Lyrik als kulturelle Differenz
Beiträge zur Lyrik des sogenannten Höhenkamms sind nicht unbedingt erwartbar in einer Zeitschrift, die sich der interkulturellen Germanistik widmet. Ja, in den nunmehr 13 Jahren ihrer Existenz hat diese Zeitschrift kaum einen Artikel gebracht, der diesen Gegenstand in sein Zentrum gestellt hätte.1 Sei es, dass denjenigen, die sich routiniert mit Höhenkammlyrik auseinandersetzen, Interkulturalität als Forschungsfeld fremd ist; sei es, dass die Lyrik, oder zumindest: diese Lyrik, zu sehr belastet ist mit Hypotheken einer Kanonbildung bzw. überhaupt einer Bildung, die gewissermaßen auf Kultur ohne Differenz setzt: auf Nationalkultur, die so tut, als sei Lyrik – und überhaupt: Literatur – notwendig einsprachig und Sache der einen Nation; oder auf Hochkultur, die so tut, als setze sie einen Maßstab der Unvergleichlichkeit.
›Ohne Differenz‹ – auch hinter dieser Formulierung verbirgt sich im Kontext gerade dieser Zeitschrift ein Stolperstein. Denn das Programm der Interkulturalitätsforschung hat seine Probleme mit dem Begriff der Differenz, vor allem, wenn er die Unhintergehbarkeit von ›Kulturen‹ zu signalisieren scheint, die Interkulturalität nur als ein ›Dazwischen‹ denkbar werden lässt – wogegen sich ohne große Mühe mit Schlagworten wie ›Hybridität‹ (vgl. Bhabha 2000: 139–170) oder ›Ähnlichkeit‹ (vgl. Bhatti/Kimmich/Koschorke 2011) treffliche Argumente richten lassen. Dieser Beitrag kann also, zum einen, weil seine Überlegungen tatsächlich vor allem am Beispiel der Höhenkammlyrik entwickelt wurden,2 und zum anderen, weil alle Begriffe in seinem Titel erläuterungsbedürftig sind, nicht viel mehr leisten als eine Rechtfertigung seiner selbst.
Einer, der aufs Ganze ging, wenn Kultur in Frage stand, verstand sich zugleich als geringstmögliche Differenzierung von Bedeutsamkeit, als Nuance: »wehe mir! ich bin eine nuance« schreibt Friedrich Nietzsche in Ecce Homo (Nietzsche 1999a: 362) – derselbe Nietzsche, der davon ausgeht, »die Geschichte der Menschheit in zwei Hälften« geteilt zu haben (Brief an Overbeck vom 8. März 1884, Nietzsche 2003: 485). Stärker kann man den Anspruch der Nuance auf kulturelle Relevanz nicht machen – und ich vermute, dass Nietzsche auf diese Idee niemals gekommen wäre, hätte nicht von Beginn an die Lyrik einen zentralen Stellenwert in seinem Denken eingenommen. Denn die Lyrik – und zumal die Höhenkammlyrik – ist eben jene Form der Literatur, in der es nachgerade gattungskonstitutiv auf die Produktion sprachlicher Nuancen ankommt, denen zugleich höchste kulturelle Relevanz zugesprochen wird.
Machen wir die Probe auf’s Exempel. In Ecce Homo (Nietzsche 1999a: 291) findet sich ein Venedig gewidmetes (und nachmals so betiteltes) Gedicht Nietzsches.
An der Brücke stand
jüngst ich in brauner Nacht.
Fernher kam Gesang:
goldener Tropfen quoll’s
über die zitternde Fläche weg.
Gondeln, Lichter, Musik –
trunken schwamm’s in die Dämmerung hinaus . . .
Meine Seele, ein Saitenspiel,
sang sich, unsichtbar berührt,
heimlich ein Gondellied dazu,
zitternd vor bunter Seligkeit.
– Hörte Jemand ihr zu? . . .
Ganz augenscheinlich ist dies ein Gedicht über Lyrik, und ebenso augenscheinlich handelt es zumindest von so etwas wie kultureller Distanz (das Geschehen spielt eben nicht in Naumburg, Leipzig oder Basel) und stellt die Frage nach der eigenen Relevanz – jedenfalls dann, wenn man es mit dem »Gondellied« identifiziert, von dem in der zweiten Versgruppe die Rede ist.
Beschrieben werden der Effekt eines ›Gesangs‹, der ›kommt‹, auf die Seele des Ich und deren Versuch, sich ein Lied dazu zu singen, dessen Effekt aber in Frage steht. Dasjenige, worauf es ankommt, ist dabei ein unbestimmtes ›Es‹ – »goldener Tropfen quoll’s/über die zitternde Fläche weg« –, das in der anschließenden Zusammenfassung immerhin mit drei konkret wahrnehmbaren Erscheinungen in Verbindung gebracht wird, wenn auch wiederum (syntaktisch) auf unklare Art und Weise: »Gondeln, Lichter, Musik –/trunken schwamm’s in die Dämmerung hinaus . . .« Dabei korrespondiert dem Zittern der Fläche (der Wasseroberfläche?) offenbar das Zittern der Seele (und ihrer Saiten?).
Das ›Erlebnis‹, das diesem Gedicht zugrunde liegt, hat ganz offenkundig einerseits die Qualitäten einer (ästhetischen) Erlösung; andererseits bleibt sein Ursprung unergründet, auch wenn es klar aus etwas kulturell Fremdem oder zumindest Unerwartetem herrührt. Es ist, wie Nietzsche selbst, eine Nuance, die sich (schicksalhaft?) einstellt und einen Unterschied macht. Und das Gedicht selbst will nichts weiter sein als die Vermittlung dieser Nuance, von der allerdings in Frage steht, ob sie jemals gehört werden wird.
Inwiefern handelt es sich bei Nietzsches Gedicht um eine treffende Beschreibung dessen, was Lyrik ausmacht, und inwiefern ist die kulturelle Differenz, von der es handelt, typisch für Lyrik – ja, inwiefern ist sie ›kulturell‹ und inwiefern ›Differenz‹?
Festhalten kann man zunächst, dass die Nuance, um die sich das Gedicht dreht, gerade in ihrer Ursprungslosigkeit demjenigen nahesteht, was Kultur ausmacht. Diese Aussage mag zunächst irritieren, weil Kultur oft gerade als Ursprung gedacht wird. Nicht nur Theoreme wie dasjenige Homi Bhabhas, das Ursprüngliche an Kultur sei gerade die Hybridität, sondern auch die historische Beschreibung von Kultur als Effekt einer Praxis des Vergleichens bei Dirk Baecker (vgl. 2001: 46–50) lassen diese Identifikation von Kultur und Ursprung allerdings als Missverständnis erscheinen – und zwar als fatales. Baecker geht davon aus, dass man von Kultur in einem modernen Sinne redet, seitdem man bereit ist, jegliche soziale Sinngebung qua Vergleich zu hinterfragen. Die Wahrnehmung der Tatsache, dass Dinge anderswo oder von anderen anders gehandhabt werden, und die Erkenntnis, dass diese Fremdartigkeit die Selbstverständlichkeit dessen in Frage stellt, mit dem man vertraut war, impliziert nämlich die Erkenntnis, dass es alternative Arten und Weisen gibt, den Dingen und ihren Nuancen Bedeutsamkeit beizumessen (hierzu und zum Folgenden siehe Dembeck 2013). Offenkundig müssen diejenigen, deren Handhabung der Dinge man als fremdartig beobachtet, eine andere Grundlage der Kommunikation haben, eine andere Art und Weise, die Zeichen für Kommunikation einzusetzen. Und am allgemeinsten lässt sich diese Beobachtung auf den Begriff bringen, wenn man zum einen sagt, dass die Grundlage der Kommunikation, von der hier die Rede war, in nichts anderem besteht als in den Arten und Weisen, wie der Kommunikation Signifikanz, Bedeutsamkeit, also die Möglichkeit der Zuweisung von Bedeutung, zur Verfügung gestellt wird; und zum anderen, dass jede Differenz in den Arten und Weisen der Erzeugung von Signifikanz, die sich beobachten lässt, kulturelle Differenz ist.
Ein solcher Begriff von Kultur und von kultureller Differenz hat den Vorteil, dass er Kultur eine präzise Funktion zuweisen kann: Kultur wird gewissermaßen zum gesellschaftlichen Äquivalent dessen, was die transzendentalphilosophische Tradition Einbildungskraft nennt (vgl. Dembeck 2020). Wie die Einbildungskraft aus diffuser Wahrnehmung, für die Zwecke der Weiterverarbeitung im Bewusstsein, quasibildliche Einheiten macht, so stellt Kultur als gesellschaftliche Einbildungskraft der Kommunikation Zeichenhaftigkeit zur Verfügung. Und so wie sich die ›echte‹ Einbildungskraft der Kontrolle des Bewusstseins konsequent entzieht, entzieht sich die Kultur der Kontrolle der Kommunikation, obgleich sowohl Bewusstsein als auch Kommunikation unhintergehbar von jeweils ›ihrer‹ Einbildungskraft vollständig abhängig sind. Dieser Kontrollentzug ist es, der im Erlebnis von Fremdartigkeit greifbar wird: Die mangelnde Selbstverständlichkeit des Vertrauten wird spürbar und damit auch seine Kontingenz, die Tatsache, dass es eben keinen festen Grund, keinen bestimmenden Ursprung hat.
In Nietzsches Gedicht ist das Erlebnis des ›Es‹, das ›kommt‹, ›quillt‹ und ›schwimmt‹, genau durch diese Fremdartigkeitserfahrung gekennzeichnet. Von entscheidender Bedeutung ist dabei der Status der Differenz, die es in die Welt setzt: Die Seele wird auf eine Art und Weise bewegt, die einen fatalen Unterschied macht. Nach der Wahrnehmung dieses ›Es‹ ist die Welt eine andere. Das ist aber auch die Eigenschaft der Erfahrung von demjenigen, das ich hier, der Kritik an dem Begriff zum Trotz, als ›kulturelle Differenz‹ bezeichnen möchte. Denn jede Wahrnehmung von Fremdartigkeit verändert, wenn man sie als kulturell ernst nimmt, dasjenige, was zuvor als vertraut gegolten hat, für immer.3 Kein Versuch, das zu ignorieren, kann dieses Ereignis ungeschehen machen. Oder genauer: Jeder Versuch, diese Ignoranz mit Gewalt durchzusetzen, erzeugt nichts anderes als Barbarei.
Zweifellos geht es in Venedig weniger (oder gar nicht) um die kulturelle Differenz zwischen ›italienischer‹ oder ›deutscher‹ Kultur – die Kulisse ›Venedig‹ hat in ihrer auch nach landläufigen Begriffen ›kulturellen‹ Fremdheit allenfalls einen verstärkenden Effekt –, sondern vielmehr um ein Ereignis, das auf eine andere, grundsätzlichere Art und Weise als kulturell gelten kann. Die hier wahrgenommene und wahrnehmbar zu machende Nuance erzeugt als kulturelles Ereignis eine höhere Form der Kultur. Ja, sie erzeugt recht eigentlich Hochkultur, eine herausgehobene Art und Weise, Bedeutsamkeit zu generieren, deren soziale Wirksamkeit allerdings zugleich immer in Frage steht, und zwar weil diese Hochkultur, anders als diejenige, auf die ich am Anfang des Beitrags angespielt habe, sich weder alternativlos setzen mag noch kann. Die kulturelle Erfüllung, die Venedig anpeilt, ist vielmehr immer nur singulär möglich und keinesfalls ein gemeinschaftsbildendes Unterfangen – also etwa eines, das qua Kennerschaft Gemeinschaft erzeugt.
Die Singularität des beschworenen Erlebnisses und diejenige seiner selbst konstruiert das Gedicht auch in seiner Form sehr sorgfältig: Die ersten vier Verse sind mehr oder weniger durchgehend in reiner Alternation gehalten – wobei die ersten beiden Verse durch die männliche Kadenz des zweiten von den folgenden beiden abgetrennt sind, in denen wiederum die männliche Kadenz des dritten Verses den Satzfluss unterbricht. Erzeugt wird so ein stockender Rhythmus, der womöglich am Ende des dritten Verses mit dem Doppelpunkt das einschneidende Erlebnis markiert – das dann im enklitischen ›s‹ selbst Form annimmt. Der von Doppelsenkungen durchsetzte fünfte Vers ist vielleicht ein Erzittern des Metrums selbst, und die durchgängig initialbetonten vierhebigen Verse der zweiten Versgruppe sind mit ihren männlichen Kadenzen jeweils in sich abgeschlossen – ihre Öffnung auf eine Zuhörerschaft steht ja auch gerade in Frage.
Es kann hier nicht darum gehen, die hier nur angedeutete rhythmische Bewegung des Gedichts im Detail zu deuten. Wichtig sind mir zwei Punkte: einerseits die bereits erwähnten Markierungen von Einschnitt (Doppelpunkt) und entschieden-entscheidender Unbestimmtheit (enklitisches ›s‹), andererseits die schiere Tatsache, dass der Versbau gewissermaßen ›tastend‹ vorgeht, dass er Rhythmen anspielt, wiederaufnimmt, verwirft, neue etabliert – um schließlich in der merkwürdig unrhythmischen Frage nach der eigenen Relevanz zu münden. Man könnte sagen, dass das Gedicht in sich eine Art rhythmischer Evolution vollzieht. Nur dank dieser Bewegung kann es jene Singularität womöglich beanspruchen, die es beschwört.
Die Hervorbringung überzeugender ›neuer Töne‹ ist es nun aber auch, die ganz allgemein als Motor der Evolution von Lyrik, ja, als deren gattungskonstitutives Moment bezeichnet werden kann (siehe hierzu und zum Folgenden Dembeck 2012). Es finden sich, vor allem im deutschsprachigen Raum, zahlreiche Versuche einer Gattungspoetik der Lyrik, die allesamt daran kranken, dass sie eben dieses Moment von Evolution übersehen. Es wird dann versucht, Merkmale, Prototypen oder Gebrauchsformen von Lyrik zu bestimmen, die es erlauben, für einzelne Texte zu entscheiden, ob sie der Lyrik zugehören oder nicht. Probleme ergeben sich dabei regelmäßig daraus, dass sich die Gattung im Verlauf der letzten ca. 250 Jahre so sehr verändert hat, dass man letztlich nicht umhinkommt, für unterschiedliche Zeiten unterschiedliche Kriterien zuzulassen: Viel von dem, was am Ende des 20. Jahrhunderts zur Lyrik zählt, hätte es weder Ende des 18. noch Ende des 19. Jahrhunderts getan.
Eine gattungstheoretische Alternative besteht darin, Lyrik als Evolutionszusammenhang zu bestimmen, der sich auf die Produktion sinnfälliger Segmentierungsformen spezialisiert und mittels der Generierung neuer ›Töne‹ vorangetrieben wird. Genauer lässt sich formulieren, dass im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Auflösung des traditionellen Gattungssystems und die gleichzeitige Etablierung eines Innovationsimperativs dafür sorgen, dass die Versform die Funktion verliert, Dichtung (oder zumindest: viele Formen von Dichtung) von anderer Literatur abzuheben – was sie umgekehrt freisetzt für neue Experimente der Formbildung. Klopstocks Odendichtung oder Herders Bemühungen um das europäische Volkslied, die darauf aus sind, durch beispielhafte originäre Töne die Entwicklung neuer lyrischer Formen anzuregen, können für diese Entwicklung einstehen. Durch originelle Verse und Versformen Bedeutsamkeit zu erzeugen, möglichst neue zudem, ist fortan der Motor der Lyrik – und damit ist eine Bewegung in Gang gesetzt, die spätestens nach etwas über 100 Jahren dazu führt, dass neben den überlieferten Formen der Metrik, wie sie in großer Varianz das 19. Jahrhundert über ausgetestet werden, zunehmend auch andere Strukturmomente der Sprache zur Rhythmusbildung und also zur Verssegmentierung genutzt werden. In diesem Zusammenhang nimmt Nietzsches Gedicht eine Art Zwischenstellung ein: Es handelt sich nicht eigentlich um ›freie Verse‹, sondern eher um eine freihändige Variation über traditionelle Versformen, die dennoch eine starke Wiederkennbarkeit und Prägnanz erreicht. Nur kurze Zeit später aber erfindet Arno Holz eine völlig andere Art des lyrischen Rhythmus, die sich quasiphonographisch an der Rhythmik der Bewusstseinsbewegung orientiert, nur noch typographisch sinnfällig wird – aber auch auf diese Weise eine Verssegmentierung erzeugt.
Als eigendeterminierter Evolutionszusammenhang generiert die Lyrik fortwährend ihre eigenen Bedeutsamkeiten, und diese Eigendynamik bewirkt, dass es zunehmend zur Spezialkompetenz wird, ihre Nuancen wahrzunehmen. So ist es zu erklären, dass moderne Lyrik Teil von Hochkultur werden kann – nicht alle sind für ihre Töne empfänglich, und das führt diejenigen, die es sind, in die Versuchung, sich genau darauf etwas einzubilden. Deshalb kann Höhenkammlyrik Teil von Elitenbildung werden und in ihrer Kanonizität den Eindruck erwecken, sie habe teil an einem Kulturbegriff, der, wie oben formuliert, ohne Differenz auskommt, also sich selbst absolut setzt und sich den Vergleich mit dem ›kulturell‹ Anderen verbittet. Der Ausschluss von Vergleichbarkeit aber ist die Operation, die Barbaren erzeugt bzw., wie man es in diesem Zusammenhang eher nennt, Banausen. Meine Behauptung, die Höhenkammlyrik allgemein, oder zumindest Nietzsches Lyrik oder das Venedig-Gedicht im Speziellen, stehe gerade nicht für eine Form von Kulturbehauptung ohne Differenz, lässt also weiterhin ihre Begründung missen.
Man tut aber womöglich unrecht, den Gattungszusammenhang der Höhenkammlyrik, also den Zusammenhang derjenigen Gedichte, denen es um die Produktion neuer Versbauformen und neuer Formen von Bedeutsamkeit geht, mit den Attitüden ihrer vorgeblichen Liebhaber zu identifizieren. Denn was mit den neuen Tönen der neuen Lyrik fortwährend in die Welt gesetzt wird, ist nicht nur die Differenz zwischen dieser Form der Weiterentwicklung sprachlicher Formen und anderen Formen der Sprachproduktion; vielmehr ist diese Differenz ihrerseits abhängig davon, dass im Kleinen, in Gedichten wie Venedig, fortwährend singuläre Töne, also Bedeutsamkeitsdifferenzen und Nuancen produziert werden – also lauter kulturelle Differenzen, die jede für sich im besten Falle ein weltveränderndes Erlebnis oder Ereignis darstellen wollen, wie dasjenige, um das sich Venedig dreht. Die dafür notwendige Offenheit der Wahrnehmung mag sich im Einzelfall zur eingebildeten Attitüde auswachsen – aber im Grunde geht ihr dann die für die Lyrik konstitutive Offenheit gerade verloren. Denn die eigentliche Aufgabe, die Lyrik ihrer Rezeption stellt, ist, sich der Festlegung auf eine differenzlose Hochkultur gerade zu versagen: Die Hochkultur, die Nietzsches Schreiben projiziert und ins Werk zu setzen versucht, darf sich nie still stellen lassen, darf nie glauben, im Besitz ihrer selbst zu sein. Bildungsschätze, die man als Eigentum behalten darf, gibt es, so hätte es Nietzsche vermutlich formuliert, nur für »Bildungsphilister« (Nietzsche 1999b: 165) – also für Banausen. Hochkultur im Sinne Nietzsches ist so eine auf Dauer gestellte Herausforderung: Noch jeder Abgrenzungsversuch von der selbstgewissen Attitüde der Bildungsphilister mag als allzu durchsichtiges Legitimationsmanöver erscheinen, das von einer tiefen Verwurzelung in bildungsbürgerlichen, und also ja doch bildungsphiliströsen, Milieus kaum ablenken kann.
Allein die Tatsache aber, dass sie die Offenheit für neue Nuancen systematisch einfordert und diese Nuancen in der Sprachstruktur unmittelbar spür- und wahrnehmbar werden lässt, gibt den Gedichten, die sich der Höhenkammlyrik zurechnen lassen, ein polyvalentes kulturelles Potential. Die Nuancen, die kulturellen Differenzen, die sie erzeugen, können in vielerlei Kontexten Wirkung erzeugen. Dieses Potential lässt sich seit jeher, also schon lange bevor sich die moderne Lyrik als Evolutionszusammenhang konstituiert, daran ablesen, dass Versformen, wie kaum eine andere literarische Form, über sogenannte Sprach- und Kulturgrenzen hinweg mobil sind. Für die Metrik ist das unmittelbar einsichtig – denn auch wenn unklar ist, wie genau etwa ein Hexameter im Deutschen nachzubilden sei: Die Ungewissheit betrifft nur die Art und Weise, wie das Muster auf die prosodischen Gegebenheiten der ›neuen‹ Sprache projiziert werden kann, das für sich selbst aber feststeht. Es ergibt sich dann gerade aus der Spannung zwischen dem Muster und der neuen prosodischen Umgebung ein neuer Ton – und dasselbe gilt, auf jeweils andere Art und Weise, für die ›Migration‹ anderer Momente von Versbau, wie sie für die Geschichte der nicht nur modernen Lyrik charakteristisch ist.
Höhenkammlyrik ist so gesehen immer schon Teil eines Kulturaustauschs4 – und sie kann, gerade weil sie auf eine ganz besondere Art und Weise auf die Offenheit für unvorhergesehene Nuancen setzt und diese zu erzeugen sucht, zum Ausdrucksmittel aller möglichen Formen von kultureller Differenz und kultureller Differenzerfahrung werden. Nietzsches Differenzerfahrung und Nietzsche als Nuance sind in diesem Sinne nur ein Spezialfall. Dass aber auch Autor:innen, die im ›Kanon‹ der interkulturellen Literatur auftauchen, ihre Inspiration oft recht unmittelbar gerade aus der Höhenkammlyrik ziehen – das eben ist kein Zufall. Und mehr wollte dieser Beitrag auch gar nicht sagen.
Anmerkungen
1 Eine Ausnahme könnte, je nachdem, welchen Begriff von ›Höhenkamm‹ man zugrunde legt, der Beitrag von Willms über »Hyperkulturelle Lyrik« sein (2016).
2 Dieser Artikel unternimmt den Versuch, meine langjährigen Arbeiten zu Lyrik und Sprachforschung, die jüngst unter dem Titel Der Ton der Kultur erschienen sind (Dembeck 2023), mit Blick auf das interkulturelle Potential der Lyrik zu pointieren.
3 Daher hat Niklas Luhmann dem neuen Kulturbegriff »verheerende Folgen« (Luhmann 1995: 341) unterstellt – für das Selbstverständnis derjenigen, die ihn verwenden. Denn dasjenige, was man im Alltag ›kulturelle Identität‹ nennt, aber damit auch jegliche ›kulturelle Differenz‹, muss nun radikal verzeitlicht gedacht werden, als immer nur allenfalls vorübergehende Stabilisierung. Dieses Moment von Verzeitlichung sowie die mit dem interkulturellen ›Staunen‹ einhergehende dauerhafte Verunsicherung des ›Denkens wie üblich‹ (Schütz) macht auch die Beschreibung von »Interkulturalität als Projekt« bei Heimböckel und Weinberg deutlich (2014).
4 Auf einer allgemeineren Ebene könnte man formulieren, dass Lyrik den engen Zusammenhang zwischen kultureller und ästhetischer bzw. poetischer Alterität paradigmatisch belegt, wie ihn Norbert Mecklenburg starkgemacht hat (siehe Mecklenburg 2008: vor allem 213–238; vgl. auch Uerlings 1997: 8–11).
Literatur
Baecker, Dirk (2001): Wozu Kultur? Berlin.
Bhabha, Homi K. (2000): The Location of Culture. London.
Bhatti, Anil / Kimmich, Dorothee / Koschorke, Albrecht (2011): Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36, H. 1, S. 261–275.
Dembeck, Till (2012): Vers und Lyrik. In: Poetica 44, H. 3–4, S. 261–288.
Ders. (2013): Reading Ornament. Remarks on Philology and Culture. In: Orbis Litterarum 68, H. 5, S. 367–394.
Ders. (2020): La cultura como imaginación social. Aus dem Dt. übers. v. Tomás Espino Barrera. In: Theorie Now. Journal of Literature, Critique, and Thought 3, H. 2, S. 117–132.
Ders. (2023): Der Ton der Kultur. Lyrik und Sprachforschung im 19. Jahrhundert. Göttingen.
Heimböckel, Dieter/Weinberg, Manfred (2014): Interkulturalität als Projekt. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 5, H. 2, S. 119–144.
Luhmann, Niklas (1995): Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M.
Mecklenburg, Norbert (2008): Das Mädchen aus der Fremde. Germanistik als interkulturelle Literaturwissenschaft. München.
Nietzsche, Friedrich (2003): Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd. VI. München.
Ders. (1999a): Ecce Homo. Wie man wird, was man ist [1888]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd. VI. Neuausgabe. München, S. 255–374.
Ders. (1999b): Unzeitgemäße Betrachtungen. Erstes Stück: David Strauss. Der Bekenner und der Schriftsteller [1873]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd. I. Neuausgabe. München, S. 157–242.
Uerlings, Herbert (1997): Poetiken der Interkulturalität. Haiti bei Kleist, Seghers, Müller, Buch und Fichte. Tübingen.
Willms, Weertje (2016): Hyperkulturelle Lyrik? Beobachtungen zur aktuellen deutschsprachigen Gegenwartslyrik. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 7, H. 1, S. 61–80.