»Eine Landschaft aus Zelten«
Vorläufige Orte in Jenny Erpenbecks Gehen, ging, gegangen1
AbstractJenny Erpenbeck’s novel Go, Went, Gone portrays Berlin, the highly present city in the author’s work, as a city filled with histories and memories, which make up the city’s physical and mental (visible and invisible) layers. Analyses of this novel have so far centered on memory aspects, which implies a certain notion of permanence. This article turns towards the motif of impermanence and shows its predominance in Erpenbeck’s work. By scrutinizing the texture of the specific places in Berlin, this topographical reading aims to show how the places’ structure is shaped by a permanent impermanence. As these continuous transformations can be observed on different levels, the article unfolds a multilayered impermanence of Berlin.
Title»A landscape of tents«. Transitory Places in Jenny Erpenbeck’s Go, Went, Gone
KeywordsJenny Erpenbeck (* 1967); impermanence; places; refugees; Berlin
Der Ort, an dem all dies statthatte, ist jetzt flach geworden, wie ein zusammengeklapptes Buch, neben dem stehe ich und weiß: Da drin habe ich lesen gelernt […]. All das, was man nicht mehr sehen kann, steckt dafür nun, lebendiger denn je, in meinem Kopf.
Erpenbeck 2018b: 59
Jenny Erpenbecks Poetik ist geprägt von einer Spannung zwischen Vorläufigkeit und Permanenz. Diese manifestiert sich in Dingen und Gepflogenheiten, vor allem aber an Orten, die zumeist in und um Berlin situiert sind. Zugleich ist Erpenbecks Werk von einer Ambivalenz hinsichtlich der Wertung dieser Vorläufigkeit durchzogen, welche die Texte zwischen einem – mitunter nostalgischen – Blick zurück und einer Bewegung nach vorne oszillieren lässt. Diese Spannung zwischen Vorläufigkeit und Permanenz zeigt sich zentral in Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen (2018a)2 und wird darin anhand der Figur des kürzlich emeritierten Professors für Klassische Philologie Richard und seiner Annäherung an Geflüchtete in der Stadt Berlin entfaltet. Nachdem er die Geflüchteten anfangs übersieht, obwohl er direkt an einer von ihnen initiierten Demonstration vorbeiläuft, werden sie durch die TV-Nachrichten sichtbar und wecken sein Interesse. Mit einem selbst erstellten Fragebogen beginnt eine Vielzahl von Treffen, die bald über die Form des Interviews hinausgehen und in u.a. Deutschunterricht, Hilfe bei Amtsangelegenheiten oder der Beherbergung von Geflüchteten münden.3 Durch die Gespräche kommen sowohl die Erinnerungen der Befragten als auch diejenigen Richards zutage. Vermittels der Bewegung der Figuren durch Berlin und der Erinnerungen Richards an die DDR werden die verschiedenen Orte der Stadt zum zentralen Bezugspunkt des Textes, anhand derer sich jene Spannung zwischen Vorläufigkeit und Permanenz manifestiert.
Bisher hat die Forschung Gehen, ging, gegangen vor allem aus postkolonialer Perspektive betrachtet und die dort geschilderten Migrationsbewegungen in Bezug zum Kolonialismus gesetzt (vgl. Zhang 2020; Horakova 2020). Unterschiedliche Formen des Erinnerns (vgl. Gully 2020) spielen hier eine ebenso große Rolle wie die geschilderten Grenzerfahrungen (vgl. Leskovec 2018; Doliva 2017). Besonders wurde die Verbindung zwischen persönlichem und kollektivem bzw. kulturellem Gedächtnis hervorgehoben (vgl. Eigler 2020; Tafazoli 2018; Adel 2017). Dabei wurden Parallelen zwischen der deutsch-deutschen Vergangenheit und den gegenwärtigen Migrationsbewegungen herausgearbeitet (vgl. Horakova 2020) sowie eine gewisse Funktionalisierung der Geflüchteten zugunsten der sich in einer persönlichen Krise befindenden »white characters from the educated middle-class elite« betont (Roth 2020: 101).
Die in der Forschung thematisierte Engführung von Zeit und verschiedenen Erinnerungen bleibt für den Text zentral. Damit einher geht jedoch eine bislang wenig beachtete Fokussierung spezifischer Berliner Orte, der dieser Aufsatz nachgeht. An die bisherigen Erkenntnisse anknüpfend, soll daher die zeitliche Perspektive um eine topographische ergänzt und die Beschaffenheit der Orte in den Blick genommen werden. Die in Gehen, ging, gegangen beschriebenen Berliner Orte sind, so die These, von andauernden Vorläufigkeiten geprägt, die auf den kontinuierlichen Wandel der Stadt reagieren. Dabei ist hier, ähnlich wie beim Begriff der Topographien, bewusst von Vorläufigkeiten im Plural die Rede, da die Orte der Geflüchteten eine andere Art der Flüchtigkeit offenlegen als diejenigen des Protagonisten Richard. Im Folgenden wird herausgearbeitet, inwiefern sich Erpenbecks Motiv der Vorläufigkeit in den im Roman porträtierten mehrschichtigen Berliner Orten widerspiegelt und diese in einer affektiven Relationalität zur Geschichte (ging, gegangen) der Stadt sowie ihrer unmittelbaren Gegenwart (gehen) stehen. In dieser Vorläufigkeit und Wandelbarkeit liegt die Veranlagung für ein »dynamische[s] Bezugsgeschehen« (Slaby/Mühlhoff/Wüschner 2016: 70) zu den jeweiligen Umwelten, das den Berliner Topographien, wie beispielsweise dem Alexanderplatz oder dem Oranienplatz, zugrunde liegt. Dieses »Bezugsgeschehen« lässt sich als »affektive Resonanz« begreifen, die sich, mit Blick auf »wechselnde kulturelle Umgebungen und soziale Konstellationen«, zwischen Individuum und Umgebung entfaltet (ebd.: 101).
Vorläufigkeit als Motiv
Das Motiv der Vorläufigkeit hat in der Erpenbeck-Forschung bereits Beachtung gefunden. So spricht etwa Necia Chronister von einer »Enduring Impermanence« (Chronister 2018), die sich durch Erpenbecks Werk zieht, während Robert Lemon von Wandel (»vicissitudes«) und Bewegung (»movement«) spricht (Lemon 2018: 52). Chronister betont: »For Erpenbeck nothing lasts, not home, not country, not even memory.« (Chronister 2018: 48) Welche Bedeutung dieser Vorläufigkeit zukommt, zeigt sich zentral in Erpenbecks Text Dinge, die verschwinden (2011), in dem sie das Verschwinden etwa von Sperrmüll, der Jugend, dem Splitterbrötchen oder dem Palast der Republik beschreibt und demonstriert:4 Das Einzige, »[w]as bleibt, ist der Wandel«.5 In einem Interview betont Erpenbeck selbst die Bedeutung der vom Wandel hervorgerufenen Übergänge für ihr Werk: »Ich denke viel über Übergänge nach und über den Zeitpunkt, wann etwas auf die andere Seite kippt. Das hat natürlich immer etwas mit Grenze und Grenzüberschreitung zu tun.« (Erpenbeck/Huckebrink/Lingnau 2011)
In dem Roman Heimsuchung (2008), der die Geschichte des 20. Jahrhunderts anhand eines Sommerhauses schildert und den Wandel des Hauses über die Jahre beschreibt, stellt sie dieser Vorläufigkeit in Form von menschgemachter Geschichte eine bleibende Konstante in Form eines sich durch die geologischen Zeiten ziehenden Sees gegenüber und schafft so ein Spannungsfeld zwischen andauerndem Wandel und Beständigkeit. Es ist das Motiv des Sees, das sich neben demjenigen des Hauses konstant durch Erpenbecks Werk zieht und so etwa auch in Tand (2003), in Dinge, die verschwinden (2011), in Wörterbuch (2018) oder in Gehen, ging, gegangen (2015) auftaucht. Dabei verkörpert der See Wandel und Dauerhaftigkeit zugleich, indem er einerseits natürlichen Veränderungen unterliegt, diese sich andererseits im Kontrast zur menschlichen Geschichte jedoch derart langsam vollziehen, dass der See durch dieses Ins-Verhältnis-Setzen als bis weit in die Eiszeit zurückreichende Konstante erscheint und zum erdgeschichtlichen Hintergrund wird.6
In Gehen, ging, gegangen formt das Spannungsfeld von Permanenz und Wandel Berliner Orte, die von »wiederholte[n] Umformungen, Überschreibungen, Sedimentierungen« (Assmann 2015: 18) geprägt sind. Diese Überschreibungen und Sedimentierungen, die sich aus unterschiedlichen Schichten ergeben, lassen die Orte auch als Palimpseste (vgl. Binder 2022) erscheinen. So beschreibt Aleida Assmann Palimpseststädte als solche, »wo sich Kulturen unterschiedlicher Bevölkerungen ablagerten und die den rapiden Wechsel von politischen Systemen und Nationen erlebt haben« (Assmann 2015: 19). Ohne hier die Stadt als Text begreifen zu wollen – das hat die geisteswissenschaftliche Forschung seit dem spatial turn bereits zur Genüge getan, der architektonische Diskurs bereits in den 1970er-Jahren (vgl. Huyssen 1997: 58) –, eignet sich das Bild einer Pergamentschrift, die stets neu beschrieben wird, doch nach wie vor, um die Beschaffenheit Berliner Orte zu fassen. Diese geologischen und historischen Schichten, die greif- und sichtbar sind und Berliner Orte zu Topographien werden lassen, werden dabei durch die figurengebundenen Erinnerungen ergänzt, die mit den Orten verknüpft sind. Diese sind persönlich und nicht zwangsläufig sichtbar. Sichtbare wie unsichtbare Schichten ergeben sich allererst durch Umformungen, durch Bewegung am Ort und bilden so den Ausgangspunkt für die dem Aufsatz zugrundeliegende Annahme einer dauerhaften Vorläufigkeit Berliner Topographien im Werk Jenny Erpenbecks.
Orte in Bewegung
Vom Haus am See zum Alexanderplatz
Gehen, ging, gegangen bietet eine Vielzahl topographischer Zugänge, die von Berlin Mitte über Kreuzberg, Spandau und Buckow bis an ein Grundstück mit Seezugang am Stadtrand Berlins reichen. Dort beginnt der Text, mit Blick auf den See, unweit von Berlin, zwischen Haus und See ein Garten, dort lebt Richard (vgl. G: 9-18). Den See gibt es »schon seit ein paar Millionen Jahren«, und zwar »seitdem hier das letzte Mal Eiszeit war« (G: 233). Darin liegt ein Toter, der beim Baden verunglückt ist. Dieser See zeugt qua seiner langen Existenz von einer Beständigkeit und einem umfangreichen Wissen, wie Richard festhält: »Der See, der da jetzt vor ihm liegt und glänzt, wusste, scheint ihm, immer schon mehr als er, dessen Beruf doch das Nachdenken ist.« (G: 14) Zugleich ist er mit seinen 18 Metern Tiefe das Ergebnis von Landschaft in permanenter Bewegung, die ganz und gar gegenwärtig ist. Von dort schwenkt der Text zum Roten Rathaus, zum Alexanderplatz, danach zum Fernsehturm, wo Richard, vertieft in die Geschichte des Ortes, die Demonstration der Geflüchteten übersieht (vgl. G: 18-21). Diesen Orten, im ehemaligen Osten gelegen, sind seine Erinnerungen angehaftet, indem sie Bezugspunkte seiner damals begrenzten Stadt bildeten. Heute gehört diese Vergangenheit, ähnlich wie es Erpenbeck in Bezug auf ihre Kindheit sagt, in ein Museum7 – nicht zuletzt dadurch, dass »mit dem Staat auch die dazugehörige Zukunft« (G: 22) abhandengekommen war.
Auch hier wird die unmittelbare Gegenwart, ähnlich wie im Falle des Sees, mit älteren Schichten konfrontiert, indem Richard von den Ausgrabungen rund um das Rote Rathaus berichtet und weitaus ältere Schichten hervorkehrt:8 »Weitläufige Keller habe es früher einmal rings um das Rote Rathaus gegeben […]. Unterirdische Hallen, in denen im Mittelalter ein Markt war.« (G: 19) Während die Mauern nun wieder freigelegt sind, waren sie vor Jahren noch unsichtbar, als »Richard in den sechziger Jahren zwischen zwei Vorlesungen manchmal am Rand des Neptunbrunnens gesessen hatte […]. Auch damals waren diese Hohlräume schon in der Tiefe gewesen, nur durch ein paar Meter Erde von seinen Füßen getrennt, ohne dass er davon wusste« (G: 19). Eine von Richard gezogene Querverbindung zu der Stadt Rzeszów in Polen, »die im Mittelalter ganz und gar untertunnelt worden war« (G: 20), rekurriert auf den Nationalsozialismus, denn, so Richard, »wenn oben Krieg war, verkrochen die Einwohner des Städtchens sich unten. Später im Faschismus die Juden. Erst die Nazis hatten die Idee gehabt, Rauch in die Gänge zu leiten« (G: 20). Ähnliches berichtet Richard über die Berliner U-Bahn-Tunnel, die, so Richard, von den Nationalsozialisten am Ende des Krieges geflutet worden seien (vgl. G: 20). Ferner betont er den Wandel des Fernsehturms:
Gebaut zu sozialistischen Zeiten, Sommer für Sommer übersprudelt von Wasser, ein Wagnis für glückliche Kinder, die auf den Querstegen mitten hindurch balancierten, ringsherum ihre lachenden, stolzen Eltern, und Kinder wie Eltern von Zeit zu Zeit aufblickend zur silbrigen Kugel des Turms, den Schwindel genießen. […] Bei den Fontänen am Alexanderplatz in Berlin sah die Menschheit Sommer für Sommer schon so heil und zufrieden aus, wie es im allgemeinen erst für die Zukunft versprochen war, für die ferne, vollkommen glückliche Zeit, Kommunismus genannt, die irgendwann für alle Menschen erreicht sein würde, nach treppenförmig angeordnetem Fortschritt bis in schwungvolle, kaum zu glaubende Höhen hinein, so in ein-, zwei- oder spätestens dreihundert Jahren. (G: 21f.)
Der Text lässt mit seinen Rückblicken viele Ebenen zugleich anklingen. So etwa betrachtet Richard die Ausgrabungen und lässt die Geschichte des Ortes Revue passieren, während sich »zehn Männer vor dem Roten Rathaus« (G: 18) in der unmittelbaren Gegenwart versammeln. Während sie mit der Polizei diskutieren, betrachtet Richard den Alexanderplatz, »das Zentrum des Teils von Berlin, der so lange die Russische Zone hieß, Ostzone sagen, im Scherz, auch heute noch viele« (G: 23; Hervorh. i.O.). Die Verschränkungen der zeitlichen Ebenen zeigen sich maßgeblich auch an derjenigen Stelle, an der ein Freund Richard berichtet, dass man »am Rand der Grabungen plötzlich eine moderne Statue auf der Schaufel gehabt« habe: »Aus der Nazi-Ausstellung ›Entartete Kunst‹, sagte er. Stell dir das vor. Da ist im Bombenkrieg vielleicht ein Büro der Reichskulturkammer eingestürzt und der Giftschrank, sozusagen, ins Mittelalter gefallen.« (G: 30) Der Freund bemerkt, dass die Erde voller Wunder sei (vgl. G: 30), Richard hingegen spricht von einer »Müllhalde« und behauptet: »die verschiedenen Zeiten fallen im Dunkeln, den Mund mit Erde gefüllt, übereinander her, die eine begattet die andre, ohne fruchtbar zu sein, und der Fortschritt besteht immer wieder nur darin, dass die, die auf dieser Erde herumgehen, von alldem nichts wissen.« (G: 30)
Das hier dargestellte Setting offenbart verschiedene Bewegungen, die, von oben nach unten, Dinge der Vergangenheit zuschreiben, diese zugleich aber auch, in einer Bewegung der Baggerschaufel von unten nach oben, wieder in die Gegenwart zu holen vermögen. An diese Bewegung erinnern auch die Maulwurfshügel in Richards Garten, die verborgene Schichten nach oben kehren (vgl. G: 9). Die Bewegung der Orte speist sich hier aus ihrer Veränderung, die sich nicht aus einer klar voneinander abgegrenzten Abfolge, sondern aus einer dichten Verschränkung konstituiert.
Dauerhafte Provisorien
Oranienplatz und andernorts
Eine ganz andere Art der dauerhaften Vorläufigkeit zeigt sich am Oranienplatz, der von 2012 bis 2014 zum Zentrum Berliner Asyldebatten wurde und auf dem, zum Zeitpunkt der Entstehung des Romans, ein Protestcamp stand, in dem »die Flüchtlinge offenbar seit einem Jahr in Zelten leben« (G: 33). Der Platz liegt im Berliner Stadtteil Kreuzberg, genauer im früheren SO36, einem der beiden Kreuzberger Teile, der zwischen Landwehrkanal und dem heute zugeschütteten Luisenstädtischen Kanal liegt. Er ist Zentrum der historischen Luisenstadt und bildet zugleich das Ende der Naunynstraße, die – nicht zuletzt durch Aras Örens Was will Nyazi in der Naunynstraße (1973) – zum Topos der türkischen Gastarbeiterliteratur wurde und mit dem Ballhaus Naunynstraße die Geburtsstätte des von Shermin Langhoff geprägten Postmigrantischen Theaters birgt. 2020 fokussierte Hakan Savaş Micans Inszenierung Berlin Oranienplatz (2020)9 am Gorki Theater den Platz als »Migratory Setting« (Yildiz 2017). Richard geht in Gehen, ging, gegangen noch weiter zurück und betont, dass einst »Hugenottische Flüchtlinge […] die ursprünglichen Siedler in den Straßen rings um den Oranienplatz gewesen« waren, und zwar als das »hier noch Vorstadt war« (G: 44). Im 19. Jahrhundert »gab es hier noch einen Kanal, der Platz war ein Ufer gewesen, und das, was jetzt Straße ist, eine Brücke« (G: 44). Dieser vom Gartenarchitekten Peter Lenné konzipierte Platz sieht nun bei Richards Besuch »wie eine Baustelle aus. Eine Landschaft aus Zelten, Bretterbuden und Planen: weiß, blau und grün« (G: 44), »[d]en Kanal, den es zu Lennés Zeiten hier gegeben hatte, ließ die Stadtverwaltung in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts wieder zuschütten, weil er so stank« (G: 46). Was noch da ist, ist
das prächtige Eckhaus, das den Hintergrund für das alles abgibt. Es mag ungefähr aus der Zeit stammen, als hier, wo er jetzt sitzt, noch der Kanal war. Es sieht wie ein ehemaliges Kaufhaus aus, aber nun ist im Erdgeschoss eine Bank. Als hier der Kanal war, hatte Deutschland noch Kolonien. Kolonialwarenladen stand in verwitterter Schrift an manchen Fassaden im Osten Berlins noch bis vor zwanzig Jahren zu lesen, bevor der Westen anfing zu renovieren. Kolonialwaren und die Einschüsse vom Zweiten Weltkrieg auf ein und derselben Fassade, und in der verstaubten Vitrine eines solchen für die Renovierung schon leergezogenen Hauses vielleicht obendrein noch ein sozialistisches Pappschild: Obst Gemüse Speisekartoffeln (OGS). (G: 49)
Diese sichtbare, bleibende, durch Erinnerungen wieder hervorgeholte Geschichte des Ortes wird hier an eine Bewegung geknüpft, die sich an den Zelten der Geflüchteten zeigt und eine Vorläufigkeit offenbart, die in Form des Provisoriums einen Mangel artikuliert. Sind Richards Orte primär von einem zufälligen Wandel geprägt, der zwar Neuorientierung bedeutet, so sind ihm seine persönlichen Orte, wie etwa das Haus, geblieben. Es bildet Fixpunkt und Rückzug zugleich und bietet eine Konstante, die Orientierung und Zugehörigkeit generiert.
Die Geflüchteten hingegen haben ihre Orte verloren, während ihnen neue durch eine strategische Vorläufigkeit verwehrt bleiben. So fasst es auch eine Statusanzeige aus dem Roman zusammen, in der es bei einem der Geflüchteten heißt: »Ich vermisse meine Orte.« (G: 217) Auf dem Oranienplatz wird unter teilweise durchlöcherten Planen geschlafen und gekocht (vgl. G: 48), »[e]s gibt Ratten hier und nur vier Klos, manchmal drei Tage nichts Warmes zu essen, […] schon im letzten Winter sind die Zelte unter dem Schnee zusammengebrochen« (G: 47). Gegessen wird an Campingtischen (vgl. G: 27). Dieses Campieren, welches das Mitführen größerer Habseligkeiten per se ausschließt, steht normalerweise für eine zeitlich begrenzte Tätigkeit. Wird mit dem Campieren grundsätzlich etwas Positives assoziiert (als Urlaubstätigkeit),10 so wird es hier problematisiert und zu einer unfreiwillig andauernden Unterkunftsart, einem Hausen im Provisorium. Auch wenn das hier beschriebene Protestcamp nicht als Flüchtlingslager verstanden werden kann, so fassen einige der von Marc Augé herausgearbeiteten Beschreibungen von Flüchtlingslagern als Nicht-Orte (vgl. Augé 2019: 83) auch teilweise den Charakter des Protestcamps, ohne dass es hier als Nicht-Ort verstanden werden soll. So zeichnet sich etwa das Protestcamp durch einen transitorischen Charakter (vgl. ebd.) und dadurch aus, dass es »zum Abbruch oder zum Verfall bestimmt« (ebd.) ist.11 Ferner beschreibt es einen Zustand des »Transits«, der sich »den Realitäten der festen Wohnung entgegensetzen« lässt (ebd.: 107).
Bei der Landschaft aus Zelten am Oranienplatz handelt es sich, wie bereits angeführt, nicht um ein ›von oben‹ errichtetes ›Flüchtlingslager‹, das betont bereits die Bezeichnung des Protestcamps, sondern um ein ›von unten‹ erbautes, das den Versuch eines place making unternimmt. Dadurch trägt das Camp am Oranienplatz durchaus Züge eines relationalen Ortes, der neben Anonymität auch Raum für zwischenmenschliche Begegnungen schafft. Dennoch führt die fehlende Zuweisung einer festen Adresse zu einer anhaltenden Existenz im Provisorium, die keine gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht. In diesem anhaltend transitorischen Zustand sind die Geflüchteten, so formuliert es Richard, aus der Zeit gefallen bzw. in sie hineingesperrt (vgl. G: 51):
Der emeritierte Professor […] begreift nun plötzlich, dass der Oranienplatz nicht nur der Platz ist, den der berühmte Gartenbauarchitekt Lenné im 19. Jahrhundert konzipiert hat, nicht nur der Platz, an dem eine alte Frau täglich ihren Hund ausgeführt, oder ein Mädchen auf einer Parkbank zum ersten Mal ihren Freund geküsst hat. Für einen Jungen, der unter Nomaden aufgewachsen ist, ist der Oranienplatz, den er anderthalb Jahre bewohnt hat, nur eine Station auf einem langen Weg, ein vorläufiger Ort, der zum nächsten vorläufigen Ort führt. (G: 70)
Hier fasst Richard zwei grundverschiedene Vorläufigkeiten in einer zusammen, indem er die vorherige Nomadenexistenz des Jungen mit der problematischen, durch die Migrationspolitik institutionalisierten Vorläufigkeit gleichsetzt. Die anhand der geflüchteten Figuren in Berlin deutlich werdende Vorläufigkeit ist jedoch eine andere, da sie von außen bestimmt ist und die Geflüchteten in einem andauernden, unerwünschten Grenz- und Zwischenzustand festhält.
Kurze Zeit nachdem Richard dem Oranienplatz einen Besuch abgestattet hat, »werden die Zelte und Behausungen […] niedergerissen und die Flüchtlinge auf verschiedene karitative Einrichtungen in der Stadt und am Stadtrand verteilt« (G: 53):
Am nächsten Tag kommt er eben noch rechtzeitig, um zu sehen, wie auf dem abgesperrten und von der Polizei umstellten Platz die letzten Bretter, Planen, Matratzen und Pappen von einem Bagger zusammengeschoben, auf LKWs verladen und fortgeschafft werden. […] Dort, wo die Erde durch den Abriss der Zelte und Hütten nun wieder sichtbar geworden ist, liegt das Tunnelsystem der Ratten offen zutage, die, wie es scheint, von den nur mangelhaft geschützten Vorräten der Flüchtlinge profitiert haben. (G: 54)
In einem Gebäude, das zu einem Altersheim gehört, werden die Männer provisorisch untergebracht. Das Provisorium wird betont in dem Versuch, den Zustand der Unterkunft zu entschuldigen, denn »[d]ie Zimmer entsprechen nicht den Standards für eine längerfristige Lösung. Im Grunde genommen sollte das hier schon eine Baustelle sein« (G: 57). Die Unterkunft bietet keinerlei Privatsphäre. Auch hier treffen verschiedene Zeit- sowie Systemschichten aufeinander, indem die Schilder an den Türen mit den Namen der »pflegebedürftigen Vorgänger« (G: 74) noch auf das Altersheim verweisen (vgl. G: 59), das Mobiliar, etwa der Tisch »mit der Inventarnummer 360/87« (G: 77), »dem Büro der Volkssolidarität oder der Kreisleitung der Partei« (G: 58) oder dem »Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft« (G: 76) entstammt.
Bald darauf wird erneut ein Umzug angesetzt, diesmal sollen sie »in ein Heim, das mitten im Wald liegt, siebeneinhalb Kilometer entfernt von Buckow« (G: 99), »fünf Kilometer bis zur nächsten Bushaltestelle« (G: 102). Nach einer Planänderung werden die Geflüchteten nach Spandau gebracht (vgl. G: 159, 202f.), in ein »richtiges Asylbewerberheim« (G: 203), nur um von dort aus wenig später von ihrer Aufteilung und Abschiebung zu erfahren, denn sie gehören asylrechtlich nach Magdeburg, Hamburg bzw. in ein bayrisches Bergdorf (vgl. G: 225). So müssen 108 Menschen die Unterkünfte in Spandau, Friedrichshain und im Wedding, auf die sie nach der Auflösung des Camps auf dem Oranienplatz aufgeteilt wurden, verlassen. Trotz Einzelfallprüfung wird nahezu allen, die auf dem Oranienplatz protestiert haben, mitgeteilt, dass nur Italien, das Land, in dem sie angekommen sind, für sie zuständig ist. Daraufhin werden für sie, diesmal privat, erneut Interimsunterkünfte organisiert – Aufenthaltsdauer ungewiss (vgl. G: 330f.).
Schlussbild
Zwischen Schwelle und Grenze – Vorläufigkeit als ambivalente Figur
Berliner Orte sind in Gehen, ging, gegangen von zwei verschiedenen Vorläufigkeiten geprägt. Mit Richards Blick werden vorläufige Orte gezeichnet, die im Spannungsfeld von Bestand und Übergang bzw. bereits vollzogenem Übergang changieren. Es ergibt sich, gebunden an die deutsch-deutsche Teilung, eine berlinspezifische Stadttopographie, die sich aus dem Bleiben und gleichzeitigen Nichtbleiben bekannter Orte speist. So etwa gibt es den Palast der Republik nicht mehr. Andere Orte, wie etwa der Alexanderplatz, können in ihrer heutigen Form als oberste Schicht einer Vielzahl sichtbarer Ablagerungen und unsichtbarer Erinnerungen in Form eines ›Ging‹ bzw. ›Gegangen‹ verstanden werden und stehen als Topographie in einem relationalen Gefüge. Das Wissen um das Gewesene kann hier als ein Erinnern nach vorne verstanden werden, auf dessen Grundlage sich die Übergänge produktiv vollziehen können. Richard betont, dass er, »[u]m den Übergang von einem ausgefüllten und überschaubaren Alltag in den nach allen Seiten offenen, gleichsam zugigen Alltag eines Flüchtlings zu erkunden, […] wissen [muss], was am Anfang war, was in der Mitte – und was jetzt ist« (G: 52). So wird der Platz im Roman in Form eines ›Gehens‹ zugleich zum Zentrum unmittelbarer, sichtbarer Gegenwart und als Ort in Bewegung gezeichnet, etwa indem in seiner unmittelbaren Umgebung durch die Geflüchteten für das Zukünftige (ein ›Gehen-Werden‹) demonstriert wird.
Für Richard bedeutet dieser Wandel mit Blick auf das ›Neue Berlin‹ eine Musealisierung seiner Orte. Legt der Text zu Anfang seine Skepsis gegenüber Neuem offen – nicht zuletzt blickt er auch als Altphilologe stets zurück –, so erfolgt im Laufe des Textes ein gewisser Lernprozess mittels der Orte, die er aufsucht. Diese Positionierung Richards referiert auf die zu Beginn thematisierte Spannung zwischen Rückblick und Bewegung nach vorne. Indem er sich zunehmend neue Orte erschließt, seinen Horizont räumlich wie inhaltlich erweitert, vollzieht er eine Bewegung von der Vorläufigkeit hin zu einem wörtlichen Vorlaufen, das sich auf zeitlicher wie räumlicher Ebene vollzieht. So führt seine erlebte Vorläufigkeit zu einer Mobilität, die der Immobilität der Geflüchteten diametral gegenübersteht. Zwar gehen auch die Geflüchteten durch Berlin, jedoch bleiben ihnen langfristige Erschließung und Aneignung verwehrt. Das Vorhaben, dem intendierten Provisorium zu entkommen, scheitert; so auch das Vorhaben, Teilhabe durch eine Anschrift zu erlangen und den Orten eine, ihre, sichtbare Schicht hinzuzufügen. Dieses Verwehren einer dauerhaften Adresse seitens des Berliner Senats führt zu einer unfreiwillig nomadischen Existenz. Ein junger Tuareg fasst seine bisherige nomadische Existenz wie folgt zusammen: »Wenn man weiterzieht, sagt er, legt man die Hütte nieder und geht – die Blätter, das Schilf, die Asche vom Feuer, das verschwindet alles bald wieder in der Wüste.« (G: 69) Danach macht er »mit den Händen eine Geste, die zeigen soll, wie flach das ist, was man zurücklässt, und sagt: wie am Oranienplatz« (G: 70). Hier scheint es, als würde er, ähnlich wie Richard, das ›von oben‹ erzwungene Nomadentum mit seinem kulturellen Nomadentum gleichsetzen. Vielmehr aber betont er mit dieser Aussage die erzwungene Fortschreibung der ewig vorläufigen Existenz. Für die Geflüchteten bedeutet diese strategische Vorläufigkeit, »[e]in Fremder [zu] werden. Sich selbst und den anderen. So also sah ein Übergang aus« (G: 81). Richard hält fest: »Wenn man das so sah, stand für einen Flüchtling die Unbewohnbarkeit von Europa plötzlich in einem Verhältnis zur Unbewohnbarkeit seiner eigenen Hülle aus Fleisch, die dem Geist eines jeden Menschen eigentlich auf Lebenszeit als Wohnung zugewiesen ist.« (G: 83) Er
merkt bei jedem seiner Besuche, dass die Männer in den paar Funkwellen mehr zu Hause sind, als in irgendeinem der Länder, in denen sie auf eine Zukunft warten. Ein Netz aus Zahlen und Kennwörtern spannt sich quer über die Kontinente und ersetzt ihnen nicht nur das, was für immer verloren gegangen ist, sondern auch den Neuanfang, der nicht stattfinden kann. Das, was ihnen gehört, ist unsichtbar und aus Luft. (G: 220)
Die den Geflüchteten auferlegte Existenz in permanenten Provisorien lässt die Berliner Orte aus der Perspektive der Geflüchteten als von Grenzen geprägt erscheinen, in denen auf die Zukunft gewartet wird und denen »der unbefriedigende Zustand eines Nicht-mehr-und-Noch-nicht in einem Niemandsland« (Ruther 2019: 26) eingeschrieben ist.
Gehen, ging, gegangen skizziert mit Blick auf Berliner Orte eine dauerhafte Vorläufigkeit, die sich aus dem Spannungsfeld von Dauerhaftigkeit (bleibende Erinnerungen und Schichtungen) und Bewegung (›gehen‹) konstituiert und dabei den Topos von Berlin als einer Stadt in Bewegung perpetuiert. Es ist mittlerweile ein Allgemeinplatz, was Karl Scheffler der Stadt Berlin zu Beginn des 20. Jahrhunderts kulturkritisch diagnostizierte (vgl. Scheffler 2015). Ähnlich liest sich Andreas Huyssens Diagnose Berlins als »frantically being written and rewritten« (Huyssen 1997: 57). Dieses immerwährende ›Werden‹ greift Andrew Webber auf, gebraucht es jedoch in einem weiterführenden, geologischen Sinne, indem er auf die Konsistenz des Bodens verweist, auf dem Berlin gebaut ist: »Berlin is grounded in sand, in the damp or shifting sands of the Mark Brandenburg.« (Webber 2008: 24) Mit diesem Bild des sandigen, sich verändernden Bodens Berlins lässt sich Erpenbecks geologische Betrachtung mit der menschlichen Geschichte verbinden, indem der Aufbau der Erdkruste auf den Aufbau Berliner Orte übertragen wird und deren Schichtungen offengelegt werden. Dabei bedient sie sich auffallend häufig des Motivs der Baustelle, die eben jene Spannung von Rückblick (Ausgrabungen) und Neubeginn (Abriss) birgt. Zugleich steht die permanente Baustelle, wie sie den Geflüchteten hinsichtlich ihrer Unterkünfte entgegentritt, für Stagnation und Provisorium.
Für die Motivik der Vorläufigkeit und für die davon geprägten Topographien hat Erpenbeck, so zeigt es ihr bisheriges Werk, bewusst Berlin gewählt. Die deutsch-deutsche Teilung und die Wiedervereinigung samt ihrer Folgen sind nicht nur fest in Erpenbecks Werk eingeschrieben, sondern unweigerlich mit der Stadt Berlin verknüpft. Auch die dargelegte Situation der Geflüchteten ist eine berlinspezifische, verweist sie doch auf die problematischen Dynamiken in Bezug auf Geflüchtete seitens des Berliner Senats. Dass die Wahl der Geflüchteten auf Berlin fällt, ist nachvollziehbar, da die Stadt mit ihrem »Migratory Setting« (Yildiz 2017) eine große migrantische Community und Sichtbarkeit bildet. Die Wahl des Oranienplatzes in Kreuzberg, gelegen im ehemaligen Westen der Stadt, verweist auf die Geschichte des Stadtteils als Ort der türkisch-deutschen Arbeitsmigration. Vor allem aber sind es die Parallelen, die Erpenbeck zwischen der Flucht der Geflüchteten und der Wiedervereinigung Berlins anhand von Richard zieht, die Berlin in den Vordergrund stellen. Hat die Forschung auch hierauf Bezug genommen (vgl. u.a. Horakova 2020), so erscheint eine pauschale Engführung insofern problematisch, als sie grundverschiedene Vorläufigkeiten in eine Reihe stellt. Die Herausarbeitung der Verschiedenheiten hat vielmehr gezeigt, dass die Migrationsbewegungen sich grundsätzlich von den Richards Lebenswelt betreffenden post-DDR-bedingten Umstrukturierungen unterscheiden. Zwar schauen sowohl Richard als auch die Geflüchteten als Fremde auf Teile der Stadt, es bleiben jedoch verschiedene Gefühle und Blicke, die sich erst in der Begegnung der Figuren an einem gemeinsamen Ort kreuzen. Berliner Topographien, so zeigt der Text, zeugen von verdichteten Erinnerungen und Vergangenheiten. Es finden sich jedoch keine kontinuierlichen, sichtbaren Jahresringe wie etwa bei einem Baum, welche die komplexen Geschichten der Stadt geschlossen nachvollziehbar machen (vgl. Illies 2015: 12). Stattdessen wird eine Vielzahl affektiver Relationen zwischen Figuren und Orten sichtbar, die beide zu gleichen Teilen Migrationsbewegungen vollziehen. So zeichnet Erpenbeck Berliner Orte nicht als statische Räume, sondern als solche, die von einer dauerhaften Vorläufigkeit geprägt und in ihrer affektiven Relationalität häufig zu Topographien werden, vor allem aber Möglichkeitsraum wie Grenze zugleich sind.
Anmerkungen
1 Dieser Aufsatz ist im Rahmen des Forschungsprojekts »Geteilte Gefühle: Entwürfe von Zugehörigkeit in der transkulturellen deutschsprachigen Gegenwartsliteratur« entstanden, das durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen des Sonderforschungsbereiches 1171 Affective Societies: Dynamiken des Zusammenlebens in bewegten Welten gefördert wird.
2 Im Folgenden wird der Roman mit der Sigle G zitiert.
3 Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass Erpenbeck in Gehen, ging, gegangen auf reale Vorgänge Bezug nimmt. Sowohl gab es das Protestcamp (2012-2014) als auch Demonstrationen der Geflüchteten (vgl. Flüchtlingsrat Berlin 2014/2015). Aus diesem Grunde wurde der Text als »Buch der Stunde« bezeichnet (Schmitter 2015: 126). Der Text baut dabei auf von Erpenbeck geführten Gesprächen mit Geflüchteten auf, die, so lässt sich annehmen, fiktionalisiert in den Roman Eingang gefunden haben. So dankt sie am Ende des Textes »für viele gute Gespräche« (G: 350) und führt darunter 13 Namen an.
4 Dingen, die verschwunden sind, widmen sich auch Judith Schalansky in Verzeichnis einiger Verluste (2018) oder Travis Elborough in Atlas of Vanishing Places: The lost worlds as they were and as they are today (2019).
5 So heißt es auf der Homepage des Verlags zu Erpenbecks Text; siehe online unter: https://www.kiwi-verlag.de/buch/jenny-erpenbeck-dinge-die-verschwinden-9783869710044 (Stand: 1.9.2022).
6 Es sind im Werk Erpenbecks stets Haus und See, die gemeinsam auftreten. Dabei ist das Haus Ausdruck von Wandel und zugleich Erinnerungsträger. Zum Motiv des Wassers bei Erpenbeck vgl. weiterführend Štrancar 2015.
7 »Meine Kindheit gehörte von nun an ins Museum« (Erpenbeck 2018b: 43).
8 Vgl. zu den tatsächlichen Ausgrabungsfunden Mayer 2022; Tkalec 2020; Schönball 2010.
9 In Berlin Oranienplatz, angelehnt an Döblins Berlin Alexanderplatz, muss sich die Hauptfigur Can von »seinem Berlin […], das ihn zu dem gemacht hat, was er ist«, verabschieden, denn er und die Stadt haben sich »längst weit voneinander entfernt«, so die Beschreibung des Stücks auf der Website des Theaters (online unter https://www.gorki.de/de/berlin-oranienplatz).
10 Im Englischsprachigen zieht das Camp zwangsläufig auch immer eine Parallele zu concentration camps.
11 In Bezug auf von oben errichtete Flüchtlingslager muss hier erwähnt werden, dass sich diese durch eine enorme Dauerhaftigkeit auszeichnen.
Literatur
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