Literatur als Form von Identitätspolitik?
Fakten, Fiktionen und Identitätskonstruktionen in Mithu Sanyals Roman Identitti
AbstractAt the centre of Mithu Sanyal’s novel Identitti (2021) stands the scandal around a fictitious professor teaching postcolonial studies at the university of Dusseldorf, who, despite being born white, presented herself as a person of colour. The highly contested idea of a transracial identity, however, constitutes but a small part of the novel’s overall engagement with ambiguous, hybrid, or fragile identities. In its tackling of various forms of identity construction, the novel evidently draws on current discussions around identity politics. This article poses the question to what extent Sanyal’s Identitti can be regarded as a genuinely literary contribution to debates around identity politics. It does so by focusing specifically on the many links between fact and fiction the novel established in order to react in literary form to theoretical positions, media formats, scandals, actual persons and their statements, all associated with the disputed field of identity politics.
TitleLiterature as a Form of Identity Politics? Fact, Fiction, and Identity Construction in Mithu Sanyal’s Novel Identitti
Keywordsidentity politics; transracial; race; gender; fiction
Einleitung
Kaum ein anderer Begriff hat im politisch-gesellschaftlichen Diskurs der letzten Jahre zu ähnlich hitzigen Diskussionen geführt wie ›Identitätspolitik‹.1 Während die einen Identitätspolitik als eine ideologische Grille urbaner Eliten betrachten, die mit ihrer narzisstischen Betonung immer kleinerer Differenzen letztlich den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden, bilden für die anderen identitätspolitische Kämpfe lediglich lange überfällige Versuche, gesellschaftlich marginalisierten Gruppen, die von Misogynie, Rassismus, Homo‑ und Transphobie betroffen sind, zu Teilhabe und Anerkennung zu verhelfen.2 Allerdings herrscht auch innerhalb des Lagers derjenigen, die identitätspolitischen Anliegen prinzipiell positiv gegenüberstehen, keineswegs Einigkeit darüber, wie diese Anliegen durchzusetzen sind – und wer hierüber allenfalls zu entscheiden habe.3 Sowohl die grundsätzliche Ablehnung der Identitätspolitik wie auch die immanent-identitätspolitischen Zerwürfnisse über sinnvolle Anliegen, zielführende Strategien und legitime Proponent*innen derselben haben Identitätspolitik in den letzten Jahren zu einem – so die häufig bemühte Metaphorik – ›Minenfeld‹ der öffentlichen Debatte werden lassen.4
Was die fiktionale Literatur betrifft, so hat sich dieses sprichwörtlichen Minenfelds im deutschsprachigen Raum kaum ein anderer Roman ähnlich dezidiert angenommen wie Mithu Sanyals Identitti von 2021. Sanyal, 1971 als Tochter einer polnischen Mutter und eines indischen Vaters in Düsseldorf geboren, ist mit dem Roman Identitti erstmals als Romanautorin hervorgetreten. Bis dahin (und auch seither) war (und ist) Sanyal vor allem als Kulturwissenschaftlerin und Publizistin tätig, etwa als Verfasserin eines Buches über die Kulturgeschichte der Vulva (vgl. Sanyal 2009), eines Buches über die Geschichte der Vergewaltigung (vgl. Sanyal 2016) sowie als regelmäßige Beiträgerin mehrerer großer Zeitungen.
Im Interview danach befragt, weshalb sie sich mit Fragen rund um Rassismus und Identitätspolitik in Form eines Romans und nicht etwa einer Essaysammlung auseinandergesetzt habe, antwortete Sanyal:
Weil Identitätsfragen nicht durch Fakten und Daten beantwortet werden, sondern durch Geschichten. Meine Hoffnung ist, dass du emotional durch die Zerrissenheit von Nivedita den Vorgängen in dem Buch folgen kannst, auch wenn du kein Postkolonialismusstudium hinter dir hast. […] Der Gedanke, ich könnte eine abschließende Bewertung schreiben, schien mir als Anmaßung. Ich hatte das Gefühl, all diese Fragen können nur in einem Roman und von vielen Stimmen gestellt werden. (Sanyal/Tepest 2021)
Sanyal macht hier auf das besondere Potenzial fiktional-literarischen Schreibens aufmerksam, Uneindeutigkeiten, Polysemien und schwankende Positionierungen zu erzeugen respektive auszuhalten. Durch den Verweis auf die »vielen Stimmen« wird ferner die reale Komplexität identitätspolitischer Debatten, welche auch in den Roman Identitti Eingang gefunden hat, herausgestellt.
Eben diese Vermittlungsprozesse zwischen der literarischen Fiktion von Sanyals Roman und einer gesellschaftlichen Realität, die durch eine enorme Divergenz der Meinungen geprägt ist, stehen im Zentrum des vorliegenden Aufsatzes. Im Folgenden soll die Frage gestellt werden, inwiefern die Diskussion realer identitätspolitischer Debatten in Identitti an die spezifisch literarische Form des Textes sowie an dessen Fiktionalität gebunden ist. Hierzu wird zunächst, gleichsam als Auftakt, auf die romanimmanente Diskussion uneindeutiger, transitorischer und instabiler Identitäten eingegangen. Sodann werden die Relationierungen von Realität und Fiktion untersucht, welche der Roman vornimmt bzw. zu denen er seine Leser*innen anregt, und zwar in Bezug auf drei Schwerpunktbereiche: erstens die Integration eines übernatürlichen Elements, nämlich der Göttin Kali, in die ansonsten realistisch gestaltete Diegese des Romans; zweitens das Verhältnis von Romanfiguren und Personen der realen Welt; und drittens die transmediale Integration von Social-Media-Kommentaren in den Text. Abschließend soll dann die Frage gestellt werden, ob und inwiefern sich Identitti als ein genuin literarischer Beitrag zu aktuellen Debatten rund um das umstrittene Thema Identitätspolitik deuten lässt.
Identitäten
Trans, mixed & Co.
Im Zentrum von Identitti steht die Studentin Nivedita Anand, die in Düsseldorf bei der international anerkannten indischen Intellektuellen und Professorin Saraswati Postcolonial Studies studiert. Zu Beginn der Romanhandlung allerdings kommt es zum Skandal: Saraswati ist gar keine Person of Colour, als welche sie sich ihr gesamtes Erwachsenenleben über ausgegeben hatte, sondern die Tochter eines weißen Akademikerpaares aus Süddeutschland. Ihr indisches Aussehen und Image hat sie durch eine Reihe von schönheitschirurgischen OPs, Eindunkelung der Haut sowie das Tragen indischer Kleidung bewusst konstruiert. Im Namen Saraswati, ursprünglich der Name einer hinduistischen Göttin, ist ihr früherer Name weiterhin chiffriert vorhanden: Sarah Vera Thielmann (vgl. 135).5 Nivedita ist über das Verhalten der von ihr bewunderten Professorin in höchstem Grade irritiert – und quartiert sich bald in Saraswatis Wohnung ein, wo sie Antworten auf ihre vielen Fragen zu finden hofft.
Saraswati jedoch ist sich keiner Schuld bewusst: Weit davon entfernt, sich das Büßerhemd anzuziehen, hält sie an der Überzeugung fest, dass race6 ein Konstrukt und keine essentialistisch zu fassende Kategorie sei – und dass es entsprechend auch möglich sein müsse, sich seine race selbst auszusuchen: »Es geht bei feministischer und antirassistischer Theorie doch genau darum, die Definitionsmacht über sich selbst zu bekommen. Wie könnt ihr mir dann die Definitionsmacht über mich absprechen?« (160) In konsequenter Verbindung von Lebenspraxis und Theorie zieht Saraswati für ihr nächstes Buch gar den Titel »transracial« (155) in Erwägung.
Historisch ist der Begriff (respektive das Morphem) trans – zumindest im Kontext von Identitäten – primär mit Phänomenen und Kategorien im Bereich von gender assoziiert: etwa transgender, Transsexualität, Travestie etc. Insbesondere der kontrovers diskutierte Fall rund um Rachel Dolezal – einer weiß geborenen US-Amerikanerin, die sich als Bürgerrechtlerin und Hochschuldozentin für die Rechte schwarzer Menschen eingesetzt und sich auch selbst öffentlich als schwarz ausgegeben hat (dazu weiter unten mehr) – ließ allerdings offenkundig werden, dass trans auch in Bezug auf andere Identitätskategorien wie etwa race gedanklich und politisch produktiv werden kann. Der Soziologe Rogers Brubaker bringt die vergleichsweise junge Entdeckung der auch bereichsübergreifenden Theoretisierungspotenziale von trans auf die Formel: »›[T]rans‹ is good to think with« (Brubaker 2016: 10). Auch in Identitti werden Trans-Konzepte auf Kategorien sowohl von gender wie auch von race angewandt – wobei die politische Einschätzung dieser Anwendung unter den Figuren des Romans, gelinde gesagt, höchst unterschiedlich ausfällt (vgl. 152f. u. 242f.).
Die Vorstellung einer transracial identity bildet allerdings nicht das einzige Konzept uneindeutiger Identitäten, auf das sich Saraswati infolge der Enthüllung ihrer ursprünglichen race bezieht. Einmal bezeichnet sie ihre Handlungsweise als »racial drag« (201). An anderer Stelle behauptet sie: »Ich bin eine race-Terroristin! Ich führe die Authentizität der Raster ad absurdum. Ich sprenge sie und baue aus ihren Splittern eine neue Welt, in der race etwas ist, was wir genießen dürfen, mit dem wir spielen können, das uns eben nicht schicksalhaft bestimmt.« (245)
Die Konzepte trans, drag und Terrorismus gehen allesamt mit einer Befragung starrer Kategorien und politisch verhärteter Verhältnisse einher. Allerdings tun sie dies auf höchst unterschiedliche Weise: Während der Begriff transracial, unter anderem aufgrund seiner konzeptionellen und morphologischen Nähe zum Begriff transgender, klar in den Bereich identitätspolitischer Debatten fällt, deutet der Begriff drag eher auf einen spielerischen Umgang mit Geschlechts‑ und anderen Normen hin. Durch seine prominente Theoretisierung in einem der Gründungstexte der Queer Theory, nämlich in Judith Butlers Gender Trouble von 1990, ist der Begriff drag darüber hinaus theoriegeschichtlich eng verknüpft mit der These, Identitätskategorien und speziell Geschlechtlichkeit würden im Rahmen performativer und zitativer Praktiken erzeugt – und könnten mithin auch durch derartige Praktiken verändert werden.7 Terrorismus schließlich bezeichnet eine Praxis des politischen Kampfes, bei der eine bestehende gesellschaftliche oder staatliche Ordnung nicht offen kriegerisch angegriffen, sondern durch vereinzelte, radikale Gewaltakte destabilisiert wird.
Nun sind die drei genannten Konzepte offenkundig nur sehr eingeschränkt aufeinander abbildbar. Eine trans Frau etwa, die einen hohen Aufwand auf sich nimmt, um ein passing – also eine spontane öffentliche Wahrnehmung – als Frau zu erzielen, wird in aller Regel nicht als Dragqueen wahrgenommen werden wollen; auch stellen trans Personen – zumindest solche, die sich eindeutig einem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuordnen – eine binäre Geschlechterordnung gar nicht zwingend infrage, sondern affirmieren eine solche mitunter sogar, insofern sie gerade die Zugehörigkeit zu einer der vorgegebenen Identitätskategorien anstreben. Von Gender-Terrorismus kann hier kaum die Rede sein. Indem Saraswati derart radikal divergierende Lesarten ihrer eigenen Handlungen anbietet, weist sie nicht nur auf den prinzipiellen Konstruktionscharakter von Identitäten hin. (Aus einem ihrer eigenen Bücher zitierend behauptet Saraswati: »Identität ist eine notwendige Lüge.« 126) Sie macht auch deutlich, dass die Infragestellung starrer Identitätskategorien selbst ganz unterschiedliche Deutungen und politische Bewertungen erlaubt, je nachdem, ob man diese Infragestellung mit einem trennscharfen Übergang von der einen in die andere Kategorie, dem Spiel mit Kategorien oder mit deren radikaler Sprengung verbindet.
Saraswatis Race-Wechsel bildet dabei nur ein Beispiel der vielfältigen Übergängigkeiten von Identitätseigenschaften in Identitti. Niveditas eigene Schwierigkeiten beim Finden einer Identität fallen weniger in den Bereich von Trans- als vielmehr in den Bereich von Mixed-Identitäten. Wie ihre Erfinderin Sanyal hat Nivedita ein polnisches und ein indisches Elternteil und lebt in Deutschland. Damit ist sie sowohl hinsichtlich ihrer Herkunft als auch mit Blick auf ihre race uneindeutig positioniert – eine Unklarheit, mit der sie, zumindest zu Beginn der Romanhandlung, durchaus hadert:
[M]anchmal wünschte Nivedita sich […] nichts dringlicher als das Privileg einer braunen Mutter. Also, manchmal wünschte sie sich nichts dringlicher als eine Frau wie Saraswati als Mutter.
Ihr weißes Elternteil dagegen bedeutete für sie, dass ihre Herkunft noch unklarer war, ihre Anbindung noch lockerer, ihr Platz im Gefüge der Realität noch mysteriöser, für immer auf der Suche nach Aufnahme in beiden Camps: weiß und Schwarz, weiß und braun, nur um dann in alle Richtungen nicht gut genug zu sein, zu wenig beheimatet, zu wenig diskriminiert. (130; Hervorh. i.O.)
Neben ihrer Eigenschaft als Mixed-race-Person kommt als politisch relevanter Identitätsfaktor bei Nivedita – wie bei allen Protagonistinnen des Romans8 – noch ihr Frausein hinzu. Als weibliche Person mit teils polnischen, teils indischen Wurzeln, die in Deutschland lebt, befindet sich Nivedita in einem intersektionalen Überschneidungsbereich vielfältiger Identitäts‑ sowie auch potenzieller Diskriminierungskategorien. Die Selbsttitulierung als »Mixed-Race Wonder-Woman« (9; Hervorh. i.O.) in Niveditas Blog Identitti lässt sich – wie bereits das Wort ›Identitti‹ selbst – als Versuch deuten, eine derart komplexe Identitäts-›Mischung‹ nicht nur sprachlich formulierbar zu machen, sondern sie auch lustvoll zu besetzen.9
Letztlich betreffen schwankende Identitätsverortungen alle bedeutenden Figuren des Romans. Zahlreiche Personen in Identitti setzen sich über heteronormative Geschlechter- und Begehrensordnungen hinweg, oszillieren hinsichtlich ihrer politischen und aktivistischen Selbstpositionierung oder schwanken zwischen wechselnden Zukunftsentwürfen. Die gelegentlichen Versuche, Identitäten festzuschreiben, sie als stabil auszugeben – Saraswatis Versuch, ihre race zu ändern; Niveditas Versuch, eine ›richtige‹ Inderin zu werden –, erweisen sich im Roman hingegen als durchweg störungsanfällig.
Instabil erscheinen Kategorien wie race und gender nicht nur, weil sie in vielfältigen Mischungen auftreten, sondern auch deshalb, weil es sich dabei um performative Kategorien handelt, Kategorien also, die erst durch ein aktives, wiederholtes Tun retrospektiv den Anschein von Natürlichkeit erhalten. Ein markantes Beispiel für diese performative Herstellung von Identität bildet Niveditas Versuch, sich als das zu ›outen‹, was sie im Hinblick auf einen Teil ihrer Herkunft immer schon gewesen ist: nämlich als Inderin.
Der Straßenbahnsommer war der Sommer von Niveditas Coming-out als Inderin gewesen. Sie fühlte sich gut, so gut, dass sie sogar entschied, den Sari zu tragen, den Priti ihr aus Birmingham mitgebracht hatte: »From my mum.«
Das malvenrosa Seidentuch war länger als ihr Zimmer und mit goldenen Metallfäden durchwirkt. In ihrem Leben als feministisches Antifa-Mädchen wäre Nivedita nicht im Traum auf die Idee gekommen, etwas so Pinkstinkiges zu tragen. In ihrem Leben als Out-and-Proud-PoC hielt sie nur eines davon ab: »Und wie binde ich den?«
»How should I know?«
Einige Internet-Tutorials später stolzierte Nivedita neben Priti die Kettwiger Straße entlang, in den Händen eine Schale Pommes, im Herzen die gesamte Welt der Identitätsmöglichkeiten, als sie einen heißen, weißen Schmerz am Arm spürte. Aus dem Augenwinkel sah sie einen Mann weitergehen. Er hatte ihr mit einer Selbstverständlichkeit, die sie daran zweifeln ließ, dass es wirklich passiert war, seine Zigarette am Arm ausgedrückt. In ihrer Erinnerung sah sie später nicht einmal den Mann, sondern nur seinen gestrichelten Umriss, als wäre er aus dem Gewimmel der anderen Menschen ausgeschnitten, und durch die Lücke leuchteten ihre goldenen Pommes verstreut auf dem grauen Pflaster. Sie hatte noch keine einzige gegessen. (122f.)
In dieser Szene werden Herausforderungen und Verwerfungen der Aneignung einer bestimmten Identität auf literarisch eindrückliche Weise herausgestellt. Das »Coming-out als Inderin« – die Parallele von race und sexueller Orientierung ist hier offensichtlich – vollzieht sich wesentlich über das Anlegen traditionell indischer Kleidung. Die in Deutschland aufgewachsene Nivedita weiß allerdings gar nicht, wie man diese Kleidung korrekt bindet; ebenso wenig weiß es ihre Cousine Priti, die in ihrem selbstbewussten Umgang mit der eigenen race für Nivedita durchaus als Vorbild in Sachen Emanzipation fungiert. Erst einige Internet-Tutorials schaffen Abhilfe. Der Firnis der kulturellen Identität erscheint hier hauchdünn, ergibt sich das, was man Identität nennen könnte, doch nicht über die vermeintlich ›natürliche‹ Verortung in einer bestimmten Herkunftskultur, sondern durch die aktive Aneignung von Wissen über Formen des Sichkleidens. Nivedita ›verkleidet‹ sich gewissermaßen als Inderin, um sich auf diese Weise performativ dem kulturellen Erbe eines Teils ihrer Familie anzunähern.
Dass Nivedita in der genannten Szene erst seit wenigen Minuten zur auch kleidungsmäßig ›indischen‹ Inderin geworden ist, verhindert jedoch nicht, dass sie zum Opfer eines rassistisch motivierten Angriffs wird, wenn ihr ein wildfremder Mann eine Zigarette auf dem Arm ausdrückt. Ein symbolisch aufgeladenes Detail dieser Szene liegt darin, dass die im wahrsten Sinne des Wortes en passant ausgeführte Attacke Nivedita veranlasst, ihre Pommes fallenzulassen, ehe sie noch eine einzige davon gegessen hat. Die Szene macht somit sowohl konkret als auch symbolisch deutlich, dass kulturelle Identität zwar mitunter hauchdünn, ein Wissenszitat, eine bloße performative Behauptung ist – dass sie aber auch in diesem ephemeren Status zu handfesten rassistischen Attacken führen kann, welche sich in die realen Körper der Subjekte einschreiben oder, um die Metapher der Einschreibung auf ihren faktischen Gehalt zurückzuführen, sich in die Körper einbrennen respektive diese Körper auszehren.10
In ihrer Düsternis ist die zitierte Stelle allerdings nur wenig repräsentativ für den Roman. Insgesamt ist Identitti weniger ein Text über konkrete Erfahrungen von Rassismus, sondern vor allem ein poppig-humoristischer Roman über das subjektive Erleben von Personen, deren ethnische, kulturelle oder gender-assoziierte Selbst‑ und Fremdpositionierungen uneindeutig, fluide, manchmal auf frustrierende Weise verwirrend ausfallen. Humor, Ironie, teils absurde Komik werden im Text genutzt, um divergierende Positionen lustvoll in der Schwebe zu halten. Diese augenzwinkernde, dabei zugleich sympathetische Darstellung der Figuren und Ereignisse schafft eine Art emotionalen Puffer, der es den Leser*innen ermöglicht, sich mit den durchaus schwergewichtigen Themen des Romans auseinanderzusetzen, ohne dabei jene Haltung bitteren Ernstes und moralischer Betroffenheit einzunehmen, mit der dieselben Themen in faktualen Formaten – in Talkshows, Zeitungsartikeln, Sachbüchern – dominant verhandelt werden.
Der humorvolle Umgang mit Identitätskategorien deutet sich bereits im Titel des Romans an. Identitti ist ein Kunstwort von schillernder Bedeutung: Auf der zweiten Silbe, also als Idéntitti betont, weist der Begriff eine hohe phonetische sowie phonotaktische Übereinstimmung mit dem englischen Begriff identity auf. Nun ist Identität mitnichten ein US-amerikanischer Import; sehr wohl aber sind es viele der identitätspolitischen Debatten der letzten Jahre und Jahrzehnte, von der Diskussion über sogenannte Trans-Toiletten bis hin zu Black Lives Matter. Der deutsch-englische Hybridbegriff Idéntitti verwiese so verstanden auf die Übernahme fremdsprachiger, kulturell-alteritärer Diskurse, eine Übernahme gleichwohl, die niemals eins zu eins erfolgen kann, sondern notwendigerweise einen Adaptions‑ und Hybridisierungsprozess mitumfasst, wie er sich formal in der abgewandelten Schreibung andeutet.
Wird der Titelbegriff hingegen auf der ersten und der dritten Silbe betont, also Ídentítti, so erscheint er als humoristisches Portmanteau: als Amalgamierung nämlich des Begriffs Identität und des zotigen Begriffs Titten als Bezeichnung für die weiblichen Brüste.11 Damit wird einerseits auf die Bedeutung von sex und gender für die subjektive Konstitution sowie intersubjektive Wahrnehmung von Identitäten hingewiesen, insofern sich die Formierung personaler Identität oder zumindest deren gesellschaftliche Wahrnehmung niemals in vollkommener Absehung von Gender-Kategorien vollzieht. Andererseits werden auf kalauernde Weise hoch- und vulgärsprachliche Stilebenen vermischt. Damit deutet sich bereits paratextuell an, dass der Roman identitätspolitische Fragen erstens auf humorvolle Weise behandelt und dass zweitens das teils deutlich akademisch-schwerfällige Gepräge der realweltlichen Diskurse rund um Fragen der Identitätspolitik in Richtung Allgemeinverständlichkeit, schambefreite Zotigkeit und Pop aufgelockert wird.12
Magischer Realismus
Kali in Düsseldorf
Fiktionsimmanent verweist der Titelbegriff Identitti auf den Blog, welchen die Figur Nivedita Anand betreibt und in dem sie sich über Fragen von race, gender und kultureller Zugehörigkeit äußert:
IDENTITTI:
Okay. Das ist die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit.
Ich habe das Gefühl zu lügen, wenn ich Ich sage. Selbst wenn ich über Dinge schreibe, die mir tatsächlich passiert sind!
Weil ich dann in den Formen und Mustern darüber berichten muss, in denen Autor*innen das tun, deren Leben Teil des echten, weil vorstellbaren Lebens ist und deren Stimmen Teil des Kanons sind.
[…]
Das erste Buch mit einem Mixed-race-Ich-Erzähler war Der Buddha aus der Vorstadt von Hanif Kureishi. Das war 1990! Man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen: Neunzehnhundertneunzig! […] Der Haken war nur, dass der Roman und alle seine Nachfolger in England (oder den USA) spielen, und ihre Ich-Erzähler*innen meiner Cousine Priti (hi Priti, if you’re reading!) aufs Haar ähneln, so dass Priti für mich immer schon deutlich realer ist als ich selbst, deutlich mehr Ich als ich.
Deswegen ist es für mich einfacher, über Kali zu schreiben als über Mich, mit großem M. Kali ist der Schall und der Zorn und die Heftigkeit, die ich brauche, um den Abgrund zu überwinden, der mich vom Erzählen trennt. (90f.; Hervorh. i.O.)
Die hinduistische Göttin Kali, die auch das Cover des Romans ziert, erfüllt im Roman vielfältige Funktionen. Erstens bildet Kali die imaginäre Gesprächspartnerin in Niveditas Blog. Angesichts ihrer Assoziation mit der indischen Kultur, ihres enormen Ausmaßes an persönlicher Autonomie sowie der Unmöglichkeit, jemals genau zu wissen, was sie denkt, bildet Kali eine ideale Kombattantin in der sprachlichen Selbstverständigung einer jungen Mixed-race-Frau, die in einem permanenten Aushandlungsprozess begriffen ist über die eigene Identität, ihre sexuellen und intellektuellen Bedürfnisse sowie ihren Platz in der deutschen Gesellschaft, nach deren Akzeptanz sie sich sehnt und die sie zugleich als massiv rassistisch erlebt.
Dies führt zu einer zweiten Funktion der Göttin Kali: Mit ihrer ausgestellten Aggressivität, ihrer blauen oder schwarzen Haut sowie ihrem sexuellen Appetit und dominanten Körperverhalten – zum baren Schrecken der englischen Kolonisatoren liegt Kali beim Sex oben (vgl. 36f.) – bildet Kali das genaue Gegenteil des okzidental-patriarchalen Phantasmas von der zarten, unselbständigen und sexuell passiven femme fragile. Damit gerät Kali von der bloßen Gesprächspartnerin in Niveditas Blog zu einer positiven Identifikationsfigur. In ihrem Blog schreibt Nivedita über Kali: »Sie ist wild und wütend und trinkt das Blut ihrer Widersacher*innen. So will ich meine Göttinnen. Okay, so will ich selbst sein« (36; Hervorh. i.O.). Als Identifikationsfigur einer starken Weiblichkeit verbindet sich Kali im Roman sogar streckenweise mit Niveditas bewunderter Professorin Saraswati:
Als hätte sie schon wieder ihre Gedanken gelesen, sagte Saraswati: »Ich bin deine Kali.«
Nivedita schaute erschrocken zu Kali: Was sagst du dazu?
Bin ich dann deine Saraswati?, kicherte die Kali rechts neben Saraswati. (359; Hervorh. i.O.)
Drittens fungiert die Göttin Kali als Fiktionssignal. Als Gesprächspartnerin in Niveditas Blog sowie als eine Art externalisierte innere Stimme lässt sich Kali in vielen Szenen des Romans schlicht als Imagination der Protagonistin deuten. Gegen Ende des Romans jedoch tritt Kali aus ihrem phantasmatischen Status heraus und wird plötzlich für alle Anwesenden in Saraswatis Düsseldorfer Wohnung sichtbar (vgl. 372-388).13 In einem Roman, der sich so erkennbar und signifikant auf realweltliche Diskurse und Tatsachen bezieht, erscheint die Einfügung eines fantastischen Elements – nämlich einer auf Erden wandelnden Göttin – als besonders markantes Fiktionssignal. Die Brechung des Realismus qua Erscheinen der ›realen‹ Kali im Roman bildet ein Moment der Befreiung aus den Sach- und Diskurszwängen der Gegenwart, eine Behauptung der Freiheit der Fantasie – und damit möglicherweise eine genuin literarische Konfiguration utopischen Denkens, insofern hier politische und literarische Imagination zusammenkommen. Judith Butler bemerkte einmal in diesem Sinne: »Das kritische Versprechen der Phantasie, wann und wo sie existiert, besteht darin, die kontingenten Grenzen dessen in Frage zu stellen, was Realität genannt wird und was nicht. Die Phantasie ist das, was es uns erlaubt, uns selbst und andere anders vorzustellen« (Butler 2009: 53).
Als isoliertes fantastisches Element in einem ansonsten realistisch erzählten Text ermöglicht Kali schließlich viertens die Anknüpfung des Romans an eine bestimme Erzähl- und Genretradition, die ihrerseits weitreichende trans‑ und interkulturelle Implikationen miteinschließt, nämlich die Tradition des Magischen Realismus respektive des realismo mágico. Seine Wurzeln hat der Magische Realismus in der deutschsprachigen Literatur der Zwischenkriegszeit (vgl. Scheffel 1990). Seine internationale Popularisierung erfuhr das Erzählverfahren allerdings erst in den der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere durch die Romane lateinamerikanischer Autoren wie Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa oder Carlos Fuentes. Einer der bedeutendsten nichtlateinamerikanischen Repräsentanten des Magischen Realismus ist derzeit der indisch-britische Autor Salman Rushdie. Aus dessen berüchtigtem Roman The Satanic Verses (1988) wird in Identitti der Satz zitiert: »Das Problem der Briten ist, dass der größte Teil ihrer Geschichte woanders stattgefunden hat und sie deshalb keine Ahnung davon haben.« (182) Durch die Adaption magisch-realistischer Erzählverfahren wird in Identitti somit nicht nur der Als-ob-Charakter literarischer Fiktion betont, welche Magie und Realität zu integrieren vermag; in der verfahrensmäßigen ebenso wie zitatweisen Anspielung auf das Werk des weltweit bekanntesten Autors indischer Herkunft (der allerdings, ebenso wie Sanyal, nicht in Indien lebt) verweist der Text auch metafiktional auf die komplexen interkulturellen Austauschprozesse in der Adaption und Weiterentwicklung literarischer Genres und Verfahren.
Fakten und Fiktionen I
Figuren und Personen
Seine peritextuelle Markierung als Roman klassifiziert Identitti zweifellos als fiktionales Werk. Alle zentralen Figuren des Romans sind fiktiv, ebenso ist es seine Handlung. Als – unter anderem – politischer Text sowie Beitrag zu Fragen der Identitätspolitik, als der Sanyals Roman weithin rezipiert wird, stellt sich für Identitti allerdings zugleich die Frage, in welcher Weise und mit welchen künstlerischen Intentionen Fiktion und reale Welt hier miteinander in Beziehung gesetzt werden. Wie auch immer man nämlich ›politische‹, ›gesellschaftskritische‹ oder ›engagierte‹ Literatur definieren mag: In jedem Fall wird eine solche Literatur die Bedingung erfüllen müssen, den Leser*innen eine normativ aufgeladene Vermittlung zwischen realer und fiktionaler Welt zu ermöglichen.14
Tatsächlich lehnt sich Sanyals Text erkennbar und erklärtermaßen an eine Reihe realweltlicher Quellen, Personen sowie deren Aussagen an. Einige davon sind im Nachwort der Autorin, das den Untertitel »Real and Imagined Voices« (419) trägt, benannt; andere lassen sich aus aktuellen Diskurszusammenhängen heraus leicht rekonstruieren. Zwei für die Deutung des Romans besonders wichtige Bereiche derartiger Realitätsanleihen und kalkulierter Übergängigkeiten zwischen Fakten und Fiktionen seien nachfolgend herausgegriffen und kommentiert: erstens die Verbindungen von realen Personen mit Figuren des Romans; und zweitens die Bezüge des Romans auf Formate sowie konkrete Inhalte von und auf Social Media.
Was die Figuren des Romans betrifft, so stechen zunächst die biografischen Parallelen zwischen der Autorin Sanyal und der Figur Nivedita heraus: Beide sind mixed race, mit teils indischen, teils polnischen Vorfahren. Trotz dieser Teilübereinstimmung zwischen Autorin und Protagonistin hat Sanyal selbst eine Deutung von Identitti als Autofiktion zurückgewiesen, unter anderem mit der Begründung, die biografischen Überschneidungen zwischen ihr selbst und ihrer Protagonistin seien zu gering.15 In der Tat wird man eine vollständige Identität zwischen Figur und Autorin (welche die Genredesignation als Autofiktion freilich auch wieder reizlos werden ließe16) nicht sinnvoll behaupten können. Kaum strittig dürfte hingegen sein, dass Sanyals eigene Erfahrungen als Mixed-race-Person und die damit einhergehende Vertrautheit mit Fragen kultureller Identität zumindest für die öffentliche Rezeption eines Romans wie Identitti eine wichtige Rolle spielen. Gerade im Falle einer Fiktionalisierung der (Leidens‑)Erfahrungen gesellschaftlicher Minderheiten lässt sich der persönliche Erfahrungshintergrund von Autor*innen kaum gänzlich ausklammern.17 (Man mache einmal die imaginäre Gegenprobe aufs Exempel und stelle sich vor, Identitti wäre textgleich von einem biografisch vollkommen figuren-alteritären Autor wie etwa Christian Kracht publiziert worden; eine ähnlich freundliche Aufnahme durch Kritiker*innen und Publikum, wie sie der von Sanyal publizierte Roman erfuhr, wäre kaum vorstellbar gewesen!) Tatsächlich arbeitet Sanyal einer Assoziation zwischen der eigenen Person und den Figuren des Romans aktiv zu, wenn sie in Interviews immer wieder auf gruppenspezifische Erfahrungen von Mixed-race-Personen hinweist, die sowohl sie selbst als auch die fiktive Figur Nivedita gemacht hätten.18
Auch die zweite Zentralfigur des Romans, die Professorin Saraswati, weist deutliche Parallelen mit realen Personen auf, insbesondere mit zwei Akademikerinnen, die sich in ihrer wissenschaftlichen und politischen Arbeit ebenfalls intensiv mit Fragen von race, gender und Postkolonialismus auseinandergesetzt haben. Saraswati ist erstens angelehnt an die 1942 geborene, indische Literaturwissenschaftlerin und Philosophin Gayatri Chakravorty Spivak. Insbesondere mit ihrem wegweisenden Essay Can the Subaltern Speak? (Spivak 1988a) wurde Spivak zur, wie Sanyal selbst es im Nachwort ihres Romans formuliert, »Übermutter der Postkolonialen Theorie« (421). Zahlreiche von Spivaks theoretischen Positionen zu Kolonialismus, ethnisch begründeten Privilegien und Fragen der Identität werden in Identitti aufgegriffen: So könnte man Saraswatis Race-Wechsel durchaus in Verbindung bringen mit Spivaks Konzept des strategischen Essentialismus, dem zufolge Identitätskategorien im Rahmen politischer Kämpfe mitunter als essentiell behauptet werden müssen, wiewohl es sich dabei letztlich um kontingente gesellschaftliche Konstruktionen handelt (vgl. Spivak 1988b). Der Titel von Spivaks bekanntestem Essay Can the Subaltern Speak? bildet sogar eine Kapitelüberschrift in Sanyals Roman (271).19
Für die literarische Gestaltung der Figur Saraswati mindestens ebenso wichtig wie Spivaks theoretische Positionen ist allerdings ihr Auftreten als öffentliche Person: Spivak, die eine Professur für Literaturwissenschaft an der Columbia University in New York innehat, trägt in der Öffentlichkeit häufig traditionelle indische Kleidung. In ihren Vorträgen, von denen einige auch auf YouTube verfügbar sind, erscheint sie als überaus eloquent, einschüchternd intelligent und ausgestattet mit einem Selbstbewusstsein, das habituell von Arroganz nicht immer zuverlässig zu unterscheiden ist. Das beeindruckende Auftreten einer indischen Intellektuellen innerhalb der westlichen Akademie mit ihrer Mischung aus ethnischer Performanz, intellektueller Brillanz und Narzissmus findet in der Figur Saraswati seinen fiktiven Widerpart – mit dem signifikanten Unterschied freilich, dass Spivaks indische Herkunft öffentlich niemals in Zweifel gezogen wurde.
Dieser Unterschied führt zu einer zweiten realweltlichen Referenzgröße der Figur Saraswati, die anders als Spivak auch ohne paratextuell-auktorialen Hinweis leicht identifizierbar, dabei politisch sehr viel streitbarer ist: nämlich zur US-amerikanischen Bürgerrechtlerin Rachel Dolezal. Dolezal wurde 1977 als Tochter zweier weißer Eltern in Montana geboren; gleichwohl identifiziert sich Dolezal als schwarz. Als Kind zunächst blond und blauäugig, begann Dolezal um das Jahr 2010 herum, ihre physische Erscheinung, insbesondere ihre Haarfarbe sowie die Pigmentierung ihrer Haut, zu verändern, um auf diese Weise ein öffentliches passing als schwarze Frau zu erreichen. Mitte der 2010er Jahre arbeitete Dolezal als Hochschuldozentin; ab 2014 hatte sie eine leitende Position innerhalb der National Association for the Advancement of Colored People inne. 2015 jedoch wurde publik, dass Dolezal als weiße Frau geboren worden war und dass eine genetische Verbindung mit schwarzen Vorfahren schlicht nicht besteht.
Der Fall Dolezal zog eine breite Diskussion in den nationalen und internationalen Medien sowie auf Social Media nach sich. Der primäre Vorwurf, der gegen Dolezal laut wurde, war dabei derjenige der cultural appropriation, also der illegitimen Aneignung einer fremden kulturellen Identität. Besonders hoch schlugen die emotionalen Wellen, weil hier ein Mitglied einer kulturell privilegierten Gruppe – nämlich weißer amerikanischer Frauen – sich Identitätseigenschaften einer diskriminierten Gruppe angeeignet hatte, um, so der Vorwurf, aus dieser Aneignung persönlichen Profit zu ziehen. Dolezals öffentliche Identifikation als schwarze Frau wurde verschiedentlich mit dem politisch und historisch massiv negativ belasteten Begriff des blackfacing belegt.
Unter den zahlreichen Personen, die sich öffentlich zum Fall Dolezal äußerten, fanden sich allerdings auch einige Verteidiger*innen. Argumentiert wurde unter anderem, dass einem Menschen, der sich ›innerlich‹ als schwarz empfinde, auch das Recht zukomme, sich öffentlich als schwarz zu identifizieren. Ähnlich wie im Falle von transgender Personen, bei denen das Geschlecht, welches bei der Geburt zugewiesen wurde, nicht dem persönlich empfundenen Geschlecht entspricht und denen entsprechend in mittlerweile vielen Ländern die Möglichkeit geboten wird, ihr biologisches und soziales Geschlecht ihrem empfundenen Geschlecht anzugleichen, sei auch mit Blick auf die Kategorie race die Frage zu stellen, ob eine Person sich nicht eine Identität aneignen könne, die ihr biologisch-genetisch zunächst nicht zukommt. So schrieb etwa die amerikanische Philosophin Rebecca Tuvel: »[C]onsiderations that support transgenderism extend to transracialism. Given this parity, since we should accept transgender individuals’ decisions to change sexes, we should also accept transracial individuals’ decisions to change races.« (Tuvel 2017: 264) Diese These wiederum stieß auf massiven Widerstand. Kritiker*innen der Transracial-Idee wiesen darauf hin, dass es signifikante Unterschiede zwischen der Kategorie gender und race bzw. den Konzepten transgender und transrace gebe, die durch einen wohlfeilen Verweis auf die freie Wählbarkeit von Identitätskategorien nicht einzuebnen seien.20
Identitti lässt sich nun – unter anderem – als eine Fiktionalisierung des Falles Dolezal sowie eine Übertragung desselben in einen deutschen Kontext lesen, nämlich an die Universität Düsseldorf sowie ins Düsseldorfer Viertel Oberbilk, wo sich die Wohnung der fiktiven Figur Saraswati befindet (und wo auch die Autorin Sanyal selbst lebt). Während die Allusionen auf Gayatri Chakravorty Spivak sich unter anderem in die Reihe der zahlreichen Anspielungen des Romans auf die Postcolonial Theory einordnen lassen, besteht die Funktion der Referenzen auf den Fall Rachel Dolezal eher darin, eine Art affektiven ›Wallungsvorschuss‹ bei der Leserschaft des Romans zu erzeugen: Einerseits wird hier nämlich einer der am stärksten emotionalisierten Skandale im Assoziationsbereich Identitätspolitik der letzten Jahre aufgerufen. Die oftmals apodiktischen Urteile von Dolezals Kritiker*innen finden in den wütenden Reaktionen auf Saraswatis Verhalten in Identitti eine Parallele. Andererseits stellt der Roman divergierende Haltungen zum Thema transrace nebeneinander sowie in Konfrontation zueinander, ohne dabei abschließend Stellung zu beziehen.21 Die (vermeintliche) Eindeutigkeit des realen Skandals wird somit in Identitti mit der Ambiguitätstoleranz literarischen Erzählens konfrontiert.
Nivedita selbst gelangt gegen Ende des Romans zu einer reflektiert-kritischen Position, die es ihr erlaubt, die hohe Bedeutung, die Saraswati sowohl als Rollenmodell wie auch als akademische Lehrerin für sie hatte, anzuerkennen, ohne aus dieser Anerkennung zugleich einen Zwang zur unkritischen Übernahme sämtlicher Positionen und Selbstdeutungen Saraswatis abzuleiten:
Wenn wir mehr Rollenmodelle of Colour hätten, müssten diese nicht alle unsere Erwartungen an Rollenmodelle of Colour erfüllen. Wenn wir mehr Rollenmodelle hätten, dürften sie auch fehlerhaft sein.
Im Ernst, ich finde immer noch falsch, was Saraswati gemacht hat. Ich wünschte immer noch, sie hätte einen anderen Weg gewählt. Aber Passing war der Weg, den sie gewählt hat. Und das Wissen darum, dass sie weiß ist (oder war? you decide), verändert vieles, was sie gelehrt hat – aber es macht es nicht wertlos.
Ich liebe Saraswati immer noch, auch wenn ich nicht einer Meinung mit ihr bin. (401f.; Hervorh. i.O.)
Fakten und Fiktionen II
Transmedia
Eine zweite auffällige Anleihe bei der Realität macht Identitti im Bereich von Social Media. Immer wieder wird der narrative Text durch Kaskaden von Twitter-Kommentaren unterbrochen. Durch die Systemreferenz auf Social Media wird zunächst rein formal dem Umstand Rechnung getragen, dass identitätspolitische Debatten derzeit besonders intensiv in den sozialen Medien ausgetragen werden. Oftmals akkumulieren identitätspolitische Anliegen erst auf Social Media jenes politische Momentum, das dann auch Veränderungen in der realen Welt ermöglicht: Man denke an die #MeToo- oder die #BlackLivesMatter-Bewegung.
Inhaltlich handelt es sich bei den Posts in Identitti teils um Erfindungen der Autorin (hinter der fiktiven Bloggerin »OutsideSisters« [55 et passim] etwa verbirgt sich die Romanfigur Oluchi), teils aber auch um wörtliche oder nahezu wörtliche Übernahmen der Aussagen realer Personen, etwa von Kommentator*innen des Falles Dolezal, von Mitgliedern der AfD (der rechtspopulistischen Partei Alternative für Deutschland) oder von Personen des kulturellen Lebens wie J. K. Rowling. Im Nachwort ihres Romans stellt Sanyal heraus, dass sie sich einem derart vielstimmigen Thema wie der Identitätspolitik nicht allein durch schriftstellerische Erfindung habe annähern wollen (vgl. 419-421). Stattdessen lässt sie, indem sie die Aussagen realer Personen in Identitti collagiert, gleichsam die Realität in ihrer tatsächlichen Vielstimmigkeit zu Wort kommen.
Die transmediale Übertragung von Posts und Tweets von Social Media in einen Roman erzeugt – in vager Anlehnung an den von Roland Barthes beschriebenen ›Realitätseffekt‹ (vgl. Barthes 2002) – einen ›Fakteneffekt‹, also eine konkrete Referenz auf realweltliche Aussagen, für die nicht die Autorin oder die Erzählinstanz, sondern eben die Personen des realen Lebens verantwortlich zeichnen. Durch eine derartige Zitationspraxis werden zwei potenzielle Fallstricke fiktionalen Schreibens, welches sich aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen zuwendet, umgangen: Sind die zitierten Äußerungen nämlich kritikwürdig, so können sich die Autorin sowie die fiktive Erzählinstanz legitimerweise auf die Position zurückziehen, derartige Aussagen weder selbst getätigt noch auch jene Personen, die sie de facto getätigt haben, aktiv kritisiert, sondern die streitbaren Äußerungen eben nur zitiert zu haben. Im Fall von Aussagen wiederum, die an einen sehr spezifischen kulturellen oder persönlichen Erfahrungshintergrund gebunden sind, wird durch das wörtliche Zitat den Gefahren ›narrativer Enteignung‹ ausgewichen sowie der sensiblen Problematik kultureller Repräsentation Rechnung getragen.22
Über die wörtlichen oder weitgehend wörtlichen Übernahmen realer Aussagen auf Social Media hinaus hat Mithu Sanyal ausgesuchte Personen des öffentlichen Lebens gebeten, Selbstaussagen für ihren Roman zu ›spenden‹ – also hypothetische eigene Tweets, Instagram- oder Facebook-Einträge zu verfassen für den Fall, dass sich ein Skandal wie derjenige rund um Saraswati tatsächlich ereignen würde. Die »großzügigen Spender*innen« (420) derartiger Posts und Kommentare umfassen etwa Ijoma Mangold, Fatma Aydemir, Hengameh Yaghoobifarah oder Paula-Irene Villa Braslavsky. Zitate, die während des Arbeitsprozesses an einem Roman von der Realität ›erbeten‹ werden, bilden einen fiktionstheoretisch interessanten Fall, insofern hier nicht einfach Realität in der ein oder anderen Weise in den fiktionalen Text eingeht (was letztlich immer der Fall ist23), sondern Realität im Kontext der Entstehung des Romans aktiv – wenn auch im Falle von Identitti nur minimal – beeinflusst wird. Man hat es bei solchen Zitaten mit einer sehr speziellen Form von Applikation zu tun, also mit einer Verwendung fiktionaler Texte »als ein[em] Ensemble nicht von Abbildern, sondern von Vor-Bildern für Realität im Sinne von realer Praxis« (Link 2008: 16), insofern hier nicht die Realität eine fiktionale Welt nachahmt (Stichwort: Werther-Selbstmorde), sondern die Realität gewissermaßen bereits während des literarischen Produktionsprozesses kalkuliert modifiziert wird, sodass dann wiederum im abgeschlossenen Roman auf ebendiese Realität verwiesen werden kann.
So theoretisch reizvoll die Unterscheidung zwischen spontanen und kalkuliert für den Roman erfundenen Zitaten auch sein mag: Für die Deutung des Romans spielt diese Unterscheidung kaum eine Rolle, allein schon deshalb nicht, weil sie auf der Basis des manifesten fiktionalen Textes gar nicht zuverlässig vorgenommen werden kann. Im Rahmen des Romanprojekts dienen Zitate und Zitatspenden gleichermaßen einer Pluralisierung der im Text wiedergegebenen Standpunkte, einer Anbindung des Romans an reale Debatten rund um Fragen der Identitätspolitik sowie der Vermeidung einer ethisch und politisch potenziell fragwürdigen Delegation auktorial erfundener Zitate an reale Personen.24
Schlussbetrachtung
Anstatt die einzelnen Analyseergebnisse dieses Beitrags zu rekapitulieren, soll abschließend noch einmal einen Schritt zurückgetreten und die Frage gestellt werden, ob es sich bei Mithu Sanyals Identitti um einen literarischen Beitrag zu realen identitätspolitischen Debatten handelt, ja mehr noch: um eine literarische Form von Identitätspolitik.
Ehe diese Frage beantwortet wird – und zwar mit einem entschiedenen Ja –, scheint zunächst eine Einschränkung geboten hinsichtlich jenes Ausschnitts identitätspolitischer Debatten, auf den Sanyals Roman überhaupt Bezug nimmt. Alle bedeutenderen Figuren in Identitti stehen identitätspolitischen Anliegen grundsätzlich positiv gegenüber. Krass ablehnende Positionen zur Identitätspolitik scheinen zwar vereinzelt auf – etwa in den Twitter-Zitaten –, werden aber nicht eingehend diskutiert. Die These, dass sich Identitti im Hinblick auf eine Anbindung an identitätspolitische Debatten um Vielstimmigkeit bemüht, wäre entsprechend dahingehend einzuschränken, dass die Mehrzahl dieser Stimmen aus dem linken politischen Spektrum, wenn nicht gar aus einem antirassistisch- oder feministisch-aktivistischen Milieu stammen. Der Roman adressiert nicht oder nicht vorrangig jene grundsätzlichen Verwerfungen, die zwischen Gegner*innen und Befürworter*innen der Identitätspolitik oder aber zwischen linker Identitätspolitik und rechten, identitären Bewegungen bestehen; vielmehr rekurriert er auf identitätspolitische Kontroversen innerhalb der (antikapitalistischen, rassismuskritischen, queeren etc.) Linken.
Versucht man nun, Sanyals Roman als politischen Roman zu deuten, so ist erstens festzuhalten, dass es sich bei Identitti gewiss um keinen Thesenroman mit einer klaren politischen Botschaft im Sinn der engagierten Literatur oder gar der literarischen Propaganda handelt. Einen identitätspolitischen Debattenbeitrag bietet Identitti hingegen durchaus, insofern hier in einem fiktionalen Medium auf die Komplexität der thematisch verhandelten, realen Problemlagen aufmerksam gemacht, die immanente Logik verschiedener Standpunkte exponiert und, gewissermaßen unter der Hand, auch ein nicht geringes Maß an Wissen über aktuelle identitätspolitische Debatten sowie postkoloniale Theorie vermittelt wird: Tatsächlich lässt sich der gesamte Roman – nicht zuletzt aufgrund der am Ende angefügten Literaturliste – als eine Art literarisches Infotainment und vergnügliche Einführung in die postkoloniale Theorie lesen.
Einen Beitrag zur Identitätspolitik bildet Identitti zweitens durch seine autorinnenbiografisch legitimierte, literarische Repräsentation von blacks, indigenous und People of Colour. Mixed-race-Personen sind innerhalb der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach wie vor unterrepräsentiert. Sanyal bemerkte hierzu im Interview:
Es war mir […] wichtig, über eine Community und bestimmte Auseinandersetzungen zu schreiben, die mir in der Literatur, mit der ich groß geworden bin, gefehlt haben. Es ist irre, wie viele Menschen mir geschrieben haben: »Endlich fühle ich mich in einem deutschsprachigen Roman repräsentiert.« Das ist auf der einen Seite das, was ich wollte, und gleichzeitig bricht es mir das Herz. Was sagt das über die deutschsprachige Literatur aus? (Sanyal/Brüheim 2022)
Indem Sanyal eigene Erfahrungen in Identitti einfließen lässt, dabei aber nicht so sehr die persönlich-biografische Dimension hervorhebt, sondern eher auf verallgemeinerbare Gruppenerfahrungen abhebt, schreibt sie sich in einen bedeutenden literarischen Trend etwa der letzten zehn Jahre ein: den Trend nämlich, dass Autor*innen, die diskriminierten Gruppen angehören, ihre persönlichen Erfahrungen in einer Mischung aus autofiktionaler Selbstdurchleuchtung und soziologisch-ethnologischer Gruppenanalyse einer breiten Öffentlichkeit nahezubringen suchen (vgl. Blome 2020). Zu nennen sind hier etwa die autosoziobiografischen Romane von Annie Ernaux über die Erfahrungen von Frauen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Texte über Klasse und Homosexualität von Didier Eribon und Édouard Louis oder Ocean Vuongs Roman Auf Erden sind wir kurz grandios über die Erfahrungen queerer, vietnamesischer Migrant*innen in den USA. Von den genannten, sehr viel stärker autobiografisch geprägten Texten unterscheidet sich Sanyals Roman durch seine größeren Fiktionslizenzen sowie nicht zuletzt durch seinen Einsatz von Humor. Identitti nimmt die politische und vor allem die persönlich-psychische Tragweite seiner Themen durchaus ernst; zugleich vermeidet Sanyals Text den Ton der Anklage und die pathetische Rhetorik, mit denen identitätspolitische Themen andernorts häufig verhandelt werden.
Eine dritte Hinsicht schließlich, in der Identitti einen Beitrag zu identitätspolitischen Debatten leistet, betrifft die Autorin Sanyal als Person des kulturellen und politischen Lebens. Seit dem Erscheinen und dem beträchtlichen Erfolg von Identitti ist Sanyal zu der öffentlichen Intellektuellen in Deutschland avanciert, die man nachgerade einladen und befragen muss, wenn es um Fragen der Identitätspolitik geht. Sucht man derzeit nach einschlägigen Beiträgen etwa auf YouTube oder Spotify, so kommt man an Mithu Sanyal schlicht nicht vorbei. Im Jahr 2022 listete das Cicero-Ranking der wichtigsten Intellektuellen des deutschsprachigen Raums Sanyal – als Newcomerin – auf Platz 491 (Höfer 2022: 26). Offenbar hat der Roman Identitti – also ein fiktionaler Text, dessen Erzählerin selbstredend nicht identisch mit seiner Autorin ist –, massiv dazu beigetragen, dass Sanyal, die bereits vorher als Sachbuchautorin und Journalistin aktiv war, ein beträchtliches öffentliches Forum geboten bekommt, um über identitätspolitische Fragen zu diskutieren und zu informieren. Ermöglicht wurde dieses Engagement Sanyals als empirische Person für identitätspolitische Belange auch jenseits ihres Romans also wesentlich durch ihren Roman. Sanyal nimmt damit eine Art auktoriale Doppelfunktion diesseits sowie jenseits der Fiktionalitätsschranke ein: als Romanautorin einerseits und als public intellectual andererseits, wobei diese beiden Funktionen einander synergetisch ergänzen und verstärken.25 Identitätspolitik findet mithin nicht nur als Quellenmaterial in Form von identitätspolitischen Debatten, Anliegen und Verwerfungen in Sanyals Roman hinein. Als Anlass für Interpretation und weiterführende Diskussion – nicht zuletzt mit der Autorin selbst – findet Identitätspolitik auch wieder aus dem Roman heraus.
Anmerkungen
1 Der Begriff ›Identitätspolitik‹ wird gemeinhin – und so auch im vorliegenden Beitrag – auf ›linke‹, emanzipatorische politische Anliegen und auf den Kampf um Anerkennung vonseiten gesellschaftlich marginalisierter Gruppen bezogen. Streng begriffslogisch betrachtet handelt es sich freilich bei allen Formen gruppen‑ und identitätsassoziierter politischer Forderungen und Aktivitäten – also etwa auch im Kontext nationalistischer, völkischer oder ›identitärer‹ Bewegungen – um Formen von ›Identitätspolitik‹.
2 Siehe aus der Fülle der jüngeren Forschung exemplarisch die Beiträge in: Bundeszentrale für politische Bildung (2019).
3 Siehe etwa die Beiträge in Berendsen/Cheema/Mendel (2019).
4 Die Metaphorik des ›Minenfelds‹ diskutiert Mithu Sanyal mit Barbara Bleisch im Sternstunde-Philosophie-Interview (vgl. Bleisch/Sanyal 2021).
5 Sämtliche Zitate aus Identitti (Sanyal 2021) werden ohne Sigle im Text gegeben.
6 In diesem Aufsatz wird der englische Begriff race verwendet, da er, anders als der deutsche Begriff ›Rasse‹, nicht (allein) eine vermeintlich biologisch begründbare Kategorie bezeichnet, sondern die Ebene kultureller Wahrnehmungen und Zuschreibungen mitumfasst. Siehe zur Problematik der Verwendung von Begriffen wie Rasse, race, Ethnie etc. zur Bezeichnung von Menschen und Menschengruppen Rath/Gasser 2021.
7 Als zentrale, im Text kursiv gesetzte These formuliert Butler: »In imitating gender, drag implicitly reveals the imitative structure of gender itself – as well as its contingency.« (Butler 2007: 187; Hervorh. i.O.)
8 Auf die Frage, ob Saraswati auch ein Mann hätte sein können, entgegnete Sanyal im Interview: »Saraswati hätte nichtbinär sein, sie hätte aber kein Mann sein können. Nivedita hätte sich nicht so von einem Mann inspirieren lassen. Ihr geht es ganz viel um Identifikation, und weil ihr Vater Inder ist, sucht sie in Nivedita nach einer indischen Mutterfigur.« (Sanyal/Tepest 2021)
9 Die Herausforderungen einer Mixed-Identität hat Sanyal im Interview wie folgt beschrieben: »Wir haben immer ganz viele Identitäten als Menschen. Und je nachdem, in welchen Kontexten wir uns begegnen, sind unterschiedliche Identitätsaspekte oder Identitäten wichtig. Wenn ich zum Elternsprechtag gehe, dann gehe ich da als Mutter hin. Oder ich spreche als Schriftstellerin. Aber wenn Menschen mich fragen, wo ich herkomme, ist es nicht die polnische Seite meiner Identität, nach der sie fragen, sondern die indische, die sichtbare Identität. […] Wir können eine doppelte Herkunft nicht genießen. Denn es herrscht hier immer noch die Vorstellung vor, du bist Halbinderin. Und das kommt natürlich aus der Rassenlehre, halb und viertel und achtel und so weiter. Dabei bist du natürlich nicht halb, du bist beides, du bist doppelt. Es ist kein Defizit.« (Sanyal/Gessler/Jütte o.J.)
10 Im Nachwort des Romans bemerkt Sanyal mit Blick auf den rechtsextremistischen Terroranschlag in Hanau im Jahre 2020, der sich während der Arbeit an Identitti ereignete und zeitlich leicht versetzt auch in den Roman Eingang gefunden hat: »Identitätskämpfe sind Kämpfe um Fiktionen in der Wirklichkeit. Und manchmal sind sie Kämpfe mit ganz realen Opfern.« (423)
11 Sanyal umriss das Thema von Identitti am 19. Oktober 2020 auf Twitter wie folgt: »Um Identitätspolitik und Brüste, also um sex and race, wie der Titel sagt:-)« (mithu sanyal 2020). Vgl. 15.
12 Zur Einschreibung des Romans in den zeitgenössischen Popdiskurs siehe Schneider 2021.
13 Die Beantwortung der Frage, ob andere Personen Kali sehen könnten, wird im Text dadurch in der Schwebe gehalten, dass die Gruppe, die in Düsseldorf aus Saraswatis Wohnung zum Friedhof zieht, just an diesem Tag niemand anderem begegnet: »Die Prozession, die angeführt von einer blauhäutigen blutverschmierten lachenden nackten Frau mit wehenden schwarzen Haaren durch den Volksgarten zum Stoffeler Friedhof zog, hätte Aufsehen erregt, wäre an diesem gewittrigen Dienstagmittag außer ihnen jemand im Park unterwegs gewesen.« (374)
14 Zum Problem der Definition politischen Schreibens siehe ausführlich Navratil 2022: 195-204. Für eine fiktionstheoretische Konzeptualisierung politischen Schreibens siehe ebd.: 231f.
15 Siehe etwa Sanyal/Brüheim 2022.
16 Zum mehrfach liminalen Status der Autofiktion siehe Zipfel 2009.
17 Johannes Franzen bemerkt hierzu: »Wo schützenswerte Identitäten betroffen sind, reicht Fiktionalität offenbar nicht aus, um die Anverwandlung eines Stoffes durch einen Nicht-Betroffenen zu legitimieren.« (Franzen 2019: 181)
18 So wies Sanyal darauf hin, dass es in der deutschsprachigen Literatur an Rollenmodellen für Mixed-race-Personen fehle (vgl. Sanyal/Gerk 2021) – ein Sachverhalt, den auch ihre Romanprotagonistin Nivedita beklagt (vgl. 90).
19 Die zahlreichen expliziten oder impliziten Bezugnahmen des Romans auf Konzepte und Theoretiker*innen der Postcolonial Theory und der Critical Whitness Studies bilden einen weiteren Überschneidungsbereich von Fakt und Fiktion, der eine eingehende Untersuchung lohnen würde – auch und insbesondere in Bezug auf Saraswatis eigene (fiktive?) Theoriearbeit in Identitti.
20 In den USA wurde die Kritik an Dolezals Versuch, sich als schwarz auszugeben, häufig kontrastierend in Beziehung gesetzt zum großen öffentlichen Zuspruch, den Caitlyn Jenner – derzeit wohl die bekannteste trans Frau weltweit – für ihre hyperfeminine öffentliche Selbstpräsentation erfahren hat. Das ›Outing‹ von Dolezal als weiß ereignete sich nur wenige Tage, nachdem Jenner auf dem Cover von Vanity Fair in betont femininer Pose zu sehen gewesen war. Positionen und Implikationen des Vergleichs zwischen den Diskurskomplexen Dolezal/transracial und Jenner/transgender sind ausführlich aufgearbeitet in Brubaker (vgl. 2016). Sanyal selbst bezieht sich im Nachwort von Identitti enthusiastisch zustimmend auf Brubakers Studie (vgl. 422).
21 Markus Steinmayr (2022: 227) wirft in seiner Deutung von Identitti der Figur Saraswati vor, ihre Student*innen zu »Empfänger[n] einfacher Botschaften« zu degradieren und ihre Seminare zur Verbreitung von »reinem Dogmatismus« sowie zur »Ausbildung von Aktivisten« zu missbrauchen. Ich halte diese Deutung für hermeneutisch vollkommen haltlos. Zwar erscheint Saraswati im Roman als ambivalente Figur – deutlich wird etwa, dass sie den Wechsel ihrer race als messianischen Erlösungsakt deutet (vgl. 234) –; an ihrer Fähigkeit, ihre Student*innen zu kritischem Denken anzuregen, lässt der Roman allerdings keinen Zweifel. So frustriert Saraswati etwa in einer eindrücklichen Szene des Romans einen Teil ihrer Studierendenschaft, indem sie alle weißen Student*innen aus einem ihrer Seminare wirft (vgl. 33). Diesen Akt eines scheinbaren umgekehrten Rassismus nimmt Saraswati dann allerdings sogleich zum Anlass, um darüber zu diskutieren, wer sich eigentlich als »Student of Colour« definiert (34). Auch bietet sie im Anschluss allen Student*innen, die das Seminar verlassen haben, eine persönliche Sprechstunde an, um über ihre Erfahrung der Ausgrenzung – welche People of Colour jeden Tag machen – zu reflektieren (vgl. 256f.). Als Saraswati ihr Lehrkonzept gegenüber Nivedita erläutert, bricht freilich sogleich wieder ihr Narzissmus durch: »Saraswati warf ihre Haare zurück: ›Ich bin einfach eine verdammt gute Professorin. Und eine verdammt überlastete.‹« (257)
22 Den Begriff der ›narrativen Enteignung‹ übernehme ich von Franzen. »Die Lizenzen, die die Autorin oder der Autor eines fiktionalen Werkes für sich in Anspruch nehmen kann, finden eine Einschränkung zum einen dort, wo reale persönliche Erfahrungen von Einzelpersonen verarbeitet werden, zum anderen, wo die literarische Aneignung die Erfahrungen betrifft, die den Kern einer kulturellen Identität ausmachen.« (Franzen 2019: 173)
23 Zur Notwendigkeit fiktionaler Texte, Anleihen bei der realen Welt zu machen, siehe Eco 1999: 112; Blume 2004.
24 Eine derartige Delegation erfundener Zitate an reale Personen lag dem Skandal rund um den Autor Robert Menasse im Jahr 2017 zugrunde. Vgl. Navratil 2021.
25 Die Etablierung einer solchen auktorialer Doppelautorität ist im Kontext politischen Schreibens keine Seltenheit: Ein weiteres prominentes Beispiel der synergetischen Verstärkung auktorialer Autorität sind Juli Zehs fiktionale wie auch faktuale Einlassungen zum Thema Gesundheit. Vgl. Navratil 2021: 447-451.
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