er die deutschsprachige Deutsche Zentralzeitung (DZZ) gesetzt hatte, die in Moskau gedruckt wurde und die Einwohner*innen der wolgadeutschen ASSR als Zielgruppe hatte. 1939 war Haferkorn wegen Spionage, terroristischer Aktionen und konterrevolutionärer Agitation nach § 58 des sowjetischen Strafgesetzbuchs zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt worden. Während der offiziellen Verhöre und privaten Gespräche lässt Schermann den Lebensstil der kulturellen Elite im frühen 20. Jahrhundert aus dem Gedächtnis aufsteigen, zu der er über seine grafologischen Sitzungen Zugang erhalten hatte. Dieser internationale Kreis aus kulturellen Berühmtheiten wie dem Sexologen Magnus Hirschfeld, den Schriftstellern Karl Kraus, Bertolt Brecht und André Malraux, den Publizisten Willi Münzenberg und Lucien Vogel,9 dem Theaterleiter Konstantin Stanislawski oder dem Filmregisseur Sergej Eisenstein wird ergänzt durch Kommunist*innen bzw. weitere Sympathisant*innen des sowjetischen Experiments wie die deutschen Autoren Lion Feuchtwanger, Klaus Mann und Maria Osten oder der sowjetische Journalist Mihail Kolzow, die Haferkorn in seiner Zeit bei der DZZ getroffen oder von denen er dort gehört hatte. Als Kosinzew als Volksfeind entlarvt und liquidiert wird, stoppt sein Nachfolger die Verhöre. Schermann und Haferkorn werden erneut auf »Transport [in ein weiteres Arbeitslager; W.B.] [gehen]« (817).
Es sind zunächst zwei Themen, die im Folgenden im Fokus stehen werden und sich wie ein roter Faden durch den Roman ziehen. Zum einen ist da die kulturelle Kluft zwischen einem transkulturellen Lifestyle, wie er für die kulturelle Elite, aber auch die internationalistische Arbeiterbewegung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts typisch war, und der Realität der sowjetischen Gesellschaft, repräsentiert durch die Lager des GULag. Zum anderen befasst sich der Roman mit dem problematischen Glauben an die zentrale Rolle der Schrift in ihren unterschiedlichen Bedeutungen. Abschließend wird dieser Beitrag Aspekte einer Transkulturalität des kollektiven Gedächtnisses erörtern.
3. Transkulturalität und Kosmopolitismus
Versteht man unter Transkulturalität etwas, was kulturübergreifend vorkommt, was also zumindest über eine bestimmte Kultur hinausgeht (vgl. Mecklenburg 2008: 93), so trifft dies nicht zuletzt auf den Lebensstil der intellektuellen europäischen Elite in den 1920er und frühen 1930er-Jahren zu. Sie kann ohne Zweifel als transitäre und transkulturelle Gemeinschaft par excellence verstanden werden, die sich einem Verständnis von Kultur widersetzte, das einer homogenisierenden Nationalstaatsidee und damit einer strikten Dichotomie von Eigenem und Fremdem das Wort redete.10 Der Lebensstil dieser kulturellen Elite endete nicht an den Grenzen imaginierter Nationalkulturen, sondern überschritt diese, wobei dieselbe Lebensweise sich ebenso in anderen Kulturen beobachten ließ (vgl. Welsch 2010: 3).11 Dieser Lebensstil, der eine »›Überschreitung von Grenzen‹ ebenso meint wie die ›Reflexion und das Außer-Kraft-Setzen von voraus-gesetzten Grenzziehungen‹« (Heimböckel/Weinberg 2014: 124), ist geprägt durch externe Vernetzungen, Mischungen und Durchdringungen (vgl. Welsch 2000: 335-337), er grenzte sich ab von einem separatistischen und exkludierenden Verständnis von Kultur.
Nicht zuletzt für diese Mitglieder der intellektuellen Elite mit ihrem internationalen kulturellen Kapital wurde der Begriff ›Kosmopolit‹ geprägt. Kulturelle Kosmopolit*innen genießen die Vielfalt; die Idee des Kosmopolitismus schließt dabei nicht nur wechselseitige Toleranz, sondern auch Neugier, nicht nur Koexistenz, sondern gegenseitige Befruchtung ein (vgl. Cheesman 2007: 40).
Mit ihren Idealen des proletarischen Internationalismus und der internationalen Solidarität, wo politische Überzeugung und Klassenzugehörigkeit traditionelle nationalstaatliche, kulturelle Grenzen überschreiten, kann die internationalistische kommunistische Arbeiterbewegung der 1920er und der frühen 1930er-Jahre als eine weitere Ausformung von Transkulturalität verstanden werden.12 Als Mitte der 1930er-Jahre die Komintern, die Kommunistische Internationale, unter Führung der Sowjetunion kurzfristig eine Volksfrontpolitik gegen den Faschismus favorisierte, fanden beide Gruppierungen zu einer wenn auch keineswegs konfliktfreien Zusammenarbeit, so z.B. auf dem berühmten Ersten Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur 1935 in Paris. Der Kongress stellte sich – unter Ausgrenzung der immer deutlicher hervortretenden stalinistischen Entwicklung in der SU – der Bedrohung der Kultur durch die faschistischen Regime entgegen. Er wurde von dem sowjetischen Schriftsteller Ilja Ehrenburg gemeinsam mit anderen Autor*innen wie André Malraux, André Gide, Heinrich Mann, Anna Seghers und Egon Erwin Kisch organisiert, um nur einige Namen zu nennen.
Gegen Ende der 1920er und zu Beginn der 1930er-Jahre war die Sowjetunion in Übereinstimmung mit dem Ideal der internationalen Solidarität noch ein gastfreundliches Land. Ausländische ›Spezialist*innen‹ wurden eingeladen, am beschleunigten Aufbau der sozialistischen Industrie mitzuarbeiten. Doch wie die Geschichte der UdSSR bzw. Russlands zeigt, gibt es keine fortwährende teleologische Entwicklung hin zu einer Durchsetzung transkultureller Vorstellungen und Lebensweisen.13 Auch wenn das Recht auf Asyl in der sowjetischen Verfassung von 1936 festgeschrieben wurde, hatten die politischen Verhältnisse sich bereits zu wandeln begonnen. Die Ermordung Kirows, des Leningrader Parteisekretärs der KPdSU, bot nicht nur den Anlass für den Terror der folgenden Jahre, sondern auch für zunehmende Fremdenfeindlichkeit und das Errichten neuer Grenzen. Mitte der 1930er-Jahre wurden Kontakte mit dem Ausland auf ein Minimum reduziert, die Bewegungsfreiheit von Ausländer*innen innerhalb der SU wurde begrenzt und kontrolliert. Spezialist*innen und Flüchtlinge, die einst mit demonstrativer Gastfreundschaft aufgenommen worden waren, trafen nun auf Misstrauen und Feindlichkeit. 1937 wurde der Deutsche Club in Moskau geschlossen, Anfang 1938 die deutschsprachige Karl-Liebknecht-Schule wie auch die Internationale Lenin-Schule; die DZZ musste ihr Erscheinen einstellen (vgl. Hartmann 2003: 186f.). Hand in Hand mit der Fremdenfeindlichkeit gewann der Antisemitismus an Gewicht. Im ersten Schauprozess gegen u.a. Grigorij Sinowjew wurde dieser, der selbst Jude war, beschuldigt, eine terroristische Organisation mit dem Ziel der Ermordung Kirows gebildet zu haben. Zu den Angeklagten gehörten deutsche Kommunisten mit jüdischem Hintergrund wie Moise und Nathan Lurje (vgl. Stark 1999: 76). Insbesondere in der Sowjetunion wurde um diese Zeit ›Kosmopolit‹ zu einem antisemitischen Codewort für Jude (vgl. Cheesman 2007: 40).
4. Dekonstruktion: das Lager
Wie Leona Toker in Bezug auf Holocaust- und GULag-Literatur feststellt, wurden Texte wie Primo Levis Ist das ein Mensch, Solschenyzins frühe Prosa oder Warlam Schalamows Erzählungen aus Kolyma zunächst wegen ihrer informativen Funktion rezipiert. Doch sobald sich das entsprechende historische Wissen durchgesetzt hat und die Leser*innen diese Werke nicht mehr als Informationsquelle benötigen, gewinnt deren ästhetische Funktion verstärkt an Bedeutung (vgl. Toker 1997: 216).
Im Roman von Mensching wird in einem extremen kulturellen Zusammenprall – es kann eben doch kulturelle Grenzen geben – der Lebensstil einer transkulturellen Elite bzw. internationalistischen kommunistischen Bewegung, vertreten durch Schermann und den jungen Kommunisten Otto Haferkorn, mit der xenophoben, intoleranten und nationalistischen Realität der stalinistischen sowjetischen Gesellschaft konfrontiert, verkörpert durch die Zwangsarbeitslager des GULag. Es sind insbesondere dieser Kontrast und die damit einhergehende gewaltsame Dekonstruktion von Transkulturalität, welche die ästhetische Wirkung des Romans ausmachen und ihm einen Großteil seiner Überzeugungskraft verleihen. Durch den Fokus auf die Zeit vor dem Lagerleben entgeht der Roman gleichzeitig dem Dilemma, dass die Sprache der Darstellung von unvorstellbaren, traumatischen Erfahrungen im Lager nicht gewachsen ist (vgl. ebd.: 205). Schließlich arbeitet die Inanspruchnahme erzählerischer Freiheit der Gefahr kultureller Aneignung eines Lebens im GULag entgegen, wie sie sich aus einer scheinbar realistischen Erzählweise ergeben könnte.14
Bei der Durchsicht des Adressbuchs des soeben eingelieferten Schermann stößt Haferkorn auf eine große Zahl bekannter Namen mit Wohnorten in Paris, London, München, Innsbruck, Zürich, Amsterdam und Budapest (vgl. 25f.). Als Schermann 1923 für eine Vortragsreise in den USA an Bord des Luxusliners Olympic ging, war er Passagier der ersten Klasse, verbunden mit dem Privileg, am Tisch des Kapitäns Platz zu nehmen (vgl. 127). Zuhause in Krakau wiederum hatte er mit seiner Schwester Zofia eine Sechszimmerwohnung bewohnt,15 in der über seinem Bett ein Gemälde von Velazquez hing (vgl. 255). Der Gegensatz von ehemaliger kosmopolitischer Lebensweise und der Wirklichkeit des Lagers wird nur zu deutlich, wenn Schermann mittels seines individuellen, die Begrenzungen des Lagers mühelos transzendierenden Gedächtnisses den zerlumpten und verlausten kriminellen Lagerinsass*innen das Leben an Bord eines Luxusliners schildert. Zederbaum wiederum, ein weiterer politischer Gefangener, Mitglied der Bolschewisten seit 1905, mit dem sich Haferkorn in der gemeinsamen Holzfällerbrigade angefreundet hatte, war Diplomat unter den Außenministern Joffe und Litwinow gewesen. Er hatte Philosophie in Moskau und an der Sorbonne studiert. Während seiner Zeit als sowjetischer Presseattaché in Wien war er Stammgast in Wiener Kaffeehäusern gewesen. Maria Osten (1908-1942), eine weitere historische Figur, mit der Haferkorn eine – fiktive – Nacht kurz vor seiner Verhaftung verbracht hatte, hatte mit ihrem kurzzeitigen Ehemann Mihail Kolzow, berühmter sowjetischer Autor und Prawda-Journalist, in Berlin, Moskau, Paris und Barcelona gelebt (vgl. 141). In Paris hatte sie vom Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur berichtet, aus Spanien schrieb sie als Sonderkorrespondentin für die DZZ über den Bürgerkrieg.
Doch alles, was vom früheren Glanz geblieben ist, ist Schermanns Zahnbürste mit der blassgoldenen Gravur »Grand Hotel Šroubek, Praha«, mit seinen Worten eine »Botschaft aus einer anderen Welt« (8). Zederbaum, physisch und psychisch am Ende seiner Kräfte, wird einen Fluchtversuch vortäuschen, damit ihn einer der Wachen ›auf der Flucht‹ erschießt (vgl. 545f.). Schließlich sitzt »Rafael Mauritzowitsch Schermann, Kontingent-Deportierter Nummer 32947, […] mit heruntergelassenen Hosen auf der Pritschenkante und sammelt[e] Ungeziefer aus seiner Leistengegend« (399f.). Schermanns Beschreibung seiner früheren kosmopolitischen Lebensweise »erinnerte Otto schmerzhaft und berauschend an ein Leben, das es auch für ihn hätte geben können, das es jenseits der Taiga, trotz Krieg und Faschismus, in den Städten Europas vielleicht noch gab« (258f.).
Im Roman wird die sowjetische Gesellschaft durch ihren Antisemitismus, die Terrorjustiz und den GULag repräsentiert. Alle drei Phänomene zusammen haben ihren Anteil an der Errichtung von extrem willkürlichen Grenzen gegenüber angeblichen Feinden, die geprägt sind von kosmopolitischer Toleranz, Neugier und gegenseitiger Vernetzung. Dem sowjetischen Antisemitismus kommt dabei eine wichtige Rolle zu, sei es während Haferkorns und Schermanns Verhören oder während ihrer Inhaftierung im Zwangsarbeitslager. Wie sich Ersterer erinnert, hatten viele jüdische Mitarbeiter*innen der DZZ ihre jüdischen Namen abgelegt, weil sie Antifaschist*innen seien, unabhängig von ihrer Herkunft. In Anlehnung an Marx hatte der Redakteur Otto Heller behauptet, dass die Judenfrage im Sozialismus gelöst sei (vgl. 51). Dies veranlasst Zederbaum zu folgendem Kommentar: »Das dachte ich auch, solange ich ein freier Mann war, […] aber jetzt, nach drei Jahren Haft, fühle ich mich wieder entschieden semitisch« (ebd.). Während Haferkorns Untersuchungshaft hatte der Untersuchungsrichter in den Verhören auf Kolzow stets mit dessen bürgerlichem Namen Friedland referiert, um dessen Judentum zu unterstreichen. Bei einer Befragung Schermanns stellt Kosinzew fest, dass sich unter den Angeklagten, die der Planung eines Attentats auf Stalin beschuldigt wurden, »die Söhne Davids häufen« (106). Haferkorn versucht sich bei Kosinzew einzuschmeicheln, indem er abfällig über Schermann äußert, dieser rede ein fürchterliches Judendeutsch (vgl. 73).
Dem Lagerkommandanten scheint es keine Probleme zu bereiten, den Kosmopoliten Lucien Vogel, Chefredakteur der Vogue und Sympathisant der Sowjetunion, zu beschuldigen, gleichzeitig für den französischen und britischen Geheimdienst zu spionieren wie auch für FBI und Gestapo, und sogar die Ermordung Stalins zu planen. Der Kommunist Haferkorn wurde verurteilt, weil er angeblich versucht hatte, in Moskau eine Zelle der Hitlerjugend zu gründen. Das Lager wiederum, wo »[d]er Pferdebestand […] im Gegensatz zum Menschenbestand« begrenzt war (208; Hervorh. i.O.), tötet seine Insass*innen durch Arbeit. Das tägliche Leben im Zwangsarbeitslager wird von Willkür, ständiger Unterernährung und Mangel an bescheidenster medizinischer Versorgung beherrscht. In der von der Lagerleitung bestimmten inneren Hierarchie stehen Kriminelle wie Dieb*innen, Vergewaltiger und Mörder*innen über den aus politischen Gründen verurteilten ›Volksfeinden‹. Während die Kriminellen, überwiegend Analphabet*innen, lesen, Briefe schreiben und empfangen sowie an kulturellen Veranstaltungen teilnehmen dürfen, wenn sie es denn könnten und wollten, ist all dies den politischen Gefangenen verboten, oder, wie es der Erzähler kühl konstatiert: »Zederbaum, Absolvent der Sorbonne, Mitglied des bolschewistischen Flügels der Russischen Sozialdemokratie seit 1905, Diplomat ohne Schreiberlaubnis.« (206)
Nicht nur hinsichtlich der historischen Figuren beruht der Roman auf erwiesenen Fakten. Dies gilt auch für die Schilderung der Hierarchie in den Arbeitslagern.16 Doch letztlich handelt es sich um Fiktion, bewusst weit davon entfernt, realistisch zu sein. Z.B. lässt sich nur schwer vorstellen, woher politische Häftlinge, die an chronischer Unterernährung leiden, die Kraft für stundenlange Unterhaltungen und politische Diskussionen nehmen sollten.17 Auch kann aus historischer Perspektive kaum einleuchten, dass zu einer Zeit, wo die Schuld eines Gefangenen bereits im Haftbefehl festgestellt wird und wo Urteile nach vorgegebenen Quoten ohne Verfahren am Fließband gefällt werden, der Lagerkommandant Beweis um Beweis zusammenzutragen versucht, um Schermanns Beteiligung an einer trotzkistischen Verschwörung nachweisen zu können. Doch für den Roman sind diese Freiheiten von historischer Plausibilität von ausschlaggebender Bedeutung. Es sind gerade Schermanns und Haferkorns grenzüberschreitende Erinnerungen im Verhör wie im privaten Gespräch, wodurch der Kontrast zwischen kosmopolitischer Vergangenheit und sowjetischer Gegenwart im GULag vermittelt wird.
5. Die Schrift lügt nicht
Die Schrift in ihren unterschiedlichen Bedeutungen, der zweite rote Faden, spielt im Roman eine herausragende Rolle. Da ist der Lagerkommandant Kosinzew, der unbeirrt an die Beweiskraft schriftlicher Beweismittel, noch mehr aber an die Wahrheit der Lehren Lenins und Stalins glaubt, wenn er Ersteren zitiert: »Es gibt ein schönes Wort von Lenin, dem Begründer des Sowjetstaats, Inspirator der Revolution, der auch ein Philosoph von Rang war, er nannte die Praxis das erste Kriterium der Wahrheit.« (187) Doch wird die Praxis zeigen, dass der Wahrheit von Stalins Schriften besser nicht vertraut werden sollte. Denn Kosinzew, von seinem Stellvertreter Jegorin ›demaskiert‹, wird als Volksfeind hingerichtet werden, während Jegorin seine Nachfolge als Lagerleiter antritt.
Der Glaube an die Stalinʼsche Schrift wird von den meisten politischen Gefangenen geteilt. Z.B. glaubt der ehemalige Staatsanwalt Nikutin nach wie vor, dass nur ein Prozent der aus politischen Gründen Verurteilten unschuldig wären, wobei er sich selbst natürlich zu dieser Gruppe zählt (vgl. 211). Auch Otto gehört zur großen Mehrheit, die sich selbst für unschuldig, aber den Pritschennachbarn für einen gefährlichen Feind hält (vgl. 34). Trotz aller Entbehrungen, jedes Maß überschreitender Strafen und Torturen gehört Haferkorn nach wie vor zu den Positivgläubigen, auch wenn er spät zu verstehen beginnt, dass diese Gläubigen »alle Erfahrungen, die ihren Glauben bedrohten, als Zufälle, Unfälle oder Beispiele menschlichen Versagens« (296) verdrängten.
Als er noch frei war, hatte Haferkorn alle Artikel des berühmten Prawda-Journalisten Mihail Kolzow über den Spanischen Bürgerkrieg ausgeschnitten. Im Roman, der sich hier und auch im Folgenden eng an die historischen Fakten hält, war dieser im Sommer 1938 in den Obersten Sowjet gewählt worden, zusätzlich zeichnete er für den Verlag Jourgaz verantwortlich und fungierte als Herausgeber der Zeitschriften Krokodil, Ogonek und Za rubezhom (vgl. Pike 1981: 452). Doch plötzlich begann sein Stern zu sinken. Im Dezember 1938 wurde er inhaftiert, zum Tode verurteilt und hingerichtet (vgl. 77).
Der Übermensch Kolzow war verbrannt, aufgerieben, klaftertief in die russische Heimaterde gestampft, sein Name ausgelöscht, seine Bücher – die in Riesenauflagen gedruckt worden waren – lagen in keinem Buchladen, standen in keinem Bibliotheksregal, weder in den Redaktionsräumen der Deutschen Zeitung noch in denen der Zeitschrift Internationale Literatur. Fiel der Name Kolzow in einem Gespräch, trat die gleiche Stille ein wie bei der Erwähnung von Meyerhold, Mandelstam, Tretjakow oder, seit einer knappen Woche, Isaak Babel. (331)
Maria Osten, kurze Zeit mit Mihail Kolzow verheiratet, hatte ein Buch mit dem Titel Gubert v strane čudes: Dela i dni nemeckogo pionera (»Hubert im Wunderland: Taten und Tage eines deutschen Pioniers«) verfasst, das in Kolzows Jourgaz-Verlag erschien und in hohen Auflagen verbreitet wurde (vgl. Osten 1935). In ihrem Buch berichtet Osten von der Ankunft des jungen Saarländers Hubert L’Hoste in der Sowjetunion und seinen ersten Monaten dort. Als sie und Kolzow sich 1935 im Saarland aufgehalten hatten, um von der Saarabstimmung zu berichten,18 hatten sie L’Hoste kennengelernt und adoptiert (vgl. 315). Das Buch machte Osten und Hubert überall in der Sowjetunion bekannt:
Jedes Kind in der Sowjetunion kennt Huberts Geschichte, die Reise des jungen Saarländers, der von seinen verzweifelten, arbeitslosen Eltern ins Vaterland der Werktätigen geschickt wurde, damit er dort zur Schule ging, im Ferienlager Artek herumtobte, im Schwarzen Meer badete und den Bürgerkriegshelden Budjonny traf. Ein sozialistisches Märchen. (315; siehe auch Pike 1981: 453; Hartmann 2003: 198)
Als Haferkorn im Lager zehn Tage in einer Dunkelzelle in Isolationshaft zubringen muss, kennt der Gefangene in der Nachbarzelle das Buch, das er für ein Lügengespinst hält: »Leute wie Kolzow und seine Bekannte, fluchte er hinter der Zellenwand, hätten ihre Märchen täglich in der Prawda und Iswestija verbreitet« (773f.). Mit derartigen ›Feinden‹ will Otto nichts zu tun haben.
Obwohl sie von ihren Freunden in der KPD gewarnt worden war, kehrte Osten von Paris nach Moskau zurück, um sich für den inhaftierten Kolzow einzusetzen. Nach ihrer Ankunft wollte L’Hoste sie nicht in ihre Wohnung lassen, die er inzwischen bezogen hatte. Er wusste, dass jeglicher weiterer Kontakt mit seiner Adoptivmutter ihn und seine junge Frau unmittelbarer Todesgefahr aussetzen würde (vgl. 315f.).19
Vor seiner Inhaftierung hatte Otto Haferkorn, KPD-Mitglied, politischer Flüchtling und idealistischer Internationalist, an der Linotype Artikel für die DZZ gesetzt. Für ihn war das Besondere an seiner Arbeit, dass ein Schriftsetzer Verantwortung trägt: »Was man setzt, muss man verstehen.« (178) Aber als er in der Küche des Arbeitslagers zufällig einen Artikel aus der Prawda über den Molotow-Ribbentrop-Pakt findet, versteht er die Schrift nicht mehr:
Plötzlich, über Nacht, ohne dass sich irgendetwas an Hitlers Politik geändert hätte, waren aus den Todfeinden Herzensfreunde geworden? Wer war er, dass er an der kollektiven Weisheit zweifeln konnte? Musste er der Linie nicht blind folgen? Seinem Hass abschwören? Wandte er sich nicht, wenn er daran festhielt gegen die Partei, gegen den Genossen Stalin? Bewies seine Unfähigkeit, die neue Taktik zu begreifen, nicht die Notwendigkeit des gegen ihn von der Dreierkommission gefällten Urteils? (667f.)
Dennoch zählt sich Haferkorn zu denjenigen, die an die Schrift glauben. Während seiner Isolationshaft beginnt er in der Dunkelzelle die proletarische Hymne Brüder zur Sonne, zur Freiheit zu singen, wobei der Text ironisch ein grelles Schlaglicht auf den Widerspruch zwischen Ottos aktueller Situation und dem Liedtext wirft: »Brüder, zum Lichte empor. Hell aus dem dunklen Vergangenen, leuchtet die Zukunft hervor« (764f.; Hervorh. i.O.). Schließlich beginnen sich in seinen Träumen faschistische und kommunistische Zeitungen zu mischen; sein Glaube an die kommunistische Schrift gerät ins Wanken: »Otto erkannte die Kopfzeile des Völkischen Beobachters. Unter den Frakturbuchstaben stand in kyrillischer Schrift: Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« (781; Hervorh. i.O.)20
Ein weiterer Schriftgläubiger ist der des Lesens und Schreibens unkundige Spechov, genannt Uspechin, der Erfolgreiche, Boss der Kriminellen. Er trägt eine Tätowierung auf seiner Brust, die zwei Augen zeigt, dazwischen ein kurzer Satz: Ja wishu, ich sehe. Das bedeutet, wie es Spechov Haferkorn erklärt, Folgendes: Ja wishu twoju sudbu, ich sehe dein Schicksal, was wiederum heißt – so versteht es zumindest Otto –, dass Spechov bestimmen kann, ob er den nächsten Tag noch erleben wird (vgl. 551). Aber Uspechin kann nicht in seine eigene Zukunft sehen. Daher möchte er, dass der berühmte Grafologe mit Schermanns Augen in die Zukunft sieht und ihm sein Schicksal voraussagt. Dafür benötigt Schermann von Spechov eine Probe seiner Handschrift. Daher möchte dieser lesen und schreiben lernen, wobei Otto als sein Lehrer fungiert.
Am Ende ist Schermann, der berühmte Schriftdeuter, der Skeptischste von allen im Hinblick auf die Schrift, obwohl er 1929 ein Buch mit dem Titel Die Schrift lügt nicht veröffentlicht hatte. Schermann vertraut nicht vollständig auf seine Fähigkeit, allein mit Hilfe der Handschrift die charakteristischen Eigenschaften und das Schicksal seiner Testpersonen zu erschließen. Stattdessen ist er bemüht, wie es zumindest Mensching sieht, zunächst möglichst viele Informationen über diese zu sammeln. Dazu benötige er seine Augen, Schermanns Augen, da »Graphologie […] zunächst eine Beobachtungskunst« sei (575). Gut 100 Seiten später dankt Schermann seinem Schöpfer für seine außergewöhnlich akkuraten Augen, die scharf beobachten können (vgl. 692). Dank seiner genauen Beobachtungsgabe vermag er die Worthülsen der Stalinʼschen Schrift zu durchschauen: »Der Pate [Spechov; W.B.] beansprucht Alleinherrschaft, Zentralgewalt. Alle sollen sich seinem System beugen. Uspechin macht es wie Stalin.« (175) Hinsichtlich der aus politischen Gründen zu Haftstrafen Verurteilten oder Liquidierten erzählt er dem entsetzten Otto: »Sie haben alle geglaubt, es ginge um Vernunft, Wahrheit, Ergebenheit. Alles Unsinn. Es geht nur darum, wer zum richtigen Zeitpunkt den Finger am Abzug hat. Wenn du diese Scheiße hier überleben willst, musst du lernen, auf deine Genossen zu spucken.« (629)
6. Schermanns Augen und Die Ästhetik des Widerstands
In der Rezeption werden Schermanns Augen immer wieder mit der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss (1916-1982) verglichen.21 Beide Romane untersuchen Politik und Schicksal der KPD zu Zeiten von Faschismus und Stalinismus, wobei beide auf historische Figuren zurückgreifen. So lässt sich die gesamte Elite der KPD bei Mensching wie schon zuvor bei Weiss auffinden. Weiterhin sind beide Romane aus langen Textblöcken geformt, die nicht in einzelne Absätze unterteilt sind.22
Trotz der deutlichen Parallelen zwischen beiden Romanen möchte ich Die Ästhetik des Widerstands eher als Kontrastfolie zu Schermanns Augen betrachten. Für Weiss besteht der Ausgangspunkt im Ideengehalt der kommunistischen Bewegung, dem sich seine Protagonist*innen verpflichtet fühlen. Das Wichtigste war für sie, den Gedanken an das Weiterbestehen einer Weltbewegung aufrechtzuerhalten, womit z.B. der Ich-Erzähler seine Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republik begründet (vgl. Weiss 1975: 265). Die Diskussionen über den Zustand der kommunistischen Bewegung angesichts des Siegs des Faschismus nehmen ihren Ausgang häufig bei Werken der Kunstwelt wie dem Fries des Pergamon-Altars, dem Schloss von Kafka, Picassos Guernica oder dem Floß der Medusa von Géricault. Im Gegensatz dazu schleudert Mensching seine Protagonisten Schermann und Haferkorn in ein stalinistisches Strafarbeitslager, von dem die Kunstwelt genauso weit entfernt ist wie Schermanns alte Holländer an den Wänden seiner Krakauer Wohnung. Wo Weiss’ Protagonist*innen in hochgespanntem Ton die Situation der kommunistischen Bewegung erörtern, beschimpft Unterleutnant Dolgopolski den Häftling Haferkorn mit folgenden Worten: »Du Kackbratze, Scheißhausfliege, eitriger Schwanz« (339). Weiss konzentriert sich auf die Ursachen für die Niederlage der Arbeiterbewegung im Kampf gegen den Nationalsozialismus und befasst sich eher vorsichtig mit den stalinistischen Verbrechen. In seinem polyphonen Roman wird der Kritik mancher Protagonist*innen an der Stalinʼschen Politik mit Schweigen im Namen der Parteidisziplin begegnet oder mit Stimmen, die diese Maßnahmen angesichts faschistischer Gräueltaten verteidigen.23 Demgegenüber zeigt Mensching unumwunden, wie Kommunist*innen und deren Sympathisant*innen ihre Augen vor den Verbrechen des Stalinismus verschließen. Entsprechend lässt Mensching den jüdischen Schriftsteller Lion Feuchtwanger (1884-1958), der sich Anfang 1937 auf Stalins Einladung hin in Moskau aufhielt und auch den zweiten Schauprozess gegen Karl Radek u.a. besuchte, zu den Mitarbeiter*innen der DZZ einschließlich Haferkorn wie folgt sprechen: »Wer meine Bücher gelesen hat, erklärte der Dichter, kennt das Grundthema, das mich beschäftigt: der ewige Kampf der Vernunft gegen die Dummheit. Ihr, liebe Freunde, seid die Baumeister eines Staats, der sich auf den Fundamenten der Vernunft gründet.« (153)24
7. Rekonstruktion
Multidirektionales als transkulturelles Gedächtnis
Zum Schluss möchte ich im Kontext des kollektiven Gedächtnisses oder genauer des multidirektionalen Gedächtnisses auf die Frage der Transkulturalität zurückkommen. Wie Michael Rothberg zeigt, hat die Erinnerung an die Verbrechen des Holocaust dazu beigetragen, dass weitere traumatische historische Ereignisse im kollektiven Gedächtnis aufgehoben werden konnten (vgl. Rothberg 2009: 6). Im Gegensatz zu einem Bezugssystem, das das kollektive Gedächtnis als von Konkurrenz geprägt sieht, als ein Nullsummenspiel angesichts knapper Ressourcen, lenkt Rothberg das Augenmerk auf die dynamischen Transfers, die während des Akts des Erinnerns zwischen verschiedenen Orten und Zeitpunkten erfolgen (vgl. ebd.: 11). Wie er zeigt, hat die Erinnerung an den nationalsozialistischen Völkermord immer wieder den Bezugsrahmen des Nationalstaats durchbrochen (vgl. ebd.: 20), was eine Rekonzeptualisierung des kollektiven Gedächtnisses in multikulturellen und transnationalen Kontexten erfordert (vgl. ebd.: 21). In der Tat stellt das multidirektionale Gedächtnis ein zutiefst transkulturelles Unterfangen dar, wobei Astrid Erll transkulturelles Gedächtnis definiert »as the incessant wandering of carriers, media, contents, forms, and practices of memory, their continual ›travels‹ and ongoing transformations through time and space, across social, linguistic and political borders« (Erll 2011: 11).
Wie angemessen Rothbergs und Erlls Verständnis des multidirektionalen Gedächtnisses als eines grenzüberschreitenden, transkulturellen Unternehmens ist, lässt sich anhand von Aktionen der 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten russischen NGO Memorial zeigen. Deren Ziel bestand darin, in der UdSSR begangene Verbrechen gegen die Menschheit zu dokumentieren. Die Organisation wollte überlebenden Opfern des Großen Terrors der 1930er-Jahre und des GULag wie auch deren Familien helfen. Angeregt durch die Gedenkpraktiken der Stolpersteine in Deutschland begannen Vertreter*innen von Memorial Erinnerungstafeln an Häuserfassaden in Moskau anzubringen, um an das Schicksal früherer Bewohner*innen zu erinnern, die während der Säuberungen ermordet oder in den GULag deportiert worden waren.
Diese Aktionen zeigen die Funktionsweise des multidirektionalen Gedächtnisses als transkulturelles Phänomen. Sie verdeutlichen, wie die Erinnerung an den Holocaust die Verankerung weiterer Genozide im kollektiven Gedächtnis befördern kann. Das Beispiel zeigt, wie das kollektive kein kompetitives Gedächtnis darstellt, sondern ein multidirektionales, »as subject to ongoing negotiation, cross-referencing, and borrowing; as productive and not privative« (Rothberg 2009: 3).
Zusätzlich zeigen diese Aktionen, dass statt einer problematischen Betonung der Einzigartigkeit des Holocaust besser die Ähnlichkeiten zwischen dem Holocaust und anderen Völkermorden wahrgenommen werden sollten, wie dies z.B. in Schermanns Augen vorgeführt wird. Es ist kein Zufall, dass der Erzähler des Romans, während er den 1935er Pariser Kongress zur Verteidigung der Kultur behandelt, den Redebeitrag eines italienischen Delegierten erwähnt. Dieser war – so der Roman – auf allgemeine Ablehnung gestoßen, weil er die Zustände in faschistischen Gefängnissen mit denen in sowjetischen Arbeitslagern gleichzusetzen gewagt hatte (vgl. 502).
Die Darstellung der Stalinära im russischen kollektiven Gedächtnis änderte sich kurzfristig während der letzten Jahre der Sowjetunion, was wiederum eine wichtige Rolle für Veränderungen im deutschen kollektiven Gedächtnis spielte, zumindest hinsichtlich des Ostens Deutschlands. Erst die Zeit von Perestroika und Glasnost ermöglichte die Veröffentlichung der Erinnerungen von GULag-Überlebenden in der Sowjetunion wie auch in Deutschland und die Öffnung russischer Archive, die wiederum das Tatsachenmaterial zur Verfügung stellten, mit dessen Hilfe Mensching den historischen Hintergrund seines Romans gestalten konnte.25
Weiterhin lässt die Verankerung von Praktiken stalinistischer Gewaltherrschaft im kollektiven Gedächtnis in einem weiteren Akt multidirektionalen Erinnerns angesichts des Überfalls auf die Ukraine Kontinuitäten der russischen Politik wie imperialistisches Expansionsstreben verbunden mit xenophober Abgrenzung nach außen und innerer Homogenisierung akzentuiert hervortreten.
Schließlich beruht eine weitere, allerdings höchst problematische Ähnlichkeit zwischen Russland und Deutschland hinsichtlich der Erinnerung traumatischer GULag-Erfahrungen darauf, dass in beiden Ländern das kollektive Gedächtnis dazu tendiert, die Erfahrungen der Stalinära zu vergessen, wenn auch aus höchst unterschiedlichen Gründen. Das offizielle politische Gedächtnis im autokratischen Russland betont den siegreichen Krieg gegen den Faschismus, den ›Großen Vaterländischen Krieg‹, bei gleichzeitiger Verdrängung der Verbrechen und Genozide der Stalinära. Ein deutliches Zeichen dafür war zunächst die Einstufung von Memorial als sog. ausländische Agentin, gefolgt vom Verbot der Organisation Anfang 2022.
Demgegenüber ist die Situation in Deutschland komplexer. Wo die Enthüllungen Stalinʼscher Verbrechen in den Büchern der Leonhards oder von Buber-Neumann während des Kalten Kriegs auf öffentliches Interesse stießen, war die Situation eine andere für autobiografische Texte, die in der Endphase der DDR von Autor*innen veröffentlicht wurden, die zum Teil nach wie vor an die Ideale der sozialistischen Bewegung glaubten. Das Zeitfenster für ein breiteres Interesse stand nur kurze Zeit offen und begann sich bereits in den 1990er-Jahren erneut zu schließen, als sich das öffentliche Interesse im vereinten Deutschland in einem hierarchischen Verständnis des kollektiven Gedächtnisses von der Viktimisierung innerhalb der kommunistischen Bewegung zu den Machenschaften der Stasi verschob. In Abgrenzung davon charakterisiert Wolfgang Benz in seinem Nachwort zu Starks Monografie über deutsche Frauen im GULag deren Schicksal mit folgenden Worten:
Eine unbeachtete Minorität mit einer kollektiven Erfahrung, die ebensowenig zum Heroentum wie zum späten Triumph von Märtyrern geeignet war. Diese Erfahrung, die als Lehrstück über politische Ideale und deren Mißbrauch, über politische Pressionen und deren Folgen geeignet ist, macht die Frauen des GULag zu exemplarischen Gestalten. (Benz 1999: 253)
Zweifelsohne besteht eine der wesentlichen Leistungen von Schermanns Augen darin, diese dramatischen Erfahrungen der – nicht nur – kommunistischen Opfer des Stalinismus in ihrer unmöglichen Position zwischen Faschismus und Stalinismus, zwischen einer transkulturellen kosmopolitischen Vergangenheit und der Gegenwart des GULag einem breiteren Publikum zugänglich gemacht zu haben. Dabei erfolgt die Darstellung nicht mehr wie noch bei Weiss aus der Innenperspektive der internationalen Arbeiterbewegung heraus, sondern weitgehend mit Schermanns Augen. Doch bleibt sie geprägt von Empathie und Verständnis und lässt so das Drama erst als solches hervortreten.26 Weiterhin verweist der Roman auf die Problematik einer Ausrichtung des kollektiven Gedächtnisses statt auf transkulturelle Multidirektionalität auf eine hierarchische Struktur, wodurch traumatische Ereignisse wie die Erfahrungen im GULag ein weiteres Mal weitgehend aus der gemeinsamen Erinnerung ausgegrenzt würden. Schließlich verleihen der Abbau letzter demokratischer Strukturen in Russland und der Angriffskrieg auf die Ukraine Schermanns Augen eine Aktualität, wie sie der Rezeption und wohl auch dem Autor noch beim Erscheinen des Romans kaum vorstellbar erschienen.
Anmerkungen
1 Während des 17. und 18. Jahrhunderts waren deutsche Familien aus Baden, Württemberg, der Pfalz, Westpreußen und Danzig in das Wolgagebiet ausgewandert. Zum Zeitpunkt der Liquidierung der wolgadeutschen ASSR lebten dort rund 1,1 Millionen ethnische Deutsche. Schätzungsweise wurden 856.000 nach Kollektivfarmen und Arbeitslagern in Kasachstan und Sibirien deportiert (vgl. Hamann 2021: 334).
2 Die genaue Zahl der deutschen Opfer der Stalinʼschen Säuberungen ist unbekannt. Bis 1991 hatte Reinhard Müller eine Zahl von 2546 Emigrant*innen erfasst, die festgenommen, hingerichtet, nach Nazi-Deutschland ausgeliefert worden waren oder im GULag umgekommen sind (vgl. Stark 1999: 94).
3 Buber-Neumann war die Witwe von Heinz Neumann, einem führenden Funktionär der KPD, der am 26. November 1937 im Zuge der Stalinʼschen Säuberungen in Moskau zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Nach ihrer Auslieferung an Nazi-Deutschland musste Buber-Neumann fünf weitere Jahre im KZ Dachau verbringen.
4 Ironischerweise wurden in der DDR die Überlebenden des GULag als »Verfolgte des Naziregimes« anerkannt, was diese zum Bezug von besonderen Sozialleistungen berechtigte. Gleichzeitig wurden sie gezwungen, ihre Lebensläufe hinsichtlich ihrer Jahre im GULag derart zu fälschen, dass ihre Inhaftierung nicht darin vorkam. Es galt ein striktes Schweigegebot.
5 Hedda Zinner hatte die ersten Erinnerungen an ihre Jahre in sowjetischem Exil bereits 1989, wenn auch sehr vorsichtig, in einem zweiten autobiografischen Text korrigiert (vgl. Zinner 1989).
6 Das hieß aber nicht, dass keine blinden Flecken bestehen blieben. So hält sich Richters Beschreibung nach wie vor an das Versprechen, das sie ihrem Mann bei dessen Verhaftung gab. »Was auch mit uns geschehen möge – der Sache bleiben wir treu!« (Hartmann 2003: 152) Damerius wiederum verschweigt in seinem Buch seine Aktivitäten als Informant für den NKWD (vgl. ebd.: 151).
7 Verweise auf den Primärtext erfolgen ab hier nur mit Seitenangabe.
8 Der tschechische Psychiater Oskar Fischer war ein jüdischer Pionier der Neurowissenschaften. Fischers Forschungen führten zur Identifikation der altersbedingten Plaques im Gehirn, den typischen Wunden der Alzheimer-Demenz. Fischer starb am 28. Februar 1942 im Konzentrationslager Theresienstadt. Sein Anteil an der Entdeckung der Krankheit wurde nie angemessen gewürdigt (vgl. 818).
9 Willi Münzenberg (1889-1940) war deutscher Kommunist und Publizist. Ab 1924 gab er die Arbeiter-Illustrierten-Zeitung mit einer wöchentlichen Auflage von bis zu einer halben Million heraus. Münzenberg wurde tot in einem Wald nahe der französischen Gemeinde Saint-Marcellin aufgefunden, wahrscheinlich durch den NKWD ermordet. Lucien Vogel (1886-1954) war ein französischer Fotograf und Publizist, der für Zeitschriften wie die französische Vogue, Vu oder Jardins des Modes arbeitete. 1925 war er Kurator des sowjetischen Pavillons auf der Exposition internationale des arts décoratifs et industriels in Paris.
10 Es kann hier nicht der Ort sein, erneut die letztlich fruchtlose Debatte um Inter- oder Transkulturalität zu führen, wie sie insbesondere von Welsch betrieben wird, denn »im Grunde wissen alle an der Diskussion Beteiligten, welch komplexe Formen des kulturellen Austauschs zu denken sind. Von daher sind weniger die Diagnosen Welschs unangemessen, als vielmehr die von ihm so massiv vorgetragene These, all das lasse sich im Rahmen der ›Interkulturalität‹ nicht denken« (Langenohl/Poole/Weinberg 2015: 17).
11 Für Welsch entwickelt sich die Transkulturalität in vollem Umfang allerdings erst im Zuge der Globalisierung, was sich nicht nur in diesem Fall als ahistorisch erweist. Ein Problem in seiner Argumentation besteht darin, dass er aufgrund der Kritik an seinen Thesen seinen zahlreichen, einander stark ähnelnden Beiträgen zur Transkulturalität ergänzende Kapitel hinzufügt, die diese Kritik aufnehmen. Nur finden sich damit in ein und demselben Artikel häufig zwei einander widersprechende Positionen.
12 Vgl. zum Kommunistischem Manifest als interkulturellem Text und zu Marx als interkultureller, grenzüberschreitender Persönlichkeit den Essay von Amann und Heimböckel. Sie verweisen auf die biografische Dimension dieses Weltautors, »der als deutscher Philosoph jüdischer Herkunft, Migrant und Exilant genug Stoff dafür liefert, um als interkultureller Philosoph bzw. ›ècrivain interculterel‹ […] wahrgenommen zu werden« (Amann/Heimböckel 2018: 171).
13 Aufgrund des ihr eingeschriebenen pädagogischen Impetus, der Bildung einer friedlichen Weltgesellschaft zuzuarbeiten (vgl. Welsch 2010: 14), ist Welschs Konzeptionalisierung von Transkulturalität nur sehr bedingt in der Lage, Prozesse erneuter Grenzziehung, von Abgrenzung nach außen und Homogenisierung nach innen aufzunehmen, wie sie nicht nur Ende der 1930er-Jahre verstärkt in der Sowjetunion auftreten, sondern erneut im zunehmend diktatorischen Russland.
14 Diese Gefahr zeigt sich in Schwarzes Eis von Sergej Lochthofen, wo der Sohn aus einer personalen Erzählsituation heraus von den Erlebnissen seines Vaters im GULag berichtet (vgl. Lochthofen 2014).
15 Aufgrund der Größe der Wohnung vermutet der Lagerkommandant, Schermann lebe in einer ›Kommunalka‹, einer Gemeinschaftswohnung, der sowjetischen Lösung für knappen Wohnraum.
16 Immer wieder kommen die von Stark interviewten überlebenden Frauen des GULag auf die Rolle der kriminellen Gerfangenen zurück, die – unter aktiver Mitwirkung der NKWD-Lagerleitung – die alltäglichen Routinen diktierten und kontrollierten. Sie teilten die Arbeit zu, bevorteilten sich bei der Essensausgabe und bestahlen die politischen Gefangenen. Am meisten litten die Frauen darunter, dass die Lagerverwaltung die kriminellen ethisch höher einstufte als die politischen Gefangenen und letztere als Feinde betrachtete (vgl. Stark 1999: 155).
17 Eva B., eine von Starks Gesprächspartnerinnen, erinnert sich wie folgt: »Wir hatten im Winter nasse Füße. Dann mußten die Fußlappen aus unseren Überschuhen getrocknet werden. Und das war eine Lebensfrage, ob man die Fußlappen trocknen konnte oder irgendwelche nassen Lumpen nehmen mußte. Darüber vergaß man den Kommunismus und alles. So war die Lage, daß man wirklich nicht viel nachdachte oder direkt theoretische Gespräche begann.« (Ebd.: 159)
18 Laut den Bestimmungen des Versailler Vertrags war das Saarland Mandatsgebiet des Völkerbundes und stand unter britischer und französischer Verwaltung. Nach der Volksabstimmung vom Januar 1935, in der sich 90,5 % der Stimmberechtigten für die Rückkehr nach Deutschland aussprachen, wurde das Saargebiet zurückgegeben.
19 Der Verrat sollte Hubert L’Hoste nicht viel nützen. Bei Kriegsausbruch wurde er nach Kasachstan deportiert, wo er als Viehhirt in einer Kolchose arbeiten musste. 1946 wurde auch er inhaftiert und erst 1955 freigelassen. Seinem Wunsch nach Rückkehr nach Deutschland wurde nicht stattgegeben. Er starb 1959, gerade 36 Jahre alt, im Anschluss an eine Blinddarmoperation in einem Simferopoler Krankenhaus (vgl. Hartmann 2003: 199). Am 8. Oktober 1942, nach dem Ende der im Roman erzählten Zeit, wurde Maria Osten als angebliche deutsche Spionin zum Tode verurteilt und unmittelbar nach dem Prozess erschossen. Es ist erstaunlich, wenn auch nicht überraschend, dass es Exil in der UdSSR, der nahezu offiziellen DDR-Monografie, gelingt, Osten fünfmal zu erwähnen ohne jeglichen Hinweis auf ihr grausames Schicksal (vgl. Jarmatz/Barck/Diezel 1979: 149f., 197-201, 261, 265 u. 589).
20 Wolfgang Leonhard zufolge lagen nach Abschluss des Molotow-Ribbentrop-Pakts statt der Emigrantenzeitungen in Moskau häufig Nazi-Zeitungen aus; antifaschistische Romane deutscher Emigrant*innen wurden aus den Bibliotheken entfernt. Die antifaschistischen Sowjetfilme Professor Mamlock (nach einem Theaterstück von Friedrich Wolf) und Familie Oppenheim (nach einem Roman von Lion Feuchtwanger) wurden vom Spielplan ebenso abgesetzt wie alle Theaterstücke mit antifaschistischem Inhalt (vgl. Leonhard 1990: 82). Insbesondere erinnert Leonhard den 20. Februar 1940, als eine ganze Seite der Prawda nur aus zwei Beiträgen bestand: einem langen Auszug aus einer Hitler-Rede und einem ausführlichen Artikel über das Kommunistische Manifest (vgl. ebd.: 96).
21 Vgl. u.a. Kunisch 2018, Platthaus 2018, Opitz 2018 und Hillgruber 2019. Mensching selbst sieht den Einfluss von Weiss auf seinen Roman wie folgt: »[I]nsgesamt seit 20 Jahren sitze ich an diesem Thema, und klar, Peter Weiss spielt da eine wichtige Rolle – eine wichtige Rolle, weil er auch vom Faktischen kommt, weil er vom Dokument kommt, weil viele Personen in der ›Ästhetik des Widerstands‹ real sind. Viele Personen, die bei mir eine Rolle spielen, gibt es in der ›Ästhetik‹: Kolzow, Münzenberg, die gesamte KPD-Führungsschicht, die tauchen ja irgendwie auch in diesem Buch auf.« (Mensching 2018a)
22 Anders als die deutschsprachige Rezeption verstehe ich die langen Textblöcke in Schermanns Augen nicht als Resultat von Menschings Beschäftigung mit Peter Weiss. Dieser Erzählstil ist bereits bezeichnend für frühere Romane von Mensching wie z.B. Jakobs Leiter (vgl. Mensching 2003).
23 In einem polyphonen Roman wie Die Ästhetik des Widerstands bleibt es den Leser*innen überlassen, welchen der verschiedenen und einander widersprechenden Argumenten sie sich anschließen würden. Am klarsten wird der entscheidende Unterschied zwischen beiden Romanen von Opitz auf den Begriff gebracht: »[W]ährend Stalins Straflager in der ›Ästhetik des Widerstands‹ nur am Rande erwähnt werden, ist ein Lager in Menschings Roman der zentrale Ort des Handlungsgeschehens. […] Indem Mensching das Handlungsgeschehen von diesem Ort aus entwickelt, erweitert er den Epochenroman von Peter Weiss um ein entscheidendes Kapitel.« (Opitz 2018)
24 Tatsächlich hatte Feuchtwanger diese Rede am 5. Januar 1937 anlässlich einer Begegnung mit Arbeiter*innen aus Moskauer Fabriken, Student*innen, Autor*innen und Journalist*innen gehalten. Dort sagte er u.a.: »Der ewige historische Kampf der Vernunft gegen die Dummheit. Ihr habt zum ersten Mal in der Geschichte der Welt einen Staat nur auf der Basis der Vernunft gegründet. In diesem großen Kampf der Vernunft gegen die Dummheit bin ich euer, seid ihr meine besten Bundesgenossen.« Die Rede wurde am 6. Januar 1937 in der DZZ abgedruckt (vgl. Jarmatz/Barck/Diezel 1979: 264). Siehe zu Feuchtwangers Aufenthalt in Moskau ausführlich Hartmann 2014: 59-70. Mit diesem Thema befasst sich auch der Roman Metropol (vgl. Ruge 2019: 139-174).
25 In einem Interview nimmt Mensching wie folgt zu den von ihm benutzten Quellen Stellung: »Solschenizyn ja, den ›Archipel Gulag‹ natürlich, den kenne ich, […] die Belletristik habe ich gemieden von ihm. Der ›Archipel Gulag‹ ist ja doch mehr eine Faktensammlung, ein Großessay, eine Dokumentation. Ich habe mich im Wesentlichen auf diese faktischen Sachen gestützt, Anne Applebaum, ein großes Werk über den Gulag, und Erinnerungsbücher habe ich gelesen, vor allen Dingen von polnischen Emigranten – Isaac Vogelfanger, ein in Amerika und England lebender Arzt. Das heißt, Biografien habe ich im Wesentlichen gelesen und belletristische Äußerungen, als ich anfing, darüber zu schreiben, eigentlich gemieden, um mich nicht zu sehr abzulenken.« (Mensching 2018a)
26 Am Beispiel des jungen Haferkorn reflektiert der Autor auch seine eigene »gläubige Epoche« in einem Staat mit Namen DDR (vgl. Hillgruber 2019).
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