GiG im Gespräch 2023/1
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Mitglieder der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik, sehr geehrte Leserinnen und Leser der Zeitschrift für interkulturelle Germanistik,
fast vier Jahre nach der Tagung am Fachbereich für Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Universität Mainz in Germersheim – die Druckfassung der Akten ist in diesen Tagen in der Verlagsproduktion – und ein gutes Jahr nach der Onlinetagung am Institut für Germanistik an der Universität Zadar werden wir in diesem Juni nun wieder eine Tagung im vertrauten Stil durchführen können und uns in Utrecht in den Niederlanden vor Ort treffen.
Der Tagungstitel und die sehr ansprechende Tagungswebsite (https://utrechterkonferenz.sites.uu.nl) bereiten uns in besonderer Weise vor: Zunächst auf das so genannte Reizklima der Nordseeküste, was salzhaltige Seeluft, oft beachtliche Windgeschwindigkeiten und erhöhte UV-Strahlung bedeutet; dann auf die von Menschen an der Küste gebauten Dämme zum Schutz gegen Überschwemmung, was, wie in Theodor Storms Schimmelreiter eindrucksvoll ausagiert wird, auch die Furcht bedeutet, dass ›die Deiche brechen‹ könnten; und nicht zuletzt werden wir vorbereitet auf die Auseinandersetzung mit Ambivalenzen wie der von Offenheit und Abgrenzung, die auch die spannungsvolle Gegensätzlichkeit von Gefühlen und Konflikte mit sich bringen kann. Werden wir alsowomöglich eingestimmt auf eine Atmosphäre, wie sie in All about Eve als »very Macbeth-ish« bezeichnet wird und Bette Davis in ihrer Rolle als Margo Channing in der betreffenden Szene zu dem berühmten »Fasten your seat belts. Itʼs going to be a bumpy night« veranlasst? – Nein, selbstverständlich nicht. Vielmehr sind Themenkomplexe, die Konkurrenz und Konflikte betreffen, so präsent wie lange nicht und stehen daher zu Recht im Fokus dieser GiG-Tagung in Utrecht.
Dass wir uns in Zukunft mit zunehmenden und zugleich unter anderem im Zusammenhang von sozialen Medien und virtuellen Welten immer weniger greifbaren Polaritäten von Offenheit und Abgrenzung, von Freundschaft und Feindschaft, von mit- und gegeneinander konfrontiert sehen werden, steht außer Frage und ist beispielsweise auch Gegenstand der ›Horizon Europe‹–Projektausschreibungen und verschiedener Publikationen der Europäischen Kommission, wie etwa der Untersuchung Unser politisches Verhalten verstehen. Wie Wissen und Vernunft zentrale Bedeutung für politische Entscheidungen erlangen (Mair u.a. 2019). Interkulturalität und Mehrsprachigkeit sind dabei allerdings Aspekte, die nach wie vor mit Blick auf entsprechende Entwicklungen in Europa und weltweit viel zu selten berücksichtigt werden. Ja, es hat sogar den Anschein, dass selbst Emotionen in Politik und Politikwissenschaft inzwischen mehr Aufmerksamkeit finden. – Wir dürfen also einer Tagung mit einem Thema von großer Aktualität entgegenblicken.
Denn inzwischen wird man von einem Scheitern solcher Konzepte auszugehen haben, die in der Tradition rationaler Diskursethik sich dem Vorwurf der Verabsolutierung bestimmter Perspektiven kaum entziehen können. Wie fruchtbar hingegen Ansätze und Arbeiten sein können, die unterschiedliche Sichtweisen eröffnen und diese dabei zugleich auch hinterfragen, zeigt – und hiermit komme ich zum zweiten Punkt der Rubrik GiG im Gespräch in diesem Heft – etwa die jüngst publizierte, aber schon vor vier Dekaden verteidigte Dissertation von Dadja Halla-Kawa Simtaro mit dem Titel Le Togo ›Musterkolonie‹. Souvenir de l’Allemagne dans la Société Togolaise, 2022 herausgegeben von Akila Ahouli und Paulin Adjaï Oloukpona-Yinnon. Ich zitiere aus der Einleitung (und übersetze im Anschluss ins Deutsche):
[Q]uiconque a lu cette thèse, conviendra sans réserve qu’elle constitue jusqu’à nos jours, le document-phare du souvenir de l’Allemagne au Togo. […] C’est ainsi qu’avec le temps, la publication de la thèse de Dr Simtaro s’est imposée à nous aujourd’hui, environ quarante ans après sa soutenance, car, par la force des choses, ce travail académique est devenu une sorte de monument emblématique et polémique de l’historiographie togolaise, à cause du contexte historique de la ›guerre froide‹ qui l’a vu naître. La polémique née à cette époque s’est accentuée depuis la parution en 1988 de la légendaire thèse d’habilitation de l’historien est-allemand Peter Sebald: »Togo 1884-1914. Eine Geschichte der deutschen ›Musterkolonie‹ auf der Grundlage amtlicher Quellen«. En réalité, la thèse de Dr Simtaro, dans sa thématique autant que dans sa méthodologie, constitue un écho togolais qui résonne aux antipodes de deux travaux scientifiques est-allemands: celui de Manfred Nussbaum intitulé »Togo, eine Musterkolonie?« (Berlin, Rütten & Loening, 1962) et celui de Peter Sebald. Peter Sebald (plus connu que son compatriote Manfred Nussbaum) est désormais reconnu comme »le grand spécialiste« de la colonisation allemande au Togo, même si son livre écrit en allemand n’a pas vite connu dès sa parution l’audience qui est la sienne aujourd’hui, alors que la thèse de doctorat de 3ième cycle de Dadja Halla-Kawa Simtaro fut dès sa soutenance, très médiatisée au Togo.
Sebald et Nussbaum d’une part, Simtaro d’autre part, ont choisi pour traiter du Togo allemand, des approches diamétralement opposées: pour les premiers, des sources d’archives allemandes et des documents écrits en allemand, et de toute première importance pour le second, essentiellement les divers vestiges allemands au Togo, et surtout des sources orales togolaises, et parfois quelques voix allemandes aussi. Quelle que soit l’opinion que les spécialistes peuvent avoir sur les deux approches méthodologiques, il faut désormais reconnaître que Simtaro et Sebald ont tous deux documenté de manière précise et précieuse une même réalité coloniale, et que, sur plusieures points, ils sont d’ailleurs parvenus – unanimement – à la même conclusion: la dureté du colonialisme allemand à l’égard des Togolais dans leur immense majorité. Voilà la première vérité qu’illustre la présente publication de la thèse de Dr. Simtaro dont l’auteur a tenu à préciser lui-même l’objectiviste en ces termes: »C’est pour contribuer à l’enrichissement et à la propagation de notre histoire qu’il nous faut récolter divers éléments du passé, tant à travers les vestiges que les souvenirs oraux«.
Hier in deutscher Übersetzung:
[W]er diese Schrift liest, wird vorbehaltlos zustimmen, dass sie bis in unsere Tage das Schlüsseldokument der Erinnerung Deutschlands in Togo darstellt. […] So hat sich die Veröffentlichung der Dissertation von Dr. Simtaro uns heute, etwa vierzig Jahre nach ihrer Verteidigung, aufgedrängt, weil diese akademische Arbeit zu einer Art Sinnbild und einem umstrittenen Denkmal der togolesischen Geschichtsschreibung geworden ist. Die in dieser Zeit entstandene Kontroverse – fast so etwas wie ein ›Kalter Krieg‹ – ist seit der Veröffentlichung der legendären Habilitationsschrift des ostdeutschen Historikers Peter Sebald im Jahr 1988 »Togo 1884-1914. Eine Geschichte der deutschen ›Musterkolonie‹ auf der Grundlage amtlicher Quellen« entstanden. Dr. Simtaros Dissertation stellt sowohl thematisch als auch methodisch ein togolesisches Echo dar, das antipodisch auf zwei ostdeutsche wissenschaftliche Arbeiten reagiert: Manfred Nussbaums Arbeit mit dem Titel »Togo, eine Musterkolonie?« (Berlin, Rütten & Loening, 1962) und die von Peter Sebald. Peter Sebald (besser bekannt als sein Landsmann Manfred Nussbaum) gilt heute als ›der große Spezialist‹ der deutschen Kolonialisierung in Togo, auch wenn sein auf Deutsch verfasstes Buch zunächst weniger wahrgenommen wurde als heute, während Nadja Halla-Kawa Simtaros Doktorarbeit in Togo schon bald nach der Verteidigung bekannt wurde.
Sebald und Nussbaum einerseits, Simtaro andererseits haben sich in der Auseinandersetzung mit dem deutschen Togo für diametral entgegengesetzte Herangehensweisen entschieden: Für Sebald und Nussbaum sind deutsche Archivquellen und deutschsprachige Dokumente von größter Bedeutung, für Simtaro sind es insbesondere togolesische mündliche Quellen und zum Teil auch einige deutsche Stimmen. Unabhängig von der fachlichen Einschätzung der beiden methodischen Ansätze muss anerkannt werden, dass Simtaro und Sebald beide dieselbe koloniale Realität auf präzise und wertvolle Weise dokumentiert haben und dass sie in mehreren Punkten darüber hinaus zu einem ganz übereinstimmenden Schluss kommen, nämlich der Härte des deutschen Kolonialismus gegenüber den Togoern in ihrer überwiegenden Mehrheit. Dies ist das erste zentrale Ergebnis, das die vorliegende Veröffentlichung der Dissertation von Dr. Simtaro zeigt und deren Autor sich dies zur Aufgabe gemacht hat: »Um zur Bereicherung und Verbreitung unserer Geschichte beizutragen, müssen wir vielfältige Elemente der Vergangenheit untersuchen, sowohl in der Auseinandersetzung mit ihren Spuren als auch mit mündlichen Erinnerungen«.
Die Publikation der Dissertation wurde mit Mitteln der Hanns-Seidel-Stiftung gefördert, und es ist als durchaus ermutigend zu bezeichnen, dass solche politische Stiftungen auf diese Weise einen Beitrag zur interkulturellen Geschichtsschreibung im vielleicht besten Sinn leisten.
Mit herzlichen Grüßen und meinen besten Wünschen verbleibe ich Ihre Gesine Lenore Schiewer
Literatur
Mair, D[.] u.a.: Politisches Verhalten verstehen: Wie Wissen und Vernunft zentrale Bedeutung für politische Entscheidungen erlangen. Luxemburg 2019; online unter: https://data.europa.eu/doi/10.2760/05897 [Stand: 1.3.2023].