Oh wie schön
In der Kunst nehmen wir mit unseren Sinnen wahr. Wenn wir dieses Wahrnehmen als ein ›Für-wahr-nehmen‹ verstehen wollen, sind wir mit der ebenso grundsätzlichen wie erkenntnistheoretischen Frage konfrontiert: Was sehen wir, wenn wir schauen? Was erkennen wir, wenn wir wahrnehmen? Welchen Typ von Einsicht ermöglicht das Wahrnehmen?
Eine Anekdote verdeutlicht die Janusköpfigkeit des Sehens als einem Wahrnehmen: In Japan waren wir mit zwei akademischen Kollegen an den Biwa-See in der Nähe von Kyoto gereist, um dort einen alten buddhistischen Tempel anzusehen. Man konnte die Anlage vom Ufer des Biwa-Sees aus bequem zu Fuß gemeinsam mit vielen anderen Touristen und Besuchern durch einen breiten gepflasterten Weg bergan durch den Wald mit hohen Nadelbäumen erreichen. Ein japanischer Professor für europäische Philosophie und eine japanische Literaturkritikerin führten uns dort hin. »Kire desu« bemerkte die japanische Literaturkritikerin begeistert, als wir aus der hübschen alten Tempelanlage den bewaldeten Hügel herunter wieder an die Zufahrtsstraße am See mit den Souvenirständen gekommen waren. »Oh – wie schön!« Sie meinte weder den Tempel noch den Wald, sondern die Seelandschaft. Vor uns dümpelte das trübe Seewasser ans Betonufer. Auf der gegenüberliegenden Seite des Gewässers war die urbane Nachkriegsarchitektur einer pragmatisch verstandenen Moderne zu sehen. Links im Blickfeld die Schnellstraßenbrücke. Es war ein See im Modus totaler Zuhandenheit, so hätten wir aus europäischer Perspektive vielleicht angemerkt, wenn wir geneigt gewesen wären, dieser Seegegend und ihrem Flusszulauf überhaupt Aufmerksamkeit zu schenken. »Sehr schön« bestätigte der japanische Professor die Worte der Literaturkritikerin. »Dieser See hat eine sehr alte Geschichte.« Der Blick senkte sich bei seinen Worten keineswegs nach innen, die Geschichte als imaginäre Komponente der Landschaft rekapitulierend, sondern schweifte zwischen Autobrücke und Betonufer umher. Diese japanischen Kollegen sahen Geschichte als anwesende Schönheit der Gegend. Offenbar, denn »kire desu« wird nicht als rhetorischer Ausdruck für Abwesendes verwendet, sondern bezieht sich auf aktuell Anwesendes: Kire desu sind kräftig rosa blühende Kirschbäume vor knallblauem Himmel oder magentarotes Ahornlaub im japanischen Herbst. Es geht mit diesem Ausruf um präsente Schönheit, die im Moment erblickt und lobpreisend bestätigt wird. Anscheinend sahen wir am Biwa-See gleiches und nahmen doch anderes wahr. Die ikonische Semantik der Gegend war von unterschiedlichen Inhaltsstoffen geprägt und regulierte den Sinn dieser Landschaft als Bild je anders. Strahlende Schönheit einerseits und profane Plumpheit andererseits.
Theoretisch wissen wir um die kulturelle, historische und soziale Einbettung des Sehens, Wahrnehmens und Verstehens von Zeichen und Dingen. Doch sind wir erschüttert, wenn eben diese Differenz tatsächlich auch zu einer akuten Erfahrung wird. Unser Alltag ist im Normalmodus geprägt von einem Grundvertrauen in die Ähnlichkeit der Wahrnehmungsmuster unserer Mitmenschen – was Immanuel Kant den Gemeinsinn nannte. Wir versichern uns dieses gemeinsamen Sinns in fortlaufender Rede. »Ein wirklich hässliches Auto.« »Ja wirklich!« »Siehst Du die Schönheit der Geschichte dort?« »Aber natürlich!« Aus dem Sehen destillieren wir nicht die ikonische Wahrheit einer Sache, sondern es zeigt und kommuniziert sich der Konsens und Code einer Blickgemeinschaft. Diese Blickgemeinschaft bildet ein Symbolkollektiv, innerhalb dessen ein Verständigen über wahrgenommene Zeichengehalte und ein Verhandeln über Sinn nur deswegen möglich ist, weil die prinzipielle Ähnlichkeit des Musterungsprozesses beständig und in jeder Situation immer wieder neu angenommen wird.
Doch das Mustern führt nicht immer zu gleichen, sondern mitunter zu unterschiedlichen Ansichten. Die Wahrheit unserer Wahrnehmung ist relativ. Genauer formuliert: Die Gehalte über die Verfasstheit von Welt, welche durch ästhetische Zeichen und Ansichten vermittelt werden, sind relativ zu den Erwartungshorizonten der wahrnehmenden Symbolgemeinschaft. Diese Erkenntnis – über die Bezogenheit des Einsehens im Modus des Wahrnehmens – ist allerdings nichts Neues. Denn vor dem Hintergrund der jüngeren Geschichte der kritischen Epistemologie des 20. Jahrhunderts wissen wir um die Kontextualität des Erkennens. Die Wahrheit unserer Wahrnehmung sollte uns als ebenso relativ erscheinen wie jede andere Wahrheit auch. Diese Einsicht betrifft aber auch die ästhetische Forschung. Ästhetische Einsichten sind genauso wenig verallgemeinerbar wie numerische Ergebnisse oder begriffliche Erkenntnisse. Wahrnehmung findet im Kontext von Sinngemeinschaften statt. Doch inwiefern reicht dieser einfach konstatierte, kritisch-epistemologische Kurzschluss aus, um das Problem der relativen Relevanz ästhetischen Einsehens, Vermittelns und Verstehens angemessen zu bedenken? Was leistet die künstlerische Forschung im Vermitteln ihrer Einsichten? Wo stehen die ästhetischen Erkenntnisse und ihre Weisen des Wahrnehmens im Kontext der kritischen Epistemologie? Die ästhetische Praxis will sich als Forschung etablieren und ihre Artikulationsweise beansprucht als Ausdruck ernst genommen zu werden – zumindest sind das die Argumentationsziele der epistemologischen Ästhetik. Wie aber stehen diese Ansprüche im Verhältnis zur epistemologischen Kritik an der Objektivität des Wissens und der Nachvollziehbarkeit der Forschung? Für wen gelten die ästhetischen Einsichten (objektiv) und wer vermag sie (nachvollziehend) zu verstehen?
Die historische Lage im 21. Jahrhundert ist prekär: wir arbeiten die epistemischen Qualitäten des künstlerischen Tuns heraus, um dieses Tun als ein Forschen in jener doppelten Weise zu ›behaupten‹, wie das Behaupten ein inhaltliches Aussage treffen und ein wissenspolitisches Durchsetzen meint. Sagen und Setzen. Zugleich wird jede dieser epistemischen Behauptungen durch die Thesen der philosophischen Wissenschaftsforschung zur Situiertheit des Wissens gleichsam ›enthauptet‹. Die Kunst beginnt zu forschen, während die Forschung aufhört für das einzustehen, was einmal für Forschung gehalten wurde: nämlich ein intersubjektiv verallgemeinerbares, objektives, methodisches, nachvollziehbares und systematisches Geschäft zu sein.