Die Dynamik des ›Eigenen‹ und des ›Fremden‹
Cătălin Dorian Florescus Der Nabel der Welt (2017), mit Jurij M. Lotman gelesen1
AbstractThe study illustrates how the German-speaking author Cătălin Dorian Florescu challenges simplistic identity constructs in his short story collection Der Nabel der Welt (2017), thus transcending the label of a writer who merely exoticizes the Eastern-European other, as some critics have previously asserted. Employing Lotman’s model of the semiosphere as framework for analysis, this paper offers an interpretation of Florescu’s fictionalized border areas as spaces of cultural bilingualism and signification recoding for the ›Self‹ (i.e., the Western European elite culture) and the ›Foreign‹ (i.e., the migrant milieu from Eastern Europe, the Middle East and Africa)
TitleThe Dynamics Between the ›Self‹ and the ›Foreign‹: Cătălin Dorian Florescus Der Nabel der Welt (2017), Read With Jurij M. Lotman
Keywordsintercultural literature; border; identity; alterity; Cătălin Dorian Florescu (* 1967)
Von dichotomisch fiktionalisierten Konzepten des ›Eigenen‹ und des ›Fremden‹ hin zur Ästhetisierung kultureller Differenz
Die ästhetische Inszenierung der Fremdheit wird in den Werken von Cătălin Dorian Florescu, Schweizer Autor rumänischer Herkunft, häufig unter Berufung auf die persönliche Migrationserfahrung des Autors von Osten – aus dem Rumänien der 1980er Jahre – nach Westen – in die Schweiz – gedeutet (vgl. Pălimariu 2010: 99; Heero 2009: 207). Florescus interkulturelle2 Konstellationen aus der Perspektive eines Schriftstellers zu deuten, der sich »für westeuropäische Abwertungs- und Exotisierungsdiskurse des Osteuropäisch-Fremden entschieden hat« (Pălimariu 2010: 99), und die damit verbundene Vorstellung von seiner entworfenen Fremdheit allein in binären identitären Formationen zu verweben, greift zu kurz – so meine These. Zwar wird Florescu zusammen mit anderen deutschsprachigen Autoren und Autorinnen osteuropäischer Herkunft unter dem Paradigma des »Eastern European Turn« (Haines 2015: 145)3 subsumiert, das Etikett des Migrantenautors soll jedoch nicht Vermutungen über eine begrenzte Ästhetik aufkommen lassen. Wenn man sich ausschließlich auf Cătălin Dorian Florescus Biographie konzentriert, besteht die Gefahr, dass seine poetischen »Raum«4-Metaphern, die gegen vereinfachende Logiken von Identitätszuschreibungen ästhetisch vorgehen und Andersheit perspektivieren, unbeachtet bleiben.
In der Literaturkritik gibt es vereinzelte Beiträge, die sich gegen eine exotisierende Lektüre Florescus aussprechen (vgl. Spoerri 2009: 166) und seinen »multiperspektivischen Blick […] auf die Geschichtsschreibung Ost- und Mitteleuropas«5 (Egger 2019: 156) loben, die meisten Auseinandersetzungen über Fremdheit, Hybridität und Grenzüberschreitung in der Schweizer Literatur schließen aber eine Diskussion zu seinem Werk aus (vgl. Horvat 2017; Pabis 2017; Wetenkamp 2017; Marven/Taberner 2011). Trotz der Auszeichnung mit dem Schweizer Buchpreis (2011) und der anschließenden Aufnahme in eine Anthologie zur Schweizer Gegenwartsliteratur (vgl. Schallié/Zinggeler 2012) bleiben Florescus literarische Räume der kulturellen Überschneidung in der Literaturkritik weitgehend unsichtbar.
Im Hinblick auf die hier formulierte Notwendigkeit einer Fokuserweiterung auf Florescus hybride Grenzräume, seine Sprachspiele und Erzähltechniken, die mithilfe von Ironie, Staunen6 und magischer Erzählweise Verfremdungseffekte erzeugen, um den Blick auf das ›Andere‹ zu öffnen und die Reflexion der eigenen Eingeschränktheit anzuregen, wird im Folgenden sein Prosaband Der Nabel der Welt (2017) auf die Konfiguration Peripherie und Zentrum, In- und Exklusion hin geprüft.7 Es wird davon ausgegangen, dass die in dem Nabel der Welt literarisch inszenierten Momente des Übergangs, in denen innen und außen sich überschneiden, ein Verständnis von kultureller Differenz vermitteln, das sich nicht nivellieren lässt, sondern auf Vielfalt und Nichtübereinstimmungen angewiesen ist. Mit Blick auf drei der im Band enthaltenen Erzählungen – Ich muss Deutschland, Russisches Roulette und Gestrandete – untersucht der vorliegende Beitrag, wie binäre Dichotomien in der erzählten Raumstruktur über symbolische kulturelle8 Grenzen hinweg neu semantisiert und strukturiert werden. Es handelt sich um Erzählungen über Grenzverletzer*innen und Grenzgänger*innen, über ihre Suche nach Glück in einem fremden Land und ihre enttäuschten Hoffnungen. Neben den individuellen Geschichten bietet Florescu eine zweite Leseart an, die Kultur in ihrer Diversität betrachtet und sich gegen eine stereotypisierte Darstellung von Westen und Osten, Norden und Süden wendet.
Die Arbeit orientiert sich methodisch an Christof Hamanns Anwendung der Lotman’schen strukturalen Textanalyse und des Raumkonzepts der ›Semiosphäre‹ (vgl. Lotman 1990) auf die interkulturelle Hermeneutik (vgl. Hamann 2010). In den gegenwärtigen germanistischen Studien zur Interkulturalität würde ein raumsemiotischer Entwurf im Sinne Lotmans kaum einbezogen (vgl. ebd.: 228), daher empfiehlt der Germanist, Lotmans semiotische Interpretation der Grenze für die Untersuchung interkultureller Zwischenräume zu erproben (vgl. ebd.: 228-232).
Lotmans Vorstellung von Kultur als ›Semiosphäre‹ dient der Deutung eines Geflechts von dynamischen, nicht statischen Elementen, die aufeinander bezogen sind und sich ständig wandeln.9 Der estnische Literaturwissenschaftler begründet die Ausgedehntheit eines vorrangig semiotischen, nicht unbedingt auch geographischen Raumes hin zu einer Topographie der Ränder und legt damit den Akzent auf die semiotische Grenze.10 Deutet man Florescus Nabel der Welt im Sinne einer ›Semiosphäre‹, die ein ›Innen‹ (wo die dominierenden semiotischen Zeichen angesiedelt sind)11 und ein ›hell-gefärbtes Außen‹12 kennt, so sind die Konstruktionen von Zentrum und Peripherie, die in die Struktur seiner Erzählungen Eingang finden, als auch seine mit kulturellen Codes verbundenen »Teilräume« (Lotman 1972: 327), für seine Ästhetik des Fremden13 ausschlaggebend.
Der Titel des Bandes deutet auf die Organisation der Erzählstruktur hin, bei der »der Nabel der Welt« (Florescu 2017: 16) – im Text die Schweiz – als Repräsentanzraum des ›Inneren‹ steht, und regt gleichzeitig zur Reflexion über Identitätsautomatismen an. Die Ironie untergräbt nicht nur die vertraute Ordnung herrschender Machtverhältnisse, sondern schwächt auch die symbolische Funktion des Raums, in dem sich Macht manifestiert. Die Kritik an dem internen Homogenitätsgebot und dem externen Abgrenzungsgebot hegemonialer Selbstdarstellungen sowie die Notwendigkeit ihrer Umdeutung werden offensichtlich.
Zur Sichtbarmachung kultureller Vielfalt verlegt Florescu konkrete Orte, wie den Grenzstreifen Jimbolia zwischen Rumänien und Serbien in Ich muss Deutschland, die Turiner Piazza della Repubblica in Russisches Roulette und die nordfriesische Insel Sylt in Gestrandete auf neue intermediäre Felder, die erweiterte Möglichkeiten für interkulturelle Interaktionen bieten. In seinen theoretischen Auseinandersetzungen mit der Semiosphäre geht Lotman davon aus, dass sich Codes nicht unmittelbar vom Zentrum ausbreiten, das tendenziell mit hegemonialem Anspruch versehen wird, sondern dass Codes auf beiden Seiten der Grenze existieren und das Potenzial haben, sich zu transformieren, zu fragmentieren, zu vermischen und zu vervielfältigen (vgl. Koschorke 2012: 120). Die von Florescu literarisch inszenierten Grenzorte rufen kulturelle Interferenzen zwischen Zentrum und Peripherie hervor, die dafür sorgen, dass das semiotische System seine Dynamik nicht verliert. Das Eindringen von marginalen Tendenzen an der Grenze führt nicht nur zur Neukonfiguration des fremden, unvertrauten Raums, von dem sich das Zentrum – im Text: die westliche Kultur – abzugrenzen versucht, sondern auch zur Neuinterpretation des eigenen Raums. Dabei übernimmt die Grenze die Rolle eines »Übersetzungsfilters, der fremde Texte derart transformiert, dass sie Teil der internen Semiotik der Semiosphäre werden, ohne ihre Eigenartigkeit zu verlieren« (Lotman 1990: 137; Übers. C.S.-S.).
Die Grenze ›Jimbolia‹ als Raum der Umcodierung
Ich muss Deutschland (vgl. Florescu 2017: 24-55) wurde 2019 mit dem Literaturpreis Frontiere/Grenzen ausgezeichnet und im Januar 2020 vom Zürcher Sogar Theater aufgeführt. Die Erzählung wird aus der Perspektive eines rumänischen Grenzpolizisten wiedergegeben, der während seiner Nachtschicht einem syrischen Flüchtling auf der sogenannten Balkan-Route in den Westen begegnet und entscheiden muss, ob er den illegalen Grenzübertritt abfängt oder erlaubt. Die innere Struktur der Erzählung zerfällt in zwei »disjunktive Teilräume« (Lotman 1972: 327), wobei die statische Erzählhandlung, die sich dem Neuen verschließt, in der »sujetlosen Textschicht« (ebd.: 336) sichtbar wird. Zur Konfiguration der sujetlosen Textschicht dient die Figur des Ich-Erzählers, ein 26-jähriger rumänischer Zollwächter, der noch bei seiner Großmutter in der entvölkerten Kleinstadt Jimbolia lebt und sich jeder Form der Veränderung verweigert: »Du sitzt ständig im Wagen und starrst auf die Grenze. […] Du bewegst dich nicht« (Florescu 2017: 25). Das ›unbekannte Draußen‹ – im Text der Außenraum der EU – wird in der »sujethaften Textschicht« (Lotman 1972: 338) von dem Flüchtling Halim repräsentiert, einem syrischen Koch, dessen Frau und Kind bei der Überfahrt über das Meer ertrunken sind. Zwischen den beiden Teilräumen verläuft die rumänisch-serbische Grenze Jimbolia – eine »exklusive« Grenze, »die Außengrenze der EU« (Florescu 2017: 35), die das Eindringen des ›Fremden‹ in den europäischen Innenraum verhindern soll.
Der Grenzverlauf in unserem Abschnitt ist launisch, er zieht sich an Bächen und Wäldchen entlang und windet sich wie eine Schlange durch die Landschaft. Manchmal stößt die Grenze für einige Hundert Meter nach Serbien vor, dann wechselt sie wieder die Richtung, nach Norden. Manchmal gleicht sie einer Welle, dann wieder dem Zahn eines Wasserrades. Sie zieht sich oft in die Tiefe des Raums zurück, nur um sich etwas später wieder den Dörfern zu nähern und gleich hinter den Höfen zu verlaufen. […] Bei Beba Veche teilt sich der Weg, […] links nach Serbien, rechts nach Ungarn und hinten […] nach Rumänien. Aber an jener Kreuzung dreier Feldwege, an jenem Knoten, ist nichts. Es ist das Niemandsland, eine Anomalie. (Ebd.: 44)
Die Asymmetrie der räumlichen Repräsentation lässt die Grenze ungebändigt und arbiträr wirken. Das harmlos anmutende Adjektiv »launisch« trägt die Willkür der Grenzziehung in sich und verschiebt die Vorstellung von einer Trennlinie, die dichotomische Auffassungen von Kulturen gegenüberstellt, auf eine Markierung, die Unfixierbarkeit und Offenheit suggeriert. Durch die Berührung mit den Dörfern und Höfen, die Geborgenheit vermitteln, scheint sich das Unbekannte dem Familiären anzunähern, wobei die Möglichkeit, das Unverfügbare zu erfahren, dessen vermeintliches Drohpotenzial mindert. Die Prozesse der Bedeutungszuweisung für das Zeichen der Grenze, die der Knotenpunkt bei Beba Veche bedingt, werden durch das unerwartete Auftreten einer »Anomalie« außer Kraft gesetzt. Die exterritoriale Erscheinung, die die Grenze erzeugt, legt sowohl das Paradoxe räumlicher Grenzziehungen als auch die Limitation des Begriffs selbst offen. Der Binnenraum, der entsteht, verliert jegliche politisch-administrative Sinnzuschreibungen, sodass der unmarkierte Bereich alle potenziellen Bewohner*innen zur identitären Inexistenz verdammt. In der räumlichen Vorstellung des »Niemandsland[es]« wird ein liminales Moment verhandelt, das Selbsttransformationsprozesse der Figuren vorwegnimmt und auf die Kraft von Merkmalsübertragungen an der Grenze aufmerksam macht.
Der Einbruch des Fremden in den als eigen definierten Innenraum wird durch einen Sprachwechsel verkündet, der den habituellen Sprachgebrauch entautomatisiert. Wie ein Stolperstein, der Verwunderung auslöst, findet der rumänische Ausruf: »Stai! Mâinile sus și în genunchi!« (ebd.: 48)14 ohne Übersetzung Einzug in den Text und »initiiert den Ausbruch aus dem Denken-wie-üblich« (Heimböckel/Weinberg 2014: 132). Das Codeswitching relativiert die Verständigung durch das Verwenden gemeinsamer Sprachzeichen und beleuchtet den Fremdheitscharakter der Sprache. Die »manifeste Mehrsprachigkeit« (Radaelli 2011: 47) markiert kulturspezifische Besonderheiten und vermittelt Differenz in ihrer ungeschmälerten Individualität.
Der Flüchtling Halim bittet eindringlich, frei gelassen zu werden, denn er will »nicht Rumänien. Rumänien nicht gut. Ich Deutschland« (Florescu 2017: 49). Seine scharfe Aussage macht spontane und unreflektierte Identitätsbestimmungen durch den Rückgriff auf tradierte Selbstkonzepte transparent, die Rumänien als weder vollständig innerhalb noch vollständig außerhalb Europas15 imaginieren. Halims Verirren in den rumänischsprachigen Raum, obwohl der Fluchtweg nach Deutschland nicht über Rumänien führt, ist ästhetisch motiviert, denn er gibt deutlich zu verstehen, wie der ›Osten‹ und der ›Westen‹ Europas aufgrund wechselnder Perspektiventräger unterschiedlich strukturiert werden. Durch das Kleiden des als peripher imaginierten rumänischen Raumes in ein Gewand des ›Zentrums‹ ‒ im Text die Uniform des rumänischen EU-Zollwächters ‒ wird die ›Peripherie‹ Rumänien durch die Unterscheidung gegenüber anderen ›Peripherien‹, im Text: Syrien, verschoben. Dieses Spiel der Differenz demontiert klar auszumachende Hierarchien und lässt ›Zentrum‹ und ›Peripherie‹ als relativ erscheinen. In dieser doppelten Bedeutung trägt der rumänische Raum, der sich sowohl gegenüber dem ›Zentrum‹ Deutschland als auch der ›Peripherie‹ Syrien abgrenzt, dem Konstruktcharakter von Identität Rechnung. Die Darstellung des Ich-Erzählers aus einer innovativen Perspektive, in der er sich simultan inner- und außerhalb des Zentrums bzw. der Peripherie befindet, und die damit verbundene Strukturierung seiner Identität im Sinne von wünschenswert/nicht wünschenswert offenbart die Prozesse der Identitätsbildung.
Der Kontakt mit dem ›Fremden‹ bringt einen unerwarteten Umschwung in die lineare Handlung und dynamisiert die statische Grundordnung in der sujetlosen Textschicht. Von Seiten des Ich-Erzählers ist die Begegnung mit dem Flüchtling von eurozentrischen Vorurteilen geprägt, denn »nicht ohne Stolz« (Florescu 2017: 50) möchte er den illegalen Grenzübertritt dem rumänischen Nachtoffizier telefonisch melden. Der Mann in der Zentrale kann aber den Flüchtling mit seiner Wärmebildkamera nicht empfangen und besteht darauf, dass niemand draußen auf dem Feld stehe: »Meine Geräte hier sagen, dass du dort daußen ganz allein bist. Meine Geräte stammen aus Deutschland und wenn meine Geräte sagen, dass dort niemand ist, dann ist dort niemand« (ebd.). Florescu bedient sich bewusst hierarchisierender Diskurse des Westens in Form der Ironie, um jene Aura des abendländischen wirtschaftlichen Prestiges durch die unreflektierte Nachahmung europäischer Sicherheitsregeln in Frage zu stellen. Statt dem Ich-Erzähler weitere Richtlinien zu vermitteln, beendet der Nachtoffizier abrupt die Verbindung und verstößt damit gegen die Grundordnung der internen Prozedur. Der Ich-Erzähler übernimmt die Verantwortung für den illegalen Grenzgänger und gewinnt dadurch eine gewisse Unabhängigkeit vom ›Zentrum‹. Das narratorische Verfahren eröffnet somit einen neuen Handlungsstrang, der die menschliche Behandlung des ›Fremden‹ außerhalb des Rahmens offizieller Normen begünstigt.
Ohne die illegale Grenzüberschreitung ein zweites Mal anzumelden, beginnt der Ich-Erzähler den Flüchtling näher wahrzunehmen: »Ich ringe mit mir, denn auf der einen Seite will ich nach ihm schauen, auf der anderen muss ich vorsichtig bleiben« (ebd.: 51). Im Blick auf Halim taucht nicht nur die Unsicherheit vor dem noch nicht eingeordneten Unbekannten auf, sondern auch ein erster Versuch, den Bereich des Nichtwissens zu durchdringen. Bei der Ermittlung der Kulturcodes und ihrer Translation lässt das Verb »schauen« weitere semantische Verschiebungen erkennen. Der explizite Ausdruck – in Aufsicht nehmen – erhält eine neue kontextuelle Bedeutung im Sinne von ›entdecken‹, ›verstehen‹ und zerlegt den Rahmen, in dem festgefügte Bilder des ›Anderen‹ unreflektiert integriert sind. Die neuen Sinnangebote des Verbs verändern die bestehende semantische Struktur, sodass das als bedrohlich empfundene Eindringen des Fremden eine bedeutungsmäßige Umdeutung erfährt. Die darauf folgende Verwunderung des Ich-Erzählers – »Deine Füße bluten. Wo sind deine Schuhe?« (Ebd.: 52) –, die den Fremden mit individuellen Zügen versieht, wird zum Werkzeug selbstreflexiver Kritik. Es ist nicht nur »ein Staunen […] über das Andere«, sondern auch eines »über das Denken-wie-üblich und seine Begrenztheit« (Heimböckel/Weinberg 2014: 121), das erste Versuche in den Blick nimmt, die Fremdheit zur Vertrautheit zu machen.
Das kulturell Bekannte wird im Verlauf des Gesprächs über rumänische und arabische Gastronomie weiter reflektierbar. Die kulinarischen Überschneidungen der beiden Küchen lassen sowohl dem Ich-Erzähler als auch Halim das Eigene immer fragwürdiger und das Fremde immer vertrauter erscheinen: »Sarmale […] ich machen das auch. Türkisch. […] Auch ciorbă? Auch.« (Florescu 2017: 53) Durch die Vermischung kulinarischer Traditionslinien als Zeichen der Kreuzung kultureller Zugehörigkeiten offenbart sich kulturelle Differenz als ein sich wandelndes Konstrukt, das nicht nur auf die Auffassung des einzelnen Subjekts, sondern auch auf die Wechselbeziehung zwischen Gleichheit und Differenz, auf »die unheimliche Gleichheit-in-Differenz« (Bhabha 2000: 80), angewiesen ist. Die Tatsache, dass sich ciorbă und sarmale nicht als eindeutige rumänische oder arabische kulinarische Elemente erweisen, spaltet die Integrität des klar definierten Eigenraums und überführt kulturelle Differenzen in Ähnlichkeiten.
Darüber hinaus werden unterschiedliche Kultureme16 auch auf das Essverhalten bezogen und machen durch Sinnzuweisung auf Differenzen aufmerksam. Halim schätzt Essen als soziale Kraft. Er verbindet es mit einem Ritual des Teilens und gibt seinen letzten Apfel und das letzte Stück Brot: »Du essen. Nicht Gift. Wenn Essen Geschenk immer muss essen« (Florescu 2017: 53). Halim erscheint als Liebender und Großzügiger und widerspricht den gängigen Stereotypen über die Gewalt der Flüchtlinge. Seine soziale Handlung wird zu einem »Ereignis« (Lotman 1972: 332), das neue Grenzen entfaltet, in denen Raum seine kategoriale Bestimmtheit verliert. Der Ich-Erzähler nimmt den Apfel an und vergilt die Großmut des Flüchtlings mit dem Verschenken seiner Grenzstiefel. Der Verzicht auf einen Teil seiner Uniform überführt den bis dahin statisch wirkenden Ich-Erzähler in die Dynamik der Bewegung und schwächt seine symbolische Kraft. Die kulturelle Translation, die beim Überqueren des semantischen Raums entsteht, zieht beide Figuren in die interne Semiotik der Semiosphäre ein und rekonfiguriert im Rekurs auf kontextuelle Einbettung die Beziehung In-/Exklusion.
Das »Binde-Ritual« (Gutjahr 2010: 33) des Teilens ist im Sinne Lotmans als »Übersetzungsmechanismus« (Lotman 1990: 136) zu deuten, das Texte der fremden Semiotik in die vertraute Sprache transformiert. In der Übertragung von Charaktereigenschaften wie Eigenverantwortlichkeit und Menschlichkeit von einem Teilraum zum anderen offenbart sich nicht nur Identität als »keine verwurzelte Anlage« (Hofmann 2006: 29), sondern auch die Wandelbarkeit des sozialen Raums. Die widerstandsfähige Menschheit verbindet am Schluss die heterogenen und von Differenzen geprägten kulturellen Räume, sodass das Dreiländereck an der Grenze ‒ Serbien, Rumänien, Ungarn – zum Vermittler des ›Fremden‹ an das ›Eigene‹ wird.
Die Piazza della Repubblica als Instrument zur Destabilisierung der Differenz zwischen dem ›Eigenen‹ und dem ›Fremden‹
In Russisches Roulette konfiguriert Florescu (vgl. 2017: 87-112) einen weiteren Raum der kulturellen Begegnung, der dazu anregt, Identität und Alterität multiperspektivisch zu betrachten. Die Geschichte spielt sich in Turin ab, wo der Mailänder Simone, ein erfolgreicher Geschäftsmann, vom Autor als »bel uomo« (ebd.: 88) beschrieben, bei seinem ehemaligen Beichtvater, Pater Alfonso, Rat sucht. Der Pater scheint sich nicht für Simones emotionale Probleme zu interessieren, insbesondere seine Schwierigkeit, sich zwischen Geliebter und Frau mit zwei Kindern zu entscheiden. Simone irrt daher mit seinem Auto durch die Turiner Straßen, bis er an den sich illegal in Italien aufhaltenden marokkanischen Gelegenheitsdieb Latif gerät.
Von Beginn an lenkt der Autor den Fokus auf die räumliche Struktur der Stadt Turin, die einer Topologie semantischer Gegensatzpaare entspricht und divergente Welten gegenüberstellt. Die Trennlinie innen/außen, welche die Dimension des Eigenen und die ihr immanente binäre Opposition fixiert, wird entlang einer vertikalen Achse organisiert. Simone, der Erbe einer Villa »in der Frische der Turiner Hügel« (ebd.: 105), und der Pater Alfonso, geistiger Beschützer der Turiner Kirche auf dem »Monte« (ebd.: 87), vertreten die Oberstadt. Am unteren Pol steht der Gelegenheitsdieb Latif als Repräsentant der »Niederungen der Stadt« (ebd.: 87), der sich, der Illegalität ausgesetzt, nur begrenzt auf den Raum beziehen kann: Bei seinen Spaziergängen durch das schöne Viertel in den Turiner Hügeln »habe man ihn immer weggeschickt« (ebd.: 105). Im Appellativ »bel uomo« erklingt nicht nur die affektierte Stimme der westlichen Elite, sondern auch der spöttische Ton Florescus. Trotz des äußeren Scheins stellt sich heraus, dass Simones erfolgreiches Leben Schwachstellen hat. Seine Orientierungslosigkeit in der Liebesbeziehung und seine Einsamkeit, die symbolisch zu Etiketten der westlichen Welt werden, lassen die binäre Semantik räumlicher Ordnung (mit einem vorgeblich ›positiven‹ und einem ›negativen‹ Pol), die die Figuren mit Bedeutungen wie »wertvoll – wertlos«, »gut – schlecht« (Lotman 1972: 313) versieht, fragwürdig erscheinen.
Zwischen den beiden Teilräumen inszeniert der Autor die Piazza della Repubblica, den »Mittelpunkt der Stadt, wo sich Arm und Reich, Migranten und Einheimische begegnen« (Florescu 2017: 100). Liest man die Piazza della Repubblica als ›dritten Raum‹ (vgl. Soja 1996: 6) im Sinne geographisch-kultureller Raumvorstellungen, die auf einem »Firstspace« (der physische Raum mit kartierbaren Gegenständen der materiellen Welt) und einem »Secondspace« (die vorgestellte Repräsentation von Räumlichkeit) aufbauen (ebd.), so schafft die Piazza einen heterogenen kulturellen Kommunikationsraum und ermöglicht, Prozesse von kulturellen Überlappungen zu erklären. Auf der Piazza fährt Simone den Gelegenheitsdieb Latif mit seinem Auto an und wird dadurch zufällig zu einem Entdecker des ›Fremden‹. Der von Simone verursachte Unfall hat nur leichte Folgen: Latifs verletztes Bein schwillt an, der Verwundete besteht aber darauf, dass man weder den Krankenwagen noch die Polizei anruft. Als Entgeltung lädt Simone den »Fremden« (Florescu 2017: 103) zum Kaffee ein, damit sie »höchstens ein bisschen reden« (ebd.: 105). Latif verleiht sein Ohr nur für Geld und erweckt den Eindruck, seine narrative Funktion unter dem Etikett des ›Fremden‹ sei pragmatisch motiviert, um Simone emotional zu unterstützen. Bei der Unterhaltung im Café vollzieht sich aber ein Rollenwechsel, der die Identitätspositionen neu kalibriert. Anders als in den üblichen Alltagssituationen, in denen den Immigrant*innen die Möglichkeit zu sprechen eingeschränkt wird,17 versperrt ein Bruch in der Erzählperspektive und ein Wechsel der Fokalisierung nicht Latif, sondern Simone den Zugang zur Sprache. Der auktoriale Erzähler vermittelt Simones amouröse Abenteuer indirekt, während im Falle Latifs der Autor auf die Innensicht verzichtet und die Figur hemmungslos zu Wort kommen lässt. Latifs saloppe, glatte Aussagen unterbrechen den monotonen Erzählfluss, das Wechselspiel von erlebter und direkter Rede führt zu einer Verschiebung des Raums von der Peripherie zum Zentrum. »Der Fremde« (ebd.), der bei der ersten Begegnung auf der Straße als Teil einer undifferenzierten Masse aufgetreten ist, die »herumlungert« und die »Leute auszurauben versucht« (ebd.: 104), gewinnt allmählich seine Individuation. Seine Delikttätigkeit wird zum Beruf: »Jetzt ich in Europa und machen Rennen« (ebd.: 107), seine Sprachfragmente – »du feines Auto. Ich keine Arbeit, kein Geld, nix. Wenn Bein kaputt, ich nicht mehr rennen. […] Du kennen Kouribga? Not beautiful aber viel Phosphat« (ebd.: 103) – erhalten den Charakter einer Information (vgl. Lotman 1990: 140) und rufen in den Leser*innen Empathie mit der Figur des Flüchtlings hervor. Die syntaktische Vereinfachung in der Rede Latifs als Zeichen der Verschiedenheit der Stimmen, erzeugt eine ästhetische »De-platzierung« (Bhabha 2000: 2),18 welche die Möglichkeit der Grenzverschiebung eröffnet. Im Bruch der grammatischen Norm liegt das Potenzial der Sprache, sich zu vervielfältigen.
Die Hierarchisierung des Eigenen gegenüber dem Fremden beginnt sich allmählich im Laufe des Gesprächs zu verflüchtigen und lässt weniger sichtbare identitäre Formationen ans Licht kommen. Die Leser*innen werden in den Alltag der Immigrant*innen eingeführt, wo Rassismus und Bürokratie die legale Beschäftigung unmöglich machen. Latifs Fürsorge für seine Familie und seine Bereitschaft, für ihr Wohl sein Leben zu riskieren, illustrieren die Kausalitätsbeziehung zwischen Chancenlosigkeit, Diskriminierung, Armut und Kriminalität. Seine Ehrlichkeit und seine Offenheit erscheinen als würdige Attribute und lassen die Figur sympathisch wirken: »Ja, Dieb, […] Chef sprechen mit Touristen und sagen Rad am Auto kaputt. Tourist aussteigen und schauen, ich machen leise Tür auf und nehmen was finden« (Florescu 2017: 108). Latif unterbreitet drei Lösungsvorschläge, um Simone bei der Trennung von seiner russischen Geliebten zu helfen: »ein bisschen Angst machen«, »mehr Angst machen«, »Du nicht wollen wissen, was drei ist. Problem gelöst aber Kosten mehr.« (Ebd.: 111) Darüber hinaus notiert er eine Telefonnummer auf eine Serviette. Obwohl sein kulturelles Erbe ihm eine gediegene Identitätsposition garantieren sollte, nimmt Simone die Nummer an und wird dadurch zum moralischen Täter eines möglichen Verbrechens. Im Prozess der Heranholung der Ränder an das Zentrum offenbart sich seine Verworfenheit im Gegensatz zu den vom Zentrum auferlegten Identitätsangeboten. Der ethisch-moralische Wertekanon zeigt seine Schattenseiten und widerlegt den vermeintlichen ethnisch-topographischen Determinismus, der hierarchische Ansprüche bezüglich der inhärenten »Reinheit« der westlichen Kultur voraussetzt (Bhabha 2000: 56f.). Das »Wanken« am Schluss – »Simone steht auf, aber der Schmerz in der Hüfte meldet sich zurück und er wankt. Der Dieb steht auf und auch er wankt« (Florescu 2017: 112) – überführt die kulturellen Gegensätze in Ähnlichkeiten und lässt die beiden Identitätsprofile ineinander verschmelzen. Der vereinigende Schmerz macht die semiotische Grenze durchlässig und destruiert die konfigurationskonstitutiven Merkmale der binären Teilräume endgültig. Im Bild der zwei wankenden Körper verlieren das ›Eigene‹ und ›das Fremde‹ ihre kulturdistinktiven Bedeutungen und werden in Bezug aufeinander wahrgenommen.
Die Transformation der Insel Sylt
In Gestrandete (vgl. ebd.: 56-87) wird die Wechseldynamik zwischen dem Fremden und dem Eigenen auf der nordfriesischen Ferieninsel Sylt untersucht. Sylt ist ein abgeschotteter, exklusiver Luxusort im Norden des Kontinents und gilt als der »deutscheste aller deutschen Orte« (ebd.: 63). Der Ich-Erzähler, eine Art Alter Ego des Autors, ein Schweizer Tinnituspatient mit rumänischem Hintergrund, verspricht sich auf Sylt Heilung für sein Ohrleiden.
Der Autor veranschaulicht den mentalen Konstruktionsprozess des ›Eigenen‹ durch eine kollektive Figur – privilegierte deutsche Tourist*innen , die um das luxuriöse Fünf-Sterne-Hotel Budersand eine Art ethnische Enklave errichten. Auf einer horizontalen Achse fixieren die »deutschen Zahnärzte, und Rechtsanwälte« (ebd.) im Sinne Lotmans »nicht nur die innere Ordnung, sondern auch die äußere Unordnung« (Lotman 1990: 142) und lehnen alles ab, was ihren engen Vorstellungsraum schwächen könnte – wofür im Text das »[N]icht-deutsche« steht – »keinem anderen Europäer, Amerikaner oder Japaner kam es in den Sinn, auf Sylt sein Glück zu suchen« (Florescu 2017: 63). Durch konfigurationskonstitutive Merkmale wie Ethnie, Stand und Vermögen grenzen sich die deutschen Tourist*innen nicht nur von dem negativ konnotierten äußeren und heterogenen Festland ab, sondern auch von dem ärmlichen Inselraum, der von Fries*innen bewohnt wird. Zur Affirmation ihrer Machtstruktur generieren sie »normative Selbstbeschreibungssysteme« (Lotman 1990: 128), die sie auf den gesamten Inselraum auszudehnen versuchen, denn »das Deutsche geht ins Glück über, erst wenn man von den tausend Armen der Insel absieht« (Florescu 2017: 63). Aussagen wie: »[W]ir sind hier wirklich unter uns« (ebd.), potenzieren die »finstere Gleichförmigkeit« (ebd.: 61) ihrer Enklave.
Die ambivalente Positionierung der Insel – einerseits als Zentrum, von Gewässern geschützt, andererseits als Grenzraum, zwischen Meer und Festland – ermöglicht sowohl konfigurationsspezifische Codes der starren Mitte als auch das Transformationspotenzial des homogen wirkenden Raums zu interpretieren. Die unscharfen Ränder der Insel, die in der düsteren Prophezeiung des Ich-Erzählers zum Ausdruck kommen – die Insel wird »kürzer und kürzer, wie eine alte Frau, die sich beeilt, besser in den Sarg zu passen« (ebd.: 64) –, verweisen auf die semantische Unbestimmtheit des Raums und lassen die dynamischen Möglichkeiten der Merkmalsübertragungen erahnen.
Der Ich-Erzähler, der aufgrund seiner nicht eindeutigen Identität – »[I]ch bin also Schweizer. Das ist mein Normalzustand« (ebd.: 58) – als Grenzfigur zu lesen ist, erfüllt auf der Insel die Aufgabe des Beobachters. Seine Schilderungen entziehen sich einer rein realistischen Darstellung und verleihen dem insularen Raum eine mythische Dimension.
Es ist schwer alles zu glauben, wenn man auf einer Insel ist, die sich vom Ellbogen des Teufels im Norden bis zu den Dünen der Hexen im Süden erstreckt. Oben tanzt der Teufel und verführt das Mädchen Ose, später verwandelt er sie in einen Stein. Unten tanzen die Hexen mit Seeräubern, direkt unter der höchsten Düne, am Hafen von Hörnum. Später werden die untreuen Männer hängen (ebd.: 56).
Das magisch-realistische Verfahren wurde bereits in Florescus Roman Jacob beschließt zu lieben (2011) diagnostiziert. Sabine Egger hat gezeigt, dass Florescu durch die Verbindung konkreter Erfahrungen mit phantastischen Elementen den Realitätscharakter etablierter geschichtlicher Narrative in Frage stellt (vgl. Egger 2019: 158). Diese Verknüpfung von Realismus und Übernatürlichem soll »Kippsituationen« hervorrufen, die den »Zweifel […] an Grundannahmen von Wahrheit, Wirklichkeit, Identität und zwischenmenschlichen Beziehungen« (ebd.) äußern.
Auch in Gestrandete wird die Ordnung der erzählten Welt durch die kontinuierliche Verschiebung zwischen realistisch-chronologischer und magischer Erzählweise hinterfragt, was die Illusion einer zuverlässigen Realität bricht. Die Darstellung der Insel als Provinz der Hexen und Teufel drückt den Zweifel an der idealisierten Selbstbeschreibung der deutschen Tourist*innen aus, wobei der Ich-Erzähler auf den Konstruktcharakter der Welt reflektiert – »an einem Ort, wo man zwischen dem Teufel und den Hexen eingeklemmt ist, [kann] alles trügen« (Florescu 2017: 57). Die »seltsamen« Ereignisse, die sich auf der Insel zutragen, wie das Weinen der Madonna oder der Einsturz des Turms, werden von den Tourist*innen als wunderbare, schicksalsträchtige Vorzeichen wahrgenommen, obwohl diese rational erklärbar sind.
Wir sind es gewohnt, dass sie [die Madonna]; an anderen Orten erscheint – vielleicht auch weint – wo die Menschen gottesfürchtiger und beeindruckbarer sind. […] Dass aber eine deutsche Madonna weint, dass eine Madonna in Deutschland weint, die Heilige Mutter Gottes vom Altarbild aus der Severin-Kirche bei Keitum, das war neu. (Ebd.: 69f.)
Die distanzierte Stimme des Ich-Erzählers hebt den Widerspruch zwischen elitärem Zivilisationsanspruch und unreflektiertem Aberglaube hervor. Der Glaube an Übernatürliches im Gegensatz zur westlichen Aufklärung wird zur Voraussetzung der Revision starrer Kulturmodelle und dekonstruiert essentialistische Gewissheiten über das Deutsche »in seiner Reinform« (ebd.: 63). Das Phantastische suspendiert den realistischen Darstellungsmodus, sodass Sylt den Täuschungscharakter des Paradieses verliert.
Nach vielen Verzögerungen und mehreren Textstellen, die die narrative Spannung verschärfen – Gesprächsfragmente der Hotelgäste, Spaziergänge am Strand des Wattenmeers, die weinende Madonna und der Sturz des Turmes –, löst ein unerwartetes Ereignis die Desintegration der inneren Ordnung aus. Eine »Armada von Schiffen« (ebd.: 77) – in Wirklichkeit harmlose Flüchtlingsboote – bringt afrikanische Flüchtlinge auf die Insel und greift von der Peripherie her auf den Mittelpunkt des ›Normalen‹ über. Die transformativen Effekte des Geschehens artikulieren sich in den übertriebenen Wehklagen der Tourist*innen – »Wir sind nicht mehr unter uns! Wir sind geliefert!« –, die die Veränderung der Insel in »eine neue Lampedusa« (ebd.: 84) befürchten. Die Panik gegenüber der Alterität und das Fehlen jeglichen Einfühlungsvermögens treten dabei in den Vordergrund und werden als negative Auswirkungen einer abgekapselten Lebensweise problematisiert. Obwohl sich keine direkte Berührung mit dem Fremden – im Text: Somalier*innen, Äthiopier*innen, Tunesier*innen – ereignet, markiert die Begegnung mit dem ›Anderen‹ einen Wendepunkt in der linearen Handlung. Das Ereignis wirkt sich positiv auf den gesundheitlichen Zustand des Ich-Erzählers aus – »plötzlich setzte das Summen im Ohr aus« (ebd.: 86) – und wird dadurch zu einem handlungsstrukturierenden Element. Die überraschende Heilung bei der Ankunft des ›Fremden‹ offenbart sich als Zeichen dafür, dass der Prozess des drohenden Verlusts der Statik des Inselraums durch das Eindringen von Einflüssen von der Peripherie aufgehalten wird.
Fazit
In den drei Erzählungen, die hier angeführt wurden, versieht der deutschsprachige Autor im Sinne Lotmans binäre Raumkonstruktionen mit Codes, die einer gewissen Dynamik unterliegen und durch kulturelle Translation die Alterität beleuchten. Die kreativen Raummetaphern, der Verzicht auf grammatische Normativität, die Brüche in der Erzählperspektive und die magische Erzählweise, welche die alltägliche Semantik und narrative Ordnung verfremden, wirken illusionsbrechend und fördern eine multiperspektivische Sicht auf die Formung kultureller Identitätsentwürfe. Es wird damit offenbar, dass Florescu nicht auf eine exotisierende Darstellung des ›Anderen‹ abzielt, sondern unreflektierte Repräsentationen des ›Eigenen‹ und ›Fremden‹ schwächt. Die Erzählungen vermitteln ein Verständnis der kulturellen Differenz in dem Sinne, dass die Leser*innen nachvollziehen können, wie unterschiedliche Umstände ihn in die Position des ›Anderen‹ hätten bringen können, und regen Reflexionsprozesse an, die die ideologische Grundlage für kulturelle Abgrenzung hinterfragen. Cătălin Dorian Florescu leistet somit einen wesentlichen Beitrag zur Schweizer Literatur, da seine kritische Betrachtung der Kultur mit der schweizerischen Gegenwartsliteratur in Resonanz steht.
Anmerkungen
1 Der vorliegende Beitrag knüpft an Hamanns Vorschlag zur Anwendung des Lotman’schen Raumkonzepts zur Untersuchung interkultureller Zwischenräume an. Vgl. Hamann 2010.
2 In dem vorliegenden Beitrag wird Interkulturalität als Grundlage dafür verstanden, »Andersheit in ihrer Kulturspezifik performativ hervorzutreiben« (Gutjahr 2015: 48; siehe auch Weinrich 1990).
3 Die britische Literaturwissenschaftlerin Brigid Haines knüpfte an das von Leslie Adelson entworfene Paradigma des Turkish turn an und bezeichnete mit dem Eastern European turn eine Wende in der deutschen Literatur, welche die deutschsprachigen Autoren aus Osteuropa unter die Lupe nimmt. Vgl. Haines 2015. Das Heft 2 (2015) der Zeitschrift German Life and Letters offeriert einen methodologischen Rahmen für die Diskussion der deutschsprachigen Literatur aus Osteuropa, in dem Aspekte der Migration, der Heimat, der Identität und Alterität facettenreich integriert werden.
4 Raum wird im Folgenden als »Ergebnis kultureller Produktions- und sozialer Aneignungsprozesse« begriffen (Neumann 2009: 115).
5 Egger hebt hervor, dass die »durch das magisch-realistische Erzählen erreichte Metaisierung das dominante historische Narrativ in Frage stellt« (Egger 2019: 156).
6 Laut Dieter Heimböckel und Manfred Weinberg manifestiert sich »das Gewahrwerden der eigentümlichen Andersheit […] als Staunen. Es ist ein Staunen einerseits über das Andere, andererseits über das Denken-wie-üblich und seine Begrenztheit. Das Staunen initiiert den Ausbruch aus dem Denken-wie-üblich und setzt damit ein Staunen über die Begriffe des Eigenen und Anderen frei.« (Heimböckel/Weinberg 2014: 132)
7 Der vorliegende Beitrag ist Teil des Projekts Eine digitale Karte der räumlichen Repräsentationen in der postkommunistischen Literatur aus Südosteuropa (PN-III-P1-1.1-PD-2021-0483), das im Rahmen der Planul Național de Cercetare Dezvoltare și Inovare III durch das Ministerium für Forschung, Innovation und Digitalisierung finanziert und an der Universität Transilvania Rumänien durchgeführt wird.
8 Unter Kultur werden »keine voneinander völlig isolierten und sich abschottenden Gebilde« verstanden (Wierlacher 2003: 260), sondern ein Geflecht von Bedeutungen, »eine Konstellation von Texten, die – über das geschriebene oder gesprochene Wort hinaus – auch in Ritualen, Theater, Gebärden, Festen usw. verkörpert sind« (Bachmann-Medick 1996: 10).
9 »All elements of the semiosphere are in dynamic, not static, correlations whose terms are constantly changing« (Lotman 1990: 127).
10 »The boundary […] is ambivalent and one of its sides is always turned to the outside« (ebd.: 142).
11 »At the centre of the semiosphere are formed the most developed and structurally organized languages« (ebd.: 127).
12 »The periphery is brightly coloured and marked, whereas the nucleus is »normal« i.e. lacking in colour or scent, it simply exists« (ebd.: 141).
13 Heimböckel und Mein deuten darauf hin, dass »ein Konsens darin besteht, dass der zentrale Gegenstand der Interkulturalitätsforschung die Frage nach dem Fremden« ist (Heimböckel/Mein 2010: 9).
14 »Halt! Hände hoch und auf die Knie« (Übersetzung der Verfasserin).
15 Eine der Besonderheiten in der Repräsentation des Osteuropa-Raums, so wird angenommen, besteht darin, dass dieser sowohl innerhalb als auch außerhalb des europäischen Kontinents, zwischen Zivilisation und Barbarei imaginiert wird (vgl. Todorova 2009; Neumann 1998; Wolff 1994: 23).
16 Gemeint sind kulturbedingte Verhaltensweisen (vgl. Oksaar 1988).
17 Identitätstheoretiker heben die unterschiedlichen Positionen hervor, von denen aus Einwandernde am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Während Machtrelationen den Zugang der Einwandernden zur Zielsprachengemeinschaft determinieren, schränken unterworfene Identitätspositionen die Möglichkeit zu sprechen ein (vgl. Norton/ Toohey 2011: 414).
18 Homi K. Bhabhas Konzept des displacement ermöglicht es, binäre Identitätskonstrukte zu überwinden (vgl. Bhabha 2000: 2).
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