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Zeitschrift für interkulturelle Germanistik – 14. Jahrgang, 2023, Heft 2: Hermann Hesses italienisches Mittelmeer (Iulia-Karin Patrut)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik – 14. Jahrgang, 2023, Heft 2

Hermann Hesses italienisches Mittelmeer (Iulia-Karin Patrut)

Hermann Hesses italienisches Mittelmeer

Iulia-Karin Patrut

Abstract

Hermann Hesse’s travelogues and small writings (including poems, essays and newspaper articles) on the Mediterranean coasts of Italy, especially on the lagoon areas around Venice, are highly relevant for intercultural research, as they are not infiltrated by Hesse’s mystical longing for transcendental unity. On the contrary, they concentrate on the cultural and individual limitations of the self, admitting ignorance, epistemic thresholds and affirming the deep experience of amazement. This applies especially to the labyrinthic territory between land and see, namely to the coast regions of Italy and its lagoons, where Hesse looses his prerogatives of interpretation, whereby his writings gain intercultural and poetic potential.

Title

Hermann Hesse’s Italian Mediterranean

Keywords

interculturality; Hermann Hesse (1877-1962); Italy; travel literature; transition

1. Aquatische Mystik des All-Einen

Das Aquatische tritt in Hesses wohl bekanntestem Prosatext Siddhartha (1922) so prominent in Erscheinung, dass es hier nicht unerwähnt bleiben kann. Wenn der frühere Brahmane Siddhartha am Ende des Romans am Flussufer steht, dem Stimmengewirr des Lebendigen im Wasser lauscht und sich eins mit Leben, Welt und Kosmos fühlt, kommt dem Aquatischen die Rolle absoluter Identität zu. Die Auflösung des jeweils Spezifischen im All-Einen geht auf die von Hesse häufig variierte mystische Vorstellung zurück, gemäß welcher der Kosmos eine transzendente Einheit ist. Da das Selbst letztlich mit allen Erscheinungen der Welt identisch sei – so deutet Hesse das Mahavakya Tat tvam asi (»Das bist du«), eine vedantische Verkündigung aus der Chandogya Upanishad –, könne und solle man seine Nächsten lieben, weil dieser mit dem eigenen Selbst letztlich identisch sei. Mit dieser Deutung erfolgt eine mystische Akzentuierung des vierten Gebots und damit eine Relativierung der theologischen Ansicht, laut der Ethik, Empathie und Nächstenliebe christlich und europäisch zentriert seien; für Hesse liegen die Anfänge dieser Ideen jedoch in den alten Überlieferungen aus Indien (vgl. Moritz 2004) und China (vgl. Hsia 1974). Brahmanismus, Buddhismus und Taoismus enthalten Vorstellungen universaler Identität, die Hesse in Siddhartha verarbeitet hat.

Freilich hat die Identitätsmystik schwerwiegende Implikationen für Fragen der Interkulturalität: Wenn das Fremde nicht um seiner selbst willen und in seinem Selbst-Sein anzuerkennen, sondern aufzulösen ist, gerät Interkulturalität bestenfalls zur Nebensache (vgl. Ponzi 2004). Für den Auflösungsprozess des kulturell, zeitlich-historisch, individuell Verschiedenen wählt Hesse das Bild des Zusammenfließens, es steht im Zeichen des Aquatischen. Der Fluss bedeutet dann nicht allein das Ende allen Erzählens und aller individuellen Entwicklung, sondern auch das Ende von Interkulturalität und Kulturtransfer – eben das Ende aller Differenz, denn er wandelt sich aus Siddharthas Sicht von einer Grenze, einem Hindernis, zum All-Einen, in dem alles miteinander verbunden ist. Diese Figuration universaler Ähnlichkeit ist ein interessanter Kontrapunkt zu den Anfang des 20. Jahrhunderts verbreiteten Vorstellungen radikaler Differenz und Überlegenheit des ›Deutschen‹ oder des ›Abendländischen‹ (vgl. Esselborn-Krummbiegel 2004). Aber wenn das Trennende, Unterscheidende vollständig dem Verbindenden weicht, bleibt, etwas zugespitzt, über den Fluss, das Meer und die Welt nichts mehr zu sagen, weil es keinen davon differierenden Standpunkt des Erzählens mehr gibt – und erst recht kein Erleben von Fremdheit mehr.

Vor diesem Hintergrund bleibt zu fragen, ob sich Hesses Darstellung des italienischen Mittelmeers hiervon unterscheidet und ob möglicherweise dort kulturelle Differenz sowie ein Bewusstsein für die (kulturelle) Begrenztheit der eigenen Diskursposition mit in den Blick geraten. Wenn das zutrifft, wäre dies auch mit Blick auf Hesses Relevanz für die literaturwissenschaftliche Interkulturalitätsforschung ein interessanter Befund. Bislang wurden Hermann Hesses Schriften kaum unter Gesichtspunkten von Interkulturalität ausgewertet – wenn man von den Arbeiten absieht, deren Interesse nicht auf Interkulturalität, sondern auf die sachliche Bedeutung indischer bzw. chinesischer philosophischer, religiöser und literarischer Überlieferungen in Hesses Poetik gerichtet ist. Auch sind seine kleinen Italien-Skizzen (jenseits seines Wohnorts Montagnola und des Tessins) auf geringes Interesse gestoßen, wenngleich gerade diesen ›kleinen Formen‹ aus heutiger Sicht größere Aufmerksamkeit gebührt, da sie oft einer stärker verdichteten Eigenlogik gehorchen.

2. Zum Einbruch des Partikulären in Hesses Reiseskizzen

Einiges könnte dafür sprechen, dass Hesses Reisen Schreib- und Wahrnehmungskontexte erzeugten, in denen eigenes Erleben unmittelbarer Fremdheitserfahrungen, eigene Grenzen und damit Interkulturalität thematisch werden. Dies trifft durchaus auf Hesses Schiffsreisen über das Rote Meer und den Indischen Ozean zu, eine Passage voller Irritationsmomente, auf der er Indien erreichen wollte und stattdessen den indonesischen Archipel und Sri Lanka fand (vgl. Cusatelli 2004). In seinem dennoch zumeist mit dem bloß gesuchten, aber nicht gefundenen ›Indien‹ überschriebenen Konvolut hält Hesse Reiseimpressionen fest, aus denen er Presseartikel sowie ein literarisch arrangiertes Skizzen-Ensemble unter dem Titel Aus Indien zusammenstellt, zu dem auch Gedichte mit maritimem Bezug (z.B. Nachts in der Kabine, Fluß im Urwald oder Pelaiang) gehören. Unter interkulturellen Gesichtspunkten interessant sind die Darstellungen der in Städten wie Penang und Singapur stark vertretenen chinesischen Minderheit, die auf den Inseln nicht gesucht, aber gefunden wird und Hesse überrascht und beeindruckt. Dieses Konvolut an Reisebeschreibungen fällt gerade nicht dem Exotismus anheim (vgl. Patrut 2022), sondern hält zahlreiche offene Fragen und Momente der Unbeholfenheit aus.

Die Genese des Hesse’schen Blicks vom Meer aus auf die Küste findet in Italien statt. Denn die Schiffsreise nach ›Indien‹ beginnt in Italien, in Genua. Dorthin gelangt Hesse nach einer Rheinfahrt von Gaienhofen aus nach Schaffhausen, wo er seinen Reisegefährten, den Maler Hans Sturzenegger, im September 1911 abholt. Über Zürich gelangen sie an den Comer See, und von dort aus reisen sie zum Hafen von Genua, wo sie sich auf ein Schiff der Norddeutschen Lloyd, auf die Prinz Eitel Friedrich, begeben. Wegen Pest- und Choleragefahr wurde das Schiff im nächsten angesteuerten Hafen, Neapel, unter Quarantäne gestellt. Damit prägen von Anfang an Gefahren, Einschränkungen und Irritationen des erwünschten Verlaufs die Überfahrt.

Die Aufzeichnungen von einer indischen Reise – ein unter dem Gattungsgesichtspunkt heterogenes Konvolut aus Gedichten, Skizzen, strukturierten Berichten und Tagebucheinträgen – nehmen ihren Anfang im italienischen Mittelmeer am 9. September vor der neapolitanischen Küste; der erste Text ist ein Gedicht und trägt den Titel Gegenüber von Afrika. Damit erfolgt von Anbeginn eine Dezentrierung, ja eine Bereitschaft zur Provinzialisierung Europas im Sinne Chakrabartys (vgl. Chakrabarty 2000), denn der Beobachtungsstandpunkt ist in Afrika angesiedelt, was von der Bereitschaft zeugt, eigene Wahrnehmungsroutinen infrage zu stellen. In Gegenüber von Afrika ergänzen die Verse »Mir ist besser, zu suchen und nie zu finden/Statt mich eng und warm an das Nahe zu binden« (Hesse 2019: 9) diese Haltung um die Bereitschaft, die eigene Deutungshoheit zu relativieren: Denn einer, der das Ganze nicht überschaut, weil er nicht findet, was er sucht, muss seine Wahrnehmungen, Erwartungen und Urteile relativieren. Eine solche Perspektive auf Hesse als einen Schriftsteller, der sich selbst, Deutschland und Europa einer konsequenten Kritik unterzog und angesichts der Kriegsbegeisterung im Ersten Weltkrieg den Mut zu einem pazifistischen Artikel fand (vgl. Hesse 1914), ist verhältnismäßig neu, gewinnt aber in der Forschung wie in der öffentlichen Wahrnehmung zunehmend an Bedeutung (vgl. Bucher 2002).

Diese Figuration unabschließbarer Suche unterscheidet sich deutlich von der Mystik des All-Einen, da sie an Novalis’1 Figuration der unendlichen Annäherung angelehnt ist (vgl. Kim 1999). Es gilt zu prüfen, inwiefern Hesses Darstellungen des italienischen Mittelmeers – von Küsten, Häfen, Stränden und maritimen Passagen – gerade nicht ins Fahrwasser universaler Identität und mystischer Synthese geraten. Zu prüfen ist also, inwiefern diese Darstellungen über den metaphorischen Gebrauch des Meeres als Metapher für eine höhere Identität und die Verbindung mit dem Transzendenten hinausgeht.

Ein Anhaltspunkt ist durch den Umstand gegeben, dass die Fluchtpunkte der Faszination Hesses für Indien und China (vgl. Hsia 1974) insbesondere in literarischen Texten wie den Erzählungen Robert Aghion (1913) und Die Morgenlandfahrt (1932) oder eben dem Roman Siddhartha (1922) religiöser und philosophischer Natur sind (vgl. Gellner 2005). Siddhartha wächst an Begegnungen mit Yogis, Sadhus und Gurus sowie an seiner eigenen spirituellen Praxis, gelangt durch Meditation zur Selbsterkenntnis und zur Befreiung von Leid und Begrenzungen.

Anders als Indien und China lernt Hesse Italien nicht nur vom Wasser her, sondern auch zu Land kennen. Im Zeitraum von 1901 bis 1914 unternimmt er zumeist im Frühling mindestens sechs Reisen nach Italien (vgl. Michels 2020: 189), ohne den Süden des Landes zu erreichen. Ausdrücklich grenzt er sich von Goethes Italien ab, gelangt erst spät nach Rom und sucht nicht die Sehenswürdigkeiten, sondern das abgelegene, ländliche, ja dörfliche Italien. Dennoch ist es – einmal abgesehen von der Figur Franz von Assisi – weniger die Religion, die Hesse an Italien fasziniert, als das unvermittelt im provinziellen Alltag aufscheinende Kunsterleben, die Schönheit und besondere Atmosphäre der Städte und Küstenlandschaften, mithin das Partikuläre und durchaus Subjektive. Diese Erlebnisse sind eingefärbt von der Tages- und Nachtzeit, von Wetter, Temperatur und Jahreszeit. Wenngleich also sowohl Indien und ein philosophisch vermitteltes China als auch Italien Gegenden der literarischen Inspiration sind und wenngleich Hesse sich für die Geschichte und überlieferte Literatur dieser Länder gleichermaßen interessiert, so lässt sich doch der markante Unterschied festhalten, dass Italien, seine Küsten und das Mittelmeer überwiegend mundan erfahren werden, während Indien und China (deren Landmassen Hesse nie betritt) überwiegend als ideelle Figuration in sein Werk Einzug halten.

Demgegenüber gewann Hesse durchaus konkrete Anschauungen Italiens, die sich in seinen Aufzeichnungen niederschlagen: In Genua beeindruckten ihn vor allem der Palazzo Rosso mit seiner Kunstsammlung und der Blick über die Stadt vom Belvedere Montaldo aus, in Mailand besuchte er den Dom und die Scala sowie die Pinacoteca di Brera, wo er Kunstwerke von Künstlern wie Raffael und Tizian betrachtete. In Florenz beschrieb er die berühmte Uffizien-Galerie und die Skulpturen des Michelangelo im Palazzo della Signoria, und in Venedig besuchte er natürlich auch den Markusplatz, den Dogenpalast und die Basilika San Marco (vgl. Michels 2018). Dennoch sind es gerade nicht die schon zu seiner Zeit eingefahrenen Touristenpfade, die in seinen Reiseaufzeichnungen Widerhall finden.

3. Italien-Aufzeichnungen

Grenzen und Schwellen

Hesse empfand noch lange nach seiner ersten Italienreise 1901 eine große Faszination für Italien und den mediterranen Übergang nach Griechenland hin. Gemessen an dem, was das Mittelmeer und Inseln wie Sizilien oder Korfu an kulturellem Reichtum zu bieten haben, erscheint das eigene Tun und Schreiben obsolet, ein Akt hilfloser Selbstbeschränkung:

Ich trete häufig für einige Augenblicke ins Schlafzimmer, wo an der Wand die große Karte von Italien hängt, und streife mit begehrlichem Auge über den Po und Apennin hinweg, durch grüne toskanische Täler, an blau und gelben Strandbuchten der Riviera hin, schiele auch etwas nach Sizilien hinab und verirre mich dabei gegen Korfu und Griechenland hin. Lieber Gott, wie ist das alles nah beieinander! Und wie schnell kann man überall sein. Und pfeifend kehre ich in die Studierstube zurück, lese entbehrliche Bücher, schreibe entbehrliche Artikel und denke entbehrliche Gedanken (Hesse 2018: 206).

In der 1910 entstandenen Skizze Reiselust, der dieses Zitat entstammt, vermerkt Hesse auch, dass das Reisen der Lust gleiche, »unerschrocken zu denken«, und nicht bloß die ideelle Bereitschaft erfordere, »sich die Welt auf den Kopf zu stellen«, sondern auch leibliche Kosten nach sich ziehe: »[M]an muß schon Herz und Blut daran rücken« (ebd.: 207). Mit der im nächsten Frühjahr unternommenen Italienreise löst Hesse diesen Vorsatz ein, indem er sich durchaus körperlich, zumeist in einfachen, ja geradezu ärmlichen Verhältnissen reisend, italienischen Fremdheitserfahrungen aussetzt.

Dabei möchte er keineswegs auf den Spuren intellektueller Kunstreisender der ›abendländischen Tradition‹ wandeln; er zögert es hinaus, Bau- und Kunstwerke der Antike oder der Renaissance in Rom aufzusuchen, wie er im Artikel Für Italienfreunde berichtet, der 1912 in März erschien:

So ist es mir gegangen, der ich bald zehnmal in Italien war, und Rom noch nicht gesehen habe, obwohl ich schon zweimal ein Billett nach Rom in der Tasche hatte. Das eine Mal stieg ich in Orte, das andere Mal in Ovieto aus, und so kenne ich denn bis vor die Tore Roms hin Duzende und Duzende von italienischen Städtchen und Dörfern (ebd.: 336).

Stattdessen bevorzugt Hesse das Italien der kleinen Arbeiterinnen und Arbeiter, die die Tische der Cafés auf dem San Marco Platz auf- und abräumen, das Venedig aus der Perspektive der armen Fischer, an deren Unterhaltserwerb er teilhat, statt die Museen und andere prestige-trächtige Orte zu besuchen. Damit verbindet er die Hoffnung, Eindrücke zu gewinnen, die vielleicht auch Künstler wie Tizian und Veronese geprägt haben; ohne diese Eindrücke bliebe aber ihre Kunst, so Hesses Überzeugung, unzugänglich:

Die Venezianische Lagune wäre mir, trotz meiner eifrigen Liebe für Venedig, noch heute eine fremde, sonderbare, unbegriffene Kuriosität, wenn ich nicht einst, des blöden Hinstarrens müde, für acht Tage und Nächte das Boot und Brot und Bett eines Fischers von Torcello geteilt hätte. Ich ruderte an den Inseln entlang, watete mit dem Handnetz durch die braunen Schlammbänke, lernte Wasser, Gewächs und Getier der Lagune kennen, atmete und beobachtete ihre eigentümliche Luft, und seither ist sie mir vertraut und befreundet. Jene acht Tage hätte ich vielleicht für Tizian und Veronese verwenden können, aber ich habe in jenem Fischerboot mit dem goldbraunen Dreieckssegel Tizian und Veronese besser verstehen gelernt als in der Akademie und im Dogenpalast. (Ebd.: 176)

Diese Überlegungen, die Hesse ausgehend von der venezianischen Lagune anstellt, erhebt er zur allgemeinen Maxime, denn er lässt sie unter dem Titel Über das Reisen in der Zeit (von 1904) drucken. Man kann sie durchaus im Sinne einer Erkundung von Schwellen lesen, zwischen Land und Meer, zwischen urbanem Raum und Naturgewalten, zwischen fremden Arbeitern und zunächst vertrauten Touristen, wobei sich dieses Verhältnis zunehmend umkehrt.

Zwar argumentiert Hesse, durch das Miterleben des Alltags könne man sich ein gewisses ›Recht des Verstehenden‹ auf die Stadt erwerben, doch ist damit in erster Linie eine Abgrenzung von den Baedecker-Touristen auf den Spuren Goethes gemeint, also gerade nicht das Verstehen im emphatischen Sinne, sondern das Neue, Nichtverstandene, das sich als eigener Eindruck in die Erinnerung einschreibt.

Schon diese wenigen Beispiele verdeutlichen, dass es Hesse in den mediterranen Küstenregionen Italiens keineswegs um das große Allgemeine, sondern um das kleine Partikuläre geht, um das subjektiv Individuelle, um eigene Erfahrungen einer ihm noch unvertrauten Sprache und Kultur.

Im Übrigen gesteht sich Hesse während des Besuchs des Städtchens Gubbio in Mittelitalien 1907 auch ein, nicht zu wissen, weshalb er eigentlich nach Italien reise: »Warum blieb ich nicht daheim bei Arbeit und Familie?« (Ebd.: 214) Zwar reizten ihn die Abwechslung, lockten ihn die Kunstschätze, aber er wolle weder Historiker noch Kunstkritiker werden, außerdem sei er »nie sehr ehrgeizig gewesen« (ebd.). Die Frage bleibt unbeantwortet und geht über in eine Szene des Staunens, in der das Ich seiner selbst unsicher wird:

Ich stand also heute in Gubbio, um aus dem Anblick großer Menschenwerke Mut und Glauben zu schöpfen. […] [D]a stand ich unvermutet vor dem größten Bau der Stadt, dem mittelalterlichen Palast der Konsuln. Das schnitt alle Gedanken ab. Ich stieg auf die große Terrasse hinauf und wieder hinab, ich schaute und staunte, und für heute blieb es beim Staunen. Mit diesem Gefühl des großen Erstaunens ging ich weg und lief weiter durch die Stadt, eine gute Stunde lang, ohne aus dem fast lähmenden Benommensein zu erwachen. (Ebd.: S. 215–217)

Die implizite Antwort lautet also, die Dezentrierung des Ichs, die Selbstinfragestellung, die Erfahrung des Staunens seien Gründe für die wiederholten Reisen nach Italien, wobei der Blick von den Küsten aufs offene Meer und umgekehrt vom Wasser aufs Land das Versprechen interkultureller Übergänge – nach Griechenland, aber auch nach Afrika und darüber hinaus – enthält. So stellt Hesse fest: »Und da der verwirrende Eindruck dieser merkwürdigen Stadt sich einstweilen nicht klären wollte, stellte ich nun als Beweggrund meines Reisens das Bedürfnis auf, rechenschaftsloses Erstaunen zu fühlen« (ebd.: 217).

Hesse meint es durchaus ernst mit der Konsequenz der Selbstinfragestellung infolge einer radikalen Erfahrung des Staunens in Italien, denn bereits 1901 hatte er seinen Eltern in einem Brief berichtet, angesichts »dieser Kultur und dieses Lebens« sei sein »Nationalgefühl auf Null herab« gesunken (ebd.: 296). Das Eigene hält dem Vergleich mit dem Fremden nicht stand, wie er in einem Brief an Vater und Schwestern 1913 versichert: »[D]as herrliche Bild all dieser alten, reichen, wunderbar gebauten Städte, das ist so imponierend, und wird einem beim Aufenthalt jedes Mal so lieb und vertraut, daß man bei der Heimkehr alles Heimische als falsch, verstimmt und unschön empfindet« (ebd.: 341). Und auch gegenüber Otto Hartmann schreibt Hesse im April 1913: »nicht nur Bauten und Kunstdinge, sondern noch mehr das Leben, die Straßenbilder, die Menschen, Frauen und Kinder, die Plakate und aller Kram der Außenseite, der in Italien stets so bestechend geschickt, witzig und selbstverständlich ist«, schienen ihm in Deutschland »falsch, unproportioniert, unüberlegt, ohne Schick und Glanz« (ebd.: 342). Möglicherweise spielen die weiten Ausblicke auf das Meer, die fraktale Beschaffenheit der Küste und das damit verbundene Versprechen interkultureller Übergänge für den Eindruck der Weite und der unendlichen Erfahrungsmöglichkeiten, die Hesse mit Italien verbindet, eine entscheidende Rolle. Denn Hesses Blick auf Italien ist von der ersten Reise an geschult an dem Schwellenraum der Küstenregion, an kleinen Orten um die Lagune von Venedig, dort, wo das Meer in unzähligen Kanälen labyrinthisch ins Land übergeht. Er hält sich schon 1901 mit Vorliebe am Wasser auf, wie er detailliert in seinem Venezianischen Notizbüchlein festhält:

in den Kanälen […], auf der Lagune und ihren Inseln. Ich suchte Burano, Torcello, Lido, Chioggia auf – und auf diesen sonnigen, heißen, müdemachenden Fahrten sog ich unbewußt die seltsame Schönheit der Lagune ein, den Duft des Wassers, den Reflex des Lichtes im Meer und die merkwürdig schillernde Farbigkeit des Lagunenspiegels. (Ebd.: 157)2

Ebenfalls in Venedig entstand ein ähnlich gelagertes Lyrisches Tagebuch, dessen Bildlichkeit wiederum von Figurationen des Übergängigen geprägt ist, angeregt durch die Wellen, die Wasseroberfläche mit ihren Spiegelungen imposanter Bauten oder ländlich-schlichter Küstenabschnitte und nicht zuletzt durch die labyrinthischen Kanäle, durch die das Meer mit seinen Licht- und Schattenspielen ins Land hineingreift.

Venedig und die Gondolieri, aber auch die gesamte Lagune und die kleinen unscheinbaren Orte der Region oder die kleine Aufschüttung Sacco Fisola haben Hesse dauerhaft fasziniert, er kehrte öfter dorthin zurück und widmete wenig anderen Regionen vergleichbare schriftstellerische Aufmerksamkeit. Es ist deshalb naheliegend, diesen maritimen Raum, der ins Offene übergeht und aufgrund seiner labyrinthischen Struktur sowie der Unentscheidbarkeit zwischen Land und Meer inkommensurabel bleibt, als italienisches Initialerlebnis Hesses zu betrachten. Alles andere verhält sich dazu. Es ist daher kein Zufall, dass auch er – freilich anders begründet als seine Vorgängerinnen und Vorgänger – mit Blick auf die Erfahrung der Lagune vom Fischerboot aus festhält: »[I]ch selbst hatte nun so zu sehen gelernt« (ebd.: 157); sein Verständnis italienischer Kunst ändert sich.

Neben der Lagune als ›Schule des Sehens‹ bereiste Hesse noch weitere Küstenorte und Hafenstädte: Vom Ligurischen Meer aus beschrieb er neben Genua, das er als ›Tor zur Welt‹ erfuhr, Pisa und Livorno. Auf die Hafenstadt Livorno am Tyrrhenischen Meer sind einige Gedichte bezogen, wie Odysseus (Bei Livorno), in dem das lyrische Ich in einer Traumvision Odysseus erblickt, dessen Geschick dem Betrachter entgleitet, aber mit »leiser Frage seine Phantasien« entfaltet und ihn »ins Blaue ziehen« (ebd.: 256) lässt.

Offenkundig enthalten die Texte, die Hesse angesichts der Kulturlandschaft der italienischen Küsten verfasste, keine Synthesen des All-Einen. Geradezu im Gegensatz zu mystischen Erfahrungen absoluter Identität werden sie zum Schauplatz des Gewahrwerdens eigener Grenzen und der Fremdheitserfahrung – daher die Beschwörung Odysseus’ – sowie auch der Kunst, die durch die Inkommensurabilität der Alteritätserfahrungen angeregt wird.

Gedichte wie Hafen von Livorno halten die sinnliche Erfahrung des Übergangs vom Land in das Meer fest: »Ein sattes Leuchten glitt/Mit jäher Schönheit übers goldne Meer/Und nahm die letzten roten Strahlen/Ins violette Reich des Abends mit« (ebd.).

4. Schluss

In einem Fiesole in der Toskana gewidmeten Gedicht fragt sich das lyrische Ich, ob nicht »hier im Süden« am ehesten die »Küsten« (ebd.: 263) der Heimat zu erahnen seien. Freilich bleibt dies nur eine flüchtige Hoffnung, und zahlreiche weitere Skizzen und Gedichte bezeugen, dass Hesse sehr wohl und auch noch lange nach seiner Ansiedlung im Tessin wusste, dass er in Italien nie zu den Einheimischen zählen würde – erst recht nicht südlich der Alpenausläufer. Im Gedicht Wieder im Süden hält das lyrische Ich fest: »Nimmer wird der süße Süden mein/Nimmer läßt das Paradies mich ein.« (Ebd.: 290)

Dieses Gewahrwerden der Grenzen des eigenen Selbst zählt zu den Grundvoraussetzungen interkultureller Erfahrung und Erkenntnis. Hesse verliert ihre Bedeutung in den mystisch inspirierten, in Indien angesiedelten literarischen Texten wie Siddhartha oder Die Morgenlandfahrt aus dem Blick. In den Aufzeichnungen, Briefen, Reiseskizzen und Gedichten, die unmittelbar unter dem Eindruck eigener Reisen nach Italien stehen, kommt der Erfahrung, dass das eigene Ich kulturell gebunden ist und die eigene Kultur ihre Grenzen dort hat, wo andere Sprach- und Kulturräume sich entfaltet haben, große Bedeutung zu. Freilich verfällt Hesse keineswegs in essentialistisches Differenzdenken, da es seiner Poetik ganz fernliegt. Er entkommt vielmehr durch die interkulturelle Reiseerfahrung der Faszination, welche die Idee universaler Synthese im All-Einen auf ihn ausübt. Er versucht sich am Partikulären in seinen landschaftlichen, kulturellen und historischen Prägungen, verfasst kleine literarische Porträts einzelner Menschen, denen er unterwegs begegnet, ohne damit Größeres, Endgültiges zu verfolgen.

Seine italienischen Reiseaufzeichnungen sind im besten Sinne fragmentarisch, unabgeschlossen, sie laufen nicht auf ein Ganzes zu; die Erzähler lassen sich befremden, lassen sich durch das Erfahrene infrage stellen und finden sich damit ab, dass sie keine Antworten finden. Die interkulturellen Erfahrungen im Mittelmeerraum Italiens werden an so gut wie keiner Stelle abschließend gedeutet oder eingeordnet, allenfalls in Bezug auf subjektive Gestimmtheit geordnet, aber zumeist im Bewusstsein, dass die eigene Dezentrierung Voraussetzung für eine unabschließbare Annäherung an die andere Kultur ist.

Dies gilt erst recht in Bezug auf die Möglichkeit der Überfahrt zu anderen Kontinenten, wie sie Hesse ab Genua erfuhr, als er 1911 über das Mittelmeer nach Port Said in Ägypten kam, über den Suez-Kanal das Rote Meer erreichte und durch die Bab-al-Mandab-Straße zwischen dem Jemen, Eritrea und Djibouti den Golf von Aden, das Arabische Meer und schließlich Colombo auf Sri Lanka erreichte, bevor er weiter in Richtung des indonesischen Archipels fuhr. Auf der Rückfahrt auf dem Schiff York steuerte Hesse dieselben Stationen an und kam nach der Seefahrt, die (einschließlich der Stationen an Land) insgesamt drei Monate dauerte, wieder über Aden, den Suez-Kanal und Port Said am 10. Dezember 1911 in Neapel und am 12. Dezember 1911 in Genua an. Die einzige Fernreise dieser Art steht im Zeichen maritimer transkontinentaler Übergänge zwischen Europa, Afrika, den arabischen Staaten, dem indischen Subkontinent und Indonesien, wobei Anfangs- und Endpunkt das italienische Mittelmeer bleibt. Die Darstellungsverfahren und die Haltung des Reisenden und seiner Aufzeichnungen weisen Gemeinsamkeiten auf mit dem dezentrierten, selbstkritischen Blick auf sich, auf Deutschland und Europa (im Sinne des ›stolzen Abendlandes‹), den Hesse vor der venezianischen Lagune im bescheidenen Fischerboot entwickelt (vgl. Patrut 2022: 39–42). Eine Analogie besteht auch zwischen Hesses Scheu, Indien oder China tatsächlich zu betreten, und seiner Neugier auf Süditalien und Sizilien mit ihren Möglichkeiten des Übergangs in die griechische Inselwelt; Hesse scheint es – sehr zum Vorteil für die interkulturellen und ästhetischen Potenziale seiner Italien-Texte – vorgezogen zu haben, sowohl in Italien als auch auf seiner Südseereise auf eigene Façon in die Irre zu gehen und dabei die Fußstapfen Goethes wie Odysseus’ peinlich vermieden zu haben.

Gelingt es ihm im Norden Italiens, trugschlüssigen Identitätserfahrungen zu entgehen, sind möglicherweise das Festland Indiens und Italiens Süden mit Sizilien Orte, an denen sich noch radikalere Differenz einstellen könnte – eine Erfahrung, die auf Hesses Poetik durchaus bedrohlich wirken könnte: Denn obgleich die Darstellungen des maritimen Italiens das erzählende bzw. lyrische Ich an seine Grenzen bringen, scheinen immer noch epistemische Schwellen auf, die Übergänge und Ähnlichkeitsrelationen zumindest andeuten. Zu den Vorzügen dieser kleinen Schriften gehört, dass diese Übergänge ästhetischer und subjektiver Natur sind und nicht als Schritte mystisch-philosophischer Erkenntnis objektiviert werden. Trotz des Eingeständnisses, nie ein eigentliches Bürgerrecht im ›Paradies‹ Italien zu erlangen, wie es das lyrische Ich in Wieder im Süden formuliert, kreieren die Italien-Texte doch Schwellensituationen, Übergänge und manchmal auch Situationen des Aufgehobenseins, während radikale Differenzerfahrung und radikales Nichtwissen fehlen.

Anmerkungen

1 Zu Hesses Novalis-Rezeption vgl. Hesse 1987. In seinem Nachwort zu Novalis. Dokumente seines Lebens und Sterbens spricht Hesse schon 1900 von der magischen Anziehung der Texte Novalis’ und von dem Dichter als dem »genialste[n] Mitbegründer der ersten ›romantischen Schule‹, welche leider noch vielfach mit ihrer späteren minderwertigen Nachblüte verwechselt wird und zusammen mit ihr in Mißkredit und Vergessenheit gekommen ist.« (Ebd.: 229) Es gebe kaum interessantere Epochen als die frühromantische. Gerade die Momente irritierender, intensiver Fremdheitserfahrung auf Reisen stehen für Hesse möglicherweise im Zeichen einer frühromantischen Haltung zur Erkenntnis – und gerade nicht im Sinne der Möglichkeit absoluter Synthese.

2 Das 1901 geführte Venezianische Notizbüchlein (vgl. Hesse 2018: 157–176) zeugt davon, wie sehr diese Übergangslandschaft zwischen Mittelmeerküste und italienischer Urbanität Hesse faszinierte. Nicht allein, dass er lange in der Region verharrte, er arbeitete die Aufzeichnungen auch im Rahmen von Skizzen und Zeitungsartikeln aus.

Literatur

Bucher, Regina (Hg.; 2002): »Höllenreise durch mich selbst«. Hermann Hesse: Siddhartha, Steppenwolf. Eine Publikation des Schweizerischen Landesmuseums Zürich in Zusammenarbeit mit dem Museo Hermann Hesse Montagnola. Zürich.

Cusatelli, Mario (2004): Auf der schwierigen Suche nach dem Exotischen. In: Hermann-Hesse-Jahrbuch 1, S. 121–131.

Chakrabarty, Dipesh (2000): Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton.

Esselborn-Krumbiegel, Helga (2004): Alterität des Ich. Bedrohung und Verheißung in der Begegnung mit dem Fremden. In: Hermann-Hesse-Jahrbuch 1, S. 64–72.

Gellner, Christoph (2005): Hermann Hesse und die Spiritualität des Ostens. Düsseldorf.

Hesse, Hermann (1914): O Freunde, nicht diese Töne! In: Neue Zürcher Zeitung v. 3. November 1914, S. 1f.

Ders. (1987): Novalis. In: Ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Bd. 12: Schriften zur Literatur – 2. Eine Literaturgeschichte in Rezensionen und Aufsätzen. Hg. v. Volker Michels. Frankfurt a.M., S. 228–236.

Ders. (2018): Italien. Schilderungen, Tagebücher, Gedichte, Aufsätze, Buchbesprechungen und Erzählungen. Hg. u. mit einem Nachwort v. Volker Michels. Frankfurt a.M.

Ders. (2019): Aus Indien. Aufzeichnungen, Tagebücher, Gedichte, Betrachtungen und Erzählungen. Um Texte aus dem Nachlaß erw. u. hg. v. Volker Michels. Frankfurt a.M.

Hsia, Adrian (1974): Hermann Hesse und China. Darstellung, Materialien und Interpretationen. Frankfurt a.M.

Kim, Kwang-Soo (1999): Das Fremde – die Sprache – das Spiel: eine komparatistische Studie zur Taoismusrezeption in Deutschland. Novalis, Hermann Hesse, Hugo Ball. Seoul.

Michels, Volker (2018): Nachwort. In: Hermann Hesse: Italien. Schilderungen, Tagebücher, Gedichte, Aufsätze, Buchbesprechungen und Erzählungen. Hg. u. mit einem Nachwort v. Volker Michels. Frankfurt a.M., S. 501–510.

Ders. (2020): Nachwort. In: Hermann Hesse: Mit Hermann Hesse durch Italien. Ein Reisebegleiter durch Oberitalien. Hg. v. Volker Michels. Berlin, S. 189–203.

Moritz, Julia (2004): Das Fremde als das Andere. Künstlerische Aneignung der (buddhistischen) Quellen in Hermann Hesses »Siddhartha«. In: Rüdiger Sareika (Hg.): Von »Siddhartha« zum »Steppenwolf«. Fremdheitserfahrung und Weltethos bei Hermann Hesse. Iserlohn, S. 75–105.

Patrut, Iulia-Karin (2022): China in der Südsee: Hermann Hesses Reiseberichte als Ausgangspunkt interkultureller (Selbst-)Reflexionen Europas. In: Jonas Nesselhauf/Urte Strobbe (Hg.): Mensch & Mitwelt. Herausforderungen für die Literatur- und Kulturwissenschaften. Hannover, S. 31–48.

Ponzi, Mauro (2004): Hermann Hesses Umgang mit dem Fremden. In: Hermann-Hesse-Jahrbuch 1, S. 2–18.

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