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Zeitschrift für interkulturelle Germanistik – 15. Jahrgang, 2024: Interkulturalität und Climate Fiction. Ein Plädoyer für Klimawandel-Literatur als Gegenstand der interkulturellen Germanistik am Beispiel von Roman Ehrlichs Malé (Dominik Zink)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik – 15. Jahrgang, 2024

Interkulturalität und Climate Fiction. Ein Plädoyer für Klimawandel-Literatur als Gegenstand der interkulturellen Germanistik am Beispiel von Roman Ehrlichs Malé (Dominik Zink)

Interkulturalität und Climate Fiction

Ein Plädoyer für Klimawandel-Literatur als Gegenstand der interkulturellen Germanistik am Beispiel von Roman Ehrlichs Malé

Dominik Zink

Abstract

The article puts forth the proposition that climate fiction should be regarded as a subject of interest within the field of intercultural German literary studies. Following an overview of the tendencies and developments in contemporary literature concerning the topic of nature and climate, a brief introduction is provided into the field of postcolonial ecocriticism. This field has been the subject of closely related questions for over three decades. The article then turns to Roman Ehrlich’s novel Malé (2020) as an illustrative example of how methods and questions of intercultural German Studies can be fruitfully applied to a work of climate fiction. The text was selected for its demonstration of the necessity to perceive the climate crisis as an intercultural phenomenon. The concept of ›Fremdheit‹, as developed in Early German Romanticism, is identified as a prerequisite for both capitalist and environmental exploitation. In accordance with Norbert Mecklenburg’s terminology, the text is regarded as having intercultural potential as a critical potential. On a broader scale, this illustrates the value of climate fiction as a subject of intercultural German studies.

Title

Intercultural German Studies and Climate Fiction. An argument in favour of climate change literature as a subject of intercultural German studies using the example of Roman Ehrlich’s Malé

Keywords

climate-fiction; environmental humanities; interculturality and climate; climate change as an intercultural phenomenon; ecocriticism

1. Natur und Literatur

Die Natur war auf verschiedene Arten schon immer Gegenstand von Literatur. Durch sie kann die Gegenwart oder die Abwesenheit von transzendenten Mächten reflektiert werden. Stimmungen, Ahndungen oder Erinnerungen können über sie vermittelt werden. Sie kann Gegenstandsbereich für prototypische ästhetische Begriffe wie das Erhabene oder das Schöne sein. Genauso wie sie als Gegenvorstellung zu Zivilisation ins Feld geführt worden ist, wurde sie – ganz im Gegensatz dazu – auch als End- und Zielpunkt kulturell-zivilisatorischer Anstrengungen aufgefasst, wenn man ›durch‹ die Kultur ›zurück‹ zur Natur finden sollte. Außerdem ist Natur häufig eine profane Hintergrundfolie in literarischen Texten, die erzähllogische Bedingungen, Hindernisse oder Lösungen liefert, etwa wenn ein Unwetter zu einem Schiffbruch, eine Seuche zur Abschottung von der Welt oder das Hereinbrechen der Nacht zur Einkehr führt.

So vielgestaltig die Funktionen sind, die Natur in Literatur potentiell übernehmen kann, so eindeutig ist, dass sich mit dem Klimawandel alles ändert. Aufgrund der klimatischen Veränderungen, die eine Klimakatastrophe befürchten lassen, wird Natur auf neue Art zum zentralen Thema in gesellschaftlichen Debatten und damit auch auf historisch neue Weise zum zentralen Thema in Texten. Dies geht einher mit einer Ausdifferenzierung verschiedener Genres, die sich nicht selten als ›Weiterentwicklung unter ökokritischen Vorzeichen‹ beschreiben lassen. Dazu gehört etwa das auf dem Literaturmarkt höchst erfolgreiche Genre des Ökothrillers, das die Techniken des klassischen Thrillers zur Erzeugung des thrills nutzt, dabei aber die vom Genre geforderte unheimliche und bedrohliche Macht an Klimadiskurse knüpft: So kann z.B. eine Verschwörung von Politik und Konzernen, die aus Profitgier die Umwelt zerstören wollen, durch eine Protagonistin aufgedeckt werden; es kann aber auch die sich rächende Natur selbst als Akteurin auftreten.1 Gattungstheoretisch ist nicht nur interessant, dass solche Weiterentwicklungen in vielen Subgenres zu beobachten sind, sondern auch, dass sich die Rede von einem neuen Großgenre etabliert, das sich über den thematischen Bezug auf den Klimawandel konstituiert. Als Überbegriff für diese sich mit Klima und Klimawandel befassende Literatur scheint sich der Begriff der Climate Fiction oder kurz Cli Fi durchzusetzen. Es hat sich bereits in mehreren Philologien eine Diskussion darüber entsponnen, wie dieser Begriff definitorisch zu fassen ist – welche Inhalte und welchen Umfang er bezeichnet.2 Es erscheint sinnvoll, von einer weiten und einer engen Definition auszugehen. Die weite Definition bezeichnet mit Climate Fiction in etwa: All fiction concerned with climate and climate-change. Die enge dagegen geht von der Abkürzung Cli Fi aus und begreift das Genre als ein Subgenre der Science-Fiction, das sich mit Klima und Klimawandel beschäftigt. Mit der engen Definition würde also eine zum Ökothriller analoge Entwicklung in der Science-Fiction bezeichnet werden. Im Kontext dieses Aufsatzes wird stets von der weiten Definition ausgegangen.

Climate Fiction stellt letztlich die Frage nach der Stellung des Menschen im Kosmos neu, um eine von Max Scheler (2018; orig.: 1927) geprägte Definition der Anthropologie aufzugreifen. Dabei geht es nicht nur um eine neue Verhältnisbestimmung zweier bekannter Größen, sondern um nichts Geringeres als einen neuen Begriff vom Kosmos selbst. Die Frage lautet, was die uns umgebende Umwelt eigentlich ist, insofern sie uns ethisch, ontologisch und epistemisch etwas angeht. Innerhalb dieser drei Dimensionen, Ethik, Ontologie, Epistemologie, vollzieht sich dabei eine Verschiebung. Seit dem 18. Jahrhundert waren ontologische Fragen in Bezug auf die Natur dominant und der epistemologische Zugang hat sich immer weiter auf naturwissenschaftliche Methoden verengt: Ziel war es, Wissen über die Natur zu generieren. Zu diesem Zwecke hat man sie physikalisch, biologisch und chemisch untersucht. Angesichts des Klimawandels rücken heute zunehmend ethische Fragestellungen in Bezug auf die Natur in den Vordergrund: Welche Pflichten hat der Mensch der Natur gegenüber? Welche Rechte haben natürliche Einheiten? Wie sieht Gerechtigkeit im globalen Kontext oder gegenüber zukünftigen Generationen aus? Welche Verantwortung trägt die Politik und wie setzt sie diese um? Die Methoden der Wissensproduktion wurden dahingehend in philosophischer, medientheoretischer, sozialwissenschaftlicher, politikwissenschaftlicher, aber auch künstlerischer und literarischer Hinsicht neu reflektiert und entworfen. Klar wird: Natur ist nicht mehr nur der Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften, sondern stellt sich mit immer größerer Dringlichkeit ebenfalls als solcher der Kulturwissenschaften dar. Die Kulturwissenschaften, welche die Natur sowie die mediale, gesellschaftliche und künstlerische Reflexion über Natur zu ihrem integralen Gegenstandsbereich erhoben haben, sind die Environmental Humanities. Ein Forschungsfeld, das explizit mit einem gesellschafts- und medienkritischen Anspruch ökologische Fragen in den Blick nimmt, firmiert unter dem Label Ecocriticism.3

2. Interkulturalität und Climate Fiction

Wenn man – wie in diesem Aufsatz – nach dem Verhältnis von Climate Fiction zur Interkulturalitätsforschung fragt, dann geht damit die Frage einher, inwiefern sich diese Literatur als möglicher Gegenstand für ein Forschungsfeld mit spezifischen Forschungsinteressen und den sich daraus ergebenden methodischen Zugriffsmöglichkeiten anbietet. Dies bedeutet zu fragen, ob es lohnenswert und sinnvoll sein könnte, interkulturelle Fragestellungen mit denen der Environmental Humanities zu verschränken. Um sich dieser Frage anzunähern, liegt es nahe, mit der Interkulturalitätsforschung eng verwandte Forschungsfelder zu betrachten.

Eines dieser Felder sind die Postcolonial Studies,4 in denen sich ein breites Interesse für ökologische Fragen entwickelt hat. Als Vorläufer des postkolonialen Ecocriticism oder der postkolonialen Environmental Humanities sind vereinzelte Beiträge schon Ende der 1980er Jahre zu finden, wie z.B. der Appell von Ramachandra Guha (vgl. 1989) an westliche Umweltaktivist*innen, imperialistische Logiken mitzudenken. Einen ersten Überblick über die Entwicklung ab den 1990er Jahren bieten Cara Ciliano und Elizabeth DeLoughrey (vgl. 2007). Letztere hat in den folgenden Jahren immer wieder Sammelpublikationen zum Thema veröffentlicht, deren Einleitungen eine konzise Darstellung des Forschungsstands zur Zeit der jeweiligen Veröffentlichung bieten (vgl. DeLoughrey/Handley 2011: 3-39; DeLoughrey/Didur/Carrigan 2015: 1-32). Bereits Deane Curtin (2005) hatte die philosophisch gewendete Frage nach Environmental Ethics for a Postcolonial World gestellt. Ab den 2000er Jahren sind einige Sonderhefte von Zeitschriften erschienen, die sich mit dem hier untersuchten Zusammenhang beschäftigen, so z.B. die Ausgabe zu Postcolonial Studies and Ecocriticism (Vital/Erney 2006) des Journal of Commonwealth and Postcolonial Studies. Ein anderes Beispiel ist bereits die erste Ausgabe des Journal of Postcolonial Studies, die der Ökologie gewidmet ist, wie bereits der Titel der Einleitung der Herausgebenden Green Postcolonialism (Huggan/Tiffin 2007) verrät. Vom denselben wurde auch der monographische Überblick Postcolonial Ecocriticism (zuerst 2010) veröffentlicht, der 2015 neu und verbessert aufgelegt wurde und als ein Standardwerk gilt.

In der Folge sind auch mehrere Monographien erschienen, die sich mit unterschiedlichem Zuschnitt mit dem Thema auseinandergesetzt haben. So interessiert sich Roman Bartosch (vgl. 2016) z.B. dezidiert für das Konzept der Animalität, das beide Felder verbindet. Zusehends rückt auch der Klimawandel als Flucht- oder Migrationsgrund in den Fokus (vgl. Baldwin 2017; Rauscher 2023). Darüber hinaus differenziert sich das Feld hinsichtlich geographischer Schwerpunktsetzungen aus, z.B. mit Bezug auf Südasien (vgl. Poray-Wybranowska 2020).

Als ein zentraler Roman, der immer wieder Gegenstand der ökokritisch-postkolonialen Literaturwissenschaft ist, muss The Hungry Tide von Amitav Ghosh (2004) genannt werden (vgl. z.B. Bartosch 2016; Jones 2018; Böhm-Schnitker 2024). Besonders ist in den Fokus der Forschung gerückt, dass ein umfassender Begriff von ›ökonomischer Ausbeutung‹ die Zusammenhänge mit der Natur und den natürlichen Ressourcen nicht ignorieren kann (vgl. Giuliani 2020). Auch sehr zentrale und prominente Figuren der postkolonialen Studien, wie Dipesh Chakrabarty (vgl. 2021), sehen die Klimafrage als absolut zentral für das eigene Arbeitsfeld.

Jüngst scheint es einen Trend zu geben, der Zeitlichkeit und Ungleichzeitigkeiten (»multiscalar temporalities«) in Klimadebatten als Problem der Wahrnehmung, aber auch als politische Herausforderung zu begreifen versucht (vgl. Böhm-Schnitker 2024). Die betrifft nicht zuletzt die Frage, wie Zukunft vor dem Hintergrund der doppelten Herausforderung einer postkolonialen Klimakatastrophe zu denken sei (vgl. Death 2022). Ebenso werden konkretere Fragen, wie z.B. die nach Infrastruktur, Gegenstand von Literatur und Forschung (vgl. Hummel Sandoval 2022).

Obwohl es, wie deutlich zu sehen ist, viele Überschneidungen gibt, kann keinesfalls davon gesprochen werden, dass die ökokritischen und die postkolonialen Studien fusioniert wären. So taucht z.B. in Benjamin Bühlers deutschsprachiger Einführung Ecocriticism (2017) das Stichwort Postkolonialismus nicht auf. In der Einführung von Gabriele Dürbeck und Urte Stobbe (2015) dagegen findet sich der Beitrag Postkolonialer Ecocriticism (Mackenthun 2015) – allerdings als einer unter 21, was zeigt, dass postkoloniale Fragestellungen das Feld nicht dominieren. Der Konnex von Ökologie und Postkolonialismus ist jedoch nicht auf literatur- oder medienwissenschaftliche Arbeitsfelder beschränkt, so enthält z.B. auch das Handbuch Politische Ökologie (Gottschlich u.a. 2022) einen Artikel Post- und Dekoloniale Politische Ökologie (Schmitt/Müller 2022). In zentralen Handbüchern zum Ecocriticism (vgl. Zapf 2016) sowie zu den postkolonialen Studien (vgl. Göttsche/Dunker/Dürbeck 2017) finden sich ausführliche Artikel zum jeweils anderen Begriff (vgl. Banerjee 2016; Wilke 2017). Es kann daher gefolgert werden, dass die ökokritische Literatur und Kulturwissenschaft postkoloniale Fragestellungen mitdenkt und umgekehrt die postkolonialen Studien sehr sensibel dafür sind, dass koloniale Ausbeutung sich immer auch auf natürliche Ressourcen bezieht und antikoloniale Emanzipation dementsprechend die Klimakatastrophe einerseits als Konsequenz des kolonialen Kapitalismus, andererseits aber auch als akutes Problem sui generis begreifen muss.

In der interkulturellen Germanistik gibt es dagegen bisher noch wenige Berührungspunkte mit Umweltthemen und entsprechend kaum nennenswerte methodische oder theoretische Auseinandersetzungen mit dem Ecocriticism oder den Environmental Humanities. Eine Ausnahme bildet der in der Zeitschrift für interkulturelle Germanistik veröffentlichte Beitrag Postkolonialismus und Umwelt von Franziska Schößler (2021). Dabei ist zu bemerken, dass der Artikel – obwohl der Ort der Veröffentlichung ihn zu einem Beitrag der interkulturellen Germanistik macht – gemäß Abstract inhaltlich das »interface between postcolonial and ecocritical approaches« (ebd.: 61) anhand von Lion Feuchtwangers neusachlichem Drama Die Petroleuminseln untersucht, sodass es eher um Postkolonialismus als um interkulturelle Literaturwissenschaft geht. In Michaela Holdenrieds Einführung in die Interkulturelle Literaturwissenschaft (2022), die als umfassende Bestandsaufnahme des Forschungsfeldes gilt, spielen weder die Environmental Humanities noch der Ecocriticism eine Rolle. Auch im kurzen Ausblickkapitel zu den Arbeitsfeldern einer zukünftigen interkulturellen Literaturwissenschaft (vgl. ebd.: 269f.) finden Umweltthemen keine Erwähnung.

In diesem Aufsatz soll für eine ökokritische interkulturelle Literaturwissenschaft plädiert werden. Denn unabhängig davon, wie man das Verhältnis von postkolonialen Studien und interkultureller Literaturwissenschaft fassen will, der Überblick über die Postcolonial Evironmental Humanities macht in jedem Fall deutlich, dass Umwelt, Natur, Klima und Klimawandel in Texten eine Rolle spielen, die sich dezidiert auch mit Inklusion und Exklusion, Rassismus, Exil, Flucht und Migration sowie vielen anderen Themen auseinandersetzen, die zum Kerngegenstand der interkulturellen Literaturwissenschaft gehören. Man kann also durchaus sagen, dass in der interkulturellen Literaturwissenschaft eine große Expertise ›bereitsteht‹, diese Texte zu untersuchen. Und tatsächlich zeigt sich auch, dass in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur interkulturelle Themen in der Climate Fiction verhandelt werden. So kann z.B. Helene Bukowskis dystopischer Zukunftsroman Milchzähne (2016) als ein Kommentar auf Fremdenfeindlichkeit im Fluchtkontext gelesen werden oder Theresia Enzensbergers Auf See (2022) als Reflexion über Staatlichkeit und politische Zugehörigkeit vor dem Hintergrund einer dezidiert neoliberal ›verwalteten‹ Klimakatastrophe. Aber auch in der interkulturellen Germanistik schon lange beachtete Autor*innen wie Yoko Tawada mit Scattered All Over the Earth (2018) oder Etüden im Schnee (2011) sowie Ilija Trojanow mit EisTau (2011) können mit einem neuen Blick, der Ökokritik und Interkulturalität verschränkt, erhellend untersucht werden. Weitere Beispiele ließen sich ohne Weiteres finden. Im Folgenden soll jedoch ein einzelnes Werk, das der Climate Fiction zugerechnet werden kann, unter interkulturellen Gesichtspunkten exemplarisch untersucht werden.

3. Roman Ehrlichs Malé

Eine Analyse von Roman Ehrlichs Roman Malé (2020)5 kann zeigen, dass eine Untersuchung von Climate Fiction nicht nur enorm von einer interkulturell informierten Lektüre profitiert, sondern dass der Text selbst die Kontexte der Klimakatastrophe als irreduzibel interkulturelle begreift.6 Der Roman ist eine Parodie auf den modernen Tourismus und mediale Darstellungen von Reisen sowie durch diese Darstellungen vermittelte Glücksversprechen. Das macht ihn zu einem Gegenstand par excellence für die interkulturelle Literaturwissenschaft.7 Der Text beschränkt sich jedoch nicht auf sein parodistisches Potential, sondern fragt nach der Rolle, die diese Reisekonzepte und Darstellungen in einem Diskurs über ›Natur‹ spielen, der letztlich die Klimakatastrophe ermöglicht hat. Dabei verfolgt er zentrale Konzepte bis in die Romantik zurück, um zu zeigen, dass ein spezifisch romantischer Begriff von ›Fremdheit‹ und ›der Fremde‹ sowie eine damit zusammenhängende Anthropologie der Sehnsucht Grundvoraussetzungen für moderne Naturausbeutung sowie spätkapitalistischen Tourismus sind, aber auch, dass diese Konzepte verunmöglichen, eine Antwort auf die Fragen der Klimakrise zu finden.

Der Roman spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft. Es wird von den »großen Serversabotagen der 2030er Jahre« und der danach »immer wieder erfolgreich angestrengten Rückkehr zur alten Ordnung« (270) gesprochen, die schon einige Zeit zurückliegt, wodurch nahegelegt wird, dass die Gegenwart der Erzählung in den 2040er oder 2050er Jahren zu verorten ist. Schauplatz ist die Insel Malé, die Hauptstadt der Malediven, die als Staat allerdings schon untergegangen sind und als Landmasse – im buchstäblichen Sinne – im Begriff sind unterzugehen. Die Straßen der Insel sind wegen des Anstiegs des Meeresspiegels bereits dauerhaft überspült, je nach Witterung variiert der Pegel. Die allermeiste Zeit steht das Wasser auf Knöchelhöhe, sodass man sich für gewöhnlich mit Gummistiefeln und Anglerhosen in den Straßen fortbewegen muss. Die Bevölkerung, die sich noch auf der Insel aufhält, besteht im Wesentlichen aus Aussteiger*innen, die aus Industrienationen stammen und aus je unterschiedlichen Anlässen, aber letztlich geeint in der Suche nach einem authentischen Erleben nach Malé gereist sind. Neben dieser Gruppe gibt es einige Arbeiter*innen, wie den Restaurantbetreiber Wahid Barbari und seinen Sohn Maliko oder einen Fährmann, der davon lebt, die Müllentsorgung zu organisieren. Schließlich gibt es noch eine dritte Gruppe, die von den deutschsprachigen Aussteiger*innen »die Eigentlichen« (49; Hervorh. i.O.) genannt werden. Es handelt sich hierbei um eine Miliz, die die Insel kontrolliert und sich über Drogenproduktion und -handel finanziert. Die Mitglieder bewohnen allerdings nicht dieselbe Insel, sondern halten sich auf den Nachbarinseln Hulhulé und Hulhumalé auf, die ursprünglich mit der Hauptinsel über eine Brücke verbunden waren. Ihr Hauptquartier befindet sich auf einem ausrangierten und vor diesen Inseln vertäuten Kreuzfahrtschiff.

Der Text entwirft ein für die Climate Fiction typisches dystopisches Szenario in der nahen bis mittleren Zukunft. Die Zivilisation ist je nach Weltregion schon zusammengebrochen oder befindet sich im Kollaps, wobei in weiten Teilen der Welt wohl noch Infrastruktur wie industrielle Lebensmittelproduktion und Versorgungslogistik, Internet und Residuen von Unterhaltungsindustrie und bürgerlicher Kultur aufrechterhalten werden können. Dies wird allerdings nur en passant an verschiedenen Stellen im Roman deutlich.

Formal ist er in acht größere Kapitel unterteilt, die wiederum in kleine für sich stehende Fragmente aufgeteilt sind, die je eine Figur oder eine kleine Gruppe von Figuren in einer Situation beschreiben, wobei beinahe zeitdeckend erzählt wird. Es handelt sich um schlaglichtartige Einzelszenen, zu denen wenig Kontext gegeben wird. Sie sind zwar zumeist entlang der chronologischen Ordnung gereiht, allerdings stellt sich am Ende der Lektüre heraus, dass das erste Fragment im Roman wohl in der Zeit der histoire das späteste ist, sodass die chronologische Ordnung im Nachhinein noch einmal verwirrt wird. Meist werden die Schlaglichter von einer heterodiegetischen Erzählinstanz geschildert, teilweise aber auch in der ersten Person, außerdem sind Tagebuchstellen und Briefe eingeflochten. Es gibt keinen eindeutig identifizierbaren Hauptstrang der Erzählung. Mehrere – teilweise lose, teilweise intrikat – miteinander verflochtene Geschichten werden über einen Zeitraum von ca. einem Monat erzählt. Es gibt jedoch zwei Figuren, die erst vor Kurzem auf der Insel angekommen sind, über deren Wahrnehmung vermittelt die Leser*innen in die Gesellschaft von Malé eingeführt werden. Es handelt sich einmal um Elmar Bauch, dessen Tochter – eine Schauspielerin – auf der Insel Selbstmord begangen hat. Er reist nach Malé, weil er sich Aufklärung über ihre Beweggründe erhofft. Die andere Figur, die nur »etwa anderthalb Wochen« (12) vor Elmar Bauch eingetroffen ist, ist die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Frances Ford, die zum deutschen Lyriker Judy Frank forscht und diesem »in vergeblicher Mission hinterhergereist« (12) ist.

Elmar Bauch und Frances Ford stellen sich als Neuankömmlinge in Bezug auf die Verfahren, Verhaltensweisen und die Motivation der Aussteiger*innen ähnliche Fragen wie die erstmals mit der erzählten Realität konfrontierten Leser*innen. Obwohl diese gemeinsame hermeneutische Aufgabe von Rezipient*innen und den beiden Figuren eine gewisse Orientierung schafft, überwiegt der fragmentarisch-zersplitterte Eindruck des Romans deutlich, da es verhältnismäßige viele Figuren gibt, deren Beziehung zueinander sowie deren jeweilige Vorgeschichten erst im Laufe des Romans verständlich werden.

Das Szenario wird durch die Wahl des Schauplatzes – ein prototypisches Ziel einer ›Traum-‹ oder ›Luxusreise‹ –, das als Milizenbasis genutzte Kreuzfahrtschiff und die Tatsache, dass sich eigentlich nur Tourist*innen auf der Insel befinden, als Kommentar lesbar, der spätkapitalistisch organisierten Tourismus und den Klimakollaps in einen offensichtlichen Zusammenhang setzt. Ist die Engführung von kapitalistischer Ausbeutung und Klimawandel auf verschiedene Weise in unterschiedlichen Subgenres sehr häufig in Werken der Climate Fiction zu finden, so muss in Bezug auf Malé von einer ganz spezifischen Zuspitzung gesprochen werden. Denn der Roman verweist als Ursache des Klimawandels nicht einfach auf den Kapitalismus. Er versucht vielmehr, die kapitalistischen Ausbeutungsdynamiken, den dafür notwendigen Blick auf die Natur und die ihr zugrundeliegende Anthropologie auf ihre Möglichkeitsbedingungen hin zu untersuchen.

Diese Bedingungen sieht der Roman in einer entfesselten Romantik und ihrem maliziösen Begriff vom Fremden. Somit sind nicht allein die Tourismusindustrie und die moderne mediale Darstellung und Vermarktung von Reisen als Kernaspekte des Klimadiskurses aufgespießt. Vielmehr geht es dem Roman um eine Frage, die auch eine Grundfrage der Interkulturalitätsforschung ist, nämlich der nach dem Konzept von Fremdheit und seiner diskursiven Verwendung bzw. seinen Funktionen.

Die Bezüge zur deutschen Romantik und insbesondere zu Novalis’ Heinrich von Ofterdingen im Roman sind augenscheinlich. Neben einer ausgeprägten, auf Novalis’ Hymnen an die Nacht, aber auch auf Eichendorffs Mondnacht (vgl. 116) anspielenden Mondmetaphorik, einer expliziten Reflexion auf »Novalis, Byron, Puschkin« (271) ist es vor allem die Kneipe der »Blaue Heinrich« (21), die diesen Bezug herstellt. Dieses Lokal ist der Treffpunkt der Aussteigergesellschaft. Im Namen vereinigt sich der Titel von Novalis’ Romanfragment Heinrich von Ofterdingen mit dem zentralen Symbol des Textes, das auch zum zentralen Symbol für die Romantik überhaupt geworden ist: der blauen Blume.

Im Blauen Heinrich befindet sich ein Wandbild, das als Erklärung für den Namen dient, aber auf doppelbödige Weise einen Kommentar zum Verhältnis von Romantik und Kapitalismus darstellt:

Ein Gemälde, von einem auf der Insel ausgestiegenem Kunstmaler angefertigt, füllt die komplette Wand im hinteren Gastraum. Das Cover des 1991 erschienenen Albums Nevermind der amerikanischen Grungeband Nirvana ist darauf abgebildet, allerdings ohne deren Schriftzug. Anstatt des Geldscheins, dem der nackte Säugling entgegentaucht, ist auf dem Angelhaken eine blauviolette Blüte aufgespießt. (23)

Interessant ist, dass der Konnex von Romantik und ihrer eigenen Situation von den Aussteiger*innen-Figuren selbst hergestellt wird. Der Roman arrangiert seine Darstellung für die Rezipient*innen jedoch erkennbar so, dass der von den Figuren insinuierte Bezug auf die Romantik als ein Missverständnis lesbar wird – zumindest ist er unterkomplex. In der Wahrnehmung der Figuren – insofern man Einblick erhält – ist die Ersetzung des Dollars durch die Blume als Imperativ zu verstehen: Strebe nicht nach Geld, strebe nach der blauen Blume! So wird dem als kritische Darstellung des Ist-Zustandes gemeinten Nirvana-Cover eine Utopie des individuellen Authentizitätserlebnisses im Angesicht der untergehenden Welt entgegengesetzt. Ein durch ausgestellte Eitelkeit und Unproduktivität als lächerlich beschriebener Romanschriftsteller, der Teil der Aussteigergemeinschaft ist, formuliert das Streben nach dem Romantischen auf Malé wie folgt:

Es gibt wohl eine Sehnsucht nach einer Stadt, die noch nicht vollständig entzaubert wurde. Eine erotisierte Version des Lebens in der Stadt sozusagen. Ein Leben an einem Ort, an dem es noch Risse und Lücken gibt, durch die man aus der Wirklichkeit zumindest kurzweilig heraustreten und entkommen kann. (212)

Dass diese Passage als eine ironische Bloßstellung der Figur und der ganzen Auffassung von Romantik und Authentizität der Aussteiger*innen erscheinen muss, liegt unter anderem daran, dass der Schriftsteller dies einer Regisseurin erzählt, die einen Dokumentarfilm über Malé dreht, der sich »grundsätzlich die Frage [stellt], wie es sich hier lebt und warum« (158). Die Regisseurin beteuert, dass »den Leuten nichts in den Mund gelegt werden« (158f.) soll,

aber faszinierend fänden sie [das Filmteam; D.Z.] schon jetzt die Vorstellung einer Stadt, die im Verfall etwas von der Magie zurückgewinnt, »die wir aus unseren gentrifizierten Metropolen gar nicht mehr gewohnt sind, eine Reerotisierung des urbanen Raums, man denke an vergleichbare Orte der Vergangenheit: der Ostblock und die geteilte Stadt Berlin, der Rustbelt der Nullerjahre, Havanna unter Fidel Castro, Venedig nach der großen Flut, Tschernobyl, Hiroshima, Pjöngjang, Nauru, das kollabierte Lagos«. (159)

Bis hin zur Wortwahl reproduziert der Aussteiger für die Regisseurin eine Vorstellung von Authentizität, die dadurch eben gerade nicht authentisch und einzigartig ist, sondern romantisierende Endzeitvorstellungen bedient, die an Vorbildern aus der Kulturindustrie geschult wurden und im Kollaps der Zivilisation eine Erfahrung des Echten wähnen, wie sie in der durch Vermitteltheit gekennzeichneten bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr möglich scheint. Obwohl das Nirvana-Cover gerade durch seine Schlichtheit als popkultureller Ausdruck eines gewissen Lebensgefühls der beginnenden 1990er Jahre funktioniert hat, war es als Darstellung kapitalistischer Dynamiken immer schon eine Verkürzung. Dies muss man dem Cover nicht zum Vorwurf machen. Ausgehend von dieser Verkürzung allerdings eine Gegenutopie zu entwickeln, wie es die Aussteiger*innen von Malé tun, erscheint durchaus unterkomplex.

Hier soll nun aber die These vertreten werden, dass aus der Gesamttextperspektive das Problem nicht ein Missverstehen der Romantik ist. Vielmehr lässt sie erkennen, dass das spezifisch romantische Streben nach der Blume überhaupt erst die Voraussetzung für ein kapitalistisches Streben ist. Der zerstörerische Kapitalismus und seine unterkomplexe romantisierende Gegenutopie entspringen derselben Quelle: den romantischen Fremdheitsvorstellungen. Deswegen unterscheidet sich der Kreuzfahrttourismus, der mitverantwortlich für den Untergang von Malé ist, im Kern nicht von dem Katastrophentourismus der Aussteiger*innen. Beide sind Ausdruck der Suche nach authentischen Erlebnissen, die dem romantischen Diskurs nach in der Fremde zu finden sind.

Dieses spezifisch romantische Konzept des Fremden wird in dem vom Roman als romantisches Referenzwerk par excellence angeführten Text, dem Heinrich von Ofterdingen,HeinHeinasdf schon im ersten Satz in eine Begehrensdynamik eingespannt. Novalis’ Romanfragment beginnt mit folgenden Worten: »Der Jüngling lag unruhig auf seinem Lager und gedachte des Fremden und seiner Erzählung.« (Novalis 1960: 195) Diese Erzählung des Fremden, an die Heinrich denkt, ist die, in der er erstmals von der blauen Blume gehört hat. Die Blume wird zum Symbol, das nicht so sehr für die tatsächliche Erfüllung einer Erwartung steht, sondern für eine spezifische Unerfüllbarkeit menschlichen Sehens schlechthin und somit für einen irreduziblen Bezug auf das Fremde. Denn die blaue Blume wird wie eine kantische, regulative Idee dem Streben von Heinrich im Roman eine Richtung geben, sie ist allerdings kein Ziel, das im vollen Sinne des Wortes ›erreichbar‹ wäre. Im zweiten Teil des Heinrich von Ofterdingen fragt Heinrich Zyane: »Wo gehen wir denn hin?«, worauf er die Antwort erhält: »Immer nach Hause.« (Ebd.: 325) Diese Antwort expliziert die durch die Blume schon ins Werk gesetzte Strebensanthropologie, die der Roman entwirft und die für die gesamte Romantik Gültigkeit besitzen wird – so zumindest die Darstellung der Romantik in Malé. Wenn man immer nach Hause geht, wird man nie ankommen. Dennoch wird die Anstrengung nicht als sinn- oder zwecklos empfunden. Eher ist sie Ausdruck der Anerkennung menschlicher Existenz als paradoxes Phänomen, das im Einklang mit Fichtes Philosophie ›Mensch-Sein‹ als ein irreduzibles Streben begreift.

Der Roman Malé will die Romantik oder ein einzelnes Romanfragment sicher nicht als monokausale Ursache für den Klimawandel deuten. Er macht aber dreierlei deutlich: erstens, dass das Nirvana-Cover mit dem begehrten Dollar und seine Adaption mit der Blume in einem engeren und grundlegenderen Zusammenhang steht, als es von den Aussteiger*innen insinuiert wird. Der Roman charakterisiert das paradoxe menschliche Streben – das Grundelement der romantischen Anthropologie – als Möglichkeitsbedingung einer kapitalistischen Logik unendlichen Wachstums. Zweitens zeigt er auf, dass die Darstellung dieser Strebenslogik aufs Engste mit der geographischen Metapher des Fremden, der Fremdheit oder der Fremde verknüpft ist, die so zentral in die Selbstbeschreibungslogik der europäischen Romantik eingelassen wurde. Drittens wird klar, dass diese 1801 vielleicht unverdächtig scheinende geographische Metapher letztlich auch Konsequenzen für den Umgang mit wirklichen geographischen Orten hat. Die Romantik hat ein Menschenbild entworfen, das den Menschen im Grunde seines Seins als ewig ins Fremde strebendes Wesen begreift. Der Roman will zeigen, welche Konsequenzen das für die Orte hat, die tatsächlich als ›die Fremde‹ wahrgenommen werden. Er will aber auch darauf verweisen, dass diese perniziöse Dynamik nicht nur nicht erkannt wird, sondern dass die Verschränkung von Authentizität und Fremdheit paradoxerweise als Ausgangspunkt für eine Lösung der Klimakrise veranschlagt wird.

Ein Beispiel, in dem der Text dies gut auf den Punkt bringt, ist das Landgewinnungsprojekt der Niederländerin Hedi Peck. Sie versucht, aus Müll eine künstliche Insel zu bauen. In ihren Worten wird deutlich, wie sehr ihr Denken von spätkapitalistischen Kategorien bestimmt wird: »›Wir brauchen neues Land und wir müssen unseren Begriff davon, was das ist, ganz radikal überdenken. Ich will ein flexibles Land haben‹, sagt Hedi Peck, ›Ich bin schließlich auch ein flexibler Mensch.‹« (69) In ihrer Selbstwahrnehmung wird deutlich, wie sehr ihre Wahrnehmungskategorien von den Selbstobjektivierungslogiken spätkapitalistischer Imperative dominiert werden: »Pecks Selbstbewusstsein ist ein Bewusstsein ihrer Beispielhaftigkeit. Sie fühlt sich bereit und befähigt, anderen als Vorbild zu dienen, als Modell, Ziel und Verkörperung der sehnsuchtsvollen Vorstellung.« (173) Dieses Zitat allerdings bezieht sich nicht auf ihren Inselplan, sondern darauf, dass sie, obwohl sie sich auf einer untergehenden Insel befindet, »durch das tägliche Training eine[n] gehorsamen, definierten, in allen Teilen dem athletischen Ideal entsprechenden Körper« (173) besitzt. In so etwas wie einer abschließenden Reflexion zieht die Literaturwissenschaftlerin Frances Ford, die selbst Expertin für Romantikrezeption ist, folgendes Resümee:

Die amerikanische Literaturwissenschaftlerin kann nicht anders, als das ambitionierte Landgewinnungsprojekt der Frauen um Hedi Peck als eine ultraromantische Anstrengung zu empfinden. Im Lichte ihrer Forschung und in Anbetracht der überall auf dieser Insel, an den Wänden im Blauen Heinrich und selbst noch auf der Haut der Ausgestiegenen ausgestellten Symbole, der Mondanbetung und des Blümchenfetischs, erscheint ihr alles hier wie eine Re-Inszenierung x-ter Ordnung (»Romanticism to the nth degree«, denkt Ford in ihrer Muttersprache und fragt sich, ob das nicht irgendwann mal ein Albumtitel gewesen ist), als die – wie immer – kritiklose Übernahme des ganzen ideologischen Gerümpels von Novalis, Byron, Puschkin, über die sozialistischen Arbeiterpoeten der DDR, bis hin zu den Kornblumen an den Revers der rechtsnationalen Nationaldichter und Politiker der Nachwende- und Nachjahrhundertwendezeit, der volle Schwumms dieser Totalüberladung, hier nochmals eingeführt aus der tiefen Sehnsucht danach, eine Heimat aus tief empfundener Verbundenheit auch andernorts installieren zu können und die am Herkunftsort herrschenden Verhältnisse, den Mindset, die Trägheit, die Verblödung, die Angst und das Feindselige der anderen, von diesem Herkunftsort Hervorgebrachten. (271)

In Abwandlung des Fragments von Novalis »Die Poësie heilt die Wunden, die der Verstand schlägt« (Novalis 1968: 653) könnte man sagen, der Text erklärt den vitiösen Zirkel, als der sich die Klimakrise darstellt, als Versuch, mit der Romantik die Wunden zu heilen, die die Romantik geschlagen hat.

4. Fazit

Der Grund, weswegen die Romantik als Problem und insuffiziente Lösung zugleich erscheint, liegt, wenn man dem Roman folgt, in ihrem doppelten Fremdheitskonzept. Als Metapher wird die Fremde in Anspruch genommen, um eine Strebensanthropologie der unstillbaren Sehnsucht zu beschreiben. Das sieht der Text als Voraussetzung für die kapitalistische Vorstellung eines unendlichen Wachstums und somit als Möglichkeitsbedingung der Klimakatastrophe. De facto folgt aus der romantischen Fremdheitsmetaphorik jedoch auch, tatsächlich in die Fremde zu streben. Dies nutzt der Text, um zeitgenössische Tendenzen logisch in die Zukunft zu verlängern, um in einer ironisch-absurden Szenerie zu zeigen, wohin dieses doppelte Fremdheitskonzept führt. Auf den Malediven suchen die Bürger*innen, die sich über die romantische Anthropologie selbst zu verstehen gelernt haben, ihr Glück. Diese Anthropologie nicht in Frage zu stellen, sondern sie mit anderen Mitteln weiterführen zu wollen, inszeniert der Roman als vitiöses romantisches Selbstmissverständnis. Am ›Ende der Welt‹ – in der fremdesten Fremde – auf einer untergehenden Insel im Indischen Ozean, deren Untergang eine Konsequenz der Suche nach der metaphorischen blauen Blume ist, finden sich die Kinder dieser Tradition wieder im Blauen Heinrich, wo der Imperativ, auf die Suche nach der blauen Blume zu gehen, stumpf wiederholt wird. Auch wenn die Konsequenzen ihres Handelns ihnen buchstäblich den Boden unter den Füßen wegspülen, suchen sie wieder ein »neues Land« (69); selbst wenn sie dieses aus dem eigenen Müll erschaffen müssen, wie es Hedi Peck tut.

Neben den oben genannten mehr oder weniger offensichtlichen Themen ›Flucht‹, ›Exil‹, ›Exklusion‹, ›Vertreibung‹, ›Migration‹ usw., die Climate Fiction als Gegenstand der interkulturellen Literaturwissenschaft nahelegen, zeigt der Text Malé die produktive Verbindung in einer besonderen Weise, denn er hat ein – vielleicht unerwartetes – interkulturelles Potential, das Norbert Mecklenburg wie folgt zu bestimmen vorgeschlagen hat:

Das interkulturelle Potential der Literatur ist ein kritisches Potential. Denn indem das literarische Sprachspiel kulturelle Sprachspiele, Sinnsysteme inszeniert, verfremdet es sie zugleich. Es spielt mit individuellen und kollektiven Identitäten, Selbst- und Fremdbildern, Realem und Imaginärem. Es macht im Medium ästhetischer Konstrukte die Mittel zur gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit durchsichtig. (Mecklenburg 2008: 12)

Genau dies tut der Text. Er entfaltet ein interkulturell-kritisches Potential, indem er Konzepte von Fremdheit historisch wie systematisch aufs Engste mit Fragen nach den Ursachen und Lösungen der Klimakatastrophe zusammenbringt. Damit ist er ein paradigmatisches Beispiel für Climate Fiction, das die Klimakatastrophe als ein immer auch interkulturelles Phänomen begreift.

Anmerkungen

1 Einen Überblick zu gattungsspezifischen Bezügen auf Natur sowie eventuelle Neuausrichtungen vor dem Hintergrund des Klimawandels bietet der von Evi Zemanek herausgegebene Band Ökologische Genres (2018).

2 Werke, die philologisch, wie auch medienkomparatistisch einen guten Überblick geben sind Cli-Fi. A Companion (Goodbody/Johns-Putra 2019) sowie The Cambridge Companion to Literature and Climate (Johns-Putra/Sultzbach 2022). Einen Überblick über die lange Zeit federführende amerikanistischen Forschung bietet The Cambridge Companion to American Literature and the Environment (Ensor/Parrish 2022). In die deutschsprachige Climate Fiction führt Wolting (vgl. 2022) ein.

3 Die einzelnen mit Ökologie, Klima, Klimawandel oder ganz allgemein Natur befassten Forschungsströmungen definitorisch streng voneinander zu unterscheiden, ist nicht Ziel dieses Artikels. Zu den Environmental Humanities sei die gleichnamige Reihe im Metzler-Verlag empfohlen, die von Evi Zemanek, Gabrielle Dürbeck und Hannes Bergstaller herausgegeben wird. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels ist darin ein LIVE Handbook Environmental Humanities (hg. v. Zemanek/Müller) für Ende 2024 angekündigt. Zum Begriff des Ecocriticism vgl. Dürbeck/Stobbe 2015.

4 Für eine Verhältnisbestimmung von postkolonialen Studien und interkultureller Literaturwissenschaft siehe Uerlings 2017.

5 Aus dem Roman wird im Fließtext mit der Seitenzahl in Klammern zitiert.

6 Der Roman war 2020 auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis und wurde überwiegend positiv (vgl. z.B. Cranach 2020; Dalski 2020), teilweise auch ambivalent (vgl. Hanimann 2020) rezensiert. Dabei standen jedoch deutlich die Aspekte der Climate Fiction im Fokus, ohne dass auf das interkulturelle Potential hingewiesen wurde.

7 Vgl. zu diesem Thema die Veröffentlichungen aus dem Forschungskolleg »Neues Reisen – Neue Medien«, das von 2018 bis 2023 an der Universität Freiburg angesiedelt war.

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