Der Schrecken des Südens
Italophobie in deutschen Reiseberichten der Goethezeit
AbstractTravelogues are considered an important source in understanding how the foreign was experienced and appropriated. However, negative experiences which testify to the fact that an understanding did not succeed, often remain hidden. This becomes particularly clear when tracing the historical image of Italy.
This article shows the examples of some unvarnished travelogues on Italy from the 18th and 19th century, which were written at the same time as a yearning attitude towards Italy was popularized by Goethe. One encountered difficult or even incomprehensible phenomena for which the familiar categories of understanding no longer applied. The gap between the two cultures was sometimes even experienced as something insurmountable. The aim is to find out where the boundaries of understanding for the foreign were and from what point exactly understanding could no longer succeed or new concepts were developed in order to turn the confrontation with foreignness into something positive.
TitleThe horrors of the south. Italophobia in German travelogues from the Goethe era
Keywordstravelogues; Italy; Goethe era; concepts of foreignness; non-understanding
1.
Eine Italienreise war als Bildungsreise schon vor Goethes Zeit Programm, doch spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts reisten nicht nur die Bildungsbeflissenen gen Süden. Gerne hielt man seine Eindrücke schriftlich fest – die Zahl der Reiseberichte aus dieser Zeit ist daher kaum überschaubar. Wer sich mit den Italienreisen jener Zeit befassen will, muss zwangsläufig selektiv verfahren, doch scheint ein gängiges Selektionskriterium zu sein, sich auf positive Schilderungen zu konzentrieren. Die Forschung hat sich allzu gern von der Italienbegeisterung affizieren lassen und viele Studien stehen daher selbst im Bann der positiven Italientopoi. An der Durchsetzung des neuen Italienbildes hatten Schriftsteller wie Johann Joachim Winckelmann (Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerei, 1755), Wilhelm Heinse (Ardinghello, 1787) und Jean Paul (Der Titan, 1800-1803) einen großen Anteil, gleichwohl war die Wirkung Goethes am stärksten. Seine Italienische Reise markierte eine epochale Wende in der Reiseberichterstattung.1 Die lebendige Art, mit der Goethe seine Erfahrungen mit der italienischen Kunst, Kultur und Natur anschaulich beschrieb, veränderte und steigerte die Italiensehnsucht der Deutschen – zuweilen gar bis zur Italomanie2. Für uns ist das heute Lehrbuchwissen, welches jedoch verdeckt, dass seinerzeit erst ein langer Kampf ausgefochten werden musste, bis sich Goethes positives Italienbild durchsetzen konnte.
Immer wieder wurde zwar, z.B. von Achim Aurnhammer (vgl. 2003), Peter Brenner (vgl. 1990: 286) oder Rainer Wild (vgl. 1997: 368), eine Korrektur der einseitig positiven Sicht auf Italien angemahnt, ohne dass danach allerdings mehr als nur punktuelle Versuche einer Kontextualisierung folgten. Doch es gab seinerzeit erstaunlich viele Berichte, die ein anderes Bild Italiens entwarfen – und selbst Goethes Italienische Reise ist nicht ungebrochen positiv.3
Die einseitige Dominanz der Italienklischees, die durch die Lektüre der immer gleichen Stellen etabliert wurden, ist daher ein Lehrstück für die Geschichte der Imagologie. Das imaginierte Italien und das real erfahrene Italien treten auseinander. Gleichzeitig überlagern sich die Italienbilder aber so sehr, dass wir nicht mehr entscheiden können, was wirklich und was Mythos ist, da unsere kollektive Wahrnehmung des Anderen immer bereits von unseren Lektüren und tradierten Leitbildern geprägt ist. Dies bedeutet aber auch im Umkehrschluss, dass sich durch das Aufbrechen des kanonisch gewordenen Italienbildes ein wenig ein Spalt öffnen kann, der eine Relativierung unseres Blicks ermöglicht. Genau dies möchte ich nun versuchen.
Je nachdem, wohin man in Italien reiste und welche Brille man dabei aufsetzte, machte man sehr unterschiedliche Erfahrungen und nicht selten trafen die Reisenden auf unverständliche Phänomene, die sie erschreckten oder bei ihnen gar Abscheu auslösten. An solchen Konfrontationen mit dem Fremden konnte eine Reise scheitern oder zumindest ihren Zweck verfehlen, insbesondere dann, wenn Phänomene der italienischen Kultur und Gesellschaft sowie manche Verhaltensweisen der Bevölkerung so absonderlich erschienen, dass sie sich dem Verständnis entzogen. Wurde die Kluft zur italienischen Kultur als unüberbrückbar erfahren, konnte sich die Abwehr des Fremden als Italophobie äußern und in entsprechenden Texten manifestieren.4 Die ersten Versuche, von Goethes Italienbild loszukommen, unternahmen Karl Philipp Moritz, Johann Gottfried Herder und Johann Gottfried Seume,5 doch auch die weniger prominenten Reisenden Johann Heinrich Bertels und Joseph Hager formierten die Gegenbewegung mit, indem sie über die sie befremdende Architektur und Esskultur in Sizilien berichteten, vor allem aber sich von dem dortigen Totenkult und seinen furchterregenden Ritualen zutiefst erschreckt zeigten.6 In den nachfolgenden Generationen stellten sich namentlich Heinrich Heine, Gustav Nicolai und Friedrich Theodor Vischer in bewusste Opposition zur vorherrschenden positiven Italienwahrnehmung.7 Diese negativen Italienberichte setzten sich aber nicht durch, sondern wurden marginalisiert. In der kollektiven Wahrnehmung Italiens herrscht selbst heute noch ein positives Italienbild vor.
Es ist das Ziel dieses Beitrags, diese beharrliche Einseitigkeit in der Rezeption der Italienberichte mit gegenläufigen Schilderungen zu konfrontieren. Denn gerade weil Goethe den Kampf um das ›wahre‹ Italienbild gewonnen hatte, lohnt es sich zu überprüfen, auf welche Grenzen des interkulturellen Verstehens die Reisenden in Italien stießen und welche Formen des Umgangs mit den negativen Erlebnissen sie dabei entwickelten. Vermochte man auf schreckliche Erfahrungen positiv zu reagieren und zu ihrer Bewältigung alternative ästhetische Konzeptionen zu formulieren? Oder wurde eher durch den kontrastierenden Entwurf des Anderen das Eigene profiliert und das Fremde als Feindbild ideologisch instrumentalisiert? Die Annahme des Beitrags ist, dass es gerade die verstörenden Erfahrungen sind, die die Möglichkeit eröffnen, die Frage nach dem Umgang mit kulturellen Differenzen komplexer zu betrachten.
2.
Kein Italienreisender hinterließ im kollektiven Gedächtnis tiefere Spuren als Goethe. Mit seiner Italienischen Reise lieferte er ein Modell, wie man ein fremdes Land in seiner individuellen Besonderheit erfahren soll, und er führte ein solches Erleben beispielhaft vor.8 Sein Ziel war, durch die Schulung des Blicks die Selbstbildung zu erreichen, um schließlich zur Selbstfindung zu gelangen.9 Denn in Italien ist – so Goethe – kein »Beschauen ohne Denken« (Goethe 1992: 69) möglich. Auch das zuvor durch Lektüren und Erzählungen erworbene Wissen über das fremde Land muss mit der unmittelbaren Anschauung konfrontiert werden:
Denn es geht, man darf wohl sagen, ein neues Leben an, wenn man das ganze mit Augen sieht, das man teilweise in- und auswendig kennt. Alle Träume meiner Jugend seh’ ich nun lebendig. […] Und alles, was ich in Gemälden und Zeichnungen, Kupfern und Holzschnitten, in Gips und Kork schon lange gekannt, steht nun beisammen vor mir, wohin ich gehe, finde ich eine Bekanntschaft in einer neuen Welt; es ist alles, wie ich mir’s dachte, und alles neu. (Ebd.: 147)
Und weiter:
Nun bin ich sieben Tage hier, und nach und nach tritt in meiner Seele der allgemeine Begriff dieser Stadt hervor. Wir gehen fleißig hin und wieder, ich mache mir die Pläne des alten Roms bekannt, betrachte die Ruinen, die Gebäude, besuche ein und die andere Villa, die größten Merkwürdigkeiten werden ganz langsam behandelt, ich tue nur die Augen auf, und seh’ und geh’ und komme wieder, denn man kann sich nur in Rom auf Rom vorbereiten. (Ebd.: 151)
Will man die fremde Kultur positiv erfahren, muss man sie – Goethe zufolge – auf sich selbst einwirken lassen, sie nicht sofort einordnen und verstehen wollen, sondern bereit sein, sich treiben zu lassen. Dies geschieht nicht, indem das Fremde dem Bekannten angeglichen und der vertrauten Wahrnehmung durch Erklärungen kommensurabel gemacht wird; viel mehr müssen durch die Konfrontation mit dem Unvertrauten die eigenen Wahrnehmungskategorien im Wechselspiel von Anschauung und Lektüre modifiziert werden. Goethe gelangt zur Einsicht: »Ob ich gleich noch immer derselbe bin, so mein’ ich bis aufs innerste Knochenmark verändert zu sein« (ebd.: 173). Die Begegnungen mit der italienischen Kunst und Landschaft kulminieren bei Goethe in der Begeisterung über das Fremde.10 Sein innerer Wandel wird mit der Metapher der Wiedergeburt illustriert; sie durchzieht den ganzen Text: »Ich zähle einen zweiten Geburtstag, eine wahre Wiedergeburt, von dem Tage, da ich Rom betrat« (ebd.: 174). Oder: »Die Wiedergeburt, die mich von innen heraus umarbeitet, wirkt immer fort. Ich dachte hier was rechts zu lernen; daß ich aber soweit in die Schule zurückgehen, daß ich so viel verlernen, ja durchaus umlernen müßte, dachte ich nicht« (ebd.: 177). In der Begegnung mit der italienischen Kunst und Landschaft verschwimmt bei Goethe zunehmend der Kontrast zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Der von ihm emphatisch als Wiedergeburt beschriebene innere Wandel ist allerdings, so können wir festhalten, weniger das Resultat eines Sicheinlassens auf das Fremde als Fremdes, sondern das Fremde dient Goethe eher zum Anlass der Selbsterfahrung.
Mit seiner Italienischen Reise entwirft Goethe daher zugleich ein neues Modell des Reiseberichts, das mit der aufklärerischen Tradition der ›Informationsreise‹ bricht (vgl. Meier 1989). An die Stelle eines objektzentrierten Bildungsprogramms tritt nun die subjektive ästhetische Selbsterziehung durch die lebendige Erfahrung der unbekannten Kunst und Natur Italiens. Damit wendet er sich gegen das vorherrschende Ideal, dem z.B. noch Johann Jakob Volkmann und Johann Wilhelm Archenholz verpflichtet waren.11 Ihre umfangreichen Berichte dienten zu Goethes Zeit als wichtigste Informationsquelle für die Reisenden nach Italien (vgl. Volkmann 1770; Archenholz 1785) – auch Goethe nahm ihre Bücher auf seine Reise mit.12 In seinem Buch England und Italien (1785) stellt Archenholz aber Italien als Schreckbild, England hingegen als Vorbild für Deutschland dar. Italien sei ein kulturloses Land, sein Name ein Inbegriff von Unwissenheit, Aberglaube, Verfall der Sitten, Armut und Bettelei, seine Verwaltung ineffizient und die politische Ordnung fehle vollständig. Den Grund dafür sieht Archenholz in der Macht der katholischen Kirche, dem katastrophalen Bildungsstand und der allgegenwärtigen Sklaverei – all dies hemme die Entwicklung des Landes, während in England ein liberaler Geist herrsche. Archenholz’ Buch war, ähnlich wie Volkmanns Historisch-kritische Nachrichten aus Italien (1770), ein verlegerischer Erfolg. Goethe geht aber zu beiden Autoren immer mehr auf Distanz. In der Italienischen Reise bemerkt er: »Volkmann sagt etwas davon, trifft aber den Nagel und nicht den Kopf«, oder: »Der gute und so brauchbare Volkmann nötigt mich, von Zeit zu Zeit von seiner Meinung abzugehen« (Goethe 1992: 84). Diese Nötigung erfolgt insbesondere beim Anblick von Kunst- und Bauwerken, in deren Licht Archenholz’ Italien geradezu verglühe:
Wie so ein Geschreibe am Ort selbst zusammenschrumpft, eben als wenn man das Büchlein auf Kohlen legte, daß es nach und nach braun und schwarz würde, die Blätter sich krümmten und in Rauch aufgingen. Freilich hat er die Sachen gesehen; aber um eine großtuige, verachtende Manier geltend zu machen, besitzt er viel zu wenig Kenntnisse und stolpert lobend und tadelnd (ebd.: 172).
Mit solchen Urteilen vollzieht Goethe eine entschiedene Abkehr von der ›Informationsreise‹. Der Kampf um das deutsche Italienbild ist nicht zuletzt ein Kampf um den angemesseneren Diskurstypus für den Umgang mit dem so undeutschen Land im Süden.
3.
Goethes Versuch, Italien als Ort der glücklichen Neuerfindung des eigenen Ichs zu beschwören, wurde auch von Johann Gottfried Herder in Frage gestellt. Unmittelbar nach Goethes Heimkehr 1788 brach er auf dessen Spuren nach Italien auf und hatte sich dort zunächst eine Wiedergeburt erhofft. Obwohl er – mit Winckelmanns Idealen im Sinne – erwartungsfroh nach Süden reist, nimmt er das Land und insbesondere Rom fast ausschließlich negativ wahr.13 Aus dem Ausruf: »Ich bin nicht Goethe« (Herder 1988: 209),14 mit dem Herder in einem Brief an seine Frau Caroline die gescheiterte Imitation einer goetheschen Reise einräumt, folgt das missgelaunt entwickelte Konzept einer Gegenreise. Desperat stellt er fest: »Im Grunde alles in Rom ist Gift und Ekel« (ebd.: 155).15 Bei der Beschreibung der Stadt verwendet Herder dann die Metapher des Todes und setzt sich so entschieden von Goethes Metapher der Wiedergeburt ab: Rom gleiche einem »Grabmal« (Herder 1988: 267), es sei eine »Mördergrube« (ebd.: 308) und das »größte Mausoleum, das uns Europa u. die Geschichte darbeut« (ebd.: 546). Schließlich steigert sich seine Abneigung gegen die ihn befremdende Stadt in eine Romphobie: »Ich kann der Hauptstadt der Welt keinen Geschmack abgewinnen, vielmehr wird sie mir von Tage zu Tage mehr lästig. […] Jetzt sehnt mein Herz sich aus Rom hinaus. […] Rom ist ein totes Meer u. die Blasen, die darauf emporsteigen, um bald zu zerknallen, sind für mich nicht erforderlich.« (Ebd.: 368)
Während Goethe durch Rom zu besonderer Produktivität angeregt wird, erzeugt die Stadt bei Herder nur Unverständnis und führt zu Denkblockaden: »Das älteste, alte, mittlere, u. neue Rom tritt […] mit seinen Gegenständen in wilder, bunter, dissonanter, oft fataler Verwirrung vor die Seele; […] so erliegt mein armer Kopf ganz u. gar, so daß ich Gefahr laufe, aus Rom unwissender zu gehen, als ich hineinkam.« (Ebd.: 195)
Herders Italienreise scheitert auf der ganzen Linie. Die positiven Erwartungen erfüllen sich nicht, stattdessen zementieren die Fremdheitserfahrungen seine Pauschalurteile und diese werden im Hass auf die südländische Sinnlichkeit geradezu idiosynkratisch. Die sinnliche Seite der Kunst bleibt ihm – im Unterschied zu Goethe und Heinse – unzugänglich. Umso vehementer bekennt sich Herder in seinen Briefen zu seinem Deutschtum: »Ach, daß Rom so entfernt liegt, u. doch ists gut, daß es daliegt; denn seit ich Italien kenne, bin ich sehr gern ein Deutscher« (ebd.). Im Brief an Goethe ergeht er sich sogar in expansorischen nationalen Phantasien: »Ich fürchte, ich fürchte, Du taugst nicht mehr für Deutschland; ich aber bin nach Rom gereist, um ein echter Deutscher zu werden, u. wenn ich könnte, würde ich eine neue Irruption germanischer Völker in dies Land, zumal nach Rom veranlassen.« (Ebd.: 293)
Der Kontrast zu Goethe wird umso deutlicher, als sich beide Reisenden ja auf die eigenen Empfindungen fixieren,16 der eine aber sich verwandelt, der andere sich verhärtet. Anders verhält es sich bei Reisenden, die stärker die Andersheit der fremden Kultur zu akzeptieren bereit sind, wie z.B. Karl Philipp Moritz.
4.
Bekanntlich war Karl Philipp Moritz zur gleichen Zeit in Italien wie Goethe. Auch er begeistert sich für die italienische Kunst und Landschaft, entwirft aber seine eigene Erfahrungswelt, in der das Fremde nicht nur faszinierend, sondern auch erschreckend ist – es ist ambivalent. Wie Goethe grenzt sich auch Moritz von der enzyklopädischen Tradition des Reiseberichts ab – seine Schilderungen zielen nicht auf die Vollständigkeit,17 vielmehr sind sie fragmentarisch und unmittelbar.18 Anders aber als Goethe beschreibt Moritz die Objekte, bringt Informationen zur Organisation des Staates und der Kirche, berichtet sachlich über Merkwürdigkeiten, Aberglauben und Feste; seine persönlichen Emotionen treten dabei in den Hintergrund. Die ersten Aufzeichnungen publiziert Moritz in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Italien und Deutschland in Rücksicht auf Sitten, Gebräuche, Literatur und Kunst (1789-1792).19 Darin entwirft er ein aufschlussreiches Reisekonzept, dem zufolge Ziel einer Reise ist, »die Gegenstände so darzustellen, wie sie wirklich sind« (Moritz 1792/93: 75), doch um das zu erreichen, müsse man sich von den ersten Eindrücken, die man über das fremde Land gewinnt, distanzieren und sich gerade nicht wie bei Goethe überwältigen lassen. Denn die Urteilskraft sei im Moment des Wechsels in das andere Land beeinträchtigt:
Als wir in Verona angelangt waren, so mischte ich mich unter das Volk auf den Straßen, wovon ich ihnen aber itzt noch kein Wort schreibe, weil ich mich in dieser neuen Welt erst muß zu orientieren suchen. Denn da der Übergang von einem Volke und von seiner Sprache zur andern nicht durch allmähliche Nuancen, sondern auf einmal gemacht wird, so ist es natürlich, daß man sich in einer Art von Betäubung befindet. (Ebd.: 72f.)
Moritz warnt davor, die zufälligen ersten Erlebnisse zu einem Totaleindruck zu erweitern und vorschnell zu urteilen, vielmehr müsse man voraussetzen, dass man vieles eben nicht sogleich versteht und gerade die Besonderheiten und feinen Nuancen erst in den Blick kommen, wenn man das andere Land längere Zeit aufmerksam und vorurteilsfrei beobachtet hat. Der selbstgewisse aufklärerische Habitus, man könne auch eine fremde Kultur sofort kraft der eigenen Vernunft erfassen, weicht dem Konzept des vor- und umsichtigen Orientierens. Zwar hatte auch Goethe darauf gepocht, dass man sich beim Betrachten des Neuen viel Zeit zu lassen habe, doch ist Goethe der methodische Selbstzweifel von Moritz und der auf ihm gründende distanziert-vorsichtige Blick auf das Unbekannte nicht eigen.20 Moritz’ Anspruch, die Wirklichkeit so darzustellen, »wie sie wirklich ist« (Moritz 1792/93: 75), schließt überdies ein, auch die von Goethe ausgeblendete, befremdliche Seite des italienischen Alltags nicht zu verschweigen. Sein Anliegen illustriert Moritz mit dem folgenden Beispiel:
Ich eilte aus dem Geräusch hinweg, und kam in eine finstere traurige Gegend der Stadt, wo mir beym Anblick einer alten gothischen Kapelle, Juliens tragische Geschichte und das Grabmal der Kapulets mit allen seinen Schrecknissen vorschwebt, als ich mich seitwärts kehrte und in offenes Todtenhaus sahe, worin man wie es hier gebräuchlich ist, den Leichnam eines Menschen, der diese Nacht auf den Straßen von Verona ermordet war und den niemand kannte, öffentlich ausgestellt hatte.
Auf dem Antlitz des Todten war noch der sichtbare Ausdruck von Verzweiflung; und die Leute, welche hier vorbeygingen, warfen einen gleichgültigen Blick herein und gingen weiter. Nichts kann wohl trauriger und niedergeschlagener seyn, als eine solche Scene, gerade wenn man aus dem lebhaften Gewühl und Geräusch von Menschen kommt, von denen kein einziger sich um den Todten kümmert.
Ein solcher zufälliger Anblick, zusammengenommen mit den herzugebrachten Ideen von Banditen und Meuchelmördern, kann schon die Einbildungskraft eines Reisenden verstimmen, daß ihm alles in einem andern Lichte erscheint. (Ebd.: 73f.)
Anhand der makabren Geschichte demonstriert Moritz, wie leicht ein negatives Erlebnis, das einem unverständlich bleibt, zu falschen Verallgemeinerungen führen kann. Hingegen fordert er, vorschnelle Urteile zu vermeiden und den etablierten Klischeevorstellungen mit Skepsis zu begegnen.
In seinem Werk Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788 (1792/1793) wägt Moritz daher stets positive und negative Aspekte gegeneinander ab. Schreckliche Erfahrungen, die das interkulturelle Verstehen an die Grenzen bringen, werden nicht nach mitgebrachten Maßstäben vorschnell einsortiert und beurteilt, auch wird kein vertrauter Begriff für das Neu-Gesehene gesucht. Moritz lässt den Schock des Fremden zu. So verbindet er z.B. die eindrucksvolle Beschreibung des mächtigen Triumphbogens Trajans in Ancona, der »in seiner ursprünglichen Pracht und Schönheit sich noch itzt, wie damals, dem Auge der Lebendigen darstellt« (Moritz 1981: 157),21 mit einer erschütternden Szene in der Gegenwart: »Einen furchtbaren Anblick machten die Galeerensklaven, welche gegen Abend, paarweise, mit ihren Ketten klirrend, unter der Anführung ihres Befehlshabers oder Zuchtmeisters, auf dem Molo aufzogen, und ein fröhliches Lied sangen« (ebd.). Es kommt zur Kollision und Konfusion von ästhetischer Betrachtung der Antike und sozialer Wirklichkeit, die den Betrachter zwingt, in die Gegenwart zurückzukehren, und ihn mit der heutigen Sklaverei konfrontiert.22 Es stellt sich die Erkenntnis ein, dass der Ursprung der Sklaverei in die Antike zurückreicht. Danach ist auch der Blick auf die Antike nicht mehr der gleiche. Der dem heutigen Betrachter zunächst als schön erscheinende Triumphbogen wird durch den Einbruch der Gegenwart als ein Monument der antiken Herrschaft und Unterdrückung erkennbar, als Zeichen des Triumphes über die Feinde, die als Sklaven durch den Bogen in die Gefangenschaft geführt wurden, und der Torbogen zum Zeichen der ewigen Sklaverei. Kontemplation schlägt in die Erkenntnis um, zu welchem Preis und Zweck die Kunst geschaffen wurde: als Symbol der Sklaverei und der Unterdrückung.
Ähnliches gilt für die Besichtigung der Sixtinischen Kapelle in Rom, »wo der Genius des erhabenen Künstlers seine Riesengeburten hinzauberte, welche die Nachwelt mit Staunen erfüllten« (ebd.: 345f.). Doch kaum wendet sich der Betrachter von der Vergangenheit ab, drängen sich ihm die Schrecken der Gegenwart auf. Es sind die Scharen von Bettlern mit verstümmelten Gliedern, die sie – wie Moritz berichtet – seit der Kindheit haben. So suchten ihre Eltern sie »durch eine solche freiwillige Verstümmelung in einen bemitleidenswerten Zustand zu versetzen, um ihnen dadurch gleichsam ein sicheres Kapital mitzugeben, das ihnen auf ihr ganzes Leben ein hinlängliches Einkommen verschaffen, und sie zugleich vor dem Hunger sichern und vor der Arbeit schützen sollte« (ebd.: 348).23 Deutlich wird der Kontrast zwischen der Pracht der Vatikanischen Kirche und dem Elend der Bevölkerung. Moritz kommentiert ihn nicht weiter, die Schlüsse daraus kann man selbst ziehen.
5.
Moritz und Herder hatten eine alternative Reise zu jener Goethes vorgeführt. Auch Johann Gottfried Seume entzauberte Schritt für Schritt Goethes Italienmythos, indem er Rom als »Kloake der Menschheit« (Seume 1982: 289) beschrieb.24 Direkt angegriffen wurde aber Goethes Diskursmodell durch das zahlreiche Polemiken hervorrufende Buch Italien, wie es wirklich ist (1834) von Gustav Nicolai.25 Wie der Untertitel besagt, ist es eine Warnungsstimme für alle, welche sich dahin sehnen und damit ein Frontalangriff auf Goethes Italienische Reise, in der Nicolai den Ursprung des Übels sah. Goethe okkupiere die Phantasie der Deutschen mit falschen Bildern und sei für die grassierende krankhafte Schwärmerei direkt verantwortlich, welche Italien als »Wunderland« (Nicolai 1834: 9), »schönstes Land Europas« (ebd.: 19), »das Land der Sehnsucht« (ebd.: 34) und »Eldorado der Wünsche« (ebd.: 173) verkläre.
Als Goethe in Deutschland über Italien seine Stimme erhob, hatte er weniger die Wahrheit, als die Schönheit der darstellenden Farben vor Augen. Es konnte auch ihm, der überall nur an sich selbst dachte, nicht darauf ankommen, ob er im Interesse seiner Landsleute schrieb.
Bald tummelten, durch Goethe angeregt, auch andere Dichter ihre Phantasie in den hesperischen Gefilden. […] In der Nebelschwebelperiode, durch Tieck, Novalis und Wackenroder begründet, entstand eine überspannte Verehrung für die Kunstsammlungen, Kunstschwärmerei und schwärmende Kunstphilosophie, mit derselben aber die krankhafte Sehnsucht nach dem Süden, welche in Jean Pauls »Titan« in Manie ausartete. Von dieser Manie sind jetzt alle Künstler angesteckt. (Ebd.: 10f.)
Goethes subjektive Ästhetisierung der Wirklichkeit lehnt Nicolai entschieden ab. Er fühlt sich in der Pflicht, die über Italien verbreiteten »Irrtümer aufzuklären« (ebd.: 14), Deutschland vor intellektueller Verschwörung zu schützen und die nationale Tugend der Heimatliebe zu retten. Anders aber als Volkmann oder Archenholz, die die aufklärerische ›Informationsreise‹ propagierten, verfolgt Nicolai kein kulturelles Bildungsprogramm – im Gegenteil: Die italienische Kunst und Architektur werden von ihm abgewertet (vgl. Battafarano 1997). Bedeutsamer erscheinen ihm die Hinweise auf den real existierenden Lärm, den Schmutz und das Ungeziefer, den schlechten Zustand der Straßen, das abscheuliche Essen und die allgegenwärtige Bettelei.26 Nicolai sucht in Italien nach enttäuschenden Situationen, er ist nicht bereit, sich auf das Fremde einzulassen oder ihm zumindest mit Distanz zu begegnen:
Welch ein trübseliges Land ist dies Italien! Bis jetzt haben wir fast nur reizlose, öde Felder, Wüsten, Kloaken, Ruinen und schmutzige Höhlen gesehen, und jetzt sollen wir nun einen Landstrich durcheilen, in welchem der Pesthauch der Vernichtung weht und das Mordmesser des Räubers blinkt. Mein teures, zurückgesetztes deutsches Vaterland, wie bist du so schön, so reizend so gesund! Du bist das Abbild einer holden mütterlichen Frau, Germania! (Nicolai 1834: 182)27
Nicolais Buch sollte die Deutschen dauerhaft von der Italiensehnsucht durch Heimatliebe kurieren. Der Kampf um das deutsche Italienbild wurde zu einer kulturpolitischen Debatte. Ein Vorfall auf einer Ausstellung in Berlin, auf der Bilder des Landschaftsmalers Carl Blechen (1798-1840) gezeigt wurden,28 gibt die Stimmung der Zeit wieder. Nicolai berichtet:
Bei Gelegenheit der letzten Kunstausstellung in Berlin hatte der geniale Landschaftsmaler Blechen Ansichten von Italien, in Öl gemalt, der öffentlichen Beurteilung hingegeben. Der Himmel ist auf diesen Bildern ganz wie bei uns. Erde und Baumlaub sind bräunlich gefärbt, man sieht ein so verbranntes, unfruchtbares Land vor sich, daß deutsche Gefilde dagegen in üppigen, frischen, erquickenden Farben prangen. Die Beschauer waren unwillig und allgemein hielt man die Bilder für schlecht. Ein ehrwürdiger Kunstveteran aber, der lange in Italien gewesen ist, flüsterte, als es sie geprüft hatte, einem Freunde ins Ohr: »So sieht Italien aus, es ist richtig. Man darf’s nur nicht sagen!« (Nicolai 1934: 14)
Es wundert daher nicht, dass Nicolais Buch eine publizistische Sensation war. Bereits nach einem Jahr erschien die zweite, um einen Anhang erweiterte Auflage, die alle bis dahin erschienenen (positiven wie negativen) Rezensionen enthielt. Die meisten von ihnen waren anonym, die kritischen Passagen wurden von Nicolai in den Fußnoten kommentiert (vgl. Wieder 1972). Denn die Gemeinschaft der Italienverehrer war in der Verteidigung ihres Sehnsuchtsideals nicht zimperlich. Man warf Nicolai vor, ein »hypochondrischer Menschenhasser« (Anonymus, zit.n. Nicolai 1835: 267) zu sein, der nach Laune urteile: »Er nimmt an Allem ein Aergerniß und, was das Schlimmste ist und Jedem, der nur einige Kapitel von ihm gelesen, einleuchtet – er trägt seinen Aerger zur Schau […] und verbittert sich dadurch das Meiste« (Anonymus, zit.n. ebd.: 292).29 Nicolai sei ein Spießbürger, der aus der Position des Herrenmenschen über Italien spreche. Eine Rezension, in der er mit einem quakenden Frosch verglichen wurde, führte zu einem aufsehenerregenden Rechtsstreit: »Böse Rezensenten […] könnten« – so der Rezensent30 – »sein Buch einem über Nacht vor einem schönen Garten aufgewachsenen Pilze und seine Stimme dem Quaken der Frösche oder andern unangenehmen Dingen vergleichen wollen« (Anonymus, zit.n. ebd.: 319).31 Nicolai empfand diese Kritik als persönlichen Angriff und er wehrte sich, indem er den Kritiker verklagte:
Er [der Rezensent; S.W.] stellt also den Kläger als einen Frosch, und seine Stimme als das Geschrei eines so verächtlichen Tieres dar, beurteilt also nicht bloß den Wert oder Unwert der Schrift des Klägers, sondern behandelt ihn selbst und seine Persönlichkeit geringschätzig und setzt ihn hindurch zugleich der Verachtung des Publikums aus. (Demme 1837: 202)
Die Klage wurde abgewiesen, der Rechtsstreit endete mit einem Freispruch.32 Der Nicolai-Fall ging in die Geschichte der Rechtswissenschaften ein als Beispiel für das Recht auf freie Kritik auf dem Gebiet der Literatur.
Neben den vielen kritischen Reaktionen gab es allerdings auch »anerkennende Rezensionen« (Nicolai 1835: 363), in denen Nicolai als Retter, »Märtyrer der Wahrheit« (Anonymus, zit.n. ebd.: 389)33 gepriesen wird, der als »Erster ausspricht, was alle längst gefühlt, aber nicht den Mut gehabt, zu sagen« (Anonymus, zit.n. ebd.: 370).34 Das übertriebene Lob wirkt dabei fast parodistisch:
Wackerer Deutscher, der Du frei und ohne Furcht vor dem Natterngezücht der Speichellecker und Schmarotzer Deine Stimme erhoben und uns Italien, das angebetete Feenland, das Eldorado der Phantasie geschildert, wie es wirklich ist und dadurch zugleich anschaulich bewiesen hast, wie unser Deutschland mit seinen kräftigen Eichen und gesunden Herzen, selbst von seinen Söhnen hintenangesetzt und beachselt, so hoch emporrage über Italien; empfange den glühenden Dank aller derer, die gleich Dir im süßen Orangenlande so bitter enttäuscht wurden! (Anonymus, zit.n. ebd.: 391)35
Ermutigt durch diese Stimmen schlägt Nicolai vor, sein Buch als Pflichtlektüre in den Lehrplan aufzunehmen, »um einen so nachteiligen Irrtum, der selbst durch Jugendschriften verbreitet wird im Keim zu ersticken« (Anonymus, zit.n. ebd.: 367).36
6.
Nicolais Buch sollte eine Stimmungswende markieren. Als Vorboten einer neuen Zeit sah ihn der Historiograph Victor Hehn, der die Italomanie als konstituierendes Element der deutschen Identität diagnostizierte. In seinem Buch Reisebilder aus Italien und Frankreich (1894) beschrieb er den Prozess der Identitätsfindung durch das Erlebnis von Alterität: Durch die kollektive Wahrnehmung eines anderen Landes wird die Einheitlichkeit des Eigenen erst erfahrbar. Das fremde Land erscheint dabei als ein besseres und wird zum Mythos:
Die Begeisterung für Italien, die Bekanntschaft mit diesem Lande und die Sehnsucht danach wurde in Deutschland ein wesentlicher Teil der Bildung. Jeder, der nicht ganz roh geblieben, fühlte für Italien. Dieses Land gehörte zu der nationalen Erziehung eines Deutschen. Dorthin zu reisen wurde unerläßlich; wer nicht da gewesen war, in dessen Leben und Gefühl war eine Lücke. […] Die trockensten Schulgelehrten entschädigten ihre unnatürlich unterdrückte Phantasie durch den Zauber Italiens: eine Reise dorthin riß sie aus ihrem Philisterwesen, machte sie jung, zwang sie zu praktischen Geschäften, und wenn sie dann wieder heimgekehrt und der Geist im alten Schlafrock wieder eingerichtet, dann verschönerte sich in der Ferne Italien immer mehr, sie priesen und seufzten in Sehnsucht und sahen dort nur Herrlichkeit. (Hehn 1894: VII)
Der Italienwahn konnte entstehen – und hier gibt Hehn Nicolai Recht –, indem sich die Vorstellungen der Deutschen immer weiter von der Wahrheit entfernten, indem sie das Italienerlebnis idealisierten. Damit sich das Eigene durch das Andere profilieren kann und die Neuidentifikation der eigenen Identität möglich wird, muss das Andere umgedeutet werden. Gegenreaktionen seien unvermeidlich. Das Erscheinen eines Buches wie das von Nicolai sei unausbleiblich gewesen, so Hehn, er habe es lange erwartet:
Je höher das Kartenhaus steigt desto näher der Umsturz. […] Es mußte eine Reaktion kommen, und daß diese bei der Gewalt ihres ersten Hervorbrechens ihrerseits die Grenze überschritt, ist nicht zu verwundern. Ja, man kann sagen, daß die bloße Wahrheit ohne Wirkung, ohne Spur vorübergegangen wäre, daß um das rechte Urteil herzustellen, ein kühner Mann mit verzweifelter That sich opfern mußte. Nicolai ist dies Opfer geworden, ihn traf das Todesurteil. […] Italien ist jetzt wenigstens zur Streitfrage geworden. […] Man reist nicht mehr mit der seligen Unschuld naiven Glaubens nach Italien. (Ebd.: IXf.)
Als wichtigste Ursache für den von Nicolai ausgelösten Umschwung in der Italienverehrung sieht Hehn die wachsende Kluft zwischen dem wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und technologischen Fortschritt in Deutschland und der rückschrittlichen Lage Italiens. Italien sei kein adäquater Bezugspunkt mehr: »Wie wenig konnte Italien sich rühmen, ein reicher Gegenstand der Forschung zu sein! Die Industrie, der Verkehr, der Handel, die großen Erfindungen überraschten uns durch ihre steigende Siegeskraft […], aber wie selten erklang in dem Geräusche der Beratung das Wort Italien!« (Ebd.: XX) Italien erweise sich im 19. Jahrhundert als ein zurückgebliebenes Land, das nicht imstande sei, mit dem modernen Europa Schritt zu halten. Ein Stimmungsumschwung war überfällig.
Nicolai wurde für einige zum Verräter, für andere zum Helden. Hehn scheint in diesem Konflikt Partei für Nicolai zu ergreifen. Nicht zuletzt fragt er deshalb: »Man wirft ihm [Nicolai; S.W.] Blindheit vor, weil er die Sonne am Himmel geleugnet: aber, frage ich, was ist größere Torheit, die Rose für eine Distel oder die Distel für eine Rose auszugeben?« (Ebd.) Auch erinnert seine Wahrnehmung der italienischen Landschaft an manchen Stellen deutlich an Nicolais Beschreibung, hier etwa an dessen Schilderung der Reaktionen auf die Landschaftsmalerei Blechens:
Die italienische Natur ist braun und dürr, ja einförmig, die Vegetation schwach; die Bäume erheben sich selten zu einem luftigen Schattendach, sondern gleichen niedrigen Sträuchern, ihr Laub ist nicht frisch noch üppig. […] Die Apenninen sind überall eine dürre, unerfreuliche Felsenerhebung, aus der sich während der größten Zeit des Jahres nur trockene Einschnitte voll Kieselgeröll, ohne einen Tropfen Wasser hinabziehen. Die Lombardei ist eine große, einförmige Pflanzung niedriger Maulbeerbäume, die in gewisser Jahreszeit sogar völlig entlaubt ist, selbst das Arnotal trägt dasselbe Gepräge der Einförmigkeit: Dornenhecken, schnell gelb werdende Acker, ununterbrochen mit strauchartigen Fruchtbäumen und weintragenden und dadurch seltsam entstellten Ulmen besetzt, die Hügel bleifarbene Ölbäume tragend, die weit häßlicher sind als unsere Weiden. (Ebd.: XIVf.)
Hehns Parteinahme für Nicolai überrascht insofern, als er zuvor – 1879 – in Goethes Nachfolge ein Buch verfasst hatte, das zum Klassiker der Italienverehrung wurde: Italien. Ansichten und Streiflichter (1879). Interessant ist dabei, dass Hehn hier nicht nur die schönen Seiten Italiens hervorhebt,37 sondern sich mit der Kritik an Italien auseinandersetzt und sie durch sachliche Argumentation widerlegt. So vermag er sogar die in Italien praktizierte, auf den ersten Blick sinnlos und grausam erscheinende Tierquälerei zu erklären, die insbesondere den Schriftsteller und Philosophen Friedrich Theodor Vischer so schockiert hatte, dass er die Streitschriften Ein italienisches Bad (1875) sowie Noch ein Wort über Tiermißhandlungen in Italien (1875) verfasste.
Als Hegelianer sieht Vischer die Gewalt als Teil der Natur; die Natur sei aber barbarisch. Das italienische Volk zeichne eine gewalttätige Rohheit aus und rangiere so auf einer primitiven Entwicklungsstufe des Geistes, ja erhebe sich nicht über das Tierreich.
Die Natur ist, wie jeder weiß, furchtbar grausam; Katze und Adler finden eine Wollust darin, ihre Beute nicht schnell zu töten, sondern lang und raffiniert zu quälen. Der tierquälende Mensch ist bloße Natur in diesem Sinn. Er vermehrt das allgemeine Foltern und wollüstige Würgen in der Natur, er handelt nur als höheres Tier gegen das wehlosere, er ist nur höhere Katze, Tiger, Hyäne, Adler, Krokodil. (Vischer 1922b: 320)
Vischer zufolge sind Tiere nicht unser Eigentum, sondern die des Staates. Daher soll das Prügeln von Tieren oder Fangen und Schießen von Vögeln stark bestraft werden. Für ihn ist Tierquälerei vergleichbar mit einem Menschenmord: »Tierquälerei und Räuberwesen, Mord, Verstümmelung, das sind zwei Früchte, die so recht aus einer Wurzel wachsen« (Vischer 1922c: 334).
Hehn räumt zwar ein, dass »der Italiener, besonders im Süden gegen Pferd und Esel unbarmherzig« sei, dies hänge aber »mit der antiken, objektiven Sinnesart zusammen, die kein sentimentales Verhältnis zur Natur kennt« (Hehn 1992: 94). Daher gehe Vischer fehl, wenn er dem italienischen Volk unterstelle, die Tiere aus Vergnügen zu quälen.38 Vischer sähe in Mailand geblendete Vögel und schlösse daraus vorschnell, dass das italienische Volk grausam sei. Er vergesse aber, »dass die geblendeten Tierchen Lockvögel waren, geblendet zum Behufe der Jagd, nicht aus Freude an der Sache« (Hehn 1992: 94).
7.
Was bleibt? Es geht hier nicht darum, Partei für eine Variante der vorgestellten Reiseberichte zu ergreifen, vielmehr sollte erst der Kampfplatz gezeigt werden, auf dem um das wahre Italienbild gerungen wurde. Dieser Kampf ist zugleich ein Streit um die adäquate Weise, mit einer fremden Kultur umzugehen. Man kann sie zum bloßen Stimulans für eigene Phantasien nehmen (Goethe), man kann sie vorsichtig mit gleichschwebender Aufmerksamkeit beobachten und die eigene Position relativieren (Moritz), die eigene Überlegenheit durch die Kritik am anderen sich selbst demonstrieren (Herder) oder – schon auf einer weiteren Stufe – sich weniger mit dem fremden Land selbst als mit bereits existenten Italienbildern auseinandersetzen (Nicolai, Hehn). Das Versprechen jedenfalls, »Italien, wie es wirklich ist«, zu zeigen, wird sehr unterschiedlich eingelöst, und wer sich heute fragt, wie sich das eigene Italienbild zusammensetzt, wird es schwer haben, zwischen Mythos und Wirklichkeit zu unterscheiden, da die Mythen weiterwirken. Dabei sind die schrecklichen Reisen nicht weniger klischeebehaftet als die Sehnsuchtsreisen, auch die von ihnen erzeugten Italienbilder sind nicht realistischer, doch sollte man sie nicht einfach übergehen, denn sie sind ein aufschlussreicher Beitrag zu einer Kulturgeschichte der Fremdheit und des Nichtverstehens – eine Geschichte, die von der verständigungsorientierten interkulturellen Germanistik erst noch geschrieben werden muss. Dabei sind es oft nicht Fremdheitserfahrungen, sondern Fremdheitskonstruktionen – so wie Goethe und die Romantiker positive Gegenbilder zum deutschen Norden entwerfen, sind auch die negativen Bilder Konstrukte, die dazu dienen, das Eigene positiver erscheinen zu lassen. Während die positiven Bilder auf die Kunst, das Schöpfertum, die Freiheit, die Sinnlichkeit abheben, sind die negativen politisch und konfessionell (gegen den katholischen Süden) orientiert. Es ist eine Geschichte des Fremd-Machens, des othering, wie es Spivak nannte (vgl. Spivak 1985) – und deren Stigmata sind bis heute, wenn auch oft nicht mehr sichtbar, präsent und wirksam.
Anmerkungen
1 Die Publikationsgeschichte der Italienischen Reise ist bekanntlich sehr lang, sie erstreckt sich über vierzig Jahre und reicht von den frühen Auszügen, die 1788/89 im Teutschen Merkur erschienen, über den ersten Teil der Reisebeschreibung von 1816/17 – bis zur endgültigen, um den »Zweiten Römischen Aufenthalt« ergänzten Fassung von 1829. Vgl. dazu Oswald 1985a.
2 Siehe dazu z.B. Waetzoldt 1927; Schmidt 1986; Pütter 1998; Grimm/Breymayer/Erhart 1990; Lange/Schnitzler 2000.
3 In Goethes Tagebuch (Eintrag vom 25. September 1776) findet sich eine erstaunliche Einsicht, der zufolge nicht alles, was real vor seinen Augen steht, seinen Erwartungen auch entspricht: »Jeder denkt doch eigentlich für sein Geld auf der Reise zu genießen. Er erwartet alle die Gegenstände von denen er so vieles hat reden hören, nicht zu finden, wie der Himmel und die Umstände wollen, sondern so rein wie sie in seiner Imagination stehen und fast nichts findet er so, fast nichts kann er so genießen. Hier ist etwas zerstört, hier was angekleckt, hier stinkts, hier rauchts, hier ist Schmutz etc. so in den Wirtshäusern, mit den Menschen etc. Der Genuß auf einer Reise ist wenn man ihn rein haben will, ein abstrakter Genuß, ich muß die Unbequemlichkeiten, Widerwärtigkeiten, das was mit mir nicht stimmt, was ich nicht erwarte, alles muß ich bei Seite bringen, in dem Kunstwerk nur den Gedanken des Künstlers, die erste Ausführung, das Leben der ersten Zeit, da das Werk entstand heraussuchen und es wieder rein in meine Seele bringen, abgeschieden von allem was die Zeit, der alles unterworfen ist und der Wechsel der Dinge darauf gewürkt haben. Dann hab ich einen reinen bleibenden Genuß und um dessentwillen bin ich gereist, nicht um des augenblicklichen Wohlseins oder Spaßes willen. Mit der Betrachtung und dem Genuß der Natur ists eben das. Triffts dann aber auch einmal zusammen daß alles paßt, dann ists ein großes Geschenk, ich habe solche Augenblicke gehabt« (Goethe 1982: 228f.).
4 Vgl. Schröter 2004; Chiarini/Hinderer 2006; Imorde 2012; Maurer 2019.
5 Vgl. Moritz 1981; Herder 1988; Seume 1982.
6 Vgl. Bertels 1789; Hager 1799.
7 Vgl. Heine 1972a; 1972b; 1972c; Nicolai 1834; Vischer 1922a; 1922b; 1922c.
8 Vgl. Pütter 1998, Kap. 4: »Identität im Bedeutenden: Goethes ›Italienische Reise‹«: 149-195.
9 »Ich mache diese wunderbare Reise nicht, um mich selbst zu betrügen, sondern um mich an den Gegenständen kennen zu lernen, da sage ich mir denn ganz aufrichtig, daß ich von der Kunst […] wenig verstehe.« (Goethe 1992: 49f.)
10 Die Italienische Reise ist nicht frei von Schockerlebnissen. So erschreckte Goethe z.B. der Anblick des barocken Baus der sizilianischen Villa Palagonia, für deren bizarren Skulpturenschmuck er keinen Begriff finden konnte und sich durch »Spitzruten des Wahnsinns« (ebd.: 306) gejagt empfand. Die Villa sei ein »Unsinn des Prinzen Palagonia« (ebd.: 301), ein »abgeschmacktes Gebilde« (ebd.: 302), eine »Unschöpfung« (ebd.: 308). Durch maßlose Überfülle und willkürliche Zusammensetzung erscheint sie als eine geschmacklose Stätte, als Produkt kranker Phantasien des Prinzen. Vgl. ebd.: 301-309. Siehe dazu Aurnhammer 1996. Auch die Begegnung mit den so gar nicht Goethes Erwartungen entsprechenden Tempelruinen von Paestum versetzen ihn in den Zustand des abwehrenden Erstaunens, da seine Augen eben »an schlankere Baukunst« (Goethe 1992: 272) gewöhnt waren: »Ich befand mich einer völlig fremden Welt« (ebd.), bekennt er, die dicken und engstehenden Säulen erscheinen ihm »lästig ja furchtbar« (ebd.: 275). Den Schock verarbeitet er mit der bewährten Technik: »Doch nahm ich mich bald zusammen, erinnerte mich der Kunstgeschichte, […] und in weniger als einer Stunde fühlte ich mich befreundet, ja ich pries den Genius daß er mich diese so wohl erhaltenen Reste mit Augen sehen ließ, da sich von ihnen durch Abbildung kein Begriff geben läßt« (ebd.).
11 Auch der Bericht von Goethes Vater – Johann Casper Goethe – gilt als typisches Beispiel einer Informationsreise (vgl. Goethe 1986). Siehe dazu Meier 1992.
12 Geschätzt hat er das Buch des Winckelmann-Schülers Hermann von Riedesel Reise durch Sizilien und Großgriechenland (1771), das er schon aus der Bibliothek seines Vaters kannte und bei seiner Sizilienreise bei sich hatte. Vgl. Wild 1997: 358.
13 Herders positive Eindrücke über Italien lassen sich an den Fingern einer Hand abzählen. Dazu gehört z.B. das Erlebnis der Berglandschaft zwischen Loretto und Spoleto: »Wir reiseten […] nachmittags fort, nach Spoleto, gleichfalls in einem vortrefflichen, entzückenden Tal zwischen den Apenninen. Von der Schönheit der Apenninen ist nicht genug zu sagen: es gibt, glaub’ ich, keine schönere Gegend des Gebirges, ob die Tirolerberge gleich viel höher, wilder, kühner, größer sind« (Herder 1988: 114). Auch die Erfahrungen in Neapel beschreibt Herder als positiv. Hier spricht er sogar von der Möglichkeit einer Wiedergeburt: »Vom drückenden Rom befreit fühle ich mich wie ein ganz anderer Mensch, wiedergeboren an Leib und Seele. […] Hier ist eine Welt, die Gott gemacht hat. Gesundheit, Ruhe und Leben. Ich glaube es den Neapolitanern, daß wenn Gott sich eine gute Stunde machen will, er sich ans himmlische Fenster legt, und auf Neapel herabsiehet« (ebd.: 300).
14 Herder schreibt später an Goethe: »Ich will nun dagegen kämpfen, daß ich nicht in deine Fußstapfen trete« (ebd.: 293).
15 Vgl. Grimm 1988; 2005; 2007; Grimm/Breymayer/Erhart 1990, hier Kap.: »›Ich bin nicht Goethe‹. Johann Gottfried Herder Italienische Bedrängnisse«: 93-102; Sprengel 1991; Löhr 1996; Frick 2006.
16 Bereits vor Goethe gab es subjektzentrierte Schilderungen Italiens, etwa von Wilhelm Heinse. Zwar liefern seine Tagebücher durchaus objektive Informationen, doch viel mehr als das beinhalten sie Selbstreflexionen, Schilderungen subjektiver Kunst- und Landschaftserfahrungen. Vgl. Heinse 1900.
17 Zu Beginn seines Reiseberichts appelliert Moritz an seine Leser, nicht »etwas Ganzes oder Ausführliches« zu erwarten. Vgl. Moritz 1981: 129.
18 Vgl. Pütter 1998, hier Kap. 3: »Reiseführer zur Kunstautonomie: ›Reisen eines Deutschen in Italien‹ von Karl Philipp Moritz«: 69-148.
19 Vgl. dazu Oswald: 1985c, hier Kap.: »Karl Philipp Moritz: ›Reisen eines Deutschen in Italien‹«: 28-44.
20 In den Reisen eines Deutschen in Italien besichtigt Moritz Rom »mit hinlänglicher Muße« (Moritz 1981: 199). Er möchte »kein Plätzchen und keinen Winkel, der irgend etwas Merkwürdiges enthält« (ebd.), unbesucht lassen. Einige Objekte sieht er sogar mehrfach: »Das Merkwürdige aber findet sich hier so nahe beieinander, daß man immer nur einige Schritte gehen darf, um auf einen neuen Gegenstand zu stoßen, bei welchem man sich eine Zeitlang verweilen kann, und den man sich nun für die Folge aufspart, um durch das öftere Wiedersehen erst gleichsam bekannter mit ihm zu werden« (ebd.).
21 Das ist ein Modell, wie es später Peter Weiss in seiner Ästhetik des Widerstands ausarbeitet: Angesichts des Pergamonaltars wird durch die Parteinahme für den aussichtslosen Kampf der Giganten gegen die sie vernichtenden Götter aus der Umdeutung der Kunst Kraft für den Widerstand gegen die aktuelle Unterdrückung gefunden.
22 Das Sklavenmotiv wird fortgesetzt. »Als ich von dem Spaziergange wieder in die Stadt zurückkehrte, begegneten mir eine Anzahl Galeerensklaven, welche Tonnen trugen; ich hörte ihre Ketten schon von ferne klirren, und dachte mir alles Schreckliche ihres Zustandes, welche bald verschwand, da ich näher kam und sah, wie sie mit den Leuten in der Stadt vertraulich sprachen, von Vorbeigehenden angeredet wurden und sich mit ihnen grüßten, gleichsam als ob sie gar nicht von der Gesellschaft der übrigen ausgeschlossen wären und in ihrer Funktion mit zu dem Staate gehörten.« (Ebd.: 158)
23 Vgl. dazu Pfotenhauer 1991.
24 In seinem Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 (1803) schildert Seume aus der Fußgängerperspektive die Lebenssituation der unteren Bevölkerungsschichten. Sein Ziel ist, eine kritische Studie über den soziopolitischen Zustand in Italien zu schreiben und dabei – wie es im Vorwort heißt – »die Sachen ernsthaft geschichtsmäßig zu nehmen, ohne Vorurteil und Groll, ohne Leidenschaft und Selbstsucht« (Seume 1982: VII). Auch Seume schwört also auf einen objektiven Bericht. Dabei geht er pragmatisch vor, seine Schilderungen sollen im Sinne der Aufklärung erkenntnisfördernd sein. Die Begeisterung für die Schönheit der italienischen Kunst und Landschaft hält sich daher stark in Grenzen. Zum Vorschein kommen die raue Wirklichkeit und die im Alltag omnipräsente Kriminalität. Auf dem Weg nach Rom notiert er z.B.: »Wider meine Absicht bin ich nun hier. Die Leutchen in Ancona legten es mir so nahe ans Gewissen, daß es Tollkühnheit gewesen wäre, von dort aus an dem Adria hinunter durch Abruzzo und Kalabrien zu gehen, wie mein Vorsatz war. Ihre Beschreibungen waren fürchterlich, und im Wirtshause betete man schon im voraus bei meiner anscheinenden Hartnäckigkeit für meine arme Seele« (ebd.: 80). Oder: »Freilich gab es auch hier keinen Mangel an Mordgeschichten, und in einigen Schluchten der Berge waren die Arme und Beine der Hingerichteten häufig genug hier und da zum Denkmal und zur schrecklichen Warnung an den Ulmen aufgehängt« (ebd.: 81). Im Unterschied zu Herder ist die Reise von Seume keine inquisitorische Reise, die Missstände aufsucht, um das Land zu verurteilen, sondern er möchte, dass man nach den Ursachen für Probleme fragt, und das gelingt nur durch das nüchterne Protokollieren der schlimmen sozialen Realität. Seume steht also eher in der Tradition Archenholz’, doch verdammt er nicht Italien, sondern jene Schichten, die für die dortige Misere verantwortlich sind, Klerus und politische Obrigkeit. Es geht Seume nicht um die Selbstfindung eines Einzelnen, nicht um aufklärerischen Vernunftidealismus, sondern um die pragmatische Kritik an objektiven gesellschaftlichen und staatlichen Machtstrukturen. Siehe dazu Oswald 1985d; Grimm/Breymayer/Erhart 1990, hier Kap.: »Mit den Augen eines Außenseiters. Johann Gottfried Seume und die Entdeckung der italienischen Wirklichkeit«: 102-112.
25 Vgl. Oswald 1985b; Maurer 2012.
26 »Die Zudringlichkeit der Bettler, das täglich mehrmals sich wiederholende Abfordern der Pässe und der Zahlung dafür, die Habsucht der Menschen überhaupt, die scheußlichen Speisen, der Unflat, die Scharen von Flöhen und anderem Ungeziefer, die schlechten Lagerstätten machen den Aufenthalt in Italien zur Pein.« (Nicolai 1834: 16)
27 Vgl. auch: »Der schönste Erfolg unserer Reise ist die Überzeugung, daß unser deutsches Vaterland hoch über Italien steht, und das erhebende Gefühl in einem Lande geboren zu sein, welches in Beziehung auf Kultur, intellektueller Bildung und wahrer Zivilisation mit allen anderen, die wir gesehen, unbesorgt in die Schranken treten darf. Ein Deutscher, der von seinem Reisen zurückkommend, dies nicht freudig erkennt und nur das Fremde anbetet, ist seines herrlichen Vaterlandes unwerth und verdient, als ein enthusiastischer Thor, bemitleidet, wenn nicht verachtet zu werden« (ebd.: 478).
28 Golo Maurer gibt an, dass laut Katalog zwei Bilder von Carl Blechen ausgestellt worden waren: Der Nachmittag auf Capri und Gegend von Monte Mario bei Rom. Vgl. Maurer 2015: 257-278.
29 Es handelt sich um eine Rezension mit dem Titel »Der Ärger über Italien«, erschienen in der Zeitschrift Der Gesellschafter (130-131, vom 13. und 15. August 1834).
30 Der Verfasser der Rezension war Hermann Friedländer. Er war Medizinprofessor der Universität Halle.
31 Der Anonymus war, wie gesagt, Hermann Friedländer, die Rezension war mit »Italien, wie es wirklich ist u.s.w.« betitelt und ist in den Blättern für literarische Unterhaltung (244, vom 1. September 1834) erschienen. Vgl. auch eine andere Stelle: »Er [Nicolai; S.W.] scheint ja nichts weiter erwartet zu haben, als ein Land, in welchem sogleich nach Überschreitung der Alpen die Citronen- und Pomeranzenwälder mit Palmenhainen wechseln, wo den tiefblauen Himmel kein Wölkchen trübt und der ewige Frühling nicht durch Stürme und Regen gestört wird; wo die Städte, schon von Weitem durch goldene Kuppeln sich ankündigend, nur aus Palästen bestehen, und die Dörfer durch rothe Dächer und hübsch weiß angestrichene Häuser in’s Auge fallen; wo die Menschen, in die phantastische Nationalzüge gekleidet, durchgängig schön sind, wo der Unfug der Bettler und Flöhe polizeilich verboten ist, und das gemeine Volk, obwohl roh, doch die Zivilisation und Bildung des liebenswürdigen Reisenden zu schätzen weiß und ihm seine Reisebeschwerden durch Achtungsbeweise aller Art vergilt« (Anonymus [Hermann Friedländer], zit.n. ebd.: 321).
32 Das Gericht entschied, dass sich der Rezensent einer Metapher bediente: »Der Gegenstand dieser Metapher, welcher durch ein Bild dargestellt wird, ist nicht, wie Kläger vorspiegeln will, die persönliche Gestalt des Klägers oder dessen Sprachorgan, sondern der Inhalt, oder vielmehr der Gehalt der rezensierten Schrift selbst. Nur diesen vergleicht der Beklagte mit dem Quaken der Frösche, nicht die Sprache des Klägers, welche seiner Versicherung nach noch nie sein Ohr berührt hat. Da man dem Quaken der Frösche gewöhnlich die Eigenschaft beilegt, dass er leer und gehaltlos, aber geräuschvoll sei, so kann diese Stelle keinen anderen Sinn als den haben, welcher durch das bekannte Sprichwort ausgedrückt wird: ›Viel Geschrei, wenig Wolle‹. Das kann jedoch für keine Injurie gehalten werden, sondern bloß für ein motiviertes Urteil des Rezensenten über den beurteilten Gegenstand« (Demme 1837: 210f.).
33 Der Beitrag erschien im Literaturblatt vom 10. und 17. Oktober 1835.
34 Der Beitrag erschien im Morgenblatt (204 vom 26. August 1834).
35 Die Rezension des Anonymus [S.M.] mit dem Titel »Italien von der Sehweite« erschien im Frankfurter Konversationsblatt (201 vom 27. November 1834).
36 Das war ein Beitrag aus der Zeitschrift Der Gesellschafter (134, 1834).
37 Auch ihm warf man vor, er male einseitig ins Schöne, »sowohl was das Land und seine Natur, als auch was die Menschen und ihr Tun und Lassen betreffe« (Hehn 1992: IX).
38 Vgl. Vischer (1922b: 305): »Der Italiener behandelt überhaupt das Zug- und Lasttier als eine Maschine, welcher durch Schläge eingeheizt werden muß, um die gewöhnliche Wirkung hervorzubringen. […] Wenn ausgewichen werden muß, und ein Druck der Hand am Zügel genüge, so bekommt das Tier, statt dessen, einige scharfe Hiebe auf die entgegengesetzte Seite: eine stets willkommene Gelegenheit, die Geißel zu brauchen, denn Schlagen ist ja Vergnügen.«
Literatur
Archenholz, Johann Wilhelm (1785): England und Italien. Leipzig.
Aurnhammer, Achim (1996): Das Ärgernis der Villa Palagonia. Zum Bedeutungswandel der Antikklassik im deutschen Sizilien-Bild (1770-1820). In: Frank-Rutgar Hausmann (Hg.): Italien in Germanien: deutsche Italienrezeption von 1750-1850. Tübingen, S. 17-36.
Ders. (2003): Goethes ›Italienische Reise‹ im Kontext der deutschen Italienreisen. In: Goethe-Jahrbuch 120, S. 72-86.
Battafarano, Italo Michele (1997): Der Weimarer Italienmythos und seine Negation: Traum-Verweigerung bei Archenholz und Nicolai. In: Klaus Manger (Hg.): Italienbeziehungen des klassischen Weimar. Tübingen, S. 39-60.
Bertels, Johann Heinrich (1799): Briefe über Kalabrien und Sizilien. 3 Bde. Göttingen.
Brenner, Peter J. (1990): Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungs-überblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. Tübingen.
Chiarini, Paolo/Hinderer, Walter (Hg.; 2006): Rom – Europa. Treffpunkt der Kulturen 1780-1820. Würzburg.
Demme, [Wilhelm Ludwig] (1837): Das Recht freier Kritik auf dem Gebiete der Literatur. In: Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechts-Pflege. Bd. 3, S. 180-218.
Frick, Werner (2006): Was hatte ich mit Rom zu tun? Was Rom mit mir? Johann Gottfried Herder in der »alten Hauptstadt der Welt« [1788/89]. In: Paolo Chiarini/Walter Hinderer (Hg.): Rom – Europa. Treffpunkt der Kulturen 1780-1820. Würzburg, S. 135-172.
Goethe, Johann Caspar (1986): Reise durch Italien im Jahre 1740 [italien. Orig.: Viaggio per l’Italia, 1740]. Übers.u. komm. v. Albert Meier. München.
Goethe, Johann Wolfgang (1982): Tagebücher. 3 Bde. Bd. 1. Hg. v. Gerhart Baumann. Stuttgart.
Ders. (1992): Italienische Reise. Hg. v. Andreas Beyer u. Norbert Miller. München.
Grimm, Gunter E. (1988): Johann Gottfried Herders italienische Erlebnisse, vor zweihundert Jahren: Auf der Spitze des nackten Reizes. In: Stuttgarter Zeitung v. 19. November 1988; online unter: http://purl.oclc.org/NET/duett-08162002-134232 [Stand: 1.4.2022].
Ders. (2005): Das beste in der Erinnerung. Zu Johann Gottfried Herders Italien-Bild. In: Martin Keßler/Volker Leppin (Hg.): Johann Gottfried Herder. Berlin/New York, S. 151-177.
Ders. (2007): Von der Kunst zum Leben. Zum Paradigmenwandel in der deutschen Italienwahrnehmung des 18. Jahrhunderts. Lessing – Herder – Heinse – Seume [Vortrag an der Universität Duisburg am 18. Juni 2003]. In: goethezeitportal.de, 8. Juli 2007; online unter: http://www.goethezeitportal.de/fileadmin/PDF/wissen/projekte-pool/italien/grimm_dt_italienreisen.pdf [Stand: 1.4.2022].
Ders./Breymayer, Ursula/Erhart Walter (Hg.; 1990): Ein Gefühl von freiem Leben. Deutsche Dichter in Italien. Stuttgart.
Hager, Joseph (1799): Gemälde von Palermo. Berlin.
Hehn, Victor (1894): Reisebilder aus Italien und Frankreich. Stuttgart.
Ders. (1992): Italien. Ansichten und Streiflichter [1879]. Darmstadt.
Heine, Heinrich (1972a): Die Bäder von Lucca [1830]. In: Ders.: Werke und Briefe. 3 Bde. Bd. 3. Berlin/Weimar, S. 273-355.
Ders. (1972b): Die Stadt Lucca [1830]. In: Ders.: Werke und Briefe. 3 Bde. Bd. 3. Berlin/Weimar, S. 359-415.
Ders. (1972c): Reise von München nach Genua [1828]. In: Ders.: Werke und Briefe. 3 Bde. Bd. 3. Berlin/Weimar, S. 193-272.
Heinse, Wilhelm (1900): Tagebücher von 1780 bis 1800. Leipzig.
Herder, Johann Gottfried (1988): Italienische Reise. Briefe und Tagebücher [1788/89]. Hg. v. Albert Meier u. Heide Hollmer. München.
Imorde, Joseph/Wegerhoff, Erik (Hg.; 2012): Dreckige Laken. Die Kehrseite der ›Grand Tour‹. Berlin.
Lange, Wolfgang/Schnitzler Norbert (Hg.; 2000): Deutsche Italomanie in Kunst, Wissenschaft und Politik. München.
Löhr, Helmut (1996): Traum und Totengruft. Bemerkungen zur Italienwahrnehmung Johann Wolfgang Herders zwischen Rom und Neapel. In: Günter Oesterle/Bernd Roeck/Christine Tauber (Hg.): Italien in Aneignung und Widerspruch. Tübingen, S. 40-61.
Maurer, Golo (2012): Deutschlandsehnsucht. Gustav Nicolais Reise von Berlin nach Berlin über Rom und Neapel. In: Joseph Imorde/Erik Wegerhoff (Hg.): Dreckige Laken. Die Kehrseite der ›Grand Tour‹. Berlin, S. 136-151.
Ders. (2015): Italien als Erlebnis und Vorstellung. Landschaftswahrnehmung deutscher Künstler und Reisender 1760-1870. Regensburg.
Ders. (2019): Arkadien? Italiensehnsucht – Facetten einer deutschen Fixierung. Frankfurt a.M.
Meier, Albert (1989): Von der enzyklopädischen Studienreise zur ästhetischen Bildungsreise. In: Peter J. Brenner (Hg.): Der Reisebericht. Zur Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt a.M., S. 284-305.
Ders. (1992): Als Moralist in Italien. Johann Caspar Goethes »Viaggio per l’Italia fatto nel anno MDCCXL«. In: Hans-Wolf Jäger (Hg.): Europäisches Reisen im Zeitalter der Aufklärung. Heidelberg, S. 71-85.
Moritz, Karl Philipp (1792/93): Verona oder die Täuschung in den ersten Eindrücken von einem fremden Lande. In: Italien und Deutschland in Rücksicht auf Sitten, Gebräuche, Literatur und Kunst 2, S. 70-79.
Ders. (1981): Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788 [1792/93]. In: Ders.: Werke. Hg. v. Horst Günther. Frankfurt a.M.
Nicolai, Gustav (1834): Italien, wie es wirklich ist. Bericht über eine merkwürdige Reise in den hesperischen Gefilden als Warnungsstimme für alle, welche sich dahin sehnen. Leipzig.
Ders. (1835): Italien, wie es wirklich ist. Bericht über eine merkwürdige Reise in den hesperischen Gefilden als Warnungsstimme für alle, welche sich dahin sehnen. Leipzig; online unter: https://books.google.de/books?id=WPwNAAAAYAAJ&hl=de&source=gbs_navlinks_s [Stand: 1.4.2022].
Oswald, Stefan (1985a): Goethe in Italien – eine Reise und ihre Fassungen. In: Ders.: Italienbilder. Beiträge zur Wandlung der deutschen Italienauffassung 1770-1840. Heidelberg, S. 88-106.
Ders. (1985b): Gustav Nicolai: Italien wie es wirklich ist – Abrechnung mit einem Ideal. In: Ders.: Italienbilder. Beiträge zur Wandlung der deutschen Italienauffassung 1770-1840. Heidelberg, S. 142-147.
Ders. (1985c): Italienbilder. Beiträge zur Wandlung der deutschen Italienauffassung 1770-1840. Heidelberg.
Ders. (1985d): Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus. In: Ders.: Italienbilder. Beiträge zur Wandlung der deutschen Italienauffassung 1770-1840. Heidelberg, S. 45-61.
Pfotenhauer, Helmut (1991): »Signatur des Schönen« oder »In wie fern Kunstwerk beschrieben werden können?« Zu Karl Philipp Moritz und seiner italienischen Ästhetik. In: Ders. (Hg.): Kunstliteratur als Italienerfahrung. Tübingen, S. 67-83.
Pütter, Linda Maria (1998): Reisen durchs Museum. Bildungserlebnisse deutscher Schriftsteller in Italien (1770-1830). Hildesheim u.a.
Schmidt, Hartmut (1986): Die Kunst des Reisens. Bemerkungen zum Reisebetrieb im späten 18. Jahrhundert am Beispiel von Goethes erster Italienreise. In: Jörn Göres (Hg.): Goethe in Italien. Eine Ausstellung des Goethe-Museums Düsseldorf. Mainz, S. 9-14.
Schröter, Elisabeth (2004): Italien – ein Sehnsuchtsland? Zum entmythologisierten Italienerlebnis in der Goethezeit. In: Hildergard Wiegl (Hg.): Italiensehnsucht: kunsthistorische Aspekte eines Topos. München/Berlin, S. 187-202.
Seume, Johann Gottfried (1982): Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 [1803]. München.
Spivak, Gayatari Chakravorty (1985): The Rani of Sirmur: An Essay in Reading the Archives. In: History and Theory 24, H. 3, S. 247-272.
Sprengel, Peter (1991): In der Museum Heiligtum. Herder, Italien und der Klassizismus. In: Helmut Pfotenhauer (Hg.): Kunstliteratur als Italienerfahrung. Tübingen, S. 40-66.
Vischer, Friedrich Theodor (1922a): Durcheinander aus Oberitalien [1867]. In: Ders.: Kritische Gänge. 6 Bde. Bd. 6. 2., verm. Aufl. München, S. 180-204.
Ders. (1922b): Ein italienisches Bad [1875]. In: Ders.: Kritische Gänge. 6 Bde. Bd. 6. 2., verm. Aufl. München, S. 296-325.
Ders. (1922c): Noch ein Wort über Tiermißhandlung in Italien [1875]. In: Ders.: Kritische Gänge. 6 Bde. Bd. 6. 2., verm. Aufl. München, S. 326-336.
Volkmann, Johann Jakob (1770): Historisch-kritische Nachrichten aus Italien. Leipzig.
Waetzoldt, Wilhelm (1927): Das klassische Land. Wandlungen der Italiensehnsucht. Leipzig.
Wieder, Joachim (1972): Italien, wie es wirklich ist, eine Polemik von 1833. In: Joseph Adolf Schmoll (Hg.): Festschrift Luitpold Dussler – 28 Studien zur Archäologie und Kunstgeschichte. München, S. 317-331.
Wild, Reiner (1997): Italienische Reise. In: Bernd Witte (Hg.): Goethe-Handbuch. Bd. 3: Prosaschriften. Hg. v. Bernd Witte u.a. Stuttgart/Weimar, S. 331-369.