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Zeitschrift für interkulturelle Germanistik – 14. Jahrgang, 2023, Heft 2: Mediterranität als historisches Paradigma für Interkulturalität und Transkulturalität in der Moderne (Tomislav Zelić)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik – 14. Jahrgang, 2023, Heft 2

Mediterranität als historisches Paradigma für Interkulturalität und Transkulturalität in der Moderne (Tomislav Zelić)

Mediterranität als historisches Paradigma für Interkulturalität und Transkulturalität in der Moderne

Abstract

The interrelation between Central European and Mediterranean culture is one of, if not the most prominent historical paradigm for intercultural studies in the field of German Studies. European historians, poets and philosophers have written amply on the idea of Mediterranean culture. Throughout the history of German literature, the interbellum period is one of the epochs in which the Mediterranean once again inspired the literary imagination of canonical and less than canonical writers from the Weimar Republic. Constellations between Europe and the Mediterranean may have changed drastically since then but the Mediterranean continues to serve as an inexhaustible source of cultural imagination and literary creation up until today.

Title

Mediterraneity as a Historical Paradigm of Interculturality and Transculturality in Modern German Literature

Keywords

Mediterranean culture; interculturality/transculturality; classical modernism; Mediterranean Studies/mediterraneity; German Studies

In einer seiner zahlreichen Stellungnahmen über Mediterranität (mediteranstvo; vgl. Matvejević 2007: 89) stellt der kroatisch-bosnisch-herzegowinische Mittelmeerforscher und Publizist Predrag Matvejević (1932–2017) die rhetorische Frage, die sich gewöhnlich, wie er behauptet, in allen Himmelsrichtungen hören lässt: ob es das Mittelmeer außer in unserer Einbildung überhaupt gebe (Matvejević, zit.n. Jodice 1995: 106; vgl. Kolb 2013: 27). An anderer Stelle gedenkt er Nietzsches Betrachtungen darüber, dass sich Mediterranität jederzeit und überall erlangen ließe. Als Beispiele dafür führe Nietzsche Goethe und Winckelmann an (vgl. Matvejević 2007: 202), bestimme Mozarts Musik als Ausdruck für den »Glauben an den Süden« (Nietzsche 1999b: §245, 187) und lobe Bizets »Süden der Musik« für »geborene Mittelländer und ›gute Europäer‹« (ebd.: §254, 200). Auf diese Art und Weise habe Nietzsche erkannt, so Matvejević weiter, dass man sich Mediterranität, unabhängig von der eigenen Herkunft und dem derzeitigen Aufenthaltsort, die räumliche und geistige Befindlichkeit und den seelischen Gemütszustand aneignen könne (vgl. Matvejević 2007: 202; Kolb 2013: 10). Es deutet daher alles darauf hin, dass Mediterranität zugleich einen historischen und kulturellen Raum erfasst, dem eine eigenartige Semantik zukommt. Dafür spricht u.a. auch, was Matvejević bezüglich der Grenzen des Mittelmeeres hervorhebt. Sie seien nämlich nicht nur geographischer Art, sie seien in Wahrheit weder der Zeit noch dem Raum eingeschrieben, sie seien weder geschichtlich noch gesellschaftlich, geschweige denn national bestimmt (vgl. Matvejević 2007: 15). Mediterranität ließe sich weder erben noch vererben, sondern man erlange sie schlichtweg als eine Auszeichnung, jedoch ohne Bevorteilung (vgl. ebd.: 89). Es gehe dabei nicht um die Besinnung auf die Vergangenheit oder die Tradition, die Geschichte oder das kulturelle Erbe, um Erinnerung oder das kulturelle Gedächtnis, Identität im Sinne von Zugehörigkeit oder Zuweisung, die sich auf Unterscheidungen von Rassen, Sprachen und Glauben bestimme. Das Mittelmeer sei vielmehr »Schicksal« (ebd.; Übers. T.Z.), so Matvejević in Anlehnung an Nietzsches Begriff Amor fati (vgl. Nietzsche 1999a: §276, 521). Mediterranität beruhe auf »forms of cultural learning and literary creativity« (Kolb 2013: 5). Das Mittelmeer sei nicht nur ein klassischer Topos, sondern auch ein moderner Genius Loci. Es sei ein imaginärer Ort oder »dream of a poetic of the Mediterranean where its place […] seems of primary importance« (Matvejević, zit.n. Jodice 1995: 107; vgl. Kolb 2013: 29). Die Wirklichkeit des Mittelmeeres stehe dabei im Gegensatz und im Widerspruch zu dichterischen Auffassungen des Mittelmeeres. In diesem Sinne verfällt die Diskursformation des Mediterranismus der ästhetischen Ideologiekritik (vgl. Heimböckel 2017). Die herkömmlichen Mittelmeerstudien sind eurozentrisch, solange sie sich lediglich auf das griechische und römische Erbe aus dem Altertum versteifen und dabei in der Regel die Levante (das Ostmittelmeer oder Westasien) und (Nord–)Afrika beiseitelassen (vgl. Kolb 2013: 38). Im Rahmen der kroatischen Literaturgeschichte etwa betont man gerne, im Geiste von Ernst Robert Curtius, dass Renaissancedichter wie Marko Marulić in der Tradition der (mediterranen) Latinität stünden, um zu beweisen, dass Klassizität auch in kroatischer Sprache erreichbar sei (vgl. Pšihistal 2008). Martina Kolb forderte bereits vor einem Jahrzehnt, die neue Forschung solle im Hinblick auf mediterrane Kultur den zu eng gesteckten Rahmen der postmodernen und postkolonialistischen Theorie überwinden. Ob avancierte Theorien des Postimperialismus (vgl. z.B. Bobinac u.a. 2016) ausreichen, um die Defizite des eurozentrischen Klassizismus wettzumachen, ist eine Frage, deren Beantwortung noch aussteht. Einen Ausweg aus der Sackgasse des Postmodernismus und Postkolonialismus könnte die Erforschung der Interkulturalität bzw. Transkulturalität weisen.

Im Unterschied zu Fernand Braudel, der trotz der offensichtlichen kulturellen Vielfältigkeit die kulturelle Einheit des Mittelmeers postulierte, ist Matvejević davon überzeugt, dass eine einheitliche Mittelmeerkultur nicht bestehe. Der Mittelmeerdiskurs, die ästhetische Ideologie des »Mediterranismus« also (Heimböckel 2017), sei bis in die Gegenwart den Gefahren der Remythologisierung ausgesetzt (vgl. Matvejević 2007: 132), und das gelte, solange der Blick bloß in die Vergangenheit und nicht zugleich auch in die Zukunft gerichtet sei. Mediterrane Narrative erschaffen sich, so behauptet Matvejević, ihre je eigenen Vorstellungen über das Mittelmeer, die nicht mit der erdkundlichen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit im Einklang stünden (vgl. ebd.). Während Braudel in seinem berühmten Hauptwerk die Einheit des Mittelmeeres als interkulturellen und womöglich transkulturellen Schnittpunkt unterschiedlicher Kulturen beschwor, erscheint es bei Matvejević eher als ein imaginärer Ort der absoluten Differenz und Alterität im Sinne von ›Alienität‹, um einen Schlüsselbegriff der Ethnologie und Anthropologie zu entlehnen. So heben neuere Forschungen hervor, das Mittelmeer sei eher als eine transkulturelle, planetarische »network area« (Benedetti/Loyen 2019: 11) zu denken, also als eine Art von Netzwerkareal. Das Phänomen des Netzwerks bzw. »Netz[es]« in Anwendung auf die frühgeschichtlichen und »erstaunlich langlebigen« »Verbindungen« zwischen den »großen Hafenstädten« am Mittelmeer war dem Annales-Historiker Maurice Aymard bereits bekannt (Aymard 2013: 123f.). In der britischen Geschichtsforschung wird das Mittelmeer als korrupter Raum gedeutet (vgl. Horden/Purcell 2000), dessen Grundstruktur als »kontinuierliche Diskontinuität« zu denken sei (ebd.: 53; vgl. Benedetti/Loyen 2019: 11). Zumindest im Hinblick auf das Altertum und Mittelalter seien trotz aller kultureller Differenzen die in der Gemeinschaft der Händler, Seefahrer und Piraten geltenden Verbindlichkeiten hervorzuheben, denn ihnen seien die gemeinsamen Seewege (routes) auf dem Mittelmeer bedeutsamer als die je eigenen Wurzeln auf dem Festland (roots; vgl. Braun 2019: 132, mit Bezug auf Horden/Purcell 2000). Unter den Bedingungen einer spezifisch mediterranen »Außerräumlichkeit« und »Außerzeitlichkeit« (Benedetti/Loyen 2019: 9) herrschen im Mittelmeerraum historisch-kulturwissenschaftlich betrachtet seit jeher »multiple Identitäten« (Abulafia 2014: 819) vor. Diese haben sich Abulafia zufolge seit vorgeschichtlichen Zeiten zuvörderst unter Händlern, Sklaven und Pilgern herausgebildet (vgl. ebd.: 820). Am Mittelmeer war demnach Interkulturalität bzw. Transkulturalität, verstanden als »Fähigkeit, kulturelle, religiöse und politische Grenzen zu überwinden« (ebd.: 818), immer schon ein transzendenter, ja transzendentaler Horizont der Kommunikation, ganz gleich ob Individuen und Gruppen nun friedlich oder feindlich gegeneinander gestimmt sind. Frei nach Nietzsche gilt nämlich, entweder man hat Kultur oder man hat sie nicht. Kultur bzw. ›Bildung‹ wäre demnach ein ›Kollektivsingular‹ im Sinne von Reinhart Koselleck (vgl. 2006: 66f. u. 90f.). Und das wäre wiederum Kultur als Schicksal im geistigen Sinne der mediterranen Transhumanz eines Matvejević in der Nachfolge Nietzsches.

Das Lied vom Meer, das Lied als solches, kommt vom Meer, es stammt vom Mittelmeer, so dichtet es jedenfalls Rainer Maria Rilke im Jahre 1907 in seinem gleichnamigen Gedicht (vgl. Rilke 1955: 600f.). Und das wird Gottfried Benn (2006b: 307) in seinem Gedicht Mittelmeerisch aus dem Jahre 1943 bestätigen. Das Lied vom Meer kommt mit Reim und Versfuß ausgestattet. Es ist eine Klagelied, Jeremiade, Odyssee. Das Mittelmeer ist ein Jammertal in der mündlichen Überlieferung des urgeschichtlichen Seefahrertums. Das Lied vom Meer ist eine melancholische Hymne auf das Leben trotz widriger Umstände. »O wie fühlt Dich ein/ treibender Feigenbaum/ oben im Mondlicht.« (Rilke 1955: 601) Es lässt sich nicht entscheiden, ob der Satz, der mit einem Punkt endet, in Wahrheit als rhetorische Frage, hermetische Chiffre oder absolute Metapher zu verstehen ist. Moderne Dichtung ist bekanntlich seit Charles Baudelaire und den französischen Symbolisten hermetisch (vgl. Friedrich 1956: 55 u. 151f.). »Du musst Dein Leben ändern« (Rilke 1955: 557), fordert Rilkes Archaïscher Torso Apollos. Wie jeder andere hat auch dieser kategorische Imperativ zwar rein formal betrachtet absolute Geltung, jedoch ist und bleibt er materiell ohne bestimmbare Bedeutung. Bis ihm die Olive geschah, dichtet Benn in den Rönne-Novellen (vgl. Benn 2006a: 50). Es geht nicht bloß um Mimesis, sondern um Mimikry. Das ist nicht nur »olympischer Schein« im Zeichen Apollos, sondern auch »progressive Anthropologie« im Sinne von Novalis (Benn 2006a: 303). Es geht um eine rätselhafte Anverwandlung an den Feigenbaum, die Olive oder auch das Weizenfeld, die mediterrane Dreiheit (vgl. Braudel 2013a: 31). Anstatt des Weizenfeldes ließe sich auch die Weinrebe einsetzen. Die dionysische Poiesis ist Schöpfung durch Transformation, Transkulturation und »Transdifferenz« (Lösch 2005), zugleich Metamorphose und Theogonie.

Vor dem »Nebelhaft-Grenzenlosen« (Mann 1919: 144) des Mittelmeeres im undeutlichen Hintergrund lässt Thomas Mann Tadzio Gustav von Aschenbach am Ende seiner Mittelmeernovelle auf das »Verheißungsvoll-Ungeheure« (ebd.: 145) verweisen. Das ist eine weitere hermetische Chiffre oder absolute Metapher, diesmal in der sprachlichen Gestalt von Komposita substantivischer Abstrakta. Das Mittelmeer ist, wie Matvejević sagt, Schicksal, das zugleich Monstrosität und das Numinose in sich einschließt. Dichter und Denker, die Mediterranität annehmen, vollziehen dies durch Metempsychose (Seelenwanderung). Sie sind Migranten im Geiste. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges wird das Mittelmeer wieder zu Europas Schicksal und zum Schicksal der Welt, nicht nur für Thomas Mann oder Gustav von Aschenbach, »sein Ich und die europäische Seele« (ebd.: 15). Die Exilliteratur der Zwischenkriegszeit erkennt im Mittelmeerraum, der nicht nur als Ursprung des europäischen Geistes, sondern auch als kultureller Selbstbestimmungsort Hoffnungen auf eine Zukunft in Freiheit in sich birgt, zumindest zeitweilig einen sicheren Zufluchtsort vor dem Nationalsozialismus. Europa liegt, frei nach Ingeborg Bachmann (vgl. 2003), seit jeher am Mittelmeer. Mare nostrum nannten es schon die alten Römer. Das Mittelmeer ist europäische Herkunft und Zukunft. Es ist ein Meer, das Europa mit anderen teilt. Mare nostrum ist mare vostrum. O wie fühlt sich ein Flüchtling auf dem Meer, im Meer oder unten auf dem tiefen Grund des Mittelländischen Meeres, so fragt die Kunst und Literatur der Gegenwart. Mare nostrum, mare vostrum, »mare sepulcrum« (Hess-Lüttich 2023). Die Fluchtbewegung ist nun jedoch gegenläufig: über das Mittelmeer oder die Balkanroute nach Europa statt von Mitteleuropa über das Mittelmeer ins Unendliche.

Das Mittelmeer war seit jeher als »Schnittpunkt verschiedener Welten« (Braudel 2013c: 8) zugleich auch »Resonanzboden« (Braudel 2013b: 59) nicht nur für das europäische Dichten und Denken – und nicht nur in deutscher Sprache. Gewiss ist es ein, wenn nicht der exemplarische und paradigmatische Ort und Raum für die Erforschung von Interkulturalität bzw. Transkulturalität, was auch immer darunter im Einzelnen zu verstehen sein mag, obwohl es als unermesslicher Raum (vgl. ebd.: 39) Raum an sich ist, also ein Unort, der Verortung oder Orientierung nicht zulässt (vgl. Grgas 2008: 115). Insbesondere sind die tropographischen und topologischen bzw. »troplogischen« (vgl. Man 1996) sowie mnemotopischen, heterotopischen bzw. heterochronen (vgl. Foucault 2005) und utopischen (vgl. Dünne/Mahler 2018: 156) Rekonfigurationen des Mediterranen unter dem Aspekt der Interkulturalität und Transkulturalität zu untersuchen. Das Mittelmeer lässt sich als das Andere Mitteleuropas verstehen und versetzt dabei als Fremdes zwar in Staunen (vgl. Heimböckel 2018), während es als solches zugleich jedoch konstitutiv für die Konstruktion des Eigenen ist (vgl. Kristeva 2021).

Betrachtungen über interkulturelle bzw. transkulturelle Beziehungen zwischen Europa und Mittelmeer lassen drei kulturtheoretische Grundmodelle erkennen: Multikulturalität, Interkulturalität und Transkulturalität. Die Beziehungen zwischen zwei oder mehr Kulturen lassen sich von einem ›rein logischen‹ Standpunkt aus1 auf lediglich drei Möglichkeiten reduzieren, wie man die eigene und die andere, unbekannte, fremde, fremdartige oder gänzlich andersartige Kultur betrachten könnte. Im Vergleich zur eigenen Kultur könnte man die je andere Kultur als schwächer und unterlegen, gleichwertig und gleichberechtigt oder stärker und überlegen ansehen. Es mag nicht überraschen, dass man die je andere Kultur im Vergleich zur eigenen Kultur in der Regel als schwächer und unterlegen, seltener als gleichwertig und gleichberechtigt und fast niemals als stärker und überlegen wahrnimmt. Unter der Annahme, dass eine andere Kultur im Vergleich zur eigenen Kultur stärker und ihr überlegen ist, wäre die Übernahme dieser anderen Kultur nicht nur vernunftgemäß begründet, sondern geboten. Dieser Fall liegt wohl äußerst selten vor, nicht zuletzt aus dem einfachen Grund, dass die Übernahme einer anderen Kultur die Ablehnung der eigenen Kultur einschließt. Außerdem entsteht derart das Paradox, dass die andere Kultur in Wahrheit die eigene Kultur ist. Das Andere, Unbekannte, Fremde, Fremdartige oder gänzlich Andersartige könnte sich bei diesem interkulturellen oder transkulturellen Prozess als das Eigene, ja das Ureigene herausstellen. Währenddessen stellt sich die eigene Kultur als vollkommen falsch heraus. Es ist daher erstaunenswert zu beobachten, dass ausgewählte deutsche und österreichische Schriftsteller am Vorabend des Ersten Weltkrieges die Möglichkeit erwägen, mediterrane Kultur für sich zu übernehmen. Darin erkennen sie zumindest eine interkulturelle, ja transkulturelle Bereicherung der mitteleuropäischen Kultur, falls nicht sogar eine willkommene Gelegenheit, am Mittelmeer die Wende im geistigen Verfall Mitteleuropas herbeizuführen. Es lässt sich ebenso der zweite Fall, dass die je andere Kultur im Vergleich zur eigenen Kultur als gleichwertig und gleichberechtigt anzusehen ist, in der deutschsprachigen Literatur am Vorabend des Ersten Weltkrieges beobachten. Das ist jedoch als seltener Ausnahmefall zu betrachten, der als rein ästhetisches und poetisches Phänomen lediglich im Medium der literarischen Fiktion einen Dialog zwischen den Kulturen inszeniert, dessen Wahrscheinlichkeit in Wirklichkeit dadurch gerade in Frage gestellt wird. Es deutet alles darauf hin, dass der dritte Fall – die je andere Kultur nimmt sich im Vergleich zur eigenen Kultur als schwächer und unterlegen aus – einer allgemeinen Neigung folgt, denn in der Regel liebt jeder sich selbst und die eigene Kultur, was in jederlei Hinsicht vernünftig und verständlich ist, solange es von einem unerlässlichen Selbstwertgefühl bestimmt ist, selbst wenn dabei stets die Gefahr narzisstischer Tendenzen droht. Ideologiekritisch verurteilungswürdig wird diese Geisteshaltung, sobald die Überzeugung von der eigenen Kraft und Übermacht seinen gewaltsamen Ausdruck in der Erniedrigung der anderen Kultur findet, sei es durch Rechtfertigung oder Anwendung körperlicher oder sprachlicher Gewalt gegen das Andere, Unbekannte, Fremde, Fremdartige oder Andersartige.

Es bestehen drei Grundmodelle für die Beziehungen zwischen zwei oder mehr Kulturen. Im Falle, dass die Kulturen vollkommen verschieden sind, dass kein bedeutender Austausch zwischen ihnen stattfindet und dass sie weder als gleichwertig noch gleichberechtigt gelten, während die eigene Kultur von der Erwartung beherrscht ist, dass andere Kulturen unter das Gebot der Assimilation fallen, handelt es sich um Multikulturalität. Im Falle, dass die Kulturen nicht nur mehr oder minder voneinander unterschieden sind, dass ein bedeutender Austausch zwischen ihnen stattfindet und dass sie sich gegenseitig wertschätzen und bereichern, sondern dass sie sich voneinander unterscheiden lassen und dabei dennoch gleichberechtigt sind, handelt es sich um Interkulturalität. Im Falle, dass die Kulturen vergleichsweise ähnlich sind, dass dabei keinerlei unüberbrückbare Unterschiede bestehen und dass diese äußerlich betrachtet einheitliche Kultur dennoch durch innere Selbstveränderung im Lauf der historischen Zeit gekennzeichnet ist, handelt es sich um Transkulturalität. Eine derart konzipierte Theorie der Transkulturalität, die unter Berücksichtigung der transkulturellen Transdifferenz postmoderne Beliebigkeit bei der Frage nach kultureller Zugehörigkeit negiert, impliziert den bereits erwähnten Begriff der Kultur im Kollektivsingular. Gerade in Rücksicht auf die kulturellen Differenzen gilt das Gebot der Kultur, entweder man hat sie oder man hat sie nicht. Tertium non datur. Alle identitätspolitischen Ansprüche auf kulturelle Sonderrechte sind suspendiert. An diesem Paradox scheitert etwa die Konzeption der Transkulturalität nach Wolfgang Welsch (vgl. 2017). Die Kritik am multikulturellen und interkulturellen Kugelmodell nach Herder verkennt, dass die Konzeption der Transkulturalität selbst einem Modell folgt, das gerade auf Begrenzung beruht, sei es als Modell der Globalisierung, das selbst eine Kugelmetapher in den Mittelpunkt stellt, sei es als Modell von Mosaik, Text oder Gewebe, das notwendigerweise Begrenzung durch einen inneren und äußeren Rahmen impliziert. Erstauntes Unverständnis gegenüber dem Anderen ist der Status quo der interkulturellen bzw. transkulturellen Kommunikation.

Es ist erstaunenswert, bis zu welchem Maße sich in der deutschsprachigen Literatur, etwa am Vorabend des Ersten Weltkrieges oder in der Zwischenkriegszeit, die Überzeugung verbreitet, dass die als unbekannt, fremd, fremdartig und andersartig wahrgenommene mediterrane Kultur in Wahrheit zugleich auch als stärker, mächtiger und wertvoller als die europäische Kultur bzw. nationalsozialistische Barbarei der Gegenwart zu betrachten sei. Vielmehr habe sie geographisch, historisch und kulturell betrachtet als ureuropäisch zu gelten, wohingegen das zeitgenössische Mitteleuropa bzw. der Nationalsozialismus aufgrund der geistigen Vorherrschaft von Dekadenz und Nihilismus bzw. Totalitarismus als schlichtweg uneuropäisch zu betrachten sei. Diese durch und durch rein ästhetische und poetische Sichtweise entsteht gleichermaßen durch den nostalgischen Blick auf die goldene Vergangenheit als erfundene Tradition und die ›heterotopischen‹ bzw. ›heterochronischen‹ Blicke (vgl. Foucault 2005) auf eine rosige Zukunft als »ästhetische Utopie« bzw. »Utopie des Ästhetischen« (Bohrer 1981: 186f.), worin die »hypothetische Antizipation« (ebd.: 218) einer erfüllten mythischen Verheißung erscheint. Das gilt jedenfalls so lange, wie anderweitige interkulturelle bzw. transkulturelle Transformationen ausbleiben, wie etwa Orientalisierungen und Balkanisierungen oder auch Mediterranisierungen mit jeweils negativer Konnotation.

An der Universität Zadar in der Republik Kroatien fand vom 19. bis 22. April 2022 eine virtuelle Tagung der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik (GiG) statt. Thema waren »Interkulturelle Räume. Historische Routen und Passagen der Gegenwart mit besonderer Berücksichtigung des Mittelmeers«. Das vorliegende Themenheft versammelt eine Auswahl an Tagungsbeiträgen über mediterrane Interkulturalität bzw. Transkulturalität in literarischen und kulturtheoretischen Werken in deutscher Sprache, die vorrangig in der Zwischenkriegszeit entstanden sind. Außerdem widmet sich ein Beitrag dem literarischen ›Mediterranismus‹ als bloßes Ambiente im Anschluss an die Goethezeit.

Anmerkungen

1 Hierbei folge ich dem amerikanischen Psychoanalytiker Joel Whiting, der eben diese ›rein logische‹ Argumentation in einem Seminar an der Columbia University im Jahre 2002 unter dem Eindruck der Terroranschläge in New York mit Berufung auf unveröffentlichte Manuskripte des griechischen-französischen Philosophen und Psychoanalytiker Castorius Castoriadis vorgetragen hat.

Literatur

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