Parcours und Karte
Postmigrantische Erkundungen am Ballhaus Naunynstraße, ausgehend vom Theaterparcours Kahvehane. Turkish Delight, German Fright? (2008)
AbstractThe article deals with the theatre parcours Kahvehane – Turkish Delight, German Fright?, a walking performance that takes the audience to various Anatolian coffee houses in the Berlin districts Kreuzberg and Neukölln. Within these venues, international artists developed performative interventions trying to temporarily open these seemingly closed spaces to a new (theatre) audience. By leaving the theater building and entering the Kahvehane, however, the audience itself became an object of investigation. As the essay attempts to show, the parcours stages aesthetic as well as social tensions between self and other, between the known and the unknown by deploying different medial strategies, as it consists not only of the tour, but also of a catalog including a cartography and a typology of the Kahvehane. However, the documenting map and the ephemeral (theater) parcours are not presented as mutually exclusive strategies, but as media practices that necessarily complement each other in order to negotiate and historicize conflicts of the German migration society with performative means.
TitleParcours and Map. Postmigrant Explorations at Ballhaus Naunynstraße, departing from the theater parcours Kahvehane. Turkish Delight, German Fright? (2008)
Keywordspostmigrant theatre; walking performance; intimate publics; mapping; migration
Stadt/Theater
Einleitung
Theater zeichnet sich seit jeher durch konkrete Ortsbezüge aus. Theatergebäude liegen repräsentativ inmitten der Stadt, die architektonische Unterscheidung von Vorder- und Hinterbühne trennt Produktionsbereich und Rezeptionssphäre, und die Rede vom Engagement an einem Theaterhaus bezeichnet meist nicht einfach eine Arbeitsbeziehung, sondern ist als emphatischer Bezug auf die künstlerische und/oder politische Ausrichtung der jeweiligen Institution zu verstehen. Die theatrale Ortsgebundenheit trifft aber auch auf die Aufführung zu, die Handelnde und Zuschauende an einem Ort versammelt und die die Bedeutung des Raums, in dem sie stattfindet, als transitorisches Geschehen von einer begrenzten Dauer umso mehr unterstreicht. Dennoch gehört es mittlerweile zum Repertoire des Gegenwartstheaters, dass Aufführungen außer Haus gehen: Sie finden an kunst- oder theaterfernen Spielorten statt, deren besondere Atmosphäre oder spezielle Geschichte sie aufgreifen, oder sie realisieren sich in Form eines Spaziergangs durch den Stadtraum, auf dem das meist in Kleingruppen aufgeteilte oder sogar vereinzelte Publikum die städtische Umgebung erkundet.1 Die Verlagerung des Geschehens in den öffentlichen Raum verbindet sich dabei meist mit einem institutionenkritischen Impetus sowie der Hoffnung, die Reichweite von Theater zu vergrößern und ein heterogeneres Publikum anzusprechen.2
An Berliner Theaterhäusern fanden bereits zu einem frühen Zeitpunkt Aufführungen im öffentlichen Raum statt, bspw. an der Schaubühne am Halleschen Ufer, die in den 1970er-Jahren andere Arbeits- und Organisationsformen von Theater erprobte.3 Der dort engagierte Regisseur Klaus Michael Grüber ließ seine Winterreise (1977) nach Motiven aus Friedrich Hölderlins Hyperion-Fragment im Olympiastadion spielen, einem »wunden Punkt in der Topographie Berlins« (Kreuder 2002: 71). Das Publikum war auf der Tribüne platziert, von wo aus es Hyperions Wanderungen durch das riesige Stadionrund verfolgen konnte. Die Szenographie verwies dabei auf die NS-Ästhetik des Stadions und den Zweiten Weltkrieg, u.a. mittels einer Nachbildung des Portals vom Anhalter Bahnhof, das sich als Kriegsruine erhalten hat.4 Zwei Jahre später entwickelte Grüber im Rahmen eines Stadtraumprojekts über Berlin in der Ruine des in den 1920er-Jahren legendären Hotel Esplanade am Potsdamer Platz die szenische Installation Rudi, die auf einer Novelle Bernard von Brentanos basierte.5 Hier konnte sich das Publikum frei durch unterschiedliche Räume bewegen und dabei Auszüge aus der Novelle hören.
Auf ähnliche Art prägend für zeitgenössische Performances im Stadtraum erscheint das vollkommen anders gelagerte, rund 30 Jahre später von Matthias Lilienthal entwickelte Projekt X-Wohnungen, dessen Berliner Fassung 2004 am »Hebbel am Ufer«-Theater, dem früheren Schaubühnengebäude, realisiert wurde.6 Unter dramaturgischer Leitung von Shermin Langhoff und Arved Schultze entwickelten mehr als 30 Theater-, Kunst- und Filmschaffende jeweils fünf- bis zehnminütige Darbietungen in Berliner Privatwohnungen in Lichtenberg und Kreuzberg zum Thema Migration. Im Unterschied zu Grübers Inszenierungen fand X-Wohnungen nicht an öffentlichen Orten, sondern in privaten Räumen statt. Theater begab sich hier an Orte, an denen es gewöhnlich nicht stattfindet, wobei verborgene sozioökonomische, ethnisch oder historisch begründete Vorurteile gegenüber den Bewohner*innen hervorgekehrt und als solche in Frage gestellt werden sollten (vgl. Garde/Mumford 2016: 128).
Ähnlich motiviert und formal gestaltet war auch der von Martina Priessner und Tunçay Kulaoğlu kuratierte und von Mürtüz Yolcu geleitete Theaterparcours Kahvehane – Turkish Delight, German Fright?, der 2008 im Rahmen des Eröffnungsfestivals am Ballhaus Naunynstraße Premiere hatte. Auch hier begaben sich Publikumsgruppen auf einen Rundgang durch den Berliner Stadtraum, wobei sie unterschiedliche anatolische Kaffeehäuser in den (ehemaligen) Einwanderer- und Arbeiterbezirken Kreuzberg und Neukölln besuchten, in denen Installationen, kleine Ausstellungen, Performances oder Filmvorführungen stattfanden.7 Was diese Arbeit von den bisher Erwähnten unterscheidet, ist zunächst die Wahl des Spielortes: Die Kaffeehäuser gelten weder als sonderlich geschichtsträchtige Orte noch handelt es sich um private Räumlichkeiten. »Für Außenstehende sind die Kahvehane Leerstellen in der Stadt, im Mainstream-Diskurs werden sie auch gerne als Parallelwelt oder Integrationshindernis bezeichnet« (Ballhaus Naunynstraße 2008: 3; Hervorh. i.O.). Der Rundgang erkundet Lokale, die zwischen Öffentlichkeit und Privatheit changieren und deren Wahrnehmung durch ein medial verbreitetes, überwiegend negativ konnotiertes Bild geprägt ist. Die formale Bezeichnung als Parcours beschreibt somit nicht nur den stationären Verlauf der Aufführung, die zwischen Situationen des Ankommens und des erneuten Aufbruchs hin und her wechselt.8 Sie lässt sich in übertragenem Sinn auch als Hindernislauf begreifen, auf dem die Teilnehmenden mit verschiedenen ›Hürden‹ in der Fremd- und Selbstwahrnehmung konfrontiert werden. Dieses Anliegen scheint eng mit der institutionellen Rahmung des Theaterparcours verknüpft. Das Ballhaus Naunynstraße hatte sich als erste postmigrantisch ausgerichtete Stadtteilbühne in Deutschland nämlich zum Ziel gesetzt, »die Diversität und Realität der Migrationsgesellschaft, die Deutschland seit Jahrzehnten bereits war« (Sharifi 2020: 65), auch auf und hinter der Theaterbühne einzuholen.
Vor diesem Hintergrund soll es im Folgenden um die Frage gehen, mit welchen Mitteln der Theaterparcours Kahvehane diesen doppelten Aufbruch des postmigrantischen Theaters in Szene gesetzt hat und welche ›Hindernisse‹ dabei in Angriff genommen wurden. Nach einer kurzen Rekapitulation zur Gründung des Ballhauses Naunynstraße stehen mit dem Parcours und der Karte die szenographischen und topographischen Verfahren der Aufführung im Zentrum, mit denen die Kaffeehäuser erkundet wurden und die die Migrationsgeschichte(n) dieser Lokale für das Publikum sichtbar und erfahrbar machen sollten. Dabei erscheint das mediale Zusammenspiel von Karte und Parcours als spezifische Inszenierungsstrategie, um Theater und Stadt in einer postmigrantischen Gesellschaft in Beziehung zueinander zu setzen.
Theater in der Naunynstraße
Aufbruch des (Post-)Migrantischen am Ballhaus
Das Ballhaus Naunynstraße eröffnete 2008 mit dem Festival Dogland – Junges postmigrantisches Theaterfestival. Der Titel Dogland verweist u.a. auf das gleichnamige Theaterstück des Dramatikers und Regisseurs Nuran David Calis aus dem Jahr 2006, das den mittleren Teil seiner sogenannten Heimat-Trilogie bildet,9 aus der im Rahmen des Festivals mit der Montage Café Europa vs. Dog eat Dog (R: Mehdi Moinzadeh) zwei weitere Stücke gezeigt wurden. Damit knüpften die Veranstalter*innen nicht nur an den bis dahin verhältnismäßig singulären Erfolg eines postmigrantischen Theaterautors an (vgl. Kastner/Kulaoğlu/Langhoff 2011: 402); die in Calis’ Stücktiteln verwendete Hundemetaphorik wurde auch auf das eigene Anliegen bezogen, ab jetzt »aus der dritten Reihe [zu] bellen« (Wildermann 2008), also gegen den Missstand vorzugehen, dass (post-)migrantische Akteur*innen, Perspektiven und Narrative im deutschsprachigen Theater bislang nahezu nicht vorgekommen seien (vgl. Kastner/Kulaoğlu/Langhoff 2011: 401f.). Der bis heute als Logo des Ballhauses fungierende zähnefletschende Hund verweist noch auf diese Maxime.
Einen weiter zurückliegenden historischen Rahmen setzte das Dogland-Festival mit dem im Programmheft immer wieder zitierten Schriftsteller Aras Ören, der in den 1960er-Jahren als Dramaturg und Schauspieler nach Westberlin kam. Für die Dauer des Festivals vom 7. November 2008 bis zum 29. Januar 2009 war über der Naunynstraße ein Banner mit dem Satz: »Die Naunynstraße füllt sich mit Thymianduft, mit Sehnsucht und Hoffnung, aber auch mit Hass«, aufgespannt, der auf einige Zeilen aus Örens 1973 veröffentlichtem Poem Was will Niyazi in der Naunynstraße10 rekurriert. Darin gibt Ören Einblicke in das Alltagsleben deutscher und türkischer Arbeiter*innen aus der Naunynstraße und porträtiert diesen Straßenzug als Ort proletarischer Solidarität (vgl. Gezen 2012: 55, 61). Darüber hinaus verweist der Bezug auf Aras Ören auch auf die Geschichte deutsch-türkischen Theaters in der Bundesrepublik,11 das sich seit den 1970er-Jahren in eigens gegründeten Theatertruppen wie dem Tiyatrom Theater Berlin oder dem Arkadas Theater Köln (vgl. Sharifi 2020: 66), aber auch an der Berliner Schaubühne unter Peter Stein abspielte. Dort war kurzzeitig ein türkisches Ensemble engagiert, das sich aus Mitgliedern der Theatergruppe Berlin Oyuncuları (Berliner Darsteller) zusammensetzte, die wiederum eine der drei bedeutendsten, in Kreuzberg verorteten türkischen Theatergruppen der 1970er-Jahre war (vgl. Boran 2004: 94-97).
Die Referenz auf Calis und Ören unterstreicht nicht nur die Bedeutung Kreuzbergs als Ort (post-)migrantischer Kunst- und Kulturproduktion. Sie lenkt das Augenmerk auch darauf, dass die vom Ballhaus vertretene, postmigrantische Programmatik an den Nachwirkungen von Migrationsbewegungen interessiert ist und den Verflechtungen deutsch-türkischer Migrationsgeschichte(n) in der heutigen Gesellschaft nachzugehen sucht.
Theaterparcours als Hindernislauf?
Performative Erkundungen anatolischer Kaffeehäuser in Berlin
Als eine solche Spurensuche war auch der Parcours Kahvehane angelegt, der sich »ästhetisch mit der Nachbarschaft des Ballhaus Naunynstraße und seinen internationalen Bewohnern« (Sharifi 2011: 38f.) beschäftigte. Dass die Auseinandersetzung mit (post-)migrantischen Lebenswelten, die die urbane Atmosphäre der Stadt Berlin und insbesondere des Naunynkiezes mitbestimmen, im Rückgriff auf die Form des Theaterparcours geschah, ist wenig verwunderlich. Denn hierin laufen die institutionenkritische Agenda des postmigrantischen Theaters und die Hinwendung zu an den Rand gedrängten Lebenswirklichkeiten auf modellhafte Weise zusammen: Das Verlassen des Theaterraums, der gewöhnlich als Schau-Ort für ein weißes Mittelschichtspublikum dient, geht einher mit der Erschließung einer bisher im Theater ausgeklammerten urbanen Vielfalt.
Dies macht der begleitend zum Theaterparcours erschienene Katalog deutlich, wenn er die im Zentrum stehenden Orte als uneinsichtig und verschlossen beschreibt – wegen der »milchig weißen Fensterscheiben«, aber auch wegen des dort häufig angebrachten Hinweisschildes »Zutritt nur für Vereinsmitglieder!« (Ballhaus Naunynstraße 2008: 3). Zentrales Anliegen des Parcours war es, diese Räume durch vor Ort geschaffene »Ausnahmesituationen« (ebd.) aus der Perspektive internationaler Künstler*innen zu öffnen (vgl. Kastner/Kulaoğlu/Langhoff 2011: 407). Nurkan Erpulat, Michael Ronen, Züli Aladağ, Sinan Akkuş, Loulou Omer, Mıraz Bezar, Canan Erek, Silke Wagner, Silvina Der-Meguerditchian, Neco Çelik und Stephan Geene realisierten amüsante, aber auch provokative Performances, schufen Videoinstallationen, interaktive Ausstellungen und Hörstücke, die sich auf je eigene Weise mit der konkreten Umgebung, der öffentlichen Wahrnehmung und der diskursiven Rahmung der Lokale, mit ihrer Geschichte, aber auch mit der theatralen Schausituation und dem Verhältnis zwischen vor Ort anwesenden und nur vorbeischauenden Gästen auseinandersetzten. Dabei gestalteten sich die Interaktionen von Station zu Station unterschiedlich: Mal wurde das Theaterpublikum explizit adressiert und mit den übrigen Gästen in Austausch gebracht, mal war es primär in der Position von Zuschauenden. Neco Çelik bspw. konfrontierte das Publikum in Anlehnung an Franz Kafkas Bericht für eine Akademie mit einem »Anzugträger mit Affenmaske«, der die Betrachtenden aus »traurigen Augen« (Kleilein 2013: 403) anblickte und immer wieder fotografierte – eine stumme Schau-Anordnung, die das Publikum mit dem eigenen, voyeuristischen Blick auf das vermeintlich Fremde konfrontierte. Stumm und unauffällig blieben zunächst auch die beiden in einem Nebenraum sitzenden Männer im Café Türkiyemspor, die lange nur bedächtig ihren Tee rührten, bevor sie sich plötzlich erhoben und einen traditionellen türkischen Tanz aufführten. In der anschließenden Frage- und Antwortrunde mit dem Theaterpublikum kamen beide Seiten, unterstützt durch eine Übersetzerin, miteinander ins Gespräch über die persönliche Bedeutung des Kaffeehauses, darüber, weshalb hier nur Männer zugegen sind oder wie die Theatergäste diesen Ort erleben.
Mit solchen Interventionen steht der Parcours nicht nur in der Tradition von Theaterarbeiten im öffentlichen Raum, er verweist auch auf die Kulturgeschichte anatolischer Kaffeehäuser, die seit dem 16. Jahrhundert ein Gegengewicht zu anderen öffentlichen Orten wie dem ökonomisch gerahmten Basar und der religiös besetzten Moschee bildeten (vgl. Kömeçoğlu 2015: 151). In den Kahvehane fanden nämlich auch Vorträge und Lesungen statt, es gab Marionettentheater, Vorführungen des Meddah, einem erzählerischen Einmannspiel, oder Aufführungen des satirischen Karagöz.12 Dabei stand das Kaffeehausmilieu, in dem Menschen aus verschiedenen Schichten zusammenkamen, für ein integratives Sozialmodell, an dem jedermann – in diesem Fall tatsächlich: jeder Mann – nach seinen persönlichen Kenntnissen und Erfahrungen teilnehmen konnte.13 In den seit Anfang der 1970er-Jahre in Deutschland gegründeten Kahvehane spielt diese Tradition längst keine Rolle mehr.14 Sie waren in erster Linie wichtige Orte des sozialen Austauschs für diejenigen, die sich an den Rand der Gesellschaft gedrängt sahen und kaum in das öffentliche Leben der Städte eingebunden waren (vgl. Ceylan 2006: 190). »Nicht selten blieb den Gästen aus der Türkei sogar der Zutritt zu deutschen Kneipen verwehrt: Das Schild ›Türken verboten‹ war an vielen Gasthaustüren angebracht« (Kleilein 2013: 404).
Der Parcours lässt sich insofern in mehrfacher Hinsicht als postmigrantischer Aufbruch oder – um im Bild zu bleiben – Umgang mit Hindernissen begreifen: Er reaktiviert eine verschüttete Tradition anatolischer Kaffeehäuser als Orte von Kunst- und Kulturproduktion, wodurch die Lokale gegenüber dem Theaterpublikum und damit auch der Stadt und ihren Bewohner*innen geöffnet werden. Durch deren Eintritt rückt er die (vermeintlichen) Abschottungstendenzen der Kahvehane ebenso in ein neues Licht wie er die männliche Dominanz dieser Orte aufbricht – nicht ohne das Theaterpublikum, gewöhnlich eine mehr oder weniger sichtbare Ansammlung vereinzelter Voyeur*innen, zugleich selbst zum Gegenstand der Betrachtung zu machen.
Exemplarisch nachvollziehen lässt sich dies abschließend an Michael Ronens Hörspielinstallation Selo’s Gastarbeiter, die im Café Gediz – Selo N’un Yeri stattfand. Ausgehend von Interviews mit Kaffeehausgästen wurden dafür vier Rollenskripts geschrieben, die per Kopfhörer auf die am Tisch sitzenden ›fremden‹ Theatergäste projiziert wurden. Akustisch abgeschirmt vom weiterlaufenden Tagesgeschäft, hörten sie aus dem Leben von Ibrahim, Emre, Hakan und Ahmet, die »schon lange krank« sind, »bei Volkswagen nicht genommen« wurden, nicht »aus Gediz, sondern aus Mûş« kommen, »50 Jahre alt« sind, »sechs Kinder« haben, »sieben Tage die Woche«15 arbeiten, und werden dabei auch zu konkreten Handlungen aufgefordert. So kommt es, dass »man sich auf einmal auf Türkisch unterhält, sich anbrüllen lässt oder voller Wut mit der Hand auf den Tisch haut« (Schlevogt 2012), obwohl man gar nicht wütend ist, nichts Schlimmes getan hat und auch die türkische Sprache nicht beherrscht. Die Installation kehrt das Verhältnis zwischen Handelnden und Zuschauenden um: Die Stammgäste des Café Gediz werden zum Publikum, das den Theatergänger*innen dabei zuschaut, wie sie typische Kaffeehausszenen performen.
Auch die ästhetische Überlagerung unterschiedlicher Räume im Hörspiel begünstigt solche Perspektivwechsel. So wird die konkrete Umgebung des Café Gediz in der Sonosphäre des Hörspiels (vgl. Pinto 2012: 38f.) immer wieder mit Erinnerungsorten in Anatolien verknüpft: Eine junge Frau am Tisch zeigt plötzlich auf eine Fotografie an der Wand, auf der ein junger Mann als Ziegenhirte in den Bergen zu sehen ist, der in die Kamera lächelt. Auf das Bild weisend, auf dem der Gastwirt Selo als Hirte in seinem Heimatdorf Kepenek zu sehen ist, fragt sie: »Wisst ihr, was ich in der Türkei gemacht habe? Das bin ich mit meinen Ziegen. Ich habe Käse gemacht«16. Für den Wirt offenbar ein affektiv hoch besetztes Erinnerungsobjekt seiner Migrationsgeschichte, stimuliert das Foto im Hörspiel einen Imaginationsraum, den die Teilnehmenden nur abhängig von eigenen affektiven Repertoires füllen können. Die weiblich gelesene Theaterzuschauerin, die in der Rolle des Selo agiert, nähert sich seiner Erfahrungswelt nicht nur an, sie stellt dabei zugleich die Differenz zwischen Zeiten, Orten und Geschlechtern aus.
Um Michael Ronens performativen Zugriff auf das Café Gediz einzuordnen, bietet sich das Konzept intimer Öffentlichkeiten an, wie es Lauren Berlant ausformuliert hat.17 Intime Öffentlichkeiten entstehen nicht durch diskursives Aushandeln, sondern konstituieren sich durch den Gebrauch von etwas und setzen voraus, dass diejenigen, die ein gemeinsames Interesse an einer Sache haben, bereits durch eine ähnliche Weltanschauung und ein ähnliches emotionales Wissen miteinander verbunden sind (vgl. Berlant 2008: viii). Die in einer intimen Öffentlichkeit zirkulierenden Dinge und Narrative – darunter häufig emotional aufgeladene Ich-Erzählungen – würden dabei nicht nur als Ausdruck einer gemeinsam erlebten Geschichte wahrgenommen, sie regulierten auch, wer zu dieser Sphäre dazugehöre und wer nicht.
In other words: an intimate public is an achievement. Whether linked to women or other nondominant people, it flourishes as a porous, affective scene of identification among strangers that promises a certain experience of belonging and provides a complex of consolation, confirmation, discipline, and discussion about how to live as an x. (Ebd.)
Die Installation stellt die Kahvehane als solche Orte intimer Öffentlichkeit vor, denn sie zeigt, dass hier Menschen mit ähnlichen biographischen Hintergründen und einem gemeinsamen Wissens- und Erfahrungshorizont zusammenkommen, die über Konsumpraktiken, den Austausch von Alltagserfahrungen oder das gemeinsame Spiel eine Form der Zugehörigkeit herstellen. Aus dieser Perspektive betrachtet, relativiert sich zudem die übliche Rahmung der Kahvehane als Orte einer sich abschottenden Parallelgesellschaft. Dann verweisen sie nämlich ex negativo auf die Ausschlusspraktiken einer hegemonialen Öffentlichkeit, in der (post-)migrantische Erfahrungswelten keinen Platz hatten und haben. Umgekehrt lässt die Tatsache, dass das Theaterpublikum vor Ort im Café Gediz selbst in die Rolle von regulären Kaffeehausgästen versetzt wird, fraglich werden, inwieweit es sich hierbei nicht auch um eine Art intime Öffentlichkeit handelt.
Parcours und Karte
Vermittlungen des Transits
Der bereits erwähnte Katalog zur Aufführung überführt die vielfältigen affektiven Relationen, die der Parcours herstellt und erkundet, mit einer Typologie und einer Kartographie der Kahvehane in andere Darstellungsmedien. Die Typologie besteht aus Porträts der zwölf Lokale, die bspw. Fotografien des Interieurs, Anekdoten über das Lokal, den Wirt oder die Gäste, einen architektonischen Grundriss und die Lage des Kaffeehauses in der Stadt enthalten. Mittels Bildern und Skizzen inventarisieren sie außerdem, was sich vor Ort findet: Stühle und Tische, Tresen, Mokkamaschinen, Kartenhalter, Bilder, Spielautomaten, Flaggen, Urkunden, Filmleinwände, Bildschirme usw. (Abb. 1).
Anschaulich wird, dass Migration nicht nur eine Bewegung von Menschen, sondern auch von Objekten, von Verhaltensweisen und kulturellen Praktiken ist. Zugleich dokumentiert die Typologie einen Status quo, denn die anatolischen Kaffeehäuser sind selbst dem städtebaulichen Wandel Berlins unterworfen und müssen wegen Mieterhöhungen, Modernisierungsmaßnahmen o.Ä. immer wieder schließen. Manchmal wiedereröffnen sie woanders, manchmal verschwinden sie aber auch vollständig aus dem Stadtbild.18 Vor diesem Hintergrund versuchen die Porträts der Kahvehane,
den Dingen ihre Geschichte zu entlocken, sie greifbar zu machen: Namen, Speisekarten, Schaufenster, Grundrisse, Rezepte, Einrichtungsgegenstände, Beleuchtung, Wandbehang und nicht zuletzt Rituale und Besucher – Heimat als eine unbewusste Verstrickung in Gewohnheiten. Sie ist Ursache, Ergebnis und Teil einer Wanderung, die sich unwiderruflich ins Stadtbild eingeprägt hat. (Kleilein 2013: 405)
Wo solche deterritorialisierten Heimaten zu finden sind, zeigt die ebenfalls im Katalog zu findende Karte (Abb. 2). Ihre linke Seite besteht aus einem hellgrau gehaltenen, abstrahierten Auszug aus dem Berliner Stadtplan, auf dem dunkelblaue Punkte die Position der Kahvehane auf der jeweiligen Route angeben. Von einem deutlich entfernteren Standpunkt aus gesehen, sind auf der rechten Seite die geographischen Konturen der Türkei verzeichnet, auf deren Fläche sich ebenfalls blaue Punkte verteilen, die die türkischen Bezugsorte der Berliner Kahvehane angeben.
Mit ihrer farblichen Darstellung und den in beide Richtungen lesbaren Verbindungslinien zwischen Berlin und Anatolien verweist sie erneut auf die Berliner Lokale als Erinnerungsorte und deutet imaginäre Räume an, die den Publikumsdivisionen im Verlauf des Parcours eröffnet werden, die anhand dieser Karte aber nicht zu finden sind. Denn die Darstellung ist verzerrt, sie lässt die Entfernung zwischen dem Café Gediz in Neukölln und dem anatolischen Gediz plötzlich nicht weiter erscheinen als den Weg vom Café Gediz bis zum Café Tekma in Kreuzberg.
Das topographische Verfahren erfolgt hier nicht als abstrakte Aufzeichnung geometrischer Lagebeziehungen, sondern ist im übertragenen Sinne als subjektive Kartierung des urbanen Raumes zu verstehen, wie schon auf den ersten Seiten des Katalogs deutlich wird:
Jeder Kaffeehausbesucher trägt, wie andere Stadtbewohner auch, eine mentale Karte in sich. Sie setzt sich zusammen aus Wegen und Territorien, aus vertrauten Orten und Situationen, die den tatsächlichen urbanen Raum subjektiv konfigurieren. Jede Karte im Kopf und im Herzen zeichnet ein anderes Bild der Stadt, ein Organigramm des Alltags, eine feine Spur des Privaten und des Öffentlichen. (Ballhaus Naunynstraße 2008: 4)
Das Aufzeichnen von Orten, Lagebeziehungen und Routen, von Interieur und Geschichte verweist zudem darauf, dass die Identitäten der Kaffeehausgäste, ebenso wie ihre Bilder der Stadt, nicht einheitlich und stabil sind, sondern durch das (konsumierende) Handeln an konkreten Orten performativ hergestellt werden.
Einem solch performativen Verständnis von Kartographie steht Michel de Certeaus Kritik der Karte in seiner Kunst des Handelns (vgl. Certeau 1988) gegenüber. Er argumentiert dort bekanntermaßen, dass es sich bei dem Aufzeichnungsmedium Karte um das nachgerade Gegenteil der abgelaufenen Wegstrecke, also des Parcours, handle. Der Versuch, das Gehen durch die Stadt in einer Karte abzubilden, könne nur um den Preis der Tilgung von Handlungsweisen und Erfahrung gelingen, weil »der eigentliche Akt des Vorübergehens« (ebd.: 188), also die leibkörperliche Erfahrung und die ephemeren Dimensionen des dynamischen Stadtraums, in der Aufzeichnung verloren gingen. Als Repräsentationsmedium vereine die Karte ursprünglich disparate Elemente mit dem Ziel, einen geographischen Wissensstand zu vermitteln, verberge dabei aber »mit ihren Voraussetzungen und Folgen, wie hinter den Kulissen des Theaters, diejenigen Handlungen, deren Ergebnis oder deren künftige Möglichkeit sie ist. Sie allein bleibt übrig. Die Beschreiber von Wegstrecken sind verschwunden.« (Ebd.: 225)
Certeaus Interesse für alltägliche Konsumpraktiken und deren widerständige Potentiale (vgl. ebd.: 13-19) ist auch auf den Theaterparcours Kahvehane übertragbar, der die weithin ignorierte oder einseitig vorverurteilte kulturelle Praxis anatolischer Kaffeehäuser in ihrer migrationsgeschichtlichen und -politischen Komplexität zu porträtieren sucht. Auch die Aufwertung subjektiver Erfahrungsräume des Städtischen, für die Certeau argumentiert, spielt für den Parcours eine wesentliche Rolle. Allerdings droht das Privileg des Ephemeren und Unregistrierten, das er vergibt, darüber hinwegzutäuschen, dass das Moment der konkreten Verortung und die in Form der einzelnen Stationen immer wieder eingezogenen ›Haltepunkte‹ mindestens ebenso zentral für den Parcours sind wie die Durchquerung des urbanen Raums.
Dass Parcours und Karte in dieser Aufführung nicht gegeneinander, sondern füreinander arbeiten (sollen), wird besonders deutlich, wenn man sich erneut ihren institutionellen Kontext vor Augen führt. Denn mit der Gründung des Ballhauses als postmigrantischer Theaterbühne verbinden sich zwei Ziele, die nur scheinbar konträr zueinander stehen: zum einen der Wunsch, etablierte Strukturen aufzubrechen und Wahrnehmungsgewohnheiten zu irritieren; zum anderen das Bestreben, postmigrantische Perspektiven und Positionen sichtbar zu machen und in den Theaterkanon einzufügen. Für Ersteres steht der Parcours, der in den Außenraum auf-, in die Kaffeehäuser einbricht und Perspektivwechsel erzeugt; das zweite Anliegen macht sich im Katalog bemerkbar, der eine alternative bzw. kontraintuitive Kartographie der Kahvehane in Szene setzt.
Dieses Übertragungsverhältnis, in dem Karte und Parcours stehen, lässt sich abschließend in Rekurs auf die Medialitätstheorie Sybille Krämers umreißen. In ihrem Buch Medium, Bote, Übertragung (Krämer 2008) konturiert sie mediale Übertragung als paradoxes Verhältnis unmittelbarer Mittelbarkeit: Medien bringen etwas anderes zur Erscheinung, indem sie sich selbst zurücknehmen (vgl. ebd.: 28). Dieses Medialitätsverständnis erprobt sie u.a. an der Kartographie und begreift die Übertragungsleistung von Karten mit ihren Schreib- und Repräsentationsweisen vermittelt:
Die Karte an sich ist noch kein Medium, sondern ein visuell markiertes, handhabbares oder an der Wand hängendes Ding. Nur situiert in Praktiken, die zugleich ihre repräsentationale Transparenz unterstellen, also verbunden mit jemandem, der die Karte gebraucht, um sich mit ihr zu orientieren, wird die Karte überhaupt zu einem Medium. (Ebd.: 308)
Als dritte Instanz zwischen der Person, die sie nutzt, und dem Territorium, das sie notwendigerweise verzerrend erschließt, ist die Karte in einem Zwischenbereich zwischen Präsenz und Repräsentation und nicht »im Entweder-oder von Abbild und Konstruktion« (ebd.: 319) verortet. Krämer zieht also keine kategoriale Differenz zwischen dem wirklichen Ort und seiner kartographischen Darstellung, sondern nimmt ein mediales Wechselverhältnis an. Zurückbezogen auf den Theaterparcours Kahvehane wäre damit nicht von einer einseitigen Übertragung (und damit einer repräsentativen Ersetzung) der Praxis des Gehens auszugehen. Vielmehr verwandelt die im Katalog verzeichnete Karte die aufgezeichneten Orte zuallererst in begehbare Räume. Aber auch die Karte selbst ruft ein performatives Verständnis von Kartographie auf, wenn sie geographisch entlegene Orte einander nahe rückt und damit unmögliche Bewegungen visualisiert und präsentiert. Im Zusammenspiel realisieren beide eine Form der topographischen Erkundung, die Migrationsbewegungen und ihre Geschichte nicht unsichtbar macht, tilgt oder festschreibt, sondern sie mit performativen Mitteln immer wieder neu und anders erfahrbar zu machen sucht.
Verortung/Entortung
Abschließende Bemerkungen
Der Theaterparcours Kahvehane – Turkish Delight, German Fright? setzt Theater und Stadt in einer postmigrantischen Gesellschaft durch die wechselseitig aufeinander verweisenden topographischen Verfahren von Karte und Parcours zueinander in Beziehung. Er spielt mit den anatolischen Kaffeehäusern an unbekannt-bekannten Orten inmitten der Stadt und übermittelt dem in Bewegung versetzten Publikum verborgene Migrationsgeschichte(n). Das Gehen von Ort zu Ort rekonfiguriert dabei den vermeintlich vertrauten Kiez und erweitert den Kreis derjenigen, auf deren subjektiven Stadtkarten die Kahvehane verzeichnet sind. Den hegemonialen Blick auf diese Lokale als ›Integrationshindernisse‹ kehrt der Theaterparcours hervor, indem er die intime Öffentlichkeit der Kahvehane mit der Theateröffentlichkeit des Ballhaus Naunynstraße überblendet, die dadurch selbst in ihrer Exklusivität greifbar wird. Der Katalog verweist mit anderen Mitteln auf die vielschichtige Verortung (post-)migrantischer Biographien in Berlin und die topographische Komplexität der postmigrantischen Metropole: Er dokumentiert das Inventar der Kahvehane, verzeichnet ihre jeweilige Lage im Berliner Stadtraum ebenso wie Routen zwischen den einzelnen Lokalen und stellt transnationale Verbindungen zu Orten in der Türkei her, die auf erinnerte, imaginäre Räume der Migration verweisen.
Auch wenn es sich bei dem Theaterparcours um ein exploratives Aufführungsformat handelt, bei dem das Theatergebäude verlassen und der Berliner Stadtraum erschlossen wurde, macht diese Theaterarbeit zugleich deutlich, dass eine (institutionen-)kritische Auseinandersetzung mit der Verfasstheit der deutschsprachigen Theaterlandschaft selbst wiederum eine institutionelle Anbindung braucht, von der sie ausgehen kann. Unterstrichen wird dies zum einen durch den eigenständig erschienenen Katalog, der den Parcours mit anderen Mitteln fortschreibt und begleitet und der insofern auch als Beitrag zu einem Archiv der Migration zu verstehen ist. Zum anderen zeigt es sich daran, dass die Bewegung des postmigrantischen Theaters, die am HAU ihren Anfang genommen hat, erst mit der institutionellen Ausgründung am Ballhaus Naunynstraße national und international wahrgenommen worden ist. Mit und gegen Certeau gesprochen, reichen Taktiken allein bisweilen nicht aus, um bestehende (Theater-)Systeme zu irritieren. Es braucht auch strategische Positionierungen, von denen aus der Dialog mit der postmigrantischen Gesellschaft und ihren Konflikten geführt werden kann, sei es nun im Inneren des Theaterhauses oder in dessen Außenraum.
Anmerkungen
1 So unterschiedlich wie die Arbeiten sind auch ihre formalen Bezeichnungen: Das ›site specific theatre‹ oder ›theatre on location‹ (vgl. Lehmann 1999: 304) meint Aufführungen, die bspw. in Fabrikhallen, Flughafenhangars, Einkaufszentren oder Hotels stattfinden; ›walking performances‹ (vgl. Primavesi 2008: 101) heben auf Aufführungen ab, in denen das Gehen, Spazieren oder Flanieren im Zentrum steht; ›performative Interventionen‹ (vgl. Warstat u.a. 2015: 11) irritieren oder suspendieren gewöhnliche Abläufe im städtischen Alltag.
2 Hierin besteht eine gewisse Parallele zu ortsspezifischen Arbeiten in der Bildenden Kunst. Zum Zusammenhang von Ortsspezifik und Institutionenkritik siehe Rebentisch 2013: 165-177.
3 Zu Demokratisierungsversuchen an der Schaubühne nach dem Modell der Mitbestimmung siehe Kraus 2006.
4 Zum Anhalter Bahnhof als Berliner Topos der Migrationserfahrung vgl. den Beitrag von Hansjörg Bay in diesem Heft. Zur szenographischen Einrichtung des Olympiastadions als Ort der Kriegserinnerung vgl. Kreuder 2002: 76-78.
5 Zur Entstehung dieses Projekts vgl. das Produktionsprotokoll »Bernard von Brentanos Rudi (1979)« in Kreuder (2020: 149-159).
6 Eine erste Fassung von X-Wohnungen erarbeitete Matthias Lilienthal bereits im Rahmen seiner Leitung des Theater der Welt-Festivals 2002 in Duisburg. X-Wohnungen rekurriert formal auf Jan Hoets Kunstprojekt Chambres d’Amis (1986), bei dem internationale Künstler*innen in Genter Privatwohnungen Interventionen realisierten. Zur Entstehung des Projekts vgl. Lilienthal 2003.
7 Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit den dokumentarischen Verfahren, den topographischen Dimensionen und den institutionellen Kontexten des Parcours vgl. auch Oberkrome 2022: 146-177. Der Titel des Parcours geht auf den gleichnamigen Aufsatz von Deniz Göktürk aus dem Jahr 2000 zurück, der für das deutsch-türkische Kino von den 1970er bis in die 1990er-Jahre eine tendenzielle Ermächtigung seiner Protagonist*innen erkennt. Siehe Göktürk 2000.
8 Solche stationären Aufführungen können nicht nur im Außenraum, sondern auch innerhalb eines Theatergebäudes, dann als »interne[r] Parcours« (Primavesi 2008: 96), stattfinden.
9 Sie spielt allerdings nicht in Berlin-Kreuzberg, sondern im Bielefelder Stadtteil Baumheide, der als sozialer Brennpunkt gilt und wo Calis selbst aufgewachsen ist.
10 Es handelt sich hierbei um den ersten Teil einer Trilogie, zu der die beiden weiteren Bände Der kurze Traum aus Kagithane (1974) und Die Fremde ist auch ein Haus (1980) gehören. Die seit 2014 im Berliner Verbrecher Verlag erscheinende Neuauflage der Werke von Aras Ören bringt diese drei Texte als Berliner Trilogie (2019) heraus.
11 Vgl. hierzu umfassend Boran 2004.
12 Vgl. zu diesen Theaterformen ausführlicher Boran 2004: 43f. sowie explizit zum Karagöz 48-55.
13 Frauen und Nichtmuslime hatten keinen Zugang zu diesen Räumen. Vgl. Kömeçoğlu 2015: 152.
14 Die Bedeutung der Kahvehane als Orte der Kunst- und Kulturproduktion hatte im 20. Jahrhundert auch in Anatolien bereits deutlich abgenommen. Vgl. zu den Hintergründen ebd.: 157-159.
15 Diese Textzitate stammen aus dem Hörspiel.
16 Zitiert nach dem Hörspiel.
17 Berlant entwickelt es über die verschiedenen Publikationen ihrer Trilogie zu nationaler Sentimentalität hinweg, zu der neben The Female Complaint (2008) die beiden Bücher The Anatomy of National Fantasy: Hawthorne, Utopia, and Everyday Life (1991) und The Queen of America Goes to Washington City: Essays on Sex and Citizenship (1997) gehören.
18 Vgl. Kleilein 2013: 405. Ein Eintrag zu einem namenlosen Kahvehane (Café N.N.) macht dies im Katalog kenntlich (vgl. Ballhaus Naunynstraße 2008: 30). Die Notwendigkeit der Aufzeichnung und Archivierung (post-)migrantischer Lebenswelten unterstreicht der Autor Deniz Utlu mit seiner Vision von einem »Archiv der Migration«, das weder einen Namen trägt noch einen »festen Ort hat. Es liegt verteilt im Land. In den Städten. In den Wohnungen. In Zimmern. In alten, verstaubten, lange nicht mehr geöffneten Schränken in den Kellern. Unter Häusern und Straßen« (Utlu 2011). Vgl. zur Bedeutung eines solchen Archivs den Beitrag von Ela Gezen in diesem Heft.
Literatur
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