Sabine Egger/Stefan Hajduk/Britta C. Jung (Hg.): Sarmatien – Germania Slavica – Mitteleuropa: vom Grenzland im Osten über Johannes Bobrowskis Utopie zur Ästhetik des Grenzraums
Göttingen: V&R unipress 2021 – ISBN 978-3-8471-1193-1 – 60,00 €
https://doi.org/10.14361/zig-2022-130214
Der von Sabine Egger, Stefan Hajduk und Britta C. Jung 2021 herausgegebene Sammelband Sarmatien – Germani Slavica – Mitteleuropa: vom Grenzland im Osten über Johannes Bobrowskis Utopie zur Ästhetik des Grenzraumes vereinigt in 23 Beiträgen in deutscher und englischer Sprache Expertise aus einem Spektrum von Fach- und Forschungsgebieten unter dem übergeordneten Fokuspunkt der Grenze bzw. des Grenzraumes. Der in vier Teile untergliederte Band verhandelt inhaltlich-thematisch ästhetische Darstellungen von Grenzphänomenen und präsentiert sich in der Anlage seiner konkreten Zusammenstellung als interdisziplinär und komparatistisch. Ausgehend von der von Johannes Bobrowski in innovativem Rekurs auf Ptolemäus konturierten Begrifflichkeit »Sarmatien« als pluri-ethnische Einheit und kultureller Grenzraum weitet der Sammelband – in beeindruckender Komposition – sukzessive das Blickfeld. Der Band geht dabei von einer kritischen Betrachtung der sarmatischen Utopie Bobrowskis aus (Teil 1). Daran schließt sich die Verhandlung von (Ost-)Mitteleuropa in literarischen Bearbeitungen (Teil 2) sowie die Auseinandersetzung mit topographischen Polyvalenzen an, die nicht länger an konkrete geographisch-politische Orte geknüpft sind (Teil 3). Abschließend thematisiert der Sammelband poetische Räumlichkeit und Gattungsgrenzräume per se (Teil 4). Trotz dieser hohen thematischen Streubreite der Teilbereiche und der zugehörigen Einzelbeiträge gelingt es, die zentrale Frage nach der ästhetisch-literarischen Inszenierung, Reflexion oder (De-)Konstruktion von Grenzräumen in deutschsprachigen literarischen Texten durchgängig aufrechtzuerhalten. Die – zunächst an Bobrowskis Terminologie von Sarmatien eng gekoppelten – Betrachtungen von Grenzräumlichkeiten lassen in interdisziplinärer, intermedialer und sprachübergreifender Perspektive ein über Europa hinausreichendes Panorama literarischer Grenzräume erahnen. In seiner Gesamtheit legt der Band somit anschaulich Zeugnis davon ab, dass Bobrowskis (zunächst örtlich und temporal begrenzt gedachtes) Konzept ›Sarmatien‹ einen literarischen Raum umfasst, der einen produktiven Orientierungspunkt für die Annäherung an ›östliche‹ europäische Grenzräume im 20. und 21. Jahrhundert bietet.
Anschließend an die einleitende, ausführliche Kontextualisierung des titelgebenden Begriffs Sarmatien durch Sabine Egger und Stefan Hajduk, legt Andreas Degen mit seinem Beitrag Grenzland und Sarmatien. Zur Geosemantisierung Ostpreußens im politischen Diskurs der Zwischenkriegszeit und in den Kriegs- und frühen Nachkriegsgedichten Johannes Bobrowskis den Grundstein für den (zunächst enggefassten) Fokuspunkt des ersten Teils des Sammelbandes: »Ostgrenzenlos? Bobrowskis sarmatische Utopie«. Degen macht die semantische Umdeutung Ostpreußens als »deutsches Grenzland« (58) im Sinne eines »Bollwerk[s] gegen die Slaven« hin zu einem multiethnischen Sarmatien sichtbar. Dies wird der Realität der Bevölkerungszusammensetzung der Großregion im Osten von »durcheinander und miteinander« (57) lebenden Nachbarvölkern eher gerecht. Gemäß Degen löst sich die binäre Opposition von Heimat vs. Feindland im Kontext des lyrischen und erzählerischen Werks von Johannes Bobrowski auf und verschiebt sich hin zu einer Gegenüberstellung des »Nachkriegsdeutschlands [und dem] untergegangenen Sarmatien« (58). Auch Iulia-Karin Patrut und Kristin Rebien führen den von Degen etablierten Fokus auf (geo-)politische Semantisierungsvorgänge in europäischer Perspektive fort. So setzt Patrut Bobrowski in einen produktiven Dialog mit Paul Celan, um die deutschsprachige Lyrik nach 1945 in einem dezidiert europäischen Kontext neu zu verorten. Rebien wiederum nähert sich in ihrem Beitrag, ausgehend von der polyvalenten Begriffskonzeption ›Sarmatien‹, einer potenziellen Instrumentalisierung dieser als politische Utopie. Hierbei wird der zeithistorische Fokus durch die in Bobrowskis Werk Levins Mühle erzählerisch verwirklichte, radikale Infragestellung der Nation als staatsbürgerlicher Rechtsgemeinschaft im Kontext von Kaltem Krieg und Eisernem Vorhang im »Zeitalter des Berliner Mauer« (103) situiert. Nach Rebien vermag Bobrowskis Text aufzuzeigen, wie »die deutsche Nation aus ihrer Geschichte heraus neu zu denken ist« (117). In diesem Zuge legt er ein an die poetische Konstruktion ›Sarmatien‹ angelehntes literarisches Plädoyer dafür ab, sich von einem überkommenen, linearen und verfestigten Geschichtsverständnis abzuwenden. Weitere Beiträger:innen dieses das Themenfeld eröffnenden ersten Teils des Sammelbandes sind: Innokentij Urupin, der sich unter dem Titel Zur Verbindung von Stimme und Scham mit der poetischen Funktion von Mündlichkeit in den Erzählungen Bobrowskis beschäftigt; Joanna Jabłkowska, die Bobrowskis Levins Mühle und Olga Tokarczuks Ksiegie Jakubowe vergleichend betrachtet und aus gattungspoetischer Sicht nach der Zugehörigkeit zur Grenzland- bzw. Kresy-Literatur fragt; sowie Florian Gassner, der Bobrowskis Litauische Claviere – ebenfalls auf geopolitische Besitzansprüche verweisend – danach befragt, wem das Memelland gehört.
Ausgehend von dieser ersten Sektion, die einen konzentrierten Fokus auf Bobrowskis Werk und dessen Konzeption der sarmatischen Utopie legt, stellt der zweite Teil des Sammelbandes unter dem Titel »(Ost-)Mitteleuropa revisited« eine erste fokuserweiternde Öffnung des Themenkomplexes dar. So wird es möglich, dass innerhalb der zweiten Sektion Autor:innen aus dem (ost-)mitteleuropäischen Kontext und ausgewählte Werke im Hinblick auf die Grenzlandthematik befragt werden können. Florian Krobb unterzieht in seinem den zweiten Teil eröffnenden Beitrag Theodor Fontanes Cécile einem die Peripherien thematisierenden Vergleich mit Stephan Wackwitz’ Unsichtbarem Land. Er verfolgt somit einen Ansatz, der Epochen und Kontextgrenzen überwindet, um dialogische Erkenntnisse bezüglich der literarischen Thematisierung von liminalen Regionen als »widerspenstige, unruhestiftende Präsenz[en]« (181) zu ermöglichen. Hierdurch möchte er aufzeigen, inwiefern es diesen – doch unterschiedlich ausgerichteten – literarischen Verhandlungen gelingen kann, homogenisierende Nationalnarrative radikal in Frage zu stellen. In seinem Beitrag vergleicht Benoît Ellerbach zwei nach dem Ersten Weltkrieg entstandene Novellen: Stefan Zweigs Episode am Genfer See und Joseph Roths Die Büste des Kaisers. Die beiden in ihnen thematisierten Grenzgebiete – die Schweiz und Ostgalizien – sind trotz diverser Unterschiede heterotopische Grenzräume im Sinne Foucaults von letzten Endes scheiternden »lokalisierte[n] Utopien, die zum Zufluchtsort vor der [jeweiligen] Wirklichkeit dienen sollen« (199). An jene vergleichend angelegten Analysen schließt Hannelore Roth mit ihrem Beitrag Die Nation als Körper – der Körper als Nation eine Analyse von Ernst von Salomons Geächteten an, indem sie die Verwobenheit territorialer und symbolischer – insbesondere körperlicher – Grenzen im Kontext des Freikorpsromans verhandelt und das zugrundeliegende Verständnis von »Grenze« als »dynamische[r] Kampfzone« (213) (auch im Kontext menschlicher Körpergrenzen) herausstellt. Die Mitherausgeberin des Sammelbandes, Britta C. Jung, befasst sich anschließend mit dem Zerfall der Germania Slavica im Kontext der Böhmischen Trilogie von Josef Holub. Unter besonderer Berücksichtigung des Romans Roter Nepomuk zeigt Jung anschaulich auf, dass der Zerfall der Germania Slavica in Hinblick auf einen allgemeinen erinnerungskulturellen Wandel verhandelt wird und in der für den Erzähler in sprachlicher, territorialer und ideeller Hinsicht zentralen Frage »Woistmeinheimmeinvaterland« (242) kulminiert. Der Autor bezieht darin ein, dass der erinnerungskulturelle Wandel die Wahrnehmung von (historischen) Inhalten bestimmt und verändert. Den zweiten Teil des Sammelbandes mit Fokus auf Ost-Mitteleuropa beschließend, setzt sich Withold Bonner mit der Konzeption von Friedhöfen als Grenz- und Gegenräumen – also den Heterotopien der deutsch-polnischen Grenzlandliteratur – anhand von ›Friedhofserzählungen‹ von Christa Wolf, Günter Grass, Stefan Chwin und Sabrina Janesch auseinander.
Der im zweiten Teil des Sammelbandes etablierte Fokus auf (Ost-)Mitteleuropa wird im dritten Teil auf die Gesamtheit von topographischen Polyvalenzen ausgedehnt, wobei Bobrowskis Sarmatien-Konzeption als modellhafter Ausgangspunkt fungiert und somit teilübergreifende Anknüpfungspunkte anbietet. Die Veröffentlichungszeitspanne der diskutierten literarischen Werke reicht vom tschechischen Surrealismus (Jakub Deml) über neuere jüdische Literatur (Barbara Honigmann) bis hin zu Texten der deutschsprachigen Migrationsliteratur (u.a. Dimitré Dinev, Herold Belger) und überwindet (auch in ihrer konkreten Zusammenstellung grenzüberschreitend) diverse Gattungs-, Zeit- und Sprachgrenzen. Svetlana Efimova untersucht die Grenz- und Schwellenräume im Werk des als Wegbereiter des tschechischen Surrealismus bekannt gewordenen Dichters Jakub Deml als Formen topographischer, sprachlicher und existenzieller Identitätssuche. Hierbei hebt die Autorin insbesondere die mehrdimensionale Liminalität des Deml’schen Gesamtwerks hervor, das im Zwischenspiel der Achsen zwischen »Böhmen und Mähren, Deutsch und Tschechisch, Osten und Westen, Norden und Süden sowie zwischen Lyrik und Prosa, Autobiographie und Fiktion« (271) zu verorten ist. Olga Hinojosa Picón thematisiert in ihrem Beitrag die Grenze ebenfalls als ambivalenten Raum am Beispiel des autobiographischen Werkes der jüdischen Schriftstellerin Barbara Honigmann, die Themen der Identitätsbildung, Familiengeschichte und Erinnerung verhandelt. Die für das Werk Honigmanns zentralen Fragestellungen werden mit der Theorie der ›kulturellen Mobilität‹ nach Stephen Greenblatt dialogisiert. Picón überführt dies in eine Analyse des im literarischen Werk anhand von Erinnerungsthematisierung rekonstruierten Raumes. Er sei geprägt von Grenzübergängen und Kontaktzonen. Garbiñe Iztueta widmet ihren Beitrag der (für die Grenzbegrifflichkeit konstitutiven) Fluidität der Wassermetaphorik als poetischer Methodik zur Grenzraumgestaltung in Uwe Tellkamps Turm und leistet dergestalt eine Hinwendung zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur und dem Genre des Wenderomans im Kontext von DDR-Vergangenheit und Diskursivität des (kollektiven) Gedächtnisses. Andrea Meixner legt den Schwerpunkt in ihrem Beitrag zum räumlichen Konstrukt der Grenze in ausgewählten Werken der deutschsprachigen Migrationsliteratur auf die potenzielle Vielschichtigkeit der literarischen Inszenierung von Grenzräumen und der damit einhergehenden multidimensionalen Funktionalisierung von Grenzen in den vielfältigen sozialen Wirkungszusammenhängen innerhalb der Werke von Melinda Nadj Abonji, Zsuzsa Bánk, Marica Bodrožić und Dimitré Dinev. Brian Haman stellt in seiner Besprechung von Herold Belgers Haus der Heimatlosen die Frage, ob transgressive Grenzübergänge es vermögen, kulturell eingebettete Taxonomien der Differenzierung zu destabilisieren. Im Kontext des Gegensatzpaares Exil und Heimat verfolgt Haman diese Fragestellung am Beispiel der literarischen Darstellung Kasachstans in Anlehnung an Homi K. Bhabhas Konzeption eines sprachlichen und kulturellen third space. Auch Anne Sturm bedient sich etablierter kulturwissenschaftlicher Paradigmen wie z.B. ›border‹, ›borderscape‹ und ›bordering practices‹, um Grenzüberschreitungen (physischer und sprachlicher Natur) als zentrales Merkmal der Debutromane von Ilija Trojanow und Dimitré Dinev herauszustellen, womit sie den dritten Teil des Sammelbandes beschließt.
Der vierte Teil knüpft an die zu Beginn des Bandes angelegte Fokussierung auf das modellhafte Konzept von Bobrowskis Sarmatien in abstrahierender Manier an und setzt die Betrachtung des im dritten Teil thematisierten Nexus von topographischen und topologischen Perspektiven der Liminalität von Grenzräumen fort. Ästhetische und poetologische Aspekte der jeweiligen sprachlichen Be- und literarischen Verarbeitung des Grenzraum-Stoffes werden akzentuiert. So nähert sich Mitherausgeber Stefan Hajduk in seinem Beitrag der ästhetischen Erfahrungsqualität von Räumlichkeit und Körperlichkeit zwischen Imaginärem und Ironie anhand seiner Analyse von Robert Musils Törleß und Mann ohne Eigenschaften an. Hajduk zeichnet eine narrative Verflüssigung der Poetik des Raumes im Gesamtwerk Musils nach, um diese den vorherrschenden statischen Raumkonzepten entgegenzustellen und das duale Raumschema einer subliminal-vielfältigen Auffächerung (im Sinne einer Heterotopie) zuzuführen. Edit Kovács’ Beitrag zur Emigration und Ethik der Erzählung bei W.G. Sebald verhandelt am Beispiel der Erzählung Ambros Adelwarth und des Erzählbands Die Ausgewanderten die raumästhetische Kategorie des Zwischen als narratologische Konzeption einer »wandernde[n] Narration« in Rekurs auf Isers »wandernden Blickpunkt« (401). Die wandernde Narration ermöglicht, so Kovác, durch die Anwendung von polyfokalen und multiperspektivischen Erzählstrukturen eine Annäherung an das Fremde, jedoch ohne einer vereinnahmenden Assimilation des Anderen durch eben jene Narration zuzuarbeiten. Jacqueline Gutjahr thematisiert in ihrem Beitrag die Sprachgrenzerfahrungen in Maja Haderlaps Gedichtband langer transit unter den Gesichtspunkten intratextueller Bezugnahmen und Sprachwechsel als bedeutungsgenerierenden Momenten. Dies mündet in einer metapoietischen Reflexion der Wirkpotenziale von Lyrik bezüglich der Repräsentation »spezifischer Erlebnis-, Erinnerungs- und Erkenntnisräume« (405). Auch der Beitrag von Joseph Twist wendet sich der Gattung der Lyrik zu. Anhand seiner Betrachtung von boden los von Semier Insayif werden Möglichkeitshorizonte lyrischen Ausdrucks herausgestellt, basierend auf einer die Sprache selbst deterritorialisierenden Hinterfragung der Einheit von Wörtern und Sprache. Hierbei vollzieht Twist eine überzeugende Engführung seiner Betrachtungen von Insayifs – zwischen Dissemination und semantischer Verdichtung zu situierenden – Lyrik und der Definition und Konzeption der ›minoritären Literatur‹ nach Gilles Deleuze und Félix Guattari. Tom Vanassche beschließt den vierten und letzten Teil des Sammelbandes mit seinem Beitrag zum Borderland Auschwitz und einer Betrachtung von Dieter Schlesaks Collage Capesius, der Auschwitzapotheker. Im thematischen Kontext von Lagerszpracha – dem Phänomen der Mehrsprachigkeit in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern – und den damit einhergehenden Herausforderungen für die literarische Übersetzung fragt Vanassche nach den ethischen Implikationen des literarischen Grenzfalls zwischen Fakt und Dokumentation und der Rolle von Sprache als hybridem Grenzraum.
Der Sammelband Sarmatien – Germania Slavica – Mitteleuropa wird der darin zur Zielsetzung erhobenen, modellhaften Konzeptualisierung des Sarmatien-Begriffes von Johannes Bobrowski und dessen produktiver Erweiterung auf eine Auswahl literarischer Werke, die Germania Slavica bzw. Mittel-/Osteuropa thematisieren, in umfassendem Maße gerecht. Ausgehend von Bobrowskis Sarmatien werden interessante Perspektiven und Einzelanalysen versammelt, die mit Blick auf ›die Mitte‹ bzw. ›den Osten‹ Europas Phänomene von Grenzräumlichkeit und Liminalität in ihren soziokulturellen und geopolitischen Kontexten vom Ende des 19. bis ins 21. Jahrhundert beleuchten. Das Werk Bobrowskis erhält unter Bezugnahme auf zeitgenössische Annäherungen an Grenzräume neue diskursive Aktualität, und die beteiligten Forschungsbereiche werden nachhaltig miteinander verknüpft. Der Sammelband leistet somit einen wichtigen Beitrag zur Bobrowski-Forschung und zur Konzeptualisierung europäischer Grenzräume – nicht nur in deutschsprachigen literarischen Texten.
Anna-Lena Eick