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Zeitschrift für interkulturelle Germanistik – 15. Jahrgang, 2024: Einführung. Identitätspolitik in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Silke Horstkotte/Julia Schöll/Lisa Wille)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik – 15. Jahrgang, 2024

Einführung. Identitätspolitik in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Silke Horstkotte/Julia Schöll/Lisa Wille)

Einführung

Identitätspolitik in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

Silke Horstkotte/Julia Schöll/Lisa Wille

Title

Introduction: Identity Politics in Contemporary German-Language Literature

Keywords

contemporary German-language literature; identity politics; intersectionality; transculturality; interculturality

›Identitätspolitik‹ ist in Debatten innerhalb wie außerhalb des Literaturbetriebs ein prominenter, aber mehrdeutiger und oft kontrovers diskutierter Begriff. In den 1970er Jahren entwickelt, um die spezifischen Anliegen Schwarzer Feministinnen zu adressieren, wird von Identitätspolitik gegenwärtig vielfach in polemischen Kontexten gesprochen. Während linke Befürworter*innen der Identitätspolitik sich für Zugang, Teilhabe und Gleichberechtigung postmigrantischer und von Rassismus betroffener Menschen einsetzen, sehen Kritiker*innen darin eine Bevorzugung einzelner Gruppen zulasten anderer und die Gefahr sozialer Spaltung. So betitelte Die Zeit beispielsweise ein Streitgespräch zwischen der Journalistin Alice Hasters und der Philosophin Susan Neiman mit: Identitätspolitik der Linken: Ist die Linke zu woke?, und gab damit eine These wieder, die Neiman in ihrem Buch Links ist nicht woke entfaltet hatte (Hasters u.a. 2024; Neiman 2023). Im Literatur- und Kulturbereich werden identitätspolitische Debatten zudem über strukturelle Diskriminierung im Literaturbetrieb, Blackfacing im Theater oder die Restitution kolonialer Raubkunst geführt. Und obwohl Pluralität von Identitäten in westeuropäischen Gesellschaften längst als gelebte Wirklichkeit wahrgenommen wird, stellen Ausgrenzungserfahrungen verschiedenster Eskalationsstufen für die als vermeintlich ›anders‹ Deklarierten eine alltägliche Realität dar. Während also aus der Identität längst Identitäten geworden sind, wird die Gesellschaft oftmals immer noch als homogen konstruiert und deren vermeintliche Einheitlichkeit ›verteidigt‹.

Forciert werden die identitätspolitischen Debatten durch eine zunehmend diverse deutschsprachige Literaturlandschaft, in der ethnische, religiöse, geschlechtliche, familiäre etc. Kategorisierungen und Vereindeutigungen infrage gestellt werden. Die Literatur wird zum wichtigen Ort identitätspolitischer Debatten, wenn der Markt diversifiziert und die Romane von Autor*innen wie Sharon Dodua Otoo, Mithu Sanyal oder Sasha Marianna Salzmann in großen Publikumsverlagen erscheinen und mit Preisen dekoriert werden. Wie konstruieren, dekonstruieren und politisieren aktuelle literarische Texte mehrdeutige oder als ›anders‹ markierte Identitäten? Wie spiegeln sich identitätspolitische Themen innerhalb der Texte wider, und welche Rolle spielen sie in der extraliterarischen Performance der Autor*innen? Wie geht die Kritik mit der Mehrdeutigkeit der Texte um, wie werden identitätspolitische Fragen im Literaturbetrieb verhandelt, und welchen Marktwert besitzen Texte und ihre Autor*innen? Das sind einige der Fragen, mit denen sich die Beiträge dieses Hefts beschäftigen.

Identitätspolitik(en)

Der Begriff ›Identitätspolitik‹ geht auf die Theorien und Aktionen des Combahee River Collective zurück, eine Gruppe schwarzer, lesbischer Frauen in den USA, die sich 1974 gefunden hatte. Das Kollektiv lieferte nicht nur neue Impulse für die zu diesem Zeitpunkt schon geraume Zeit aktive antirassistische US-Bürgerrechtsbewegung, seine Mitglieder wurden auch zu Vordenkerinnen der Theorien der Intersektionalität, sahen sie sich als Schwarze, Frauen und Lesben doch multidimensionaler Diskriminierung ausgesetzt. In ihrem im April 1977 erschienenen legendären Manifest The Combahee River Collective Statement schrieb die Gruppe:

The most general statement of our politics at the present time would be that we are actively committed to struggling against racial, sexual, heterosexual, and class oppression, and see as our particular task the development of integrated analysis and practice based upon the fact that the major systems of oppression are interlocking. The synthesis of these oppressions creates the conditions of our lives. (Combahee River Collective 1977)

Die Gruppe adressiert die seither als ›klassische‹ Trias der Intersektionalität diskutierte Verschränkung der Diskriminierungsfaktoren race, class und gender. Wichtiger als der Kampf gegen diese vielfach von außen auf das Subjekt oder Kollektiv projizierten Kodierungen wurde für das Combahee River Collective indes die Politik zugunsten der eigenen Identität, die bewusst als vielfältig und divers ausgewiesen wurde. In ihrem Manifest prägten sie dafür den Begriff der Identitätspolitik: »[F]ocusing upon our own oppression is embodied in the concept of identity politics. We believe that the most profound and potentially most radical politics come directly out of our own identity, as opposed to working to end somebody else’s oppression« (ebd.). Schon in dieser Frühphase einer linken, bewusst als solche deklarierten Identitätspolitik wurden einige grundlegende Probleme sichtbar, die bis heute mit dem Begriff verbunden sind. Zunächst einmal setzt er die Existenz einer kollektiven Identität voraus, die eine Gruppe mit als ähnlich oder gleich (= identisch) erkannten Merkmalen sich selbst zuschreibt oder die ihr von anderen zugeschrieben wird. Wie Anthony Kwame Appiah schreibt, geht Identität also »stets mit Kategorisierungen einher« (Appiah 2019: 27). Damit erlangen diese Merkmale eine Dominanz in der gesellschaftlich-politischen Wahrnehmung, die ihnen andernfalls gar nicht zukäme. Oder anders ausgedrückt: Erst wenn man der Hautfarbe identitätsstiftende Bedeutung zuschreibt, entsteht Rassismus; erst wenn man gesellschaftliche Klassen voneinander abgrenzt, entsteht Klassismus; erst wenn Geschlechtsunterschiede als bedeutsam ausgewiesen und Menschen in ein binäres geschlechtliches Schema eingeordnet werden, entsteht Sexismus. Vermitteln Identitäten also auf der einen Seite eine Vorstellung davon, wie jemand in die soziale Welt hineinpasst (vgl. ebd.: 28), so entstehen andererseits immer wieder »Meinungsverschiedenheiten über die Frage, welche normative Bedeutung eine Identität besitzt« (ebd.: 30). Dabei kommt es besonders dann zu bedeutsamen Konflikten, »wenn Menschen die Bedingungen in Frage stellen, die zu einer ungleichen Machtverteilung führen« (ebd.: 31). Im Fall der Intersektionalität wird das Problem noch komplizierter – sowohl was die Zuschreibungen von außen betrifft, als auch im Hinblick auf die Konstruktion der eigenen, individuellen oder kollektiven Identität.

Das Combahee River Collective wandte sich bewusst gegen Formen des Separatismus, etwa die ausschließliche Fokussierung auf eine Politik für lesbische Frauen, um die intersektionale Verschränkung verschiedener Formen der Unterdrückung deutlich zu machen: »[W]e reject the stance of Lesbian separatism because it is not a viable political analysis or strategy for us. It leaves out far too much and far too many people, particularly Black men, women, and children« (Combahee River Collective 1977). Um Identitätspolitik zu betreiben, bedarf es einer kollektiven Identität. Wer aber wird inkludiert in die identitätspolitisch zu vertretende Gruppe, wer exkludiert? Und wer verfügt über die Macht, darüber zu entscheiden? Welche identitätspolitische Zuschreibung wird als wichtigste deklariert? Hat eine schwarze Frau sich mit weißen Feministinnen zu solidarisieren oder verrät sie damit die Gruppe der Schwarzen? Wie ist damit umzugehen, wenn eine klassistisch diskriminierte weiße Person sich rassistisch gegenüber Person of Color (PoC) äußert? Ist es angesichts des Erstarkens der Rechten in zahlreichen europäischen Ländern an der Zeit, zum »Hauptwiderspruch« zurückzukehren und den Blick zuallererst auf die Klassendiskriminierung zu richten, weil die linke Identitätspolitik versagt hat?1 Welche Mittel sind außerdem legitim, einen identitätspolitischen Kampf gegen Unterdrückung zu führen? Und wie sieht ein Kampf gegen intersektionale Diskriminierung aus: Ist es legitim, die eine Gruppe zu missachten, um einer anderen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen? Das Combahee River Collective adressierte in seinem Manifest dieses Problem wie folgt:

In the practice of our politics we do not believe that the end always justifies the means. Many reactionary and destructive acts have been done in the name of achieving ›correct‹ political goals. As feminists we do not want to mess over people in the name of politics. We believe in collective process and a nonhierarchical distribution of power within our own group and in our vision of a revolutionary society. (Combahee River Collective 1977)

Doch jede Proklamation kollektiver Identität erzeugt automatisch Differenz gegenüber anderen Gruppen, auch wenn das nicht intendiert ist – ›schwarz‹ existiert nicht ohne die Differenz gegenüber dem Attribut ›weiß‹. Ist zudem der Glaube an kollektive, friedliche Solidarität, wie ihn das Combahee River Collective formuliert, noch gerechtfertigt, wenn sich an den Verhältnissen wenig ändert? In ihrer vielbeachteten Studie White Fragility (2018) stellt Robin Diangelo gleich eingangs fest, dass sich an den Identitäten der Mächtigen trotz des jahrzehntelangen Kampfes der verschiedenen Bürger- und Bürgerinnenrechtsbewegungen wenig geändert habe, sie seien nach wie vor »white, male, middle- and upper-class, able-bodied.« (Diangelo 2018: IX) Dies zu adressieren, so Diangelo, werde vielfach als bloße Political Correctness diskreditiert; doch es nicht zu adressieren, helfe nur denjenigen, die ohnehin über die meisten Privilegien verfügen. Diese Privilegien beinhalten, über den Zugang zu politischer Macht zu entscheiden und sich dabei ›friedlicher‹ und ›legaler‹ Mittel zu bedienen. Aber wie kann man mit friedlichen politischen Mitteln wie dem der Wahl das politische System verändern, wenn man über kein Wahlrecht verfügt, wie es in historischer Perspektive für Frauen und PoC vielerorts lange der Fall war? Längst ist der Begriff der Identitätspolitik von denjenigen gekapert worden, denen es um die Fortschreibung der eigenen Macht geht – die neo-rechte Identitäre Bewegung proklamiert den Begriff Identität schon in der Eigenbezeichnung für sich –, was Thomas Meyer in seiner Studie über fundamentalistische Identitätspolitik als eine »Art des Missbrauchs kultureller Differenz für Zwecke der Machtlegitimation« entlarvt (Meyer 2002: 9).

Identitätspolitik und Literatur

Die identitätspolitische Situation ist also verworren und das Label ›Identitätspolitik‹ selbst erhält von beiden Seiten des politischen Spektrums sehr unterschiedliche Bedeutungen. Die Angriffe gegen das Feindbild ›Identitätspolitik‹ nehmen insbesondere von Seiten konservativer und rechter Akteur*innen stetig an Schärfe zu. Aber auch diejenigen, die an einem kritischen Begriffsgebrauch interessiert sind und die eigenen Privilegien reflektieren wollen, geraten in theoretische Zwickmühlen.2 Was ist dem entgegenzusetzen?

Seit jeher spielte und spielt die Literatur eine zentrale Rolle in identitätspolitischen Diskursen: Wo das Erzählen als wesentlicher Parameter für den Prozess betrachtet wird, individuelle und kollektive Identität zu konstruieren, zu dekonstruieren oder zu rekonstruieren, spiegelt erzählende Literatur nicht nur gesellschaftliche Wirklichkeit in ihren narrativen Prozessen wider, sondern bringt diese Realität genuin mit hervor. Denn begreift man ›Identität‹ nicht als fest umgrenzte und stabile Entität, sondern als diskursiven und auch politischen Prozess, so hat der Akt des Erzählens an diesem Prozess wesentlichen Anteil, denn erst die Narration, so der Soziologe Jürgen Straub, stiftet Sinn im als kontingent erlebten Ablauf von Ereignissen: »Erzählungen verleihen einem bloßen Geschehen den Charakter eines sinnhaften Vorgangs, sie machen aus bloßen Ereignissen und subjektiven Erlebnissen bedeutungsvolle, mitteilbare und reflektierbare Erfahrungen in einer narrativ entfalteten Zeit.« (Straub 2013: 87)

Somit, so die These, entsteht auch erst durch den Erzählakt das vermeintlich von Kontingenz befreite Konstrukt, das wir ›Identität‹ nennen, wie Norbert Meuter proklamiert: »Die Identität einer Person muß als ein narrativer Zusammenhang verstanden werden. Die Einheit eines menschlichen Lebens entspricht in ihren Strukturen bzw. Organisationsprinzipien einer erzählten oder erzählbaren Geschichte.« (Meuter 1995: 247) Als narrative Selbstvergewisserungen sind Erzählungen immer schon als aktive Medien der Identitätspolitik zu verstehen, so die Soziolog*in Sabine Hark:

Wenn aber Identität gerade nicht eine Sache des Wesens ist und ohnehin nie nur eine Sache, sondern stets offen und im Werden befindlich, letztlich eine Sache des Erzählens, gibt es immer Identitätspolitik, das heißt eine Politik der Position und der Positionalität. Identitäten, mit anderen Worten, sind das Ergebnis von Erzählungen, mit denen Individuen und Kollektive sich politisch, historisch und kulturell verorten – und, vielleicht mehr noch, verortet werden. (Hark 2019; Hervorh. i.O.)

Auch die erzählende Literatur ist somit genuiner Bestandteil von Identitätspolitiken, seien es die von links oder von rechts. Die Aufsätze des vorliegenden Heftes der ZiG verstehen sich indes ausschließlich als Beiträge zu einer identitätspolitischen Erzählliteratur der Gegenwart, die sich für Offenheit, Diversität und Inklusion einsetzt.3 Die aktuelle deutschsprachige Literaturlandschaft ist von einer Vielzahl spannender Erzähltexte geprägt, in der – ganz entgegen Identitätsbestrebungen – soziale, ethnische, religiöse, geschlechtliche, familiäre etc. Kategorisierungen und Vereindeutigungen infrage gestellt werden. Die Literatur wird nicht zuletzt dadurch zu einem wichtigen Ort identitätspolitischer Debatten, dass sich der Markt darauf einlässt. Erzähltexte der Gegenwart verhandeln identitätspolitische Anliegen in verschiedener Hinsicht, indem sie Prozesse individueller und kollektiver Identitätskonstruktion nachzeichnen, Marginalisierungs- und Homogenisierungsprozesse offenlegen, In- und Exklusionserfahrungen nachvollziehen und identitätspolitische Räume der Selbstermächtigung eröffnen. Wie genau diese Texte zu den narrativ inszenierten identitätspolitischen Debatten der Gegenwart beitragen, wie sie aussehen und wie sie zu verstehen sind, ist Thema der vorliegenden Ausgabe der ZiG.

Die Beiträge dieses Heftes

Alessandra Goggio analysiert die Romane Außer sich (2017) von Sasha Marianna Salzmann und 1000 Serpentinen Angst (2020) von Olivia Wenzel entlang des romantischen Motivs des Doppelgängers, das die Autor*innen benutzen, um heteronormative binäre Geschlechtermodelle kritisch vorzuführen. Indem beide Romane Zwillinge als Protagonist*innen einsetzen, werden Non-Binaritäten literarisch sichtbar gemacht, doch nicht nur auf der Ebene des Plots, sondern auch auf der Ebene der Erzählkonstruktion. Narrative Form und queere Identitätsfragen greifen auf diese Weise eng ineinander und betreiben somit literarische Identitätspolitik auch auf ästhetischer Ebene.

In seinem Beitrag fokussiert Christoph Schaub aktuelle literarische Texte, die sich aus verschiedenen Perspektiven mit Klassenkampf und Klassismus auseinandersetzen. Am Beispiel von Deniz Ohdes Roman Streulicht (2021) und der Anthologie Klasse und Kampf (2021) zeigt Schaub, wie das Thema Klasse aktuell im Kontext von Intersektionalität und der Kritik am Neoliberalismus verhandelt wird und welche ästhetischen Techniken des auto-(sozio)biographischen und autofiktionalen Erzählens Autor*innen nutzen, um Narrative individueller Herkunft mit denen der kollektiven Erfahrungen der arbeitenden Klasse zu verbinden.

Wie verschieden Identitätserzählungen im Kontext von Intersektionalität ausgestaltet werden können, zeigt Anna Karina Sennefelder in ihrer vergleichenden narratologischen Analyse der Romane Brüder von Jackie Thomae (2019) und Girl, Woman, Other von Bernadine Evaristo (2019). Während Thomae das Thema Identitätssuche sowie die Verschränkung von Rassismus und Klassismus subtil und gleichsam en passant im Rahmen einer komplexen Romanhandlung und in einem ruhigen, ästhetisierten Erzählton verhandelt, geht Evaristo sehr viel direkter vor und erzählt die Erfahrungen intersektionaler Diskriminierung entlang eines weiten Spektrums von Figuren, die verschiedene Dimensionen der individuellen wie kollektiven Identitätsbildung repräsentieren.

Philipp Schlüter untersucht in seinem Aufsatz, wie Sibylle Berg in ihrem dystopischen Roman GRM. Brainfuck (2019) Narrative von Hass und Wut nutzt, um Erfahrungen von Rassismus, Sexismus und Klassismus ambivalent und kontrovers zu verhandeln. Jenseits aller Mitleidsethik schreckt Berg nicht davor zurück, Vorurteile und Hatespeech in ihrem Text zu reproduzieren, um anschaulich zu machen, womit sich diskriminierte Menschen täglich konfrontiert sehen. Bergs identitätspolitische Provokation besteht nicht zuletzt darin, durch ihren Roman das Publikum offensiv mit den Ausgrenzungsmechanismen jener Mehrheitsgesellschaft zu konfrontieren, der es selbst angehört.

Mit Merle Krögers Roman Havarie (2015) analysiert Lisa Wille einen Text, der die sogenannte Flüchtlingskrise anhand der Begegnung diverser Schiffe und deren Passagier*innen auf See illustriert. In ihrer Analyse zeigt Wille, wie der Text verschiedene Einzelschicksale mit der identitätspolitischen Frage nach einer kollektiven europäischen Identität kontrastiert. Krögers Roman legt anhand eines Krisennarrativs offen, wie EU-Inklusionsrhetorik und tatsächliche Abschottungspolitik aufeinanderprallen, und stellt auf diese Weise das vermeintliche europäische Wertekollektiv grundsätzlich infrage.

Katerina Brausmann diskutiert mit Daniela Dröschers Lügen über meine Mutter (2022) einen Roman, der Identitätspolitik auf privater Ebene im Rahmen einer Familienkonstellation verhandelt. Die Figur der Mutter wird zur Zielscheibe von Identitätszuschreibungen von außen, die sich vornehmlich auf den für zu dick erklärten weiblichen Körper, doch auch auf die mit der Rolle der ›Mutter‹ konnotierten Care-Aufgaben sowie den Umgang mit den ökonomischen Ressourcen der Familie beziehen. Brausmanns Lesart zeigt, wie im Roman Körper und Geld zu den zentralen Paradigmen identitätspolitischer Kämpfe im intimen Raum der Familie avancieren.

In ihrer vergleichenden Analyse von Lena Goreliks Wer wir sind (2021) und Sasha Marianna Salzmanns Im Menschen muss alles herrlich sein (2021) verhandelt Silke Horstkotte, wie beide Romane jüdische Identität im gegenwärtigen Deutschland inszenieren. Klischees deutscher ›Vergangenheitsbewältigung‹ und aktuelle Stereotypisierungen werden im öffentlichen Diskurs verbunden und kulminieren in einem »Gedächtnistheater« (Bodemann 1996; vgl. Czollek 2018), dem sich die literarischen Texte verweigern. In beiden Romanen wird die Herkunft aus der Sowjetunion zu einem mindestens ebenso wichtigen Faktor für die Inklusionsbemühungen der Figuren wie ihre jüdische Identität, was wiederum die intersektionale Dimension gegenwärtiger bundesdeutscher Identitätspolitik sichtbar macht.

Nazli Hodaie untersucht Mithu Sanyals Identitti (2021) als einen Roman, der sich hegemonialen Identitätsentwürfen entzieht und alle klassischen ethnischen Zuordnungen und Normativitätsansprüche unterläuft. In diesem Sinne beschreibt Hodaie den Roman als einen ›postmigrantischen‹, passt er doch in keine der mit ›Migrationsliteratur‹ bezeichneten literarischen Schubladen. Nicht nur verweigert sich der Text diesen Zuschreibungen, er stellt zugleich metanarrativ den subversiven Prozess aus, in dem solche literarischen Zuschreibungen und die mit ihnen verbundenen ethnischen Kodierungen dekonstruiert und im Zuge dessen obsolet werden.

Die Aufsätze des vorliegenden Hefts gehen auf zwei thematisch ähnliche Panels auf dem Deutschen Germanistentag 2022 zurück, in denen Wissenschaftler*innen in ihren Vorträgen Fragen zu den Themen Identitätspolitik, Transkulturalität und Intersektionalität in Texten der Gegenwartsliteratur zu beantworten suchten. Für die Publikation in der Zeitschrift für interkulturelle Germanistik wurden die Beiträge aktualisiert und durch weitere Aufsätze zum Thema ergänzt. Dafür sei an dieser Stelle allen Beitragenden herzlich gedankt.

Anmerkungen

1 Mit dieser Behauptung setzen sich kritisch schon 2017 Dowling, Dyk und Graefe in ihrem Beitrag Rückkehr des Hauptwiderspruchs? auseinander (Dowling/Dyk/Graefe 2017).

2 Siehe hierzu u.a. Diangelos Untersuchungen zum privilegierten Weißsein (Diangelo 2018) oder Michael Rothbergs Studie zur moralischen Verantwortlichkeit des Implicated Subjects (Rothberg 2019).

3 Das Funktionieren der Narrative, die auf eine identitäre Politik, auf Differenz und Exklusion abzielen, wäre sicherlich ein interessanter Gegenstand der Betrachtung, ist aber hier nicht unser Thema.

Literatur

Appiah, Anthony Kwame (2019): Identitäten. Die Fiktionen der Zugehörigkeit. Aus dem Engl. v. Michael Bischoff. München.

Bodemann, Y. Michael (1996): Gedächtnistheater: Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung. Hamburg.

Combahee River Collective (Hg.; 1977): The Combahee River Collective Statement; online unter: https://americanstudies.yale.edu/sites/default/files/files/Keyword Coalition_Readings.pdf [Stand: 1.8.2024].

Czollek, Max (2018): Desintegriert euch! München.

Dowling, Emma/Dyk, Silke van/Graefe, Stefanie (2017): Rückkehr des Hauptwiderspruchs? Anmerkungen zur aktuellen Debatte um den Erfolg der Neuen Rechten und das Versagen der »Identitätspolitik«. In: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 47, H. 188, S. 411-420.

Diangelo, Robin (2018): White Fragility. Why It’s So Hard for White People to Talk About Racism. London.

Hark, Sabine (2019): Wer spricht hier über wen? In: Zeit online, 31. Juli 2019; online unter: https://www.zeit.de/kultur/2019-07/identitaet-identitaetspolitik-diskriminierung-aktivismus-philosophie [Stand: 1.8.2024].

Hasters, Alice u.a. (2024): Identitätspolitik der Linken: Ist die Linke zu woke? Interview. In: Die Zeit v. 11. Januar 2024; online unter: https://www.zeit.de/2024/03/identitaetspolitik-linke-woke-gerechtigkeit-emotionen [Stand: 1.8. 2024].

Meuter, Norbert (1995): Narrative Identität. Das Problem der personalen Identität im Anschluß an Ernst Tugendhat, Niklas Luhmann und Paul Ricoeur. Stuttgart.

Meyer, Thomas (2002): Identitätspolitik. Vom Missbrauch kultureller Unterschiede. Frankfurt a.M.

Neiman, Susan (2023): Links ist nicht woke. Aus dem Engl. v. Christiana Goldmann. Berlin.

Rothberg, Michael (2019): The Implicated Subject. Beyond Victims and Perpetrators. Stanford.

Straub, Jürgen (2013): Kann ich mich selbst erzählen – und dabei erkennen? Prinzipien und Perspektiven einer Psychologie des Homo narrator. In: Alexandra Strohmaier (Hg.): Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften. Bielefeld, S. 75-144.

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