Editorial
Immer schon hat Kultur etwas damit zu tun, dass wir Dingen – und mitunter auch sehr feinen Unterschieden – Bedeutsamkeit beimessen. Die Geschichte vom Schibboleth aus dem Buch der Richter legt davon Zeugnis ab: Ein nur scheinbar nicht bedeutsamer Akzent – die Ephraimiter sprechen den Laut zu Beginn des Worts Schibboleth als S aus – wird hier zum Merkmal für eine Zugehörigkeit erklärt, die den Tod mit sich bringt: 42.000 Ephraimiter, so heißt es, hätten den Tod gefunden, weil sie mittels des Schibboleths identifiziert werden konnten (Richter 12,6). Dieser Umgang mit dem Schibboleth ist ein Extremfall von Identitätspolitik. Denn was für uns in unterschiedlichen Situationen jeweils bedeutsam wird, ist einerseits kontingent, kann aber andererseits mehr oder weniger folgenschweren Machtspielen unterliegen. Wer festlegt, was es bedeutet, wenn jemand Bedeutsamkeit erkennen und reproduzieren kann oder nicht (wenn jemand das Schibboleth wahrnehmen und aussprechen kann oder nicht), übt damit Macht aus und betreibt Identitätspolitik – inklusiv oder exklusiv, je nachdem, denn an einem Schibboleth kann man Personen eigener wie anderer Zugehörigkeit zu erkennen glauben.
Es ist kein Zufall, dass das biblische Lehrstück über Identitätspolitik die Form einer Geschichte annimmt. Die Einsicht, dass über Identitäten besonders gut geredet werden kann, wenn erzählt wird, liegt dem Themenschwerpunkt dieses Hefts zugrunde: Silke Horstkotte, Julia Schöll und Lisa Wille haben Beiträge zur Identitätspolitik in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zusammengestellt, die zum größten Teil auf dem Paderborner Germanistentag von 2022 vorgetragen wurden. Der Gegenwartsbezug wird dabei sehr ernst genommen – die von den neun Artikeln des Schwerpunkts behandelten Texte sind durchweg zwischen 2015 und 2022 erschienen, können also fast gar nicht anders als zu den aktuellen Identitätsdebatten beitragen. In systematischer Hinsicht machen die Beiträge Anleihen an Theorien des Postkolonialen, der Intersektionalität, der postmigrantischen Literatur.
Das verbindet sie mit den außerhalb des Schwerpunkts versammelten freien Beiträgen, die neben klassischen Gegenständen der interkulturellen Literaturwissenschaft (Kafka und Tawada) Zeugnisse der deutsch-jüdischen Emigration nach Brasilien, ein Beispiel für jüngere Climate Fiction, das sprachreflexive Potential von Übersetzung und Formen von Identitätspolitik im Nibelungen-Musical Drachenherz behandeln. Auch der Beitrag im Forum schließlich dreht sich um Identität, genauer: um eine identitätsprägende Figur. Er referiert die Ergebnisse eines Straßburger ›Forschungsateliers‹ zum Wandel der Figur Karls des Großen vom Mittelalter bis zur Gegenwart.
Abgerundet wird das Heft, wie immer, durch die Rubrik GIG im Gespräch sowie durch drei Rezensionen, von denen mindestens eine ebenfalls Fragen der Identitätspolitik behandelt; die beiden anderen besprechen eine neue Literaturgeschichte des Exotismus und einen Sammelband über Transnationale Literaturen und Literaturtransfer.
Ein Wort zum Format: Zum ersten Mal erscheint die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik als Jahrbuch. Daraus erklärt sich die Tatsache, dass das Heft sowohl Beiträge zum Themenschwerpunkt als auch freie Beiträge umfasst. Es ist geplant, bei diesem Format zu bleiben. Die Rubrik Aus Literatur und Theorie werden wir in Zukunft nicht mehr eigens bespielen, sondern Beiträge, die hier erscheinen könnten, im Forum publizieren. Die übrigen bewährten Rubriken der Zeitschrift bleiben bestehen.
Die Arbeit der ZiG-Redaktion wird seit dieser Nummer unterstützt von Ruth Reicher. Neu ist schließlich die Zusammensetzung des wissenschaftlichen Beirats. Wir blicken zuversichtlich auf eine produktive Zusammenarbeit mit seinen neuen Mitgliedern. Gleichzeitig möchten wir denjenigen, die aus dem Beirat ausgeschieden sind, unseren Dank aussprechen. Ihr Engagement und ihre wertvollen Beiträge haben wesentlich zum Erfolg der Zeitschrift beigetragen.
Amelie Bendheim, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer und Heinz Sieburg
Bayreuth und Esch-sur-Alzette im Dezember 2024