GiG im Gespräch 2022/2
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
liebe Mitglieder der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik,
sehr geehrte Leserinnen und Leser der Zeitschrift für interkulturelle Germanistik,
heute möchte ich Sie in der Rubrik GiG im Gespräch zunächst bezüglich des Standes der Vorbereitungen der nächsten Tagung, die im kommenden Jahr in Utrecht vom 14. bis 17. Juni 2023 stattfinden wird, auf dem Laufenden halten. Der Call wurde verschickt und ist über die GiG-Website abrufbar. Die Frist für die Einreichung von Beitragsvorschlägen endete Mitte Oktober und die Antworten werden gewiss noch vor Jahresende verschickt werden, damit Sie Ihrerseits planen können. Wir freuen uns besonders auf die persönliche Begegnung nach dann fast vier Jahren, denn die letzte Tagung in Präsenz war die im Herbst 2019 in Germersheim, da die ebenfalls sehr gelungene Tagung 2022 in Zadar online durchgeführt werden musste.
Wieder einmal möchte ich aber heute auch auf einige aktuelle Publikationen aufmerksam machen, die ich aus unterschiedlichen Gründen für interessant halte.
Zunächst ist hier ein Buch des langjährigen Mitglieds der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik hervorzuheben. Der Kollege Dietrich Rall (Mexiko) hat in Auf kabbeliger See mit meinem Vater. Zwiegespräche mit den Tagebüchern und Kriegserinnerungen von Viktor Rall, 1939-1945 ein besonderes Textformat entwickelt, dass er eingangs beschreibt. Das vom Vater während der Kriegsjahre geführte Tagebuch ergänzte dieser um die später verfassten Kriegserinnerungen. Beide zieht Dietrich Rall heran, kommentiert sie und vergleicht sie auch vor allem im Fall starker Abweichungen. Weiterhin zieht er historiographische Arbeiten zu einigen der erwähnten Ereignisse heran, um sie in historische Kontexte einzubetten. Eine weitere Facette wird durch Zitate aus literarischen Werken ausgemacht, die Dietrich Rall nach seinen eigenen Assoziationen auswählt. Sowohl bei den historiographischen als auch den literarischen Quellen handelt es sich um deutsch-, französisch- und spanischsprachige Texte und damit natürlich auch vielfältige Perspektiven. Eigene Kindheitserinnerungen bringt Dietrich Rall ebenfalls ein und er legt seine persönliche Einschätzung der Darstellungen des Vaters gelegentlich offen. Es handelt sich aus meiner Sicht um eine bedeutende Dokumentation der Auseinandersetzung mit den Erlebnissen und Positionen des Vaters im Zweiten Weltkrieg und damit verbunden mit der Familiengeschichte.
Der Lyriker, Essayist und interkulturelle Autor José F. A. Oliver, dessen herausragende literarische Leistungen bereits 1997 durch den Adelbert-von-Chamisso Preis gewürdigt und dem zahlreiche weitere Preise zugesprochen wurden, darunter 2021 den renommierten Heinrich-Böll Preis der Stadt Köln, nahm vor wenigen Wochen die Wahl zum Präsidenten des PEN-Clubs Deutschland an. Hierzu ist ihm auch an dieser Stelle auf das Herzlichste zu gratulieren. Gerade erschienen ist der von José F. A. Oliver und dem GiG-Mitglied Jörg Roche, der eine Professur für Deutsch als Fremdsprache an der Ludwig Maximilians Universität München innehat, herausgegebene Band kUNSt. schreiben in Hessen beim Verlag am Singersbach erschienen. Konzept und Idee stammen von der Literatur- und Politikwissenschaftlerin Ulrike Wörner und dem Fotografen Yves Noir, von dem auch die ausgezeichneten Photographien und Videos der Chamisso-Preisträgerinnen und -Preisträger stammen. Jörg Roche beschreibt, vor welchem Hintergrund der Band entstanden ist: Die Hessische Agentur für berufsqualifizierende Sprache e.V. entwickelt neue Konzepte für die Vermittlung und den Erwerb von Sprache und Kommunikation zur Verbesserung der Arbeitsintegration und zur Qualifizierung von Arbeitssuchenden und Arbeitslosen in Hessen. José F. A. Oliver beschreibt in seinen einleitenden Bemerkungen zu diesem Band sein Anliegen in der betreffenden Spracharbeit so, dass es um poetische Offenheit den gegebenen Sprach-Wirklichkeiten gegenüber gehen sollte; um das sich ständig verändernde Delta der Sprache; um das Nachdenken über Sprache als Dimension der lebendigen Vielfalt; um den beseelenden Reichtum an nicht als »gut« oder »schlecht« reglementierten Erprobungen der Sprache.
José Oliver macht es sich tatsächlich seit Jahrzehnten zur Aufgabe, Sprachbewusstheit zu schulen, um junge Menschen darin zu unterstützen, sich selbst besser kennen zu lernen und einbringen zu können, indem sie lernen, sich mit Semantiken auch alltäglicher Worte und Sprachverwendung reflektiert auseinanderzusetzen, ohne dass dabei ihre Sprache immer erst einmal auf den korrekten grammatischen Gebrauch hin beurteilt wird.
Ein ähnlich bewusster Umgang mit Sprache wird auch in der dritten Publikation, auf die ich aufmerksam machen möchte, fokussiert. Dies ist der Band Heinrich Böll, Sharon Dodua Otoo. Gesammeltes Schweigen, vor wenigen Monaten herausgegeben und gestaltet von Katharina Mevissen und Simon Wahlers im Verlag Edition Zweifel. Die britisch-deutsche Schriftstellerin Sharon Dodua Otoo wurde als Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin seit 2016 im deutschsprachigen Raum besonders bekannt. Dieser Band umfasst in zwei Teilen einen Wiederabdruck der bekannten Satire Bölls Doktor Murkes gesammeltes Schweigen und die Sammlung Schnipsel der Stille von Sharon Dodua Otoo. Der Verlag bewirbt die Publikation als ein »angeregtes Gespräch« zwischen Autor und Autorin, gewissermaßen als Teil der literarischen Fiktion. Tatsächlich ist der schmale Band aus literaturwissenschaftlicher Sicht in verschiedener Hinsicht interessant, denn er kann sowohl als Dokument einer aktuellen Böll-Rezeption gelesen werden als auch als ein Dokument einer Autorinnenpoetik Sharon Dodua Otoos. Ein zentraler Aspekt ist dabei die Frage der Verantwortung im literarischen Umgang mit Sprache:
Als Böll Doktor Murkes gesammeltes Schweigen verfasst hat, stand Deutschland weiterhin unter dem Eindruck eines zerstörerischen Krieges und des nationalsozialistischen Genozids. Er hatte erlebt, wie die deutsche Sprache dazu benutzt wurde, aus Mitmenschen erst Fremde und schließlich Gegenstände zu machen.
Der kreative Umgang mit Sprache ist eine große Verantwortung, die weitreichende Folgen nach sich ziehen kann. (Mevissen/Wahlers 2022: 99; vgl. auch 66f.)
Es spricht für einen hohen Grad an Reflexion, dass Sharon Dodua Otoo sich als Autorin in ihrer Sprachverwendung so ausgeprägt in der Pflicht sieht und nicht in erster Linie die Worte oder die Sprache als solche auf gut oder böse hin be- und verurteilt.
Die drei Publikationen halte ich nicht nur jede für sich für besonders und interessant, sondern denke, dass sie zugleich hervorragend geeignet sind zu illustrieren, wie wunderbar vielfältig sich das Feld von Interkulturalität, Mehrsprachigkeit und Literatur heute präsentiert.
Für den bald schon wieder bevorstehenden Jahreswechsel wünsche ich Ihnen bereits jetzt alles Gute und grüße Sie sehr herzlich aus Bayreuth
Ihre Gesine Lenore Schiewer
Literatur
Mevissen, Katharina/Wahlers, Simon (Hg.; 2022): Gesammeltes Schweigen. Heinrich Böll, Sharon Dodua Otoo. Hamburg/Berlin.
Rall, Dietrich (2022): Auf kabbeliger See mit meinem Vater. Zwiegespräche mit den Tagebüchern und Kriegserinnerungen von Viktor Rall, 1939-1945. Mexiko.
Roche, Jörg/Oliver, José F. A. (Hg.; 2022) kUNSt. schreiben in Hessen. Gutach.