Wut. Politische Gefühle
und entmündigende Pädagogik
Es regnet, ich nehme den Bus. Auf dem Weg zur Schule komme ich mit einer Galilei-Schülerin ins Gespräch. Sie beklagt sich darüber, dass die Lehrer gegenüber den Schülern sowie die Neuköllner Schüler untereinander „keinen Respekt“ voreinander hätten. So wurde sie von Lehrern bereits mit Ausdrücken wie „Halt die Fresse“ angeschnauzt, während unter ihren Mitschülern Beleidigungen wie „Fick Dich, du Hure“ üblich seien. Die Schülerin räumte aber auch ein, dass sie im Verlauf ihrer Schulkarriere selbst mehrfach „ausgerastet“ sei und dafür unter anderem mit einem Schulverweis bestraft wurde. An dieser kleinen Szene vom Beginn meiner Feldforschung deutet sich bereits eine für dieses Kapitel zentrale Problemstellung an: Die an der Galilei-Schule wahrgenommene kommunikative Ordnung verletzte die Wertvorstellungen der daran Beteiligten, was mit devianten Reaktionen aufseiten der Schüler und disziplinarischen Maßnahmen vonseiten der Lehrer einherging. Dieses Beziehungsverhältnis war emotional aufgeladen und Wut spielte dabei eine entscheidende Rolle.
Wut gilt als ein vielfach „missverstandenes Gefühl“, wobei die verschiedenen Interpretationen und Umgangsformen wesentlich dazu beitragen, wie Wut erfahren wird.1 Im Christentum dominiert, ähnlich wie in anderen religiösen Ethiken, ein negatives Wutverständnis. Die christliche Morallehre zielt darauf, sich von negativen Gefühlen dieser Art zu befreien, sie mit Blick auf eine göttliche Ordnung zu transzendieren und zu überwinden oder sie zumindest im irdischen Alltag zu kontrollieren und zu beschränken.2 In der Psychologie und Psychotherapie waren seit dem 19. Jahrhundert Vorstellungen einer „wütenden Seele“ oder eines biologischen Aggressionstriebs besonders einflussreich.3 Die freudianisch geprägte Annahme, angestaute Energie müsse freigesetzt statt verdrängt werden, ermöglichte zwar eine positive Lesart gewisser Ausdrucksformen von Wut als Momente der Katharsis, hatte durch die Rückführung emotionalen Verhaltens auf das Individuum und die Natur aber zugleich eine entpolitisierende Tendenz. In den gegenwärtigen Sozial- und Kulturwissenschaften wird dagegen stärker die gesellschaftliche Kontextualisierung und kulturelle Modellierung von Emotionen hervorgehoben. Hieran anschließend setze ich bestimmte, primär auf die schulische Ordnung bezogene Formen der Wut in der Galilei-Schule mit einem verletzten Gerechtigkeitssinn in Verbindung.
Schulische Konfliktsituationen, mitsamt den für sie typischen gegenseitigen Anschuldigungen, sind für das Studium der Wut besonders aufschlussreich, da in ihnen moralische Ansprüche und enttäuschte Erwartungen zum Ausdruck kommen. Auch wenn Wut in solchen Momenten mitunter plötzlich und vehement hervortritt, handelt es sich dennoch nicht um eine irrationale Emotion. Robert Solomon hat dafür plädiert, Emotionen nicht als plötzliche Ausbrüche von etwas Irrationalem zu verstehen, sondern als ein System von miteinander verschränkten Wertungen und somit als verbunden mit moralischen Standpunkten.4 Werturteile werden dabei weniger in einem neutralen oder desinteressierten Sinne verstanden, sondern als Reflektionen und Reaktionen auf die Welt, die einen etwas angeht. Um die sich im Verlauf der Schulzeit aufbauende Wut der Schüler über als ungerecht wahrgenommene Zustände verständlich zu machen, schildere ich im ersten Teil verschiedene Szenen der Verachtung und betrachte die daraus resultierenden Konflikte nicht als zufällige Missgeschicke oder rein persönliche Animositäten, sondern als symptomatisch für die schulische Ordnung.
Wer Gefühlsstrukturen ethnografisch beschreiben will, muss sich der Herausforderung des Sprechens für und über Andere stellen. Ethnografien verbinden idealerweise eine möglichst detaillierte empirische Darstellung mit einer möglichst reflektierten theoretischen Diskussion, wobei Projektionen des Schreibenden und Erwartungshaltungen an potenzielle Leser eine wichtige, doch meist eher untergründige Rolle spielen. So hätte ich gerne angesichts eines knapp einwöchigen Unterrichtsboykotts am Ende des Schuljahres über einen „Schülerstreik“ gegen eine „rassistische Lehrerin“ geschrieben, doch die Neuköllner Jugendlichen verorteten ihr Handeln nicht im Rahmen eines organisierten Widerstands. Sie ließen sich, wie wir noch sehen werden, weder von einer linken Sozialarbeiterin instrumentalisieren noch von einem Polizisten einschüchtern, sondern spielten diese lustvoll gegeneinander aus. Statt von marxistischer Seite ein mangelndes politisches Bewusstsein oder von konservativer Seite einen notorischen Hang zu Gewalt bei Neuköllner Hauptschülern zu beklagen, schildere ich zunächst die Entstehung von Wutgefühlen und anschließend den Umgang mit den daraus resultierenden schulischen Konflikten. Lässt man sich von wütendem und aggressivem Verhalten nicht vorschnell abschrecken, wird erkennbar, dass auch wütende Schüler ihre Haltungen deutlich und relativ differenziert artikulieren und ihr aggressives Verhalten oft spezifische, plausible Gründe hat. Um diese nachvollziehen zu können, muss man Hauptschülern zunächst erst einmal genauer zuhören und ihre normativen Ansprüche und Artikulationsbedingungen rekonstruieren.
Die hier in den Mittelpunkt gestellten Formen der Wut hängen eng mit Erfahrungen verstellter Artikulationsmöglichkeiten zusammen, mit dem Gefühl, nicht gehört zu werden oder sich im gegebenen institutionellen Rahmen nicht angemessen artikulieren zu können. Die Bedingungen der Sprecherschaft von marginalisierten Gruppen wurden in den letzten Jahren unter der Fragestellung „Can the Subaltern Speak?“ vor allem in den Postcolonial Studies diskutiert.5 Mit der Bezeichnung enabling violence beschreibt die Literaturwissenschaftlerin Gayatri Spivak in diesem Zusammenhang einen Mechanismus, bei dem Subalterne nur ihre Position artikulieren können, wenn sie sich den Bekenntniszwängen und Artikulationsmustern der hegemonialen Position anpassen. Überträgt man den ursprünglich von Antonio Gramsci geprägten, doch mittlerweile postkolonial besetzen Begriffs der Subalternen auf Berliner Hauptschüler, können die Strukturen sozialer und diskursiver Ausgrenzung herausgearbeitet werden.6 Unter Subalternen lassen sich dann all jene Randgruppen fassen, denen es im Rahmen einer hegemonialen Kultur aufgrund ihres Status an Anerkennung und an legitimen Artikulationsmöglichkeiten mangelt. Die an der Galilei-Schule eingesetzten Instrumente der Gewaltprävention und Konfliktbearbeitung – der Stuhlkreis, das Unterrichtsgespräch und der Trainingsraum – werden im zweiten Teil daraufhin befragt, wie sich in ihnen schulische Machtverhältnisse mit kommunikativen und disziplinarischen Strukturen verbinden.
Eine solche Beschreibung ist in einem doppelten Sinne politisch: Zum einen, indem sie die Art und Weise rekonstruiert, durch die in politischen Feldern wie der Schule grundlegende gesellschaftliche Machtverhältnisse reproduziert und emotional erfahren werden, und zum anderen, indem anschließend konkrete institutionelle Instrumente der Konfliktbearbeitung adressiert und kritisiert werden. Der institutionelle Umgang mit sogenannten „Problemschülern“ wurde durch die Weigerung bestimmt, sich mit den grundlegenden Problemen für Konfliktsituationen auseinanderzusetzen. Diese Handhabung führte zu weiteren Situationen der Sprachlosigkeit und zu noch mehr Wut aufseiten der Schüler, aber auch zu Formen von Subversion und Solidarität. Die hier aufscheinende „politische Differenz“ zwischen Formen der politischen Steuerung des „schulischen Staatsapparats“ im engeren Sinne und übergreifenden Fragen der sich in der Schule artikulierenden gesellschaftlichen Ordnung markiert den Spannungsbogen dieses Kapitels und des gesamten Buches.7 Fragen nach „dem Politischen“ werden dabei nicht im selbstreferentiellen Rahmen der Politischen Theorie behandelt, sie werden auf den Alltag bezogen, wo sie ihre Wirkung entfalten.8 Da den Hauptschülern kein glaubwürdiger Bildungsvertrag mehr vorgelegt wurde, kündigten sie der Schule ihrerseits die Gefolgschaft. Weder das wütende Verhalten der Schüler noch die dagegen in Stellung gebrachten pädagogischen und disziplinarischen Maßnahmen sind deshalb unpolitisch. Auch wenn Konflikte um die schulische Ordnung sich primär auf der Ebene persönlicher Auseinandersetzungen abspielten, wurden sie durch gesellschaftliche Widersprüche gerahmt und hervorgebracht.
POLITISCHE GEFÜHLE: WÜTEND WERDEN
In meinem vorigen Buch „Hauptschüler. Zur gesellschaftlichen Produktion von Verachtung“ habe ich in Anlehnung an die von Axel Honneth formulierte Theorie der Anerkennung hervorgehoben, dass Hauptschüler nicht nur auf sozio-ökonomische, sondern auch auf symbolische Weise ausgegrenzt werden. Im Schulalltag äußerte sich diese Verachtung primär in Form von Erniedrigungen und Demütigungen. In diesen Momenten fühlten sich die Schüler oft ohnmächtig und wehrlos vor den Kopf gestoßen, doch sie entwickelten auch kritische Umgangsweisen, die wiederum häufig von Wut begleitet oder durch diese artikuliert wurden. Die Philosophin Hilge Landweer bezeichnet dieses emotionale Sensorium für Normüberschreitungen als das „Rechtsgefühl“ des „Sich-gedemütigt-Fühlen(s)“.9 Moralische Ansprüche werden vor allem in den Momenten kenntlich und auf emotionale Weise eingeklagt, in denen sie enttäuscht werden. Auf der Basis eines basalen Gerechtigkeitssinns, demnach jeder Mensch mit Respekt behandelt werden sollte, wuchs im Verlauf der Schulzeit die Empörung der Schüler, die sich zu Wut und Aggressivität steigern konnte.
Exklusionserfahrungen
Um den Schülern einen Eindruck zu vermitteln, was ich an ihrer Schule vorhabe, bekam ich von den Klassenlehrern der zehnten Klassen anfangs die Gelegenheit, einige Passagen aus meinem eben erwähnten ersten Hauptschüler-Buch mit ihnen zu diskutieren. Die Stunde begann zunächst mit Fragen der Schüler über meine Arbeit als Wissenschaftler („Wie lange braucht man für so ein Buch?“, „Wie viel verdient man damit?“) und über die damals untersuchte Schule.
Nevin: „Was war das eigentlich für eine Schule?“
S.W.: „Das war eine Hauptschule in Wedding, vergleichbar mit dieser Schule.“
Nevin: „Wollen sie sagen, dass unsere Schule schlecht ist?“
Jasha: „In Wedding! Klar, das meint er damit. Was erwartest Du? Dass er sagt, diese Schule ist gut?“
Nevin: „Wir waren auf Platz zwei bei Schulschwänzer!“
Jasha: „Nicht mal bei so was schaffen wir Platz eins. Sind wir schlecht!“
Mustafa: „Das war damals. Jetzt sind hier so integrierte Leute.“
Jasha: „Was für integrierte Leute? Guck die Zigeuner, die wir haben.“
S.W.: „Ein Problem an der Schule war damals, dass nur zwei bis drei Schüler pro Abschlussjahrgang einen Ausbildungsplatz gefunden haben.“
Mohamad: „Ja, hier ist es genauso.“
Jasha: „Wir schaffen es sowieso nicht. Sekundarschule ist noch schlimmer. Keiner kann mehr sitzen bleiben. Sogar die dümmsten Schüler schaffen das noch.“
Eine Ortsmarkierung wie „Wedding“, ein mit Neukölln vergleichbarer Berliner Bezirk mit einer (post-)migrantisch und (post-)proletarisch geprägten Bevölkerungsstruktur, genügte, um ein ironisches Spiel mit Negativassoziationen in Gang zu bringen. Wie unangenehm die damit verbundenen Minderwertigkeitszuschreibungen sein können, zeigte sich auch darin, dass viele Äußerungen über eigene Exklusionserfahrungen sarkastisch oder zumindest doppelbödig formuliert wurden. Vor allem Jasha dominierte den sich daraus entwickelnden Wortwechsel mit einer extrem negativen Deutung der eigenen Schulsituation. Die Schüler verwiesen auf die seit 2010 laufende Umwandlung von einer Hauptschule in eine „integrierte“ Sekundarschule, die zum Zeitpunkt meiner Forschung jedoch noch keine spürbaren Verbesserungen mit sich gebracht hatte, sondern eher eine zusätzliche Marginalisierung des letzten Hauptschuljahrgangs innerhalb der neuen Schulform zur Folge hatte. Die abwertende Distanzierung von „Zigeunern“ verwies auf Statuskämpfe am unteren Ende des hierarchisierten Schulsystems, die durch eine weitere Schulreform befeuert wurden. Denn mit der etwa zeitgleichen Reformierung der Förderschulen in Berlin wurde ein großer Teil der dort beschulten Roma an die umliegenden Schulen verlegt, wo sie zunächst vor allem in den unteren Jahrgängen große, teilweise separat beschulte, Schülergruppen bildeten. Wenig später sollten im Zuge des Flüchtlingszuzugs aus Syrien noch eine weitere Schülergruppe mit hohem Förderbedarf die Integrationsfähigkeiten dieser Schulen auf die Probe stellen.
Der selbsterniedrigende Gestus der Hauptschüler, verweist, trotz partieller ironischer Brechung, auf die Effekte von symbolischer Gewalt auf das Selbstbild der Schüler. Mit dem Begriff der „symbolischen Gewalt“ verweist Bourdieu, wie bereits erwähnt, auf eine Form der Unterwerfung, die nicht durch physische Gewalt erzwungen, sondern durch die Verinnerlichung der vorherrschenden gesellschaftlichen Bewertungsmaßstäbe ermöglicht wird.10 Der konservative Effekt der Schule besteht für Bourdieu darin, dass sie die herrschende Ordnung aufrecht erhält und zur Legitimierung sozialer Ungleichheit beiträgt, indem selbst die dadurch Unterdrückten die an der herrschenden bürgerlichen Klasse orientierten Bildungsstandards und Erfolgsmaßstäbe affirmieren.11 Die Galilei-Schüler bestätigten die stratifizierenden Effekte des hierarchischen Schulsystems, in denen ihr Schultyp im Allgemeinen und ihre Schule im Besonderen jeweils negativ kategorisiert wurden. Sie reproduzierten darüber hinaus mit ihren abwertenden Kommentaren zum „Schwänzen“ und „Sitzenbleiben“ jene sozialmoralische Verurteilung von sogenannten „Bildungsverlierern“, unter der sie selbst zu leiden hatten. Übrigens hat die Galilei-Schule einige Zeit später doch noch den Spitzenplatz im Berliner „Schwänzer-Ranking“ erklommen. Diese Selbstausgrenzung artikuliert sich affektiv typischerweise in Formen der Selbsterniedrigung, Selbstausgrenzung und Selbstgeißelung sowie in Emotionen wie Scham, Neid und Angst. Symbolische Gewalt bringt zudem auch Wut hervor – Wut auf sich selbst und auf diejenigen, die für die eigene Minderwertigkeit mitverantwortlich gemacht werden.
Für die Diskussion mit den Schülern hatte ich vor allem Beschreibungen von Unterrichtsszenen aus meinem Buch ausgewählt, unter anderem eine Feldtagebuch-Passage, in der die Schüler wütend auf die bei der Praktikumssuche erlebte Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt reagierten. „Das war nur, weil ich Ausländer bin“, beschwerte sich ein damaliger Schüler über eine als diskriminierend empfundene Absage auf seine Bewerbung. Die Lehrerin verwies daraufhin auf die „schlechten Erfahrungen der Betriebe“ mit „Ausländer(n)“ und ermahnte die Jugendlichen zu besserem Verhalten.
Jasha: „Das ist übertrieben gemein von der Lehrerin, auch von den Betrieben natürlich. Aber dass die Lehrerin denkt, dass das an den Schülern liegt, dass die Betriebe jetzt keine Ausländer mehr wollen. Weil nicht alle Ausländer sind gleich. Aber wenn die Ausländer das machen und Vorurteile gegen Deutsche haben, dann heißt es, dass wir uns nicht integrieren können.“
S.W.: „Was meinst Du denn, warum die Lehrerin das gesagt hat?“
Jasha: „Weil sie ein Nazi ist.“ (lacht)
Schüler: „Sie ist ein Kannibale. Die wollen uns auch noch die letzte Hoffnung kaputt machen, indem sie sagt, euch Ausländer wird sowieso nie jemand nehmen.“
S.W.: „Ich glaube, sie wollte die Schüler eher motivieren.“
Jasha: „Wir haben ja gar keine Chance hier, egal wie integriert wir sind, egal wie deutsch wir sind. Weil die ersten Ausländer, die kamen, also unsere Vorfahren, sich scheiße benommen haben.“
Theo: „Also mein Kumpel, der ist Türke, der hat auch schon über 30 oder 40 Bewerbungen geschrieben, aber er wurde nicht angenommen. Und sein bester Freund ist Deutscher, der hat so sechs oder sieben abgeschickt und sofort eine Stelle bekommen.“
Mohamad: „Bei 30, 40 Bewerbungen muss man doch mal angenommen werden!“
Mustafa: „Nein Digger! Manchmal muss man 100 schicken. Das ist Schicksal.“
Schülerin: „Eine Kosmetikerin meinte zu mir: ‚Nee, kannst Du vergessen mit Kopftuch.‘
Isra: „Das stimmt. Ich wollte auch Kosmetikerin machen und die meinten das gleiche zu mir.“
Jasha: „Das schlimme ist bei meiner Mutter, die kann perfekt Deutsch. Die ruft dann erst mal an und die merken nicht, dass sie Ausländer ist. Und dann geht sie da hin, die sehen das Kopftuch und sagen: ‚Nein, die Stelle ist schon weg.‘ Das ist so gemein!“
S.W.: „Und wie reagiert Deine Mutter dann?“
Jasha: „Was soll sie machen? Wir gehen dann abends zusammen hin und brennen den Laden ab.“
Maral: „Ich war traurig, weil ich würde es gerne machen, aber jetzt kann ich es nicht machen.“
Mustafa: „Ist doch klar, wenn Du zu Deutschen gehst. Warum bist Du nicht zu einer ausländischen Kosmetikerin gegangen? Haben die genau das Gleiche gesagt?“
Isra: „Ja, die haben das Gleiche gesagt. Ich habe dann beim Friseur Praktikum gemacht. Die Omas, die da kamen, fragten mich: ‚Warum trägst du Kopftuch? Weil du das tragen musst?‘“
Jasha: „Ich kenne eine, die hat in der Küche gearbeitet und musste immer beim Notausgang reingehen, damit die Deutschen nicht sehen, dass da eine mit Kopftuch arbeitet. Der Chef meinte, dass sonst niemand mehr kommen würde.“
Mit dem Urteil, etwas sei „gemein“, artikulierte Jasha ein Ungerechtigkeitsempfinden, dass sich für sie mit Geschichten von rassistischer Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt verband. Hauptschüler nichtdeutscher Herkunft sind dort doppelt exkludiert, sie werden wegen ihrer Schulform herabgewürdigt und als Migranten diskriminiert, wobei sich das Tragen des Kopftuchs als besonders nachteilig für die Stellensuche erweist. Paradoxerweise wurde der in der vorgelesenen Passage aufgekommene Vorwurf, migrantische Schüler seien aufgrund ihres mangelhaften Auftretens selbst für ihre missliche Situation auf dem Arbeitsmarkt verantwortlich, zwar in ihrer Generalisierung vehement zurückgewiesen, doch das damit verbundene Deutungsmuster nicht grundlegend in Frage gestellt. Indem Jasha die damit verbundene Schuldzuweisung lediglich eine Generation vorverlagerte und auf die eigenen Vorfahren übertrug, bestätigte sie vielmehr indirekt die Vorwürfe. Auch an anderen Stellen wurde deutlich, dass die Schüler sich selbst noch in ihrer Rassismus-Kritik im Rahmen einer dominanten diskursiven Ordnung bewegten, etwa indem sie nationalstaatlich fixierte ethnische Differenzkategorien („Deutsche“ vs. „Ausländer“) übernahmen. Auf ähnlich zwiespältige Weise wurden auch die für einen erfolgreichen Berufseinstieg notwendigen Bewerbungsbemühungen beurteilt: Einerseits wurden ausgrenzende Strukturen erkannt und kritisiert, die Erfolgschancen andererseits aber auch auf individuelle Anstrengungen und die Unwägbarkeiten des „Schicksals“ zurückgeführt.
Die klassistischen und rassistischen Ausgrenzungen auf dem Arbeitsmarkt sind mit sozialmoralischen Abwertungen verbunden. Die sozio-ökonomische und symbolische Exklusion wurde in dieser Unterrichtsstunde mit einer Mischung aus Trauer und Empörung aufgenommen, über das Bedauern von vorenthaltenen Chancen und Entrüstung über das Verhalten der Betriebe. Dass Minderwertigkeitserfahrungen darüber hinaus auch Wut evozieren und in Aggressionen umschlagen können, wurde im ironischen Hinweis auf nächtliche Racheaktionen zumindest bereits angedeutet. Die Diskriminierung von Hauptschülern beschränkte sich jedoch nicht nur auf den Arbeitsmarkt, sondern wurde auch innerhalb der Schule selbst produziert.
Klassismus und Rassismus im Schulalltag
Feldtagebuch: Herr Steiß ermahnt die Anwesenden, dass sie es als Hauptschüler „sehr schwer“ haben werden und ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt „fast gegen Null“ tendieren. Dann schreibt er in großen Lettern das Wort „HONK“ an die Tafel und fragt die Schüler, ob sie wissen, was dies bedeutet. Die Schüler schauen verdutzt, keiner scheint die Antwort zu wissen. Der Lehrer löst schließlich das Rätsel – „Hauptschüler ohne nennenswerte Kenntnisse“. Dann fragt er die Schüler, was ein Arbeitgeber zuerst macht, wenn er über Hundert Bewerber hat? „Die gucken, wer ein Honk ist“, antwortet ein Schüler.
„Honk“ ist eine demütigende Negativkategorisierung, ein in beleidigender Absicht konstruiertes Akronym. Dieses Schimpfwort wurde zunächst in der Jugendsprache als Bezeichnung für Personen mit mangelnder Intelligenz und negativ auffälligem Sozialverhalten entwickelt und wird mittlerweile synonym für ältere Bezeichnungen wie „Trottel“ oder „Dummkopf“ verwendet – ohne sich dabei auf eine spezifische Schülerkategorie zu beziehen.12 Möglicherweise entspann sich unter Berliner Jugendlichen im Verlauf der 2000er Jahre eine daran anschließende Verspottung von Hauptschülern, welche das gängige Stereotyp, diese seien dumm und moralisch verwahrlost, aufnahm und fortführte. Dies wird jedenfalls in mehreren Büchern und Reportagen über die Hauptschule behauptet, unter anderem in Anke Clasens Studie „Bildung als Statussymbol“ und Ernst Rösners Streitschrift „Hauptschule am Ende“ sowie in einer großen Schulreportage im FOCUS und einer Diskussion von aktuellen Forschungen zum Schulübergang in der ZEIT.13 In letzterer wird noch hinzugefügt, diese Begriffsverwendung sei sogar schon unter Sechsjährigen üblich.14 Alle der eben aufgezählten Texte nutzen die Schockwirkung dieser schulischen Diffamierung für eine spektakuläre Einstiegsszene. Dass die in Beleidigungen ansonsten durchaus versierten Neuköllner Jugendlichen erst vom Lehrer darauf gestoßen werden mussten, dass sich die höhnische Abkürzung auf sie selbst bezog, lässt die Frage aufkommen, von wem diese Beleidigung hauptsächlich verbreitet wurde. Die angedeutete mediale Konjunktur des „Honk“ deutet darauf hin, dass es sich zumindest zu einem gewissen Grad um ein Phänomen publizistischer Selbstreferentialität handelt, sie spricht für die diskursive Wirkung besonders eingängiger negativer sprachlicher Setzungen. Die Gefahr, beim kritischen Schreiben über kursierende Negativkategorisierungen diese ungewollt selbst mit zu reproduzieren, stellt sich für alle Autoren der eben erwähnten Texte – und natürlich auch für mich. Viele Autoren benutzen den Begriff eher plakativ als passenden Baustein für die eigene Argumentation, sie verfolgen weder dessen Konstruktion noch gehen sie dessen Verwendung im Schulalltag genauer nach. Dadurch wird ein Wechselspiel zwischen populärem, wissenschaftlichem, medialem und pädagogischem Diskurs gefördert, in dem die Verbreitung eines solchen Schimpfworts eine nicht-intendierte Dynamik erhalten kann.15
Herr Steiß hatte möglicherweise solche Berichte gelesen oder von Kollegen im Smalltalk davon erfahren, bevor er die eigenen Schüler mit dem Schimpfwort konfrontierte. Er verortete den Wortgebrauch nicht mehr, wie ansonsten üblich, unter den Jugendlichen selbst, sondern verstand die Bezeichnung als übliche Kategorisierung in Bewerbungsverfahren. Die Verbindung des „Honk“ zum Arbeitsmarkt wird zwar medial immer wieder angedeutet – etwa in der SPIEGEL-Kolumne „Karriere? Mir doch wurscht!“16 – doch wurde sie vom Lehrer durch die Behauptung einer systematischen Kategorisierungspraxis noch weitergesponnen. Bei seiner Begriffsverwendung blieb offen, ob er die Schüler kritisch auf eine über sie kursierende Form der Beleidigung hinweisen wollte oder ob er den Schülern selbst arbeitsmarktrelevante Kenntnisse absprach. Auf die beschriebene Szene angesprochen, verteidigte Herr Steiß sein Vorgehen mir gegenüber als eine pädagogisch notwendige Konfrontation von sich systematisch überschätzenden Schülern mit ihrem tatsächlichen Leistungs- und Entwicklungsstand:
Herr Steiß: „Ich habe diese Honk-Sache den Schülern aber begründet. Und das ist tatsächlich so, das ist ja keine Erfindung von mir. Man muss sie hin und wieder mit dieser bitteren Realität konfrontieren. Das ist die Einstufung, die bei ihnen vorgenommen wird. Um das mal knallhart zu sagen: Unsere Schüler gelten bei fachkompetenten Leuten, die Lehrstellen vermitteln, in der Regel der Kategorie D zugehörig – also als nicht ausbildungsfähig. Die Defizite in den Kernkompetenzen sind so groß, dass sie nur für ganz, ganz wenige Bereiche infrage kommen. Hinzu kommen mangelnde Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Genauigkeit. Daran scheitern sie, solange sich das nicht verbessert. Die meisten schaffen erst mit 18, 19 Jahren einen bestimmten Reifeprozess, bei dem sie lernen ein Verantwortungsgefühl für sich zu entwickeln. Mein pädagogisches Ziel ist es, sie zu motivieren, dass sie diesen nächsten Schritt machen, um da rauszukommen. Und jede Veränderung beginnt mit der Analyse der objektiven Gegebenheiten. Es ist ihnen nicht bewusst, dass sie zu den fünf Prozent Restschülern gehören. Wenn man sich vorstellt, wie hier eine Klasse aus 20 Schülern zusammengesetzt wird, dann sind das nach den Leistungsmerkmalen zehn Mal die zwei schlechtesten Schüler aus zehn Klassen. Und wenn man eine Population so zusammensetzt, was kann dabei herauskommen?“
Der abfällige Tonfall des Lehrers reizt zum Widerspruch. In der angedeuteten Rekonstruktion der Verbreitung des „Honk“ wurde deutlich, dass die „Realität“ damit nicht einfach „objektiv“ wiedergegeben, sondern immer auch konstruiert, geformt und interpretiert wird. Auch wenn diese und ähnliche Negativbezeichnungen tatsächlich von Arbeitgebern verwendet werden sollten, erscheint es fragwürdig, diese Abwertung im Unterricht noch einmal nachzuvollziehen, zumal die Schüler ohnehin bereits in großem Ausmaß mit Minderwertigkeitszuschreibungen konfrontiert waren. Einseitige Schuldzuweisungen zeigten sich auch bei den Klagen über die mangelnden Sozialkompetenzen der Schüler. Diese Vorhaltungen sind auch noch aus anderen Gründen problematisch: Zum einen wurde damit indirekt eine höhere Sozialkompetenz aufseiten des Lehrers suggeriert, zum anderen blieben vorhandene Sozialkompetenzen unberücksichtigt, etwa dass sich viele Hauptschüler in großem Ausmaß um jüngere Geschwister kümmerten. Zwar waren die auf dem Zeugnis enthaltenen Bewertungen des Sozialverhaltens tatsächlich miserabel, doch hingen viele Disziplinardelikte, wie das Zuspätkommen und das Stören, maßgeblich mit dem institutionellen Scheitern der Hauptschule zusammen. Die vom Lehrer eingenommene Defizitperspektive lenkte den Blick auf die Versäumnisse der Schüler, anstatt zu fragen, warum es der Schule nicht gelang eine Lernatmosphäre herzustellen, bei der arbeitsmarktrelevante Kompetenzen systematisch erworben oder weiterentwickelt wurden. Insofern also das Urteil „nicht ausbildungsfähig“ auf etwas zutraf, dann auf Institutionen wie die Hauptschule selbst.
Schließlich kann auch die Rechnung über die negative Zusammensetzung der Schülerschaft nicht unwidersprochen bleiben. Die scheinbar neutrale Mechanik dieses Vorgangs, der zufolge jeweils die zwei untalentiertesten Schüler einer jeden Grundschulklasse ausgesiebt wurden, wird von empirischen Studien zu Schulübergängen nicht bestätigt. Mechthild Gomolla und Frank-Olaf Radtke sprechen stattdessen von „institutioneller Diskriminierung“, womit sie hervorheben, dass Kinder aus Migrantenfamilien strukturell benachteiligt werden.17 Entscheidungen über Schulkarrieren sind in viel stärkerem Ausmaß von sozialen Bewertungskriterien beeinflusst, als dies von den Beteiligten eingestanden wird. Die Steuerung der ethnischen und sozialen Zusammensetzung der Schülerschaft erfolgt sowohl direkt diskriminierend, durch die Minderbewertung von migrantischen Schülern bei gleichen Schulleistungen, als auch indirekt diskriminierend über negative Einschätzungen von deren Sprachkenntnissen und Sozialkompetenzen. Solche rassistisch imprägnierten Selektionspraktiken haben dazu geführt, dass Heranwachsende türkischer und arabischer Herkunft an Berliner Hauptschulen stark überrepräsentiert waren, während wiederum ein Großteil der Roma auf Förderschulen geschickt wurde.18 Das deutsche Schulsystem bringt ethnische und soziale Differenz selbst hervor und legitimiert diese Einteilungen als Ergebnis von Leistung und Begabung. Das rücksichtslose Rechenbeispiel über die Zusammensetzung von „Restschülern“ sagt uns also mehr über den Negativblick des Lehrers als über die tatsächlichen Fähigkeiten der Schüler.
Herr Steiß agierte nicht bewusst böswillig, doch sein Unterrichtsstil wurde von den Neuköllner Jugendlichen als besonders beleidigend empfunden. Seine Demütigungen wirkten auf die Schüler demotivierend, weshalb bald keiner von ihnen mehr Lust auf dessen Mathematikunterricht hatte. Ein Schüler beschwerte sich mir gegenüber, Herr Steiß hätte zu ihm gemeint, als Hauptschüler könne er „eh nichts erreichen“. Ein anderer meinte daraufhin: „Wäre ich Direktor, ich hätte Herrn Steiß schon längst herausgeschmissen.“ Neben statusbezogenen Abwertungen machte die Schüler vor allem anti-muslimischer Rassismus wütend.
Herr Steiß: „Ich erlebe ja manchmal schon einen profan-dümmlichen Islamismus, da versuche ich gegen anzugehen. Allerdings muss man dagegen sehr moderat vorgehen. Es gibt Schüler, die sagen, die Welt ist eine Scheibe, der Hodscha hat das so gesagt. ‚Gucken Sie doch die Bilder der Amis aus dem Weltraum an – Es ist eine Scheibe!‘ Also, da ist mit Argumenten schwer gegen anzukommen. Das hatten wir hier alles schon. Und ganz hochgekocht waren die Emotionen natürlich nach dem 11. September 2001, als ein großer Anteil der muslimischen Schüler meinte, dafür waren Juden verantwortlich gewesen. In letzter Zeit hat das wieder ein bisschen abgenommen, aber ganz, ganz viele Muslime sind sehr antisemitisch eingestellt. Da muss man schon gegen angehen und ihnen ein paar Dinge bewusst machen. Ansonsten habe ich keine Probleme, bin ich da also sehr tolerant. Ich muss mich aber schon hin und wieder darüber mokieren, wie verlogen letzten Endes diese Religion ist – und wie dumm sie im Grunde ist.“
Irritierend an dieser Interviewpassage wirkt, wie eine offene Islamfeindlichkeit, deren abschätziger Gestus im letzten Satz unmaskiert hervortrat, sich selbst gleichzeitig als tolerant und aufgeklärt verstand. Der vom Lehrer vertretene schulische Aufklärungsgestus, der sich gegen Pauschalisierungen und Verschwörungstheorien richtete, kippte in Richtung einer diskriminierenden Stimmungsmache und verlor somit seine Glaubwürdigkeit. Der Anspruch kultureller und rationaler Überlegenheit artikulierte sich im Unterricht im Hang des Lehrers zu Monologen und Belehrungen der Schüler über ihre eigene Religion und Herkunft. Neben Klagen über fehlende Mathematikkenntnisse wurden die Jugendlichen auch über „kriminelle Clanstrukturen“ in arabischen Großfamilien in Berlin, über den Palästinakonflikt und über den Islam aufgeklärt, der aus Sicht des Lehrers nie die Standards europäischer Aufklärung erreichen könne. Rassismus ist hier eher eine diskursive Praxis der Selbstpositionierung, bei der durch die negative Abgrenzung gegenüber einem kulturell markierten Anderen die liberal-säkulare Normvorstellung einer „deutschen Schule“ bekräftigt wird.19 Anti-muslimisch ist dieser Rassismus deshalb, weil Islam mit Islamismus gleichgesetzt wird und dabei der Islam als eine in sich kohärente Einheit konstruiert wird, die aus prinzipiellen Gründen minderwertig sei. Nicht alle Lehrer der Galilei-Schule verhielten sich respektlos und arrogant gegenüber ihren Schülern, aber Herr Steiß war auch nicht der Einzige, von dem sie gedemütigt wurden. Angesichts einer „Kultur der Respektlosigkeit“20 gegenüber Hauptschülern erscheint es nicht verwunderlich, dass es im Verlauf des Schuljahres noch zu einem Eklat kommen sollte.
Ein Unterrichtsboykott und seine Folgen
Feldtagebuch: Stuhlkreis, wie jeden Dienstagmorgen. Die Schüler werden weniger, die Probleme nicht.
Frau Hille: „Wenn ich mir dieses kleine Häufchen ansehe, wird mir schlecht. Viele versauen sich auf den letzten Metern noch den Abschluss.“ (Schüler schweigen)
Frau Hille: „Und was noch viel schlimmer ist. Ich habe Frau Scherger getroffen und sie hat mir erzählt, dass Thomas und Roberto die einzigen waren, die beim Buffet geholfen haben. Das ist eine Sauerei! Frau Scherger verlässt sich auf euch und ihr kommt nicht. Zur Strafe wird die Klasse 200 Euro weniger bekommen.“ (Schüler schweigen)
Duc: „Entschuldigung.“
Yasmin: „Ich finde es unfair. Ich war sonst immer da. Erst soll sie sich entschuldigen!“
Frau Hille: „Ich fände es schade, wenn ihr jetzt nichts mehr mit Frau Scherger machen wollt. Im Berufsleben macht man das einmal und dann ist Schluss.“
Die angesprochene Frau Scherger war neben ihrem Fachunterricht für eine schuleigene Cateringfirma verantwortlich, bei der die Schüler Verpflegungsangebote für schulnahe Veranstaltungen vorbereiten und auf diese Weise an ein mögliches Berufsfeld herangeführt werden sollten. Um eine zukünftige Arbeitsumgebung auf möglichst authentische Weise zu simulieren, mussten sich die Schüler dafür mit Lebenslauf und Vorstellungsgespräch bewerben. Die Einnahmen der Firma sollten über die Schulleitung an die Klassen zurückverteilt werden, sie wurden hier jedoch aus Disziplinargründen gekürzt. Denn die Schüler weigerten sich seit einigen Tagen, Frau Schergers Unterricht zu besuchen und am Catering teilzunehmen. Selbst Schüler, die sonst gerne in der Küche halfen, kamen nicht mehr. Nur Thomas, einer der wenigen ethnisch deutschen Schüler und der stets motivierte Roberto waren noch übriggeblieben. Was war passiert?
In der Woche zuvor hatte es einen heftigen Streit gegeben, bei dem ich selbst nicht anwesend war, doch der mir von mehreren Schülern lebhaft geschildert wurde. Während des Unterrichts soll sich Frau Scherger abfällig über Verwandtenheiraten in türkischen Migrantenfamilien geäußert haben. Als sie vor den Schülern behauptete, die daraus resultierenden Kinder seien „behindert“, bekam Hazal einen Wutanfall. Sie sprang, den Schilderungen zufolge, vom ihrem Sitz auf und schrie die Lehrerin an: „Wollen Sie etwa sagen, ich bin behindert?“ Hazal stammte, wie ihre Sitznachbarin Sila, aus einer Ehe zwischen Cousin und Cousine. Anschließend kam es zu einem wütenden Wortwechsel, in dessen Folge sich die Lehrerin, laut den Schülern, zu Beleidigungen wie „Euer Scheiß Allah! Wer liest denn sowas?“ hinreißen ließ. Fast alle Mitschüler von Hazal boykottierten daraufhin in den folgenden Tagen die Veranstaltungen von Frau Scherger. Auf dem Schulhof kursierten bald darauf Gerüchte, die Lehrerin habe „unseren Allah beleidigt“. Ein Schüler kündigte eine göttliche Strafe an und reklamierte dabei gleichsam eine Deutungshoheit über das irdische Schicksal der Lehrerin: „Jeder Mensch wird allein bestraft, ob er betet oder nicht. Es tut mir leid für Frau Scherger, was mit ihr passieren wird, denn ihre Strafe wird schwer sein.“ Auch einige Lehrer kritisierten das Verhalten ihrer Kollegin. Frau Hille meinte mir gegenüber, „sie hat da sehr extreme Ansichten“ und der Direktor mahnte das Kollegium im Lehrerzimmer zu mehr „Political Correctness“.
Bei der Besprechung der Vorfälle im Stuhlkreis, knapp eine Woche nach dem Zwischenfall, ging es vor allem um eine möglichst schnelle Beendigung des Unterrichtsboykotts, nicht aber um die dahinterliegenden Probleme von Rassismus und Islamfeindlichkeit in Teilen der Lehrerschaft. Frau Hille kam den Schülern im weiteren Verlauf des Gesprächs ein Stück weit entgegen, indem sie hervorhob, Frau Scherger hätte sich entschuldigt. Die Schüler monierten jedoch, dies sei unglaubwürdig und „nur in einem Nebensatz“ passiert. Die Klassenlehrerin verpflichtete die Schüler dazu, wieder am Unterricht von Frau Scherger teilzunehmen. Darüber hinaus forderte sie vonseiten der Schüler eine Entschuldigung, um die nun ihrerseits vom Ausbleiben der Schüler beleidigte Frau Scherger wieder zu besänftigen. Die Nichtbeachtung der Schülerperspektive war bedauerlich, denn deren Wut wirkte im Gespräch mit mir gut begründet. Besonders Ali hatte als Schulsprecher mehrfach Kritik am Verhalten der Lehrerin geübt:
Ali: „Sie hasst den Islam – hundert Prozent islamophob. Steckt alle in die gleiche Schublade. Für sie wurde jede Frau, die ein Kopftuch trägt, dazu gezwungen. Sie denkt, jede junge Frau im arabischen Raum wird vergewaltigt und geschlagen oder gezwungen einen 80-Jährigen zu heiraten. Und Inzest machen wir sowieso alle. Sie ist beleidigend. Ein intelligenter Mensch kann Kritik ausüben, aber auf eine Weise, die den anderen nicht aggressiv macht. Sie hat dieses Talent nicht. Sie ist keine Pädagogin, finde ich.“
Es war nicht das erste Mal, dass es im Verlauf des Schuljahres zu Konflikten zwischen den Schülern und Frau Scherger gekommen war, in deren Folge Entschuldigungsgesten nötig wurden. So stürzte einmal der Schuldirektor in den laufenden Unterricht und forderte einen Schüler mit theatralischer Geste auf, „sofort das Handy“ abzugeben. Er drohte mit Polizei und Rauswurf, als handle es sich um eine Pistole. Die Szene wirkte auch deshalb abstrus, da die anderen Schüler währenddessen weiterhin deutlich sichtbar ihre Smartphones bei sich trugen. Das eigentlich an der Schule geltende Handyverbot wurde kaum durchgesetzt und teilweise von den Lehrern selbst unterlaufen. Einmal forderte beispielsweise der Chemielehrer seine Schüler mangels anderweitiger Messinstrumente dazu auf, ihre Handys beim Experiment als Stoppuhr zu verwenden und setzte damit implizit voraus, sie würden diese sowieso ständig bei sich haben. Frau Scherger hatte jedoch bei einem Streit mit einem Schüler, diesen aufgefordert, ihr das Handy auszuhändigen. Dieser hatte daraufhin zunächst noch versucht, sich herauszureden („Es war was Dringendes wegen meiner Mutter“, „Barak Obama war am Telefon“). Als dies nichts half, weigerte er sich schließlich, der Aufforderung Folge zu leisten. Die Lehrerin lief daraufhin wütend zum Direktor, um sich über den Schüler zu beschweren. Dieser sah sich in der folgenden Unterrichtsstunde zum Einschreiten genötigt, um die schulischen Machtverhältnisse wieder geradezurücken. Neben der Abgabe des Handys forderte er vom Schüler auch eine Entschuldigung gegenüber der Lehrerin.
Auch wenn der Direktor in dieser Situation der Lehrerin zur Seite sprang, war er zum damaligen Zeitpunkt sowohl gegenüber Frau Scherger als auch gegenüber Herrn Steiß skeptisch eingestellt, wie sich beim Gespräch über das Buchmanuskript einige Jahre später herausstellte:
Herr Rüttgen: „Die beiden hatte ich öfter mal zu Gesprächen in meinem Büro. Das ist aber nie aus deren Habitus verschwunden, dass sie die Schüler verbal niedergemacht haben. Wir haben verschiedene Sachen probiert, auch mal die Gruppeneinteilung verändert, damit sich das nicht weiter aufschaukelt. Wir haben auch Herr Steiß mal so eine Art Coach zur Seite gestellt, doch die Grundeinstellung von ihm hat das nicht verändert. Er hat sich dann nur ein bisschen zurückgenommen, wenn der Coach da war. Und es gab dann auch mal eine Abmahnung. Er hat die Schüler einfach totgequatscht. Bei Frau Scherger war es stimmungsabhängig. Sie kam aus der Privatwirtschaft und war da schon als strenge Chefin bekannt. Sie konnte mit Störungen nicht adäquat umgehen und kam dann schnell mit Sprüchen wie ‚ihr in Rumänien macht das vielleicht so‘, was natürlich nicht akzeptabel ist. Sie war eine der Wenigen, mit der ich bis zuletzt nicht per Du war. Ich habe sie mehrfach ermahnt, mal einen Gang runterzuschalten – manchmal hat es genutzt, manchmal nicht.“
Im Unterrichtsboykott wurde angesichts des Ausmaßes der Konfrontation neben einer verbalen Entschuldigung noch eine zusätzliche symbolische Wiedergutmachung von den Schülern eingefordert. Sie wurden im Stuhlkreis dazu verpflichtet, einen Kuchen für Frau Scherger zu backen. Auf eine Diskussion dieses Vorschlags ließ sich die Lehrerin nicht ein und nahm das Schweigen der anwesenden Schüler als eine Art Einverständnis auf. Während der nächsten Ethik-Stunde wurden die Schüler zur Schulküche geschickt, um diesen Kuchen backen. Allerdings sahen die Schüler weder eine Veranlassung sich zu entschuldigen noch einen Kuchen zu backen. Erneut waren es wieder Thomas und Roberto, die sich als Einzige zum Kuchenbacken bereit erklärten. „Die Klasse hat das so entschieden“, meinten sie, und deuteten dabei mit ihren Fingern zwei Anführungszeichen an, was wohl bedeuten sollte, dass eher Frau Hille für die Schüler entschieden habe. Sie nannten ihren Kuchen den „200-Euro-Kuchen“, wodurch sie die Hoffnung auf eine Zurücknahme oder Reduzierung der verhängten Geldstrafe in den Vordergrund rückten. Alle anderen Schüler machten währenddessen im Nachbarraum Ethikunterricht. Dabei wurde immer wieder auch scherzhaft auf das Küchengeschehen Bezug genommen. So fragt Momo ironisch: „Darf ich auch mitbacken? Ich will mich auch entschuldigen“, woraufhin Ali entgegnete: „Du bist nicht mehr mein Freund, wenn du da mitmachst.“ Schließlich übergaben Thomas und Roberto den Kuchen und entschuldigten sich im Namen der Klasse bei Frau Scherger. Manche Schüler gingen daraufhin wieder zu ihrem Unterricht, andere blieben weiterhin fern. Das Schuljahr war ohnehin fast vorbei.
So wurde ein Konflikt „gelöst“, ohne dass dessen Ursachen je angesprochen wurden. Die Ungerechtigkeitsempfindungen der wütenden Schüler galten lediglich als Hindernis für eine Fortführung des Unterrichtsbetriebs, wurden pädagogisch jedoch nicht ernst genommen. Die migrantischen Jugendlichen bewahrten sich auf eigensinnige Weise ihre Würde, indem sie sich dem von der Lehrerin verordneten Entschuldigungsprozess entzogen, ohne ihn dabei gänzlich aufzuhalten. Weder von Lehrern noch von Schülern wurde je das Wort „Streik“ in den Mund genommen, obwohl man die Unterrichtsverweigerung auch so hätte bezeichnen können. Statt eine systematische Auseinandersetzung mit einem strukturellen Problem in Schule und Gesellschaft zu fordern, blieb es bei einer persönlich gerahmten, spontanen Boykottaktion gegenüber einer unbeliebten Lehrerin. Auch wurde deren Verhalten nicht als „Rassismus“ adressiert. In anderen, weniger angespannten Situationen nahmen die Neuköllner Jugendlichen darauf durchaus Bezug, doch bei tatsächlichen rassistischen Beleidigung verschlug es ihnen oft die Sprache. Die durch das extreme Ausmaß der Beleidigung provozierte wütende Reaktion Hazals durchbrach dieses ohnmächtige Schweigen. Die Mehrheit der Schüler erklärte sich mit ihr solidarisch, da sie ihre Wut nicht als idiosynkratische Unterrichtsstörung, sondern als eine auch in ihrer Heftigkeit berechtigte Kritik wahrnahmen. Hazals emotionale Widerrede war nicht „blind“, sondern „würdevoll“, da sie sich dem rassistischen Alltag an der Schule entgegengestellte.21
Die geschilderten Formen von Verachtung umfassen verschiedene Modi von diskriminierender Rede: die Wir-Sie-Unterscheidung („ich bin da also sehr tolerant“ vs. „Euer Scheiß Allah“), die Kategorisierung und Stereotypisierung (u.a. „Honk“, „Kategorie D“, Verwandtenheiraten) und die Abwertung (Kompetenzdefizit, Dummheit, Antisemitismusvorwurf usw.).22 Warum verletzen diese Redeformen? Um die wütenden Reaktionen auf Beleidigungen und Demütigungen als politisch zu verstehen, bedarf es einer grundlegenden Reflektion des Verhältnisses von Sprache und Gewalt. Für den Sprachphilosophen John Austin sind Worte immer auch Taten, mit deren Hilfe wir die Welt konstituieren und soziale Beziehungen aufbauen.23 Judith Butler hat Austins Sprechakttheorie radikalisiert und politisiert, indem sie zum einen argumentierte, dass wir durch sprachliche Anrede als Subjekte konstituiert werden, und zum anderen, indem sie aufzeigte, wie durch diesen Anrufungsprozesse Machtverhältnisse (re)produziert werden.24 Die Beleidigungen an der Galilei-Schule wurden gesellschaftlich hervorgebracht und waren nicht auf einzelne Lehrer oder Schüler reduzierbar, auch wenn sie primär als persönlich wahrgenommene Animositäten und Gefühle erfahren wurden. Die „Körperkraft der Sprache“ kam in Praktiken wie dem Aufspringen und Schreien sowie in emotionalen Formen der Wut und des Zorns zum Ausdruck.25 Während in der Forschungsliteratur eher die sprachliche Gewalt aufseiten der Schüler betont wird, beschreibe ich – neben den bereits in anderen Kapiteln herausgestellten Formen von Mobbing und „Pöbeln“ – Beleidigungen von Pädagogen gegenüber Schülern, um deutlich zu machen, dass sprachliche Gewalt nicht nur in Schulen stattfindet, sondern von der Institution Schule selbst hervorgebracht wird.26 Eine in schulischen Settings besonders virulente Variante der sprachlichen Gewalt, die darin besteht, die Sprachfähigkeit des Anderen einzuschränken oder dessen Worten kaum Gehör zu schenken, wird im Mittelpunkt der kommenden Diskussion von pädagogischen Instrumenten des Umgangs mit schulischen Konflikten stehen.
SPRACHLOSIGKEIT. ZUM PÄDAGOGISCHEN UMGANG MIT „PROBLEMSCHÜLERN“
Wenn die Galilei-Schüler sich selbst zu möglichen Umgangsweisen mit Unterrichtsstörungen äußerten, waren sie mit ihren Vorschlägen keineswegs zimperlich. Bei der erwähnten Lektüre meines Hauptschüler-Buches diskutierten wir auch eine Szene, in der ein Schüler zunächst eine Mitschülerin mit „Du Schlampe“ beleidigte und später versuchte sich zu verteidigen, indem er meinte, er hätte lediglich „Dusch-Lampe“ gesagt. Die Neuköllner Schüler überlegten, wie sie auf dieses Verhalten reagieren würden.
Mohamad: „Trainingsraum!“
Jasha: „Einfach raus. Ende!“
Nevin: „Nach Hause geschickt. Suspendierung.“
Jasha: „Oder keine Jungs mehr in der Klasse.“
Mohamad: „Herr Steiß müsste bei denen sein.“
Nevin: „Der würde sich hinsetzen und Geschichten erzählen.“
Jasha: „Was passiert ist in seiner Jugend. Dass es früher noch keine Dusch-Lampen gab.“
In dieser halb ernsthaften, halb scherzhaften Plauderei wurden disziplinarische Maßnahmen wie der Trainingsraum vorgeschlagen, auf die ich gleich noch genauer eingehen werde. Ungeachtet ihrer zur Schau gestellten Straflust, verhielten sich die Neuköllner Jugendlichen ähnliche wie die Weddinger Hauptschüler. Als am selben Tag eine Schülerin erst zur vierten Stunde, also mit einer erheblichen Verspätung, zum Unterricht erschien, wurde sie von einem Mitschüler mit „Geh nach Hause, du Problemkind“ empfangen, worauf sie wiederum mit „Halt die Schnauze“ reagierte. Während die Neuköllner Jugendlichen selbst ein „hartes Durchgreifen“ gegenüber devianten Schülern propagierten, kritisierten sie dieselben Maßnahmen mitunter vehement, wenn sie selbst davon betroffen waren. Trotz solcher individueller Ungerechtigkeitsempfindungen akzeptierten sie das schulische Strafregime im Prinzip weitgehend als notwendiges Übel.
Der Stuhlkreis
Der zum zwischenzeitlichen Unterrichtsboykott führende Konflikt zwischen Frau Scherger und den Schülern wurde im Stuhlkreis thematisiert und mit dort beschlossenen Maßnahmen notdürftig entschärft. Im Stuhlkreis, alternativ auch Klassenrat genannt, kamen in der Galilei-Schule einmal wöchentlich die Klassenlehrerin mit den Schülern im Kreis zusammen, um aktuelle Anliegen zu besprechen. Als programmatisches Ziel des Stuhlkreises gilt, durch partizipatorische Verfahren den schulischen Gemeinsinn zu stärken und darüber hinaus eine Einübung in demokratische Formen der Aushandlung zu ermöglichen. Ethnografische Studien, wie die von Heike de Boer in einer hessischen Grundschulklasse, haben jedoch auf eine große Diskrepanz zwischen demokratischen Idealen und der schulischen Praxis hingewiesen: Schüler nutzen den Klassenrat oft zur Selbstinszenierung und Lehrer reduzieren ihn auf ein Instrument der Konfliktregulierung.27 Angesichts der massiven Disziplinarkonflikte überwog auch an der Galilei-Schule eine solche Problemausrichtung. Dem offenen Austausch untereinander wurden durch eine negative Themensetzung, durch einen autoritären Gesprächsmodus und durch ein nicht verhandelbares Regelverständnis enge Grenzen gesetzt. Besonders bei der geschilderten Diskussion über den Streit mit Frau Scherger, in dem die Schüler keine Möglichkeit bekamen ihre Perspektive angemessen dazustellen, offenbarte sich der scheindemokratische Charakter dieses Erziehungsinstruments.
Der meist am Montag oder Dienstag stattfindende Stuhlkreis begann an der Galilei-Schule häufig mit direkten Nachfragen, Anschuldigungen und Ermahnungen der Lehrer wegen Zuspätkommen, „Schwänzen“ oder anderen Disziplinarvergehen. Typisch waren Einstiegsstatements wie „Was ist hier los? Es kommen immer mehr Beschwerden in letzter Zeit“. Nach dem Abarbeiten der aktuellen „Katastrophenmeldungen“ wurde das Gespräch meist früher oder später auf die Berufssituation der Schüler gelenkt, was vor allem damit zusammenhing, dass der Klassenrat in der Regel zu Beginn des Faches „Berufsorientierung-Arbeitslehre“ (BO) stattfand. Auch dadurch verschwammen die Grenzen zwischen demokratisch inszenierten Stuhlkreis und einem eher dirigistischen Unterrichtsgespräch.
Feldtagebuch: Der Stuhlkreis beginnt mit einem vorwurfsvollen „lange nicht gesehen, zweieinhalb Wochen“ von Frau Hille gegenüber Maria. Danach wieder die übliche Fragerunde nach dem Stand der Bewerbungen. Die Blicke wandern zum Boden, die Stimmen werden leise und undeutlich. Bis auf Roberto, der einen Ausbildungsvertrag in Aussicht hat, sieht die Lage bei den anderen Schülern schlecht aus. Manche schreiben gar keine Bewerbungen oder schicken sie nicht ab, andere haben schon 20 bis 30 erfolglose Bewerbungen hinter sich. Einer antwortet, er habe schon einen Platz, reagiert dann aber nicht auf Nachfragen. Das reihum Abfragen zu diesem Thema im Stuhlkreis drückt auf die Stimmung und auch Frau Hilles Appelle, sich zu bewerben und Angebote des Berufsinformationszentrums in Anspruch zu nehmen, wirken etwas verzweifelt: „Da kommt doch sowieso immer das Gleiche heraus“, entgegnet ihr ein Schüler.
Die mangelnden beruflichen Zukunftsperspektiven waren für die Schüler eine große emotionale Belastung, welche durch die Exposition vor der Klasse noch verstärkt wurde. Die direkte thematische Überleitung von Disziplinarkonflikten zu Berufsperspektiven machte den Stuhlkreis für viele Schüler zu einer Qual. Statt die ursächliche Verknüpfung von Exklusion auf dem Arbeitsmarkt und Aufbegehren in der Schule zu thematisieren, wurde nur in die umgekehrte Richtung argumentiert, demnach schlechtes Benehmen in der Schule die Berufschancen schmälert. Dabei wurden die Jugendlichen als in mehrfacher Hinsicht Schuldige adressiert, als diejenigen, welche die Schulordnung nicht respektierten, dadurch ihre Zukunft ruinierten und sich zudem nicht ausreichend um Ausbildungsplätze bemühten. Das Stammeln, Ablenken und Schweigen der Schüler wurde strukturell dadurch bedingt, dass sie unter den ihnen vorgegebenen Gesprächsbedingungen ihre Anliegen nicht in einer angemessenen Weise in den Gesprächskreis einbringen konnten.28 Die Versuche der Schüler, das leidige Thema Bewerbungen abzukürzen oder ihre Hinweise auf die empfundene Sinnlosigkeit der empfohlenen Hilfsangebote, wurden nicht aufgenommen. Die schulische Praxis des Stuhlkreises konterkarierte somit dessen Programmatik: Themen und Verhandlungsformen wurden einseitig aufoktroyiert und die Perspektiven der Schüler missachtet.
Gelegentlich wurde das Prinzip eines offenen Gesprächsverlaufs und das Eingehen auf die persönlichen Anliegen der Schüler zumindest noch durch rituelle Einstiegsfragen simuliert. So begann eine bereits sichtlich schlechtgelaunte Klassenlehrerin den Stuhlkreis einmal mit der Aufforderung an die Schüler, zu berichten, „was in der letzten Woche so alles passiert ist“. Die Schüler blieben stumm, da sie wohl schon ahnten, worauf diese Frage hinauslief. Ohne wirklich eine Antwort abzuwarten, begann die Klassenleiterin daraufhin mit einem wütenden Vortrag, demnach das Verhalten „mal wieder unter aller Sau“ gewesen sei, da die Schüler störten, zu spät kamen oder gar nicht mehr erschienen. Der Frust der Lehrerin war durchaus verständlich, denn ohne anwesende und kooperierende Schüler drohten ihre Lehrbemühungen sinnlos zu erscheinen. Dennoch belastete eine solche negative Themensetzung die Gesprächsatmosphäre.
Lehrer waren sich durchaus bewusst, dass positive Anreize eine motivierende Wirkung haben. Sie arbeiteten jedoch in einem stark problembelasteten Umfeld, in dem die Thematisierung des Positiven eher eine Ausnahme war, die indirekt gleichzeitig auf die Dominanz des Negativen verwies. So ergänzte eine Lehrerin einmal ihre üblichen Ermahnungen, indem sie – „um auch mal etwas Positives zu erwähnen“ – vom Lob einer Vertretungslehrerin für die Klasse berichtete, allerdings nicht ohne hinzuzufügen, dass solche positiven Rückmeldungen „in letzter Zeit leider selten geworden sind“, da das Verhalten der Klasse „sich verschlechtert“ habe. Neben der Dominanz von Disziplinarproblemen stand einem offenen Austausch mitunter auch der pädagogische Habitus von Lehrern entgegen. Als die Schüler in der ersten Stunde nach den Ferien, als noch keine aktuellen Probleme oder Konflikte anstanden, von ihren Freizeitaktivitäten berichten sollten, erzählte ein Schüler von einem Badeausflug in eine Therme. Die Lehrerin nutzte dies zur Nachfrage, „was thermal eigentlich bedeute“, um das Gespräch gleich darauf auf den großen Nachholbedarf im Fach Physik hinzulenken.
In den erwähnten Beispielen zeigt sich die autoritäre Tendenz dieser und anderer Gesprächsformate im Schulunterricht. Diese hängt strukturell mit dem institutionellen Machtgefälle zwischen Lehrern und Schülern zusammen, doch artikuliert sich darin möglicherweise auch eine spezifisch „deutsche“ Schulkultur. Werner Schiffauer hat auf der Basis einer europäischen Vergleichsstudie nationalstaatliche Unterschiede in der vorherrschenden Unterrichtsmethode herausgestellt: In Frankreich dominiert demnach Frontalunterricht, in den Niederlanden die relativ freie Diskussion, in Großbritannien die Gruppenarbeit und in Deutschland das Unterrichtsgespräch. Dabei erhalten die Schüler zwar die prinzipielle Möglichkeit, ihre individuellen Standpunkte einzubringen, die Themen und Ergebnisse der Diskussion werden jedoch vom Lehrpersonal in autoritärer Weise bestimmt.29 Ähnliches gilt für den Stuhlkreis an der Galilei-Schule. Der latente Autoritarismus zeigte sich sogar bei Diskussionen, welche Anliegen der Schüler betrafen, wie bei der Planung der Abschlussfeier.
Im Stuhlkreis schlugen zwei Schüler vor, zu diesem Anlass einen Julklapp zu veranstalten. Die Lehrerin reagierte skeptisch und leitete die Diskussion daraufhin so, dass sie jeweils ein oder zwei Schüler zu Wort kommen ließ und danach ihre Gegenargumente und ihr Plädoyer für das Wichteln formulierte. Bei der hier gemeinten Form des Wichtelns werden alle Geschenke gesammelt und anonym an ein zufällig ausgewähltes Gruppenmitglied verteilt, was den Lehrern die Möglichkeit lässt, Geschenke bei Bedarf hinzuzufügen, damit am Ende keiner der Schüler leer ausgeht. Beim Julklapp wird geheim ausgelost, wer wen beschenken soll, wodurch eine persönlichere und passgenauere Form des Schenkens ermöglicht wird. Als die Schüler auf die Gesprächsbeiträge der Lehrerin reagieren wollten und sich eine lebhafte Diskussion anbahnte, wurde diese von der Lehrerin mit dirigistischen Kommentaren wie „Jetzt rede ich“ oder „Du darfst Dich gerne beteiligen, sonst rede ich“ verhindert. Da die Lehrerin trotz ihrer Redehoheit die Schüler nicht überzeugen konnte, vertagte sie die Entscheidung mit dem Hinweis, die Schüler sollen „nochmal darüber nachdenken“. Zwei Wochen später kamen beide zehnten Klassen zu einem „großen Stuhlkreis“ zusammen, um die letzten offenen Fragen zur Abschlussfeier zu besprechen.
Feldtagebuch: Jasha und Maria sind nicht begeistert, dass die Abschlussfeier in der Schule stattfinden soll, fügen sich dann aber dieser von den beiden Lehrerinnen favorisierten pragmatischen und billigen Lösung. „Passt schon, macht mal“, meint Jasha daraufhin. Auch das Essen soll von der Schul-Mensa gestellt werden, was ein männlicher Schüler mit hämischer Vorfreude kommentiert: „Die Mädchen werden sich schämen, das zu essen. Dann bleibt alles für uns!“ Anschließend steht die Entscheidung über den Modus der Geschenkübergabe an, die bei den vorhergehenden Stuhlkreisen in den Einzelklassen noch vertagt wurde. Wichteln oder Julklapp? Eine Schülerin möchte abstimmen, woraufhin eine deutliche Mehrheit für Julklapp und keiner für Wichteln stimmt. „Ich finde es schwierig“, interveniert Frau Hille und versucht daraufhin mit ihrer Kollegin die Schüler vom Wichteln zu überzeugen, vor allem mit dem Argument, die Schüler seien nicht zuverlässig genug. Die Schüler finden es aber besser, denjenigen zu kennen, dem man etwas schenkt. Am Ende wird nochmal abgestimmt, wieder eine klare Mehrheit für Julklapp. Die Lehrer versuchen weiter, das Abstimmungsergebnis zu revidieren: „Wir wollen vermeiden, dass am Ende welche enttäuscht sind.“ Am Ende setzen sie ihre Version ohne Abstimmung durch. „Dann halt Wichteln“, meint schließlich ein Schüler.
Die wenig konfliktträchtig erscheinende Frage nach dem Modus der Geschenkübergabe hätte eigentlich die Möglichkeit geboten, den demokratischen Ansprüchen des Stuhlkreises gerecht zu werden. Das hier zu beobachtende Scheitern von „Demokratie im Kleinen“ hängt auch mit der im ersten Kapitel angedeuteten gesellschaftlich produzierten Entfremdung von der Institution Hauptschule zusammen. Die Lehrer scheuten den mit demokratischen Entscheidungsprozessen verbundenen Aufwand, was in diesem Fall bedeutet hätte, die Suche nach außerschulischen Räumlichkeiten für die Schüler zu begleiten. Dies hing vermutlich auch mit langjährigen negativen Erfahrungen bei der Organisation solcher Feierlichkeiten zusammen. Die Schüler wirkten ihrerseits schon zu resigniert und zu distanziert, als dass sie gegen die unliebsamen Raumvorgaben protestieren oder gegen die autoritäre Geschenkentscheidung aufbegehren würden. Ein weiteres Problem ergibt sich aufgrund des schulischen Regelverständnisses. Der Stuhlkreis scheitert auch deshalb an seinen demokratischen Ansprüchen, da die Gesprächsregeln einseitig festgelegt werden und der Gesprächsverlauf von Lehrern dominiert wird, welche häufig selbst eine Interessens- oder Konfliktpartei sind. Als solche können sie ihre Deutungen und Positionen im Zweifelsfall nicht nur gegen den Willen der Schüler, sondern auch unter Missachtung demokratischer Verfahrensregeln durchsetzen. Eine weitere Szene, bei der sich dieses undemokratische schulische Regelverständnis offenbarte, demzufolge am Ende immer der Lehrer Recht hat, ereignete sich beim Schulsport. Als eine rabiat auftretende Lehrerin („Ohrringe ab. Hände aus der Tasche und los. Wir sind hier nicht im Nähkurs!“) von einem Schüler darauf aufmerksam gemacht wurde, dass ihre Laufaufforderungen nicht der Kursbeschreibung des Wahlmoduls „Ball-Kurs“ entsprachen, wurde dieser zurechtgewiesen: „Das geht dich gar nichts an. Wenn ich das sage, wird es gemacht.“
Angesichts der Nichtrespektierung von demokratischen Abstimmungsverfahren stellt sich die Frage, wer hier die demokratischen Spielregeln respektiert – diejenigen, die sie vermitteln sollen, oder jene mehrheitlich migrantischen Hauptschüler, denen häufig ein Demokratiedefizit unterstellt wird. Angesichts der im medialen Diskurs üblichen Gegenüberstellung von demokratischen deutschen Schulen und einer vermeintlich unaufgeklärten muslimischen Schülerschaft könnte man also polemisch fragen, wer hier vor wem gerettet werden muss?30 Welche Form von Demokratie wird vonseiten der Lehrer – also von deutschen Landesbeamten – vorgeführt? Als Antwort drängen sich Stichworte wie „Postdemokratie“ (Colin Crouch), „Dominanzkultur“ (Birgit Rommelsbacher) sowie „Disziplinarmacht“ und „Gouvernementalität“ (Michel Foucault) auf: Bei der hier praktizierten Form des Klassenrats handelt es sich eher um eine Postdemokratie, in der politische Partizipation nur dem Schein nach demonstriert wird, die Machtverhältnisse jedoch auf andere Weisen geregelt werden.31 Die institutionalisierte Form der Aushandlung von Interessen lässt sich als Ausdruck von „Dominanzkultur“ verstehen, da sie sich zwar selbst als egalitär versteht, den selbstlegitimierenden Anspruch auf Freiheit und Gleichheit aber nicht in die schulische Praxis umsetzt, in der stattdessen ungleiche Machtverhältnisse und hierarchische Strukturen dominieren.32 Dabei werden Subjekte nicht nur durch subtile Machtinterventionen produziert, sondern teilweise recht rabiat auf Linie gebracht. Wenn die auf eine Selbstregierung des Subjekts zielende gouvernementale Herrschaftstechnik der Selbstführung nicht die gewünschten Effekte erzielt, reaktiviert die Schule undemokratische Formen des Dirigismus und Autoritarismus oder setzt, wie wir noch sehen werden, Disziplinar- und Strafmechanismen in Gang.33 Demokratie und Freiheit reichten an der Galilei-Schule offensichtlich nur so weit, wie sich die Schüler den Vorgaben der Lehrer fügten. Sobald die freiwillige Fügung jedoch verweigert und sich stattdessen auf das demokratische Mehrheitsprinzip berufen wird, werden die demokratischen Prinzipien außer Kraft gesetzt.
Gewaltprävention
Welches Bild sich die Gesellschaft von Heranwachsenden im Allgemeinen und von Neuköllner Hauptschülern im Besonderen macht, wird indirekt an den zahlreichen an der Schule implementierten Formen der Gewaltprävention deutlich.34 Prävention ist ein elementarer Bestandteil gegenwärtiger Regierungsweisen, wobei soziale Randgruppen besonders in den Fokus vorbeugender Maßnahmen rücken.35 Schulische Gewaltprävention ist der pädagogische Ausdruck einer Kultur der Furcht- und Schadensvorsorge, in der bestimmte Schülerklientel bereits als Gefahrenquelle identifiziert sind und als potenzielle Gewalttäter adressiert werden. Während die symbolische Gewalt vonseiten der Schule kein Unterrichtsthema war, wurden die Schüler der Galilei-Schule mit verschiedenen pädagogischen Formen der Gewaltprävention konfrontiert. In einem dreitägigen Anti-Aggressivitäts-Training (AAT) mussten sie beispielsweise verschiedene Konfliktsituationen durchspielen.36 Hier erfuhren die Schüler auch, was alles als Straftat zählt (Beleidigung, Bedrohung, Körperverletzung, Sachbeschädigung, Diebstahl usw.) und sie wurden über mögliche strafrechtliche Auswirkungen belehrt. Auch im regulären Unterricht war Gewalt immer wieder ein Thema, vor allem im Ethik-Unterricht nahm dieser Problemkomplex eine zentrale Rolle ein.
Feldtagebuch: Im Ethik-Unterricht wird heute das Buch „Ich knall euch ab!“ von Morton Rhue diskutiert. Vor dem Hintergrund mehrerer Amokläufe an amerikanischen High-Schools beschäftigt sich der Autor des bekannten Romans „Die Welle“ mit dem Thema Gewalt unter Schülern. Die Neuköllner Hauptschüler sollen zunächst das Vorwort der deutschen Übersetzung lesen. Mohamad gibt zu bedenken: „Hier geht es um Gewalt. Meine Eltern sagen, ich soll so etwas nicht lesen.“ Ohne darum gebeten worden zu sein, übernimmt Ali die Leseaufgabe. Nach ein paar Sätzen fragt er, was das Wort „obligatorisch“ bedeutet. Da Frau Herrmann keine Antwort einfällt, werde ich zu Rat gezogen und antworte „verpflichtend“. „Sehr gute Antwort. Sehen Sie, er hat einen Doktor“, antwortet Ali im Lehrer-Stil mit Verweis auf meinen akademischen Status. Er liest theatralisch weiter. Beim Hinweis auf den Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium fügt er ein „Du Hurensohn!“ hinzu, beim Wort „Sex“ stöhnt er laut auf. Als Mohamad übernehmen soll, will Ali das Zepter nicht abgeben. Es kommt es zu einem spielerischen Gerangel zwischen den beiden, das mit kleinen Tritten unter dem Tisch beginnt und mit angedeuteten Boxschlägen weitergeht. Als Theo auch was sagen will, wird er von der Lehrerin angeschnauzt. Stattdessen greift Kai in den Konflikt ein: „Er will sich artikulieren“. „Halt die Schnauze“, antwortet ihm Mohamad. Ali lenkt die Diskussion vom Buch weg: „Was würden Sie machen, wenn ein Schüler zu ihnen kommt und sagt, er ist depressiv und macht Selbstmord? Also nicht Kai, der immer solchen Blödsinn sagt, sondern Martin, der das natürlich nie sagen würde.“
Frau Herrmann: „Ich würde ihm lange zuhören. Und wenn ich das Gefühl habe, er ist in Gefahr, würde ich mit den Klassenlehrern – kommt drauf an, welcher Klassenlehrer – und mit dem Direktor reden. Und dann die Polizei rufen.“
Ali: „Ich würde sagen: ‚Viel Spaß, mach’s auf die schnelle Tour.‘“
Kai: „Ich würde sagen ‚Digger, was ist los? Lass mal zum Psychologen!‘“
„Jetzt ernst?“, fragen einige Schüler erstaunt, da sie von Kai eine solche mitfühlende Reaktion nicht erwartet haben. Er lächelt und antwortet: „Und da bummst ihn der Arzt richtig in den Arsch.“ Ali springt auf und führt es vor. „Das ist nicht lustig“, meint Mohamad. Die Lehrerin erzählt von einem Schüler, von dem sie gehört hatte, dass er in der neunten Klasse Selbstmord begangen habe: „Ich finde es schlimm, wenn ein Schüler nicht mehr weiterweiß.“
Mohamad: „Ich hatte wirklich auch eine Situation, wo ein Schüler nicht mehr weiterweiß. Er hatte immer Schweißausbrüche und Ohnmachtsanfälle, wenn er von meinen Freunden abgezogen wurde.“
Frau Herrmann: „Ihr habt kein Mitgefühl.“
Kai: „Das sagt sie nur, weil wir Ausländer sind.“
Ali (empört): „Wie können Sie das wissen. Ich stell mich doch auch nicht einfach hin und sage, sie haben beim Sex keinen Orgasmus.“
Mustafa: „Sex auch für Omas!“
Schüler: „In welchem Monat sind Sie eigentlich? Im Achten oder im Sechzehnten?“
Kai läuft zum Lehrertisch und umarmt die etwa 50-jährige und etwas übergewichtige Lehrerin zum Trost.
Frau Herrmann windet sich heraus: „Nimm Deine Hände von mir!“
Schüler: „Sexuelle Übergriffe im Altersheim!“
Ali springt auf, zieht seinen Gürtel aus der Hose, läuft zu Kai, der noch im Raum herumsteht, und beginnt ihn zur Strafe auszupeitschen.
Frau Herrmann: „Geht’s noch? Soll ich nächstes Mal eine Rassel mitbringen.“
Schüler: „Oh, sie hat das Wort Rasse verwendet.“
Mohamad (zu mir): „Schreib das auf! Sie glauben nicht, wie ich diese Klasse hasse!“
Die Stunde endete im Chaos, vom Buch wird keine Zeile mehr gelesen. Der nicht-autoritäre Unterrichtsstil der Ethik-Lehrerin führte zwar zu einer lebhaften Beteiligung einiger Schüler, jedoch auch zu – selbst für Galilei-Verhältnisse – außergewöhnlich ausschweifendem Verhalten. Die Schüler nutzten jede Gelegenheit, die Lehrerin vorzuführen und machten sich dabei auch über vermeintliche rassistische Entgleisungen lustig. Dies geschah nicht aufgrund tatsächlicher rassistischer Beleidigungen, sondern weil sie meinten, die offen anti-rassistisch auftretende linke Pädagogin damit besonders gut provozieren zu können. Die eigentlich zu thematisierenden Gewaltverhältnisse wurden im sprachlichen und physischen Umgang der Schüler mehrfach vorgeführt und ironisiert. Auch die Lehrerin war dabei nicht ganz unbeteiligt, sie schien mir mit den zwar rebellisch auftretenden aber gleichsam als cool markierten migrantischen Schülern zu sympathisieren und den als uncool geltenden Theo unbewusst auszugrenzen. Die in Neukölln aufgewachsene Frau Herrmann war während ihrer Studienzeit in den 1980er Jahren in der Westberliner Hausbesetzer-Szene aktiv und mittlerweile bei einem freien Träger angestellt, in dessen Auftrag sie an der Galilei-Schule unterrichtete. Ihre Unkonventionalität demonstrierte sie durch auffallenden Schmuck und zahlreiche Piercings, darunter auch einen Totenkopfring am Mittelfinger und ein Totenkopfemblem an ihrer Halskette. Ihr Verständnis von linker Pädagogik beschrieb sie in folgender Interviewpassage:
Frau Herrmann: „Ich bin von Natur aus eine überzeugte Anti-Pädagogin. Da bin ich an der Schule natürlich völlig falsch. Mir geht es darum, ein anderes Bewusstsein zu schaffen, einen Gegenpol zu setzen, ihnen einfach eine andere Möglichkeit aufzeigen, wie man noch leben kann. Ich würde das jetzt nicht von vornherein als links bezeichnen. Aber ich habe schon auch das Bedürfnis, etwas im Umgang miteinander zu verändern. Ich habe das Gefühl, dass viele Lehrer zu oft von oben herab die Schüler ansprechen und ganz viel über deren Köpfe hinweg entschieden wird. Vielleicht sind linksgerichtete Lehrer eher in der Lage, sich auf ein anderes Klientel einzustellen als konventionelle Pädagogen.“
Auf Gewaltszenarien ausgerichtete Vorbeugemaßnahmen können unterschiedliche pädagogische Formen annehmen, üblicherweise richten sie sich auf die Verhinderung oder Begrenzung antizipierter künftiger Schäden.37 Zu einer besonders ungewöhnlichen Form der Gewaltprävention kam es im Vorfeld der jährlichen Veranstaltungen zum 1. Mai, dem ehemaligen „Kampftag der Arbeiterklasse“, bei dem es in den Jahren zuvor zu gewaltsamen Ausschreitungen im benachbarten Kreuzberg gekommen war.
Feldtagebuch: Ethik bei Frau Herrmann. Die Lehrerin hat sich ihre Haare kürzlich rosa-blond gefärbt, trägt Blue Jeans und Schuhe der Marke „Chucks“, genau wie einige ihrer Schüler. Außerdem kaut sie Kaugummi, was an der Schule eigentlich verboten ist. Das Gespräch dreht sich heute um den 1. Mai. Frau Herrmann wettert gegen „Faschos“. Die Schüler stimmen ihr zu und fordern „Kein Sex mit Nazis!“ Dann fragt sie, wann es mit dem Steinewerfen angefangen hat? Sie denkt vermutlich an den legendenumwobenen 1. Mai 1987 in Berlin-Kreuzberg, doch die Schüler antworten „in Palästina“. Dann berichtet sie von den Hausbesetzern der 1980er, die leer stehende Häuser „wohnbar gemacht“ haben und dagegen kämpften, dass „die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden.“ Thomas meint, die sollten stattdessen „lieber Autobahnen bauen.“ Frau Herrmann empört sich: „Ick box Dir gleich eene, hast Du heute Kümmel geschnüffelt oder wat?“. „Haben Sie schon mal einen frittierten Snickers gegessen?“, nimmt ein Schüler den kulinarischen Themenabzweig auf. Frau Herrmann sieht den Grund für die jährlichen Randale zum 1. Mai in der Unzufriedenheit der Leute. „Und ihr? Anscheinend ist keiner von Euch unzufrieden?“, fragt sie provozierend. „Alles läuft hervorragend“, „Ja, alles bestens hier“ antworten die Schüler amüsiert. „Also ihr kommt nicht auf die Idee am 1. Mai irgendwas kaputtmachen zu wollen?“, fragt sie schon leicht verzweifelt. „Wissen Sie, was das kostet?“, entgegnen die Schüler und berichten vom Besuch eines Polizisten, der vorgerechnet hatte, dass ein Steinwurf 8.000 Euro an Folgekosten verursachen kann. Die Lehrerin bricht daraufhin die Diskussion ab: „So, ick hab jetzt keine Lust mehr.“
Dieser fehlgeschlagene Versuch der Politisierung verdeutlicht, dass die Neuköllner Hauptschüler sich nicht vor den Wagen der ehemaligen Hausbesetzer spannen lassen wollten. Trotz breiter Sympathien für die Lehrerin sprachen deren biografisch bedingte Anliegen und deren „Klassenkampf“-Rhetorik die Schüler nicht an. Umgekehrt nahm auch die linke Pädagogin die Impulse der Schüler, wie den Hinweis auf den Palästinakonflikt oder den durch Gewalt verursachten gesellschaftlichen Schaden, nicht weiter auf. Auf diese Unterrichtsszene angesprochen, betonte Frau Hermann, dass sie „eigentlich eine überzeugte Gewaltlose“ sei und räumte das Scheitern ihres pädagogischen Konzepts ein: „Ich wollte auf diese Unzufriedenheit bei ihnen eingehen, die sie auch aggressiv macht. Um dann zu überlegen, wie kann man anders mit Unzufriedenheit umgehen, außer anderer Leute Dinge zu zerstören. Das war gut gewollt und schlecht umgesetzt. Hat überhaupt nicht funktioniert, weil die Schüler schon wieder ganz woanders waren.“ Bei genauerem Hinsehen waren die Schüler gar nicht so weit abgedriftet, sie reagierten nur auf eine eigenwillige, die Lehrerin irritierende Weise auf deren Impulse. Sie unterliefen den zu plumpen Versuch, ihnen ein marxistisches Klassenbewusstsein zu vermitteln, durch rhetorische Finten und ironische Provokationen. Dabei griffen sie auch auf Argumente zurück, die ihnen noch vom Besuch eines Polizisten vertraut waren, der wenige Tage zuvor ebenfalls aufgrund des nahenden 1. Mai an die Galilei-Schule gekommen war.
Feldtagebuch: Der Mann ist um die 40 Jahre alt. Seine schwarzen Stiefel glänzen, die Uniform leuchtet himmelblau. Er hat ein markantes Gesicht sowie eine klare, dunkle und tiefe Männerstimme. Zunächst spricht er einen Schüler auf seine Verletzung an der Hand an. „Beim Boxen passiert“, kommt als Antwort. Der Polizeibeamte reagiert kenntnisreich: „Wohl zu sehr mit der Seite geschlagen?“ Dann fragt er, „wie es mit den Zeugnissen aussieht?“ und ob „ihr Fragen an mich habt?“. Er sitzt locker am Tisch, berlinert und macht öfter mal einen netten Scherz. So kommt er bei den Schülern ganz gut an. Thomas möchte etwas über die Einstellungsbedingungen und den Arbeitsalltag der Polizei erfahren. Allmählich leitet der Beamte das Gespräch zu seinem eigentlichen Anliegen über: Er sei über „die Einstellungen besorgt“, was „durch die Köpfe der Schüler ginge“, finde er „unqualifiziert und dumm“. Die Schüler antworten gewohnt schlagfertig: „Die Polizei müsste uns dankbar sein. Wenn wir nicht so kriminell wären, hätten Sie nichts zu tun.“ Der Polizist lässt sich davon nicht beirren: „Viele verstehen nicht, dass Lehrer und Polizisten für euch da sind, damit ihr ein gutes Leben führen könnt.“ Das Grundproblem sei: „Anstand und Respekt fehlen schon im Elternhaus.“ Dann ermahnt er die Schüler eindringlich: „Ihr seid Vorbilder für andere. Je älter ihr werdet, um so mehr seid ihr für euch selbst verantwortlich. Bald macht Mama nicht mehr für euch sauber. […] Manche machen sich keine Gedanken über Straftaten und ihre Folgen, das fängt mit dem Umgang untereinander an. Allein wie sich hier in der Schule angesprochen wird – ‚Fotze‘, ‚Pisser‘, ‚Hurensohn‘ ist normaler Sprachgebrauch. Es darf nicht sein, dass eine Straftat – und eine Beleidigung ist eine Straftat – als normal und richtig empfunden wird. Das gab es früher nicht so, auch wenn wir auch Scheiße gebaut haben. Wenn ich schon die erste Stufe erklommen habe, ist es nur ein kleiner Schritt bis zur nächsten und da seid ihr schon. Auch die vielen kleinen Schläge und Raufereien hier, das ist ganz nah dran an der Körperverletzung. Im polizeilichen Führungszeugnis werden alle Straftaten vermerkt und das braucht man bei Bewerbungen. Auch Sachbeschädigung fängt schon beim Bemalen der Tische an.“
Ähnlich wie bei dem im zweiten Kapitel geschilderten Antisemitismus-Training diente der den Schülern freundlich zugewandte Gesprächseinstieg eher zur Verschleierung eines grundlegenden Negativblicks. Zwar trat die Polizei als Fürsorge-Institution auf, doch war das Gespräch weder offen noch der Polizist wirklich an den Anliegen der Schüler interessiert. Er sah sie bereits auf den ersten Stufen einer kriminellen Karriere, wofür er wiederum nicht die Gesellschaft oder die Schule verantwortlich machte, sondern hauptsächlich deren als sittlich verroht gezeichneten Elternhäuser. Trotzdem agierte der Polizist pädagogisch geschickter als die Ethik-Lehrerin. Die Schüler ließen sich das zwar kaum anmerken, wirkten aber nach dem Besuch des Polizisten auf mich doch etwas beeindruckt. Dies hatte möglicherweise mit zwei Gründen zu tun: Zum einen liebäugelten mehrere der männlichen Schülern mit Berufswegen im Polizei- und Sicherheitsbereich, zum anderen waren die unmissverständlichen Drohungen mit strafrechtlichen Konsequenzen für einige bereits unmittelbar relevant.
Die in der Rede des Polizisten mitschwingenden Deutungen und Erklärungen von schulischer Gewalt mögen zunächst recht überzeugend erscheinen, doch erweisen sie sich beim Abgleich mit der Forschungsliteratur als ziemlich voraussetzungsvoll und einseitig. Bezüglich der Deutung der Gewalt steht die Botschaft des Polizisten symptomatisch für eine Diskursverschiebung von Institutionen hin zu Individuen. Werner Helsper hat mit Blick auf sich wandelnde Deutungsmuster schulischer Gewalt daran erinnert, dass während in den 1970er Jahren die strukturell bedingte institutionelle Gewalt der Schule hervorgehoben wurde, mittlerweile eine Fokussierung auf die individuelle Verantwortung der Gewaltausübenden dominiere.38 Parallel zu dieser Ausblendung institutioneller Gewalt finde derzeit eine Ausweitung des Gewaltbegriffs statt, welche Prozesse der Schuldzuschreibung gegenüber devianten Schülern verstärke. Der Vortrag des Polizisten zeugte von einem sich ausweitenden strafrechtlichen Katalog und gleichzeitig von einem engen Verständnis der Schuldfrage. Einige der von ihm als Delikte gebrandmarkten Praktiken, wie Beleidigungen und Boxgesten, interpretiere ich in der Passage zu „Trash Talk“ und im kommenden Kapitel zum „Boxerstil“ in entgegen gesetzter Richtung als populärkulturelle Formen der ästhetischen Verarbeitung von Exklusionserfahrungen. Die vom Polizisten betonte Rolle der familiären Situation wird in wissenschaftlichen Studien zum Themenkreis Jugend, Schule und Gewalt ebenfalls hervorgehoben, die Sozialisationsbedingtheit und Kontextbezogenheit von Gewalthandeln dabei aber deutlich weiter gefasst.39 Für ein Verständnis von Wut und Aggressivität in der Schule müssen zusätzlich auch die Sozialbeziehungen zwischen Schülern und Lehrern und den Schülern untereinander sowie die schulische Lern- und Disziplinarkultur berücksichtigt werden.40 So vergisst der Polizist zu erwähnen, dass die möglicherweise im familiären Rahmen erfahrenen Kränkungen und Verletzungen in pädagogischen Kontexten durch Demütigungen und Erniedrigungen fortgeführt und verstärkt werden. Erst aufgrund dieses Zusammenspiels korreliert die Gewalthäufigkeit auch mit der sozialen Lage der Schule: Gewaltdelikte kommen an Hauptschulen statistisch überproportional häufig vor, da diese Schülergruppe besonders stressbelastet ist und besonders verachtend behandelt wird.41
Trainingsraum
Feldtagebuch: Im Trainingsraum. Etwa vier bis fünf Schüler sammeln sich im Verlauf der 90-minütigen Doppelstunde an. „Wallah, ist ja wie im Knast hier“, scherzt einer von ihnen beim Hereinkommen. Fast alle wurden von der gleichen Lehrerin hergeschickt, nach eigenen Angaben wegen Reden und Lachen im Unterricht („Mir war halt langweilig.“). Ein anderer Schüler hat irgendwo ein Kabel durchgeschnitten. Später vergleichen die Schüler die Anzahl ihrer Suspendierungen und prahlen scherzhaft mit ihrer langen Liste. „Einen hatten wir gemeinsam, weißt Du noch?“, wird sich auf nostalgische Weise an frühere Verfehlungen erinnert.
Schon ein kurzer Blick hinter die Türen des Trainingsraums wirft Fragen nach dessen Sinnhaftigkeit auf, denen ich mit Blick auf die Konzipierung und die Umsetzung dieses schulischen Modells der Konfliktregulierung nachgehen werde. Doch was ist überhaupt ein Trainingsraum? In einem schulinternen Konzeptpapier aus dem Jahr 2010 heißt es: „Der Trainingsraum dient der Betreuung kurzfristig nicht beschulbarer SchülerInnen zur Sicherung einer angemessenen Arbeitsatmosphäre im Unterricht. Kurzfristig nicht beschulbar ist, wer nach Ermahnung mit Hinweis auf die Unterrichtsregeln keine Änderung im Verhalten zeigt.“ Hier zeigt sich bereits eine Diskrepanz zur in der Fachliteratur propagierten pädagogischen Ausrichtung des Trainingsraums, wonach dieser nicht als eine auf Zwang basierende Auslagerungsstätte für deviante Schüler verstanden wird, sondern als ein freiwilliges Angebot zur eigenverantwortlichen, von Lehrern unterstützten Selbstreflektion.42 Im Spektrum der verfügbaren schulischen Disziplinarmaßnahmen, lässt sich dieses pädagogische Instrument des temporären Unterrichtsausschlusses zwischen Ermahnungen und Strafen innerhalb des Unterrichts sowie dem temporären oder endgültigen Verweis von der Schule verorten. Zu den Strafgründen zählten an der Galilei-Schule: „Unpünktlichkeit (morgens und nach den Pausen)“; „Kein Arbeitsmaterial (inkl. Sportzeug)“; „Arbeitsverweigerung“; „Auffälliges Verhalten (brüllen, schimpfen, dissen, umherwandern etc.)“ und „Konflikte (zw. SchülerInnen, aber auch zw. LehrerIn und SchülerIn)“. Darüber hinaus wurden im Trainingsraum alle Schüler „gesammelt“, die aus diversen Gründen „im Haus herumschwirren“. Diese notdürftige Form der Verwahrung wurde jedoch nicht als offizieller Trainingsraumbesuch angerechnet. Die aufgezählten Strafgründe betrafen einen Großteil der Galilei-Schüler: Da Behinderungen des Unterrichts, Zuspätkommen und Arbeitsverweigerung sowie deviantes, provozierendes und aggressives Verhalten an der Tagesordnung waren, standen die Schüler beständig mit einem Bein im Trainingsraum. Die Anwendung dieses Disziplinarmodells wurde jedoch sehr unterschiedlich gehandhabt.
Dem ursprünglichen schulischen Konzept (siehe Grafik 1) zufolge arbeiten die Schüler im Trainingsraum an einem „Rückkehrplan“. Über ein Punktesystem können sie eine Löschung des Vermerks des Trainingsraumbesuchs erreichen, wenn sie sich vier Wochen lang an die im Rückkehrplan notierten Verbesserungsvorschläge gehalten haben. Besuche im Trainingsraum werden gezählt und ziehen, einer „Eskalationsskala“ folgend, verschiedene weitere Disziplinarmaßnahmen nach sich: Zunächst galt an der Galilei-Schule die Regel, dass ab dem dritten Besuch die Eltern informiert werden und die Schüler beim vierten, fünften und sechsten Besuch jeweils „sofort vom Unterricht suspendiert“ werden. Nach der dritten Schulsuspendierung war eine Wiederzulassung zum Unterricht erst nach einer Klassenkonferenz möglich. Während meiner Feldforschung im Schuljahr 2012/13 wurde das Trainingsraummodell schulintern überarbeitet. Da die Trainingsraumbesuche ein inflationäres Ausmaß angenommen hatten, wurde die „Eskalationsspirale“ etwas entschärft und das ohnehin wirkungslose Punktesystem abgeschafft. Künftig fand eine erste, mit einem Elterngespräch verbundene Suspendierung nach dem vierten Trainingsraumbesuch statt und die zweite Suspendierung erfolgte nun erst nach dem siebten Trainingsraumverweis. Schüler, die zu spät kamen oder keine Unterrichtsmaterialien bei sich hatten, wurden fortan nicht mehr in den Trainingsraum abgewiesen.
Bei der Umsetzung des Trainingsraumkonzeptes fielen mir auch weiterhin gravierende Probleme auf. Diese begannen mit der willkürlich anmutenden Bestrafungspraxis: Manchmal wurden Schüler für Kleinigkeiten verwiesen, während grobe Disziplinarverstöße, wie während der geschilderten Ethik-Stunde zur Gewaltprävention, ungeahndet blieben. Dabei spielten sich teilweise absurde Szenen ab: In einigen, von „Trash Talk“ bestimmten Stunden führten Lehrer penible Strichlisten über provokante Äußerungen einzelner Schüler, um sie dann beim dritten Strich „automatisch“ zu betrafen. Bei anderen Gelegenheiten verwiesen sich die Schüler selbst: „Ich geh dann mal Trainingsraum.“ In der Regel diente der Trainingsraum dazu, dem jeweiligen Lehrer unliebsame Schüler loszuwerden. Weitere Probleme ergaben sich bei der Art und Weise der Konfliktbearbeitung. Diese scheiterte häufig schon daran, dass der Trainingsraum nicht regelmäßig besetzt war. Bestrafte Schüler standen also mitunter vor verschlossenen Türen, woraufhin sie entweder in den regulären Unterricht zurückkehrten oder eine unverhoffte „Freistunde“ genossen. Im Trainingsraum selbst fanden im Regelfall pädagogische Gespräche mit den anwesenden Lehrern statt, teilweise wurden die „Rückkehrpläne“ aber auch still und kommentarlos ausgefüllt. Auf beide Formen werde ich noch exemplarisch eingehen. Manche Lehrer verweigerten jegliche Hilfestellung. Bemühten sie sich doch, erkundigten sie sich in der Regel zuerst nach dem persönlichen Verhältnis der Schüler zum jeweiligen Fachlehrer. Schüler unterliefen durch ironische Kommentare immer wieder den pädagogischen Impetus der büßenden Selbstläuterung – etwa indem sie auf die Frage nach dem Grund ihres Erscheinens antworteten: „Wir sind freiwillig hier. Trainingsraum macht Spaß.“ Während dieser Kommentar wohl eher ironisch gemeint war, wurden an vergleichbaren Schulen auch Trainingsräume beobachtet, die den Schülern tatsächlich Spaß machten oder einen Schutzraum boten, da Lehrer sie eigenmächtig als Gegengewicht zu einer repressiven schulischen Disziplinarkultur umdeuteten.43
Grafik 1: Das Trainingsraum-Modell
Folgende 3 Grundregeln gelten für unsere Schule:
1.Jeder Schüler, jede Schülerin hat das Recht ungestört zu lernen.
2.Jeder Lehrer, jede Lehrerin hat das Recht ungestört zu unterrichten.
3.Jeder/ jede muss die Rechte des Anderen beachten.
Quelle: Galilei-Schule
Beim Blick auf die „Rückkehrpläne“ deuten sich Konfliktlinien und Emotionen an, Kommunikationsprobleme und Gefühle von Wut und Aggressivität spielen dabei eine zentrale Rolle, wie sich an folgender Abschrift eines ausgefüllten Rückkehrplans zeigt.
Rückkehrplan
Was ist passiert?
Naja ich habe (ohne zu melden) reingeredet im Unterricht und wurde dafür ermahnt, jedoch wurde ich auf die Ansprache der Lehrerin ein wenig aggressiv und habe ihr meine Meinung gesagt.
Was hast du dabei gemacht?
Das was ich gesagt habe: (meine Meinung)
Was hättest du anders machen können?
Wie die Lehrer sagen, den Mund halten!
Welche Verbesserungsvorschläge für Dein Verhalten hast Du beim letzten Mal gemacht?
Ich habe lange durchgehalten eigentlich. Aber ich bin ein Typ, der lässt seine Gedanken auch wörtlich raus.
Wie möchtest du dein Verhalten wiedergutmachen?
Indem ich wieder versuche am Unterricht leise teilzunehmen.
Was möchtest du tun, wenn wieder so eine Situation auftritt?
Einfach am liebsten rausgehen und gegen die Wand boxen.
Bereits durch die Anlage des Fragebogens und die Formulierung der Fragen wird dem Schüler die Verantwortung für den Konflikt zugeschrieben. Besonders durch die mehrfache aktivische Verwendung des Tätigkeitsverbes „machen“ – es wird gefragt, was der Schüler „gemacht“ habe, wie er Dinge „anders machen“ und sein Verhalten „wieder gutmachen“ könne – wird an die individuelle Verantwortung des Schülers appelliert. Ludwig Pongratz beschreibt den Trainingsraum aufgrund dieser Betonung der Eigenverantwortung im Rekurs auf Foucault und Deleuze als ein „neoliberales Strafarrangement“ und versteht dieses als eine „Einführung in die Kontrollgesellschaft“.44 Die beschriebene Praxis des Trainingsraums kann als markantes Beispiel für die von Deleuze diagnostizierte „Krise aller Einschließungsmilieus“ verstanden werden.45 Modernen Institutionen wie der Schule gelingt es demnach trotz ständiger Reformbemühungen immer weniger Disziplinar- und Normalitätsstandards durchsetzen, indem sie gesellschaftliche Interessen mit Eigeninteressen verknüpfen, oft verwalten sie stattdessen nur noch ihre Agonie. Im Rückkehrplan wird zwar an die Eigenverantwortung und Einsicht des Schülers appelliert, doch dieser Appell ist letztlich eine Erpressung, denn bei Nichtausfüllen oder alternativen Konfliktbeschreibungen, drohen weitere, härtere Maßnahmen. Die Wirkungsweise des Trainingsraums ist demnach entpolitisierend und funktionalistisch, da strukturell bedingte Disziplinarprobleme weder wirklich besprochen noch ernsthaft an Lösungen gearbeitet wird, sondern die Probleme lediglich ausgelagert und verwaltet werden, um den Unterrichtsbetrieb aufrecht zu erhalten. Wut entsteht hier vor allem durch Ohnmachts- und Ungerechtigkeitsempfindungen, die sich aus dem Verhältnis zum sich in einer Machtposition befindlichen Lehrer ergeben, sowie durch den schulischen Zwang zum Selbstzwang, bei dem Schüler ihre Haltungen und Affekte unterdrücken müssen, um wieder am Unterricht teilnehmen zu können.
Im Zentrum des sich im hier zitierten Rückkehrplan andeutenden Konflikts steht ein Problem um die Sprecherschaft, der Frust des Schülers scheint wesentlich dadurch bedingt, dass er seine kritische Haltung gegenüber der Lehrerin nicht auf eine legitime Weise artikulieren kann. Die epistemische Gewalt besteht darin, dass die legitimen Artikulationsmöglichkeiten systematisch in einer Weise beschränkt werden, dass die Konflikterfahrungen und Perspektiven der Schüler ausgeschlossen oder zumindest stark beschränkt werden.46 Der Rückkehrplan war angesichts dieser Limitierungen auf eine raffiniert ehrliche Weise ausgefüllt, der Schüler wahrte die disziplinarische Form und macht dennoch unmissverständlich deutlich, was er von der Lehrerin hielt. Die an der einseitig beim Schüler ansetzenden Problemdiagnose und dem Desinteresse an ihren Sichtweisen deutlich werdende machtbedingte Unfairness bei der Konfliktregulierung führte zu Wut und Aggressivität. So meinte ein bereits oftmals in den Trainingsraum verwiesener Schüler zu mir auf den Pausenhof: „Wenn man sagt, das liegt nicht alles an den Schülern, sondern auch an den Lehrern, dann fangen die an zu lachen. Die sagen einfach ‚stimmt nicht‘. Die bestrafen uns oder sagen wir sind Dreck.“
Pädagogische Gespräche eignen sich zwar prinzipiell besser als Formblätter, um mit Konflikten umzugehen, da auf Hintergründe und Verlauf von Streitigkeiten, auf Motive und Anliegen der Beteiligten stärker eingegangen werden kann. Doch führte die dem Trainingsraum zugrundeliegende disziplinarische Logik tendenziell zu asymmetrischen Gesprächsverläufen:
Feldtagebuch: Trainingsraum – Frau Mitroglou und Amira, eine Auszubildende, haben Aufsicht. Zwei Schüler schauen verschmitzt um die Ecke: „Huhu, die Polizei ist hier“, meint der eine. Die Lehrerin ruft sie herein. „Wollten nur mal gucken“, ergänzt der andere. Die beiden Jungen verschwinden wieder. Die Lehrerin läuft ihnen hinterher und bringt sie in den Trainingsraum. „Was ist passiert?“ „Nichts.“ „Nur gequatscht.“ Die Lehrerin guckt auf ihre Liste und erwähnt eine Suspendierung. Der Schüler reagiert geschockt und erklärt, dass es noch nicht das siebte Mal gewesen ist. Die Lehrerin schaut noch einmal genauer nach und bemerkt, dass sie den Schüler mit einem gleichnamigen anderen Schüler verwechselt hat, der längst nicht mehr an der Schule ist. „So viele Husseins. Du hast Glück – erst das fünfte Mal. Keine Suspendierung, nur ein Brief an die Eltern.“ Auf den Schüler wirkt dies keineswegs beruhigend: „Noch ein Brief, habe doch erst gestern einen bekommen. Wenn ich noch einen Brief nach Hause bekomme, dann raste ich aus.“ „Was willst Du dann machen?“. „Ich schmeiße den Tisch auf den Lehrer!“, droht der Schüler zunächst, doch fügt im nächsten Moment mit einem Lächeln hinzu: „Nur Spaß!“. „Wie wird ‚gequatscht‘ geschrieben?“, fragt derweil der andere Schüler. „Was war denn die anderen Male passiert?“, erkundigt sich die Lehrerin nach den früheren Trainingsraumbesuchen. „Weiß nicht mehr, war zu viel. Hab gestört.“ Während die Schüler ihren Rückkehrplan ausfüllen, entwickelt sich folgendes Gespräch:
Frau Mitroglou: „Willst Du eigentlich was lernen?“
Schüler: „Ich weiß nicht. Ich wollte nur gucken, wie die Schule hier ist. Jetzt weiß ich, dass sie scheiße ist. Die Lehrer haben keinen Respekt. Diese Hexe hat mich ermahnt, obwohl ich gar nicht gequatscht habe.“
Frau Mitroglou: „Hast Du denn ein Ziel?“
Schüler: „Hartz IV. Dann muss ich keinen Job machen und kann eine Rauchen.“
Frau Mitroglou: „Dann wirst Du aber kein Geld mehr für Zigaretten übrighaben.“
Schüler: „Kein Problem, dann klau ich von meiner Mutter.“
Amira, die selbst vor kurzem noch an diese Schule ging, erzählt, dass sie mit der älteren Schwester des Schülers befreundet ist und er sich zu Hause gegenüber seinen Eltern respektvoll verhält.
Schüler: „Oder ich mache 100 Kinder, lass sie verhungern und klau das Kindergeld.“
Frau Mitroglou: „Du musst Dir überlegen, ob das wirklich so eine tolle Zukunftsaussicht ist.“
Schüler: „Ihr wisst doch gar nichts, ihr könnt auch nicht in die Zukunft sehen. Wenn wir in ein paar Tagen untergehen, dann haben wir alle umsonst Schule gemacht.“
Frau Mitroglou: „Du bist nicht der Erste, der hier mit Hartz IV kommt.“
Schüler: „Aber mit den 100 Kindern bin ich der Erste!“
Frau Mitroglou: „Vielleicht willst Du später eine echte Familie mit echten Kindern. Zeig mal Deinen Zettel!“
Lehrerin liest vor: „Was hast Du falsch gemacht? ‚Geredet.‘ Wie kannst Du es besser machen? ‚Nicht mehr reden.‘ Dann fragt sie: „Ist das ernst gemeint?“
Der Schüler antwortet mit einem verschmitzten Lächeln: „Ja, ist ernst gemeint“.
Der zweite Schüler krümmt sich vor Lachen.
Schüler: „Die Wahrheit will ich sowieso nicht schreiben, sonst denkt sie, ich bin ein Lügner. Die Lehrer sind so dumm. Wie konnten die auf ein Gymnasium gehen. Ich will, dass sie Angst vor mir hat.“
Frau Mitroglou: „Glaubst Du, die Lehrer sind dazu da, Dich zu drangsalieren?“
Schüler: „Ja, ich will was lernen, aber die Lehrer lassen mich nicht.“
Frau Mitroglou: „Dann musst Du in eine andere Schule gehen.“
Schüler: „Habe ich schon versucht, aber meine Mutter sagt ‚Sei gut. Hab gutes Zeugnis.‘ Ich habe aber kein gutes Zeugnis. Ich habe das Gefühl, immer bin ich schuld. Ich glaube, die Lehrerin ist ausländerfeindlich.“
Frau Mitroglou: „Warum tust Du jetzt so, als ob Du ein Opfer wärst. Du kannst an eine andere Schule gehen.“
Schüler: „Ist eh das Gleiche, Menschen sind Menschen. Egal ob Lehrer oder Polizisten. Ich will jetzt Essen!“
Der Schüler holt sein Essen heraus und grinst die Lehrerin frech an.
Die Lehrerin beginnt auf einem separaten Blatt einen Brief zu schreiben.
Der Schüler ahnt, dass dies nichts Gutes bedeutet: „Was!? Schreiben Sie jetzt einen Brief?“ Er versucht, sein Verhalten nachträglich zu relativieren: „In Amerika machen die Schüler Amokläufe. In Palästina werden sie erschossen. Und ich darf hier nicht mal mein Brot essen? Das finde ich richtig scheiße!“
Eine schwierige Gesprächssituation – zu der Schüler, Lehrer und indirekt auch die Gesellschaft auf ihre Weise beitragen. Einer der Schüler tritt provokativ auf und fühlt sich gleichzeitig nicht ernst genommen. Seine Bemerkung, dass niemand an seiner Version der „Wahrheit“ interessiert sei, zeigt ein moralisches Gespür dafür, dass Wahrheitsansprüche stark von Machtverhältnissen und sozialem Status geprägt werden.47 Seine Drohungen wirken angesichts seines Auftretens und seines Strafregisters keineswegs harmlos. Womöglich macht er der Lehrerin tatsächlich Angst. Auf der anderen Seite stammen alle Verweise dieses Schülers in den Trainingsraum von einer einzigen Lehrerin, was Fragen nach deren Beitrag zum Disziplinarkonflikt aufkommen lässt. Im Trainingsraum wird diese Frage jedoch nicht gestellt, da die Gesprächsleitung durch eine Lehrerin stattfindet, nach deren Konfliktverständnis, die Schuld zunächst beim Schüler liegt. Die soziale Lage des Schülers und seine mangelnden beruflichen Perspektiven spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. „Hartz IV“ schwebt wie eine dunkle Wolke über diesem Gespräch. Die mahnenden Zukunftsappelle der Lehrerin verfehlen auch deshalb ihre Wirkung, da die Gesellschaft den Schülern keine Zukunftsperspektive bietet.
Die sich am Gesprächsende artikulierende Wut und Entrüstung des Schülers werden auch durch unterschiedliche Auffassungen der Gesprächssituation hervorgerufen. Im Trainingsraumgespräch dokumentiert sich der Versuch eines Schülers, eine schulkritische Meinung zu artikulieren. Er redet sich unbemerkt in die Bredouille, während sein vorsichtiger agierender Mitschüler nicht auf die Bemerkungen von Frau Mitroglou eingeht. Die Lehrerin suggeriert mit ihren Fragen zwar ein offenes Ohr für die Perspektive des Schülers, führt aber letztlich ein Verhör. Nachdem sie genug belastende Indizien gesammelt hat, beginnt sie diese niederzuschreiben. Dabei handelt es sich nicht um den eingangs angedrohten Brief an die Eltern, diese Möglichkeit hält sich die Lehrerin noch offen. Ihre Notizen zur anti-schulischen und anti-sozialen Einstellung des Schülers dienen zunächst als Wegmarke von zwei weiterführenden Disziplinarprozessen, einem bereits hinter dem Rücken des Schülers in die Wege geleiteten dauerhaften Schulverweis sowie dessen Überweisung zu psychologischen Tests an die Charité. Gemäß den pädagogischen Vorgaben an die Trainingsraumleitung agiert sie dabei relativ ruhig und weitgehend vorwurfsfrei, durch die gezielte Zurücknahme ihrer Emotionen vermittelt sie das Bild eines vernunftgeleitet ablaufenden Prozesses.48
Während die Vorbereitung des Schulverweises in der vorgezeichneten Eskalationslogik bereits angelegt ist, überrascht die parallel stattfindende Überweisung in ein Krankenhaus. Zwar fehlt mir Hintergrundwissen zum Schüler, da er aus einer der von mir nicht beforschten neunten Klassen stammte, doch drängt sich zumindest der Verdacht auf, dass auf diesem Wege ein sozial bedingtes deviantes Verhalten pathologisiert wird. Aggressiv auftretenden männlichen Hauptschülern wird auffallend häufig eine „Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung“ (ADHS) attestiert, die wiederum mit Psychopharmaka behandelt wird, welche die Schüler „ruhigstellen“ sollen aber auch gravierende Nebenwirkungen haben können. Als beispielsweise ein Schüler im Unterricht plötzlich wirr zu lallen anfing, meinte ein Lehrer zu mir, dessen Medikamente seien „grad falsch eingestellt“. Zu den ADHS-Leitsymptomen zählen „Unaufmerksamkeit“, „Überaktivität“ und „Impulsivität“, wobei die Krankheitszuschreibung häufig durch eine sich selbst bestätigende „Diagnose-Schleife“ von Lehrern, Eltern und Ärzten begründet wird.49 Die Ausweitung von ADHS-Diagnosen wurde durch das Profitinteresse der Pharmaindustrie gefördert und geht mit einer Psychologisierung von sozialen und erzieherischen Problemen einher.50 Bei der hier geschilderten Szene ergibt sich darüber hinaus der Eindruck, der Schüler wirkte auf die Lehrerin auch deshalb suspekt, weil er die schulischen Missstände mit deutlichen Worten ansprach – „Lehrer haben keinen Respekt“, diese Schule ist „scheiße“ und andere Schulen sind auch nicht besser.
Verortet man den schulischen Umgang mit Disziplinarkonflikten in einem größeren gesellschaftlichen Kontext, stößt man in der sozialwissenschaftlichen Literatur auf eine Doppelstruktur des gegenwärtigen neoliberalen Diskurses, bei dem einerseits eine Deregulierung von Märkten und Wettbewerben und andererseits eine „Law-and-Order“-Politik gefordert wird, bei dem also gleichzeitig „Märkte liberalisiert und Strafregime verschärft“ werden.51 Ein individualistisches Verständnis von Erfolg und Misserfolg führt bei den Gewinnern zu einer „Winner Takes-it-all“-Dynamik und zu „Null-Toleranz“-Politiken gegenüber den Verlierern, da diese für ihr Scheitern selbst verantwortlich gemacht werden. Vor allem am unteren Ende des hierarchisierten Bildungswesens führt die neoliberale Umstrukturierung zu einer Renaissance von Ausschluss- und Strafmechanismen.52 Obwohl Devianz häufig eine direkte oder indirekte Antwort auf gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse und schulische Lernbedingungen ist, wird sie als individuelle Normüberschreitung und mangelnde Eigenverantwortung wahrgenommen und mit Strafmaßnahmen beantwortet, die Hauptschüler weiter ins Abseits stellen. Dieses Missverstehen bringt noch mehr Wut und Aggressivität hervor, es kommt zu einem sich selbst verstärkenden Exklusionsmechanismus aus Benachteiligung, Devianz und Bestrafungen.53
SCHLUSS: DAS POLITISCHE DER WUT
Ein entpolitisierender Blick auf politische Gefühle läuft Gefahr, deren soziale Ursachen auszublenden. Emotionen wie Wut sind eng mit Machtbeziehungen verbunden – diese begründen die negative Selektion und Stigmatisierung, mit der Hauptschüler fortlaufend konfrontiert werden, sie liegen dem Rassismus und Klassismus zugrunde, welchen Galilei-Lehrer im Unterricht reproduzieren, und sie prägen die hierarchische Anwendung von pädagogischen Instrumenten wie dem Stuhlkreis, dem Unterrichtsgespräch und dem Trainingsraum. Eine grundlegenden Fragen ausweichende Pädagogik ist aus dieser Sichtweise auch keineswegs unpolitisch, ihre strukturellen Bedingungen und gesellschaftlichen Effekte werden nur nicht als solche erkannt. Stattdessen wird den wütend agierenden Schülern die Schuld an schulischen Disziplinarkonflikten und die Verantwortung für deren Beleilegung auferlegt. Die Konstruktion des „Problemschülers“ im schulischen Disziplinarapparat ist auf eine besondere Weise benachteiligend, denn mit den pädagogischen Maßnahmen, durch die den Hauptschülern die Verantwortung zugeschrieben wird, werden sie im gleichen Atemzug als verantwortungsvolle und artikulationsfähige Akteure entmündigt. Die der schulischen Pädagogik zugrundeliegende Spannung zwischen Zwang und Autonomie wird zugunsten einer einseitigen Betonung von Bevormundung aufgelöst, ein neu gelagertes Spannungsverhältnis zwischen Repression und Responsibilisierung deutet sich an.54
In der Regel wird Jugendlichen mit höherer Bildung ein stärkeres Interesse an politischen Fragen zugesprochen, während Hauptschüler eher mit Gewalt und Aggressivität in Verbindung gebracht werden. Doch löst man sich von einem engen, funktionalistischen Politikbegriff und betrachtet die an der Schule vorherrschenden Anerkennungsverhältnisse und die Umgangsweise mit Konflikten selbst als Formen des Politischen, wird die Perspektive erweitert und gleichsam stärker auf den Alltag fokussiert.55 Wut primär als Disziplinarproblem zu betrachten, das beseitigt oder zumindest eingehegt werden muss, ist bereits eine voraussetzungsvolle und folgenreiche Strategie. Wer einmal einen radikalen Schulstreik in Brasilien oder eine massive Schülerdemonstration in Argentinien beobachtet hat, wird deutlich sehen, dass es durchaus auch andere Möglichkeiten der Reaktion auf schulische Konflikte gibt. Die hierzulande dominante pädagogische Einhegung sozialer Konflikte erfolgt vor allem mittels Strategien der Externalisierung und Entpersonalisierung, indem die Konfliktbearbeitung auf pädagogische Gesprächs- und Disziplinarverfahren verlagert wird, in denen scheinbar neutral auftretende Lehrer kodifizierte Konfliktlösungsverfahren anwenden.56 Eine solche Vorgehensweise ermöglicht zwar kurzfristig die Aufrechterhaltung des Unterrichtsbetriebs, doch die Gründe für die Konflikte werden dadurch nicht bearbeitet, die Wut wird vielmehr noch befeuert, sie tritt dabei zunehmend in einem antagonistischen und personalisierten, häufig auf die Lehrer und ihre Strafpraktiken selbst gerichteten Modus auf.
Wird solche Wut jedoch zu sehr als persönliches Ressentiment verstanden und der ethnografische Blick zu einseitig auf die damit verbundene Intensität der Gefühlsartikulation gerichtet, gerät die Reflexivität und politische Potenzialität dieses Gefühls aus dem Visier. In „würdevoller Wut“ können sich kritische Einsichten und ethische Maßstäbe offenbaren, sie kann Energie verleihen und Solidarität provozieren, Widerstand motivieren und Situationen verändern, sozialen Wandel anregen oder gar Revolutionen befeuern.57 Die wütenden Reaktionen der Schüler auf Exklusionserfahrungen zeugten von deren Moralität und Sensibilität, ihr Umgang mit pädagogischen Maßnahmen belegten deren Eigensinnigkeit und Selbstbehauptungswillen. Die Wut der Schüler war weder unvernünftig noch unproduktiv, ihre Aggressionen weder blind noch taub. Im Mittelalter galt die Wut einst noch als kodifizierter Ausdruck des Souveräns, doch mit ihrer Demokratisierung ging ein Respektabilitätsverlust einher.58 Die gegenwärtig dominierende negative gesellschaftliche Rahmung des Gefühls als irrational hat vermutlich vor allem mit Ängsten vor Kontrollverlust und einer wahrgenommenen Bedrohung der herrschenden Ordnung zu tun. Die Wut wieder mehr zu respektieren, würde auch bedeuten, sich den Widersprüchen und Konflikten unserer Gesellschaft zu stellen.
1Vgl. Tavris: Wut; Zur Unterscheidung zwischen Wut, Hass und Zorn vgl. Ben-Ze’ev: Anger, Hate and Rage.
2Vgl. Thurman: Anger.
3Vgl. Tavris: Wut.
4Vgl. Solomon: On Emotions as Judgments; Solomon: True to our Feelings.
5Vgl. Spivak: Can the Subaltern Speak?; Morris (Hg.): Can the Subaltern Speak; Spivak: Scattered Speculations on the Subaltern and the Popular.
6Vgl. Rodríguez/Steyerl (Hg.): Spricht die Subalterne deutsch?
7Vgl. Marchart: Die politische Differenz; Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate.
8Vgl. Adam/Vonderau (Hg.): Formationen des Politischen.
9Landweer: Ist Sich-gedemütigt-Fühlen ein Rechtsgefühl?
10Vgl. Bourdieu: Méditations pascaliennes, S. 235-295; Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie, S. 175-211; Schmidt/Woltersdorff (Hg.): Symbolische Gewalt.
11Vgl. Bourdieu: Die konservative Schule.
12Vgl. (Stand: 1. Juni 2018).
13Vgl. Wolfgang Bauer. Eine Klasse für Sich, In: Focus Magazin 31/2009; Martin Spiewak: Was Eltern wollen, In: ZEIT 06/2010.
14„Schon Erstklässler wissen, was sie später auf keinen Fall sein möchten: ein ‚Honk‘. Der Begriff ist ein gängiges Schimpfwort auf Berliner Pausenhöfen. Er steht für ‚Hauptschüler ohne nennenswerte Kenntnisse‘. Gerade eingeschult, zeigen sich bereits Sechsjährige mit den Hierarchien des deutschen Schulsystems vertraut.“
15Vgl. Lindner: Zwischen Akademia und Medienwelt.
16Vgl. Maren Hoffmann: Karriere? Mir doch wurscht!, In: SPIEGEL-Karriere, 19.04.2011, (Stand: 1. Juni 2018).
17Vgl. Gomolla/Radtke: Institutionelle Diskriminierung.
18Vgl. Solga/Dombrowski: Soziale Ungleichheit in schulischer und außerschulischer Bildung. Zur schulischen Diskriminierung von Roma vgl. Fürstenau/Redecker: „Hier sind die Leute schon gewöhnt an Roma“.
19Vgl. Amir-Moazami: Dämonisierung und Einverleibung; Weidner: Our Rage at Islam; Mecheril: Einführung in die Migrationspädagogik. Zum konfliktreichen Verhältnis von Schule und Islam vgl. Schiffauer: Schule, Moschee, Elternhaus. Zu Rassismus an Berliner Schulen vgl. Karakayali/zur Nieden: Rassismus und Klassen-Raum; Kollender: „Die sind nicht unbedingt auf Schule orientiert“.
20Vgl. Weinbach: Kultur der Respektlosigkeit; Kemper: Klassismus im Bildungssystem.
21Vgl. Neckel: Blanker Neid, blinde Wut?; Rodríguez: Digna Rabia – Dignified Rage.
22Vgl. Krämer: Sprache als Gewalt oder: Warum verletzen Worte?
23Vgl. Austin: How to do things with words.
24Vgl. Butler: Hass spricht.
25Vgl. Gehring: Über die Körperkraft der Sprache.
26Vgl. Markert: Ausgrenzung in Schulklassen.
27Vgl. de Boer: Klassenrat als interaktive Praxis.
28Vgl. Achino-Loeb (Hg.) Silence.
29Vgl. Wellgraf: Hauptschüler, S. 277; Schiffauer/Baumann/Kastoryano/Vertovec (Hg.): Staat – Schule – Ethnizität.
30Vgl. Abu-Lughod: Do Muslim Women Need Saving?
31Vgl. Crouch: Postdemokratie.
32Vgl. Rommelspacher: Dominanzkultur; Attia/Köbsell/Prasad (Hg.): Dominanzkultur reloaded.
33Zum Zusammenhang von Disziplinar- und Biomacht vgl. Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung; Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 134ff.
34Vgl. Burmeister: Angst im Präventionsstaat.
35Vgl. Bröckling: Gute Hirten führen sanft, S. 73-112.
36Vgl. Krasmann: Gouvernementalität der Oberfläche.
37Vgl. Bröckling: Gute Hirten führen sanft, S. 95.
38Vgl. Helsper: Schulische Gewaltforschung als Lückentext.
39Vgl. Sutterlüty: Gewaltkarrieren.
40Vgl. Büttner: Wut im Bauch.
41Vgl. Klewin/Tillmann: Gewaltformen in der Schule, S. 195f.
42Vgl. Bründel/Simon: Die Trainingsraum-Methode, S. 142f.
43Vgl. Hertel: Unterlaufen und Kontern statt „Überwachen und Strafen“?
44Vgl. Pongratz: Einstimmung in die Kontrollgesellschaft.
45Vgl. Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, S. 255.
46Vgl. Fricker: Epistemic Oppression and Epistemic Privilege; Dotson: Conceptualizing Epistemic Oppression.
47Vgl. Foucault: Dispositive der Macht; Shapin: The Social History of Truth.
48Vgl. Pongratz: Einstimmung in die Kontrollgesellschaft, S. 241f.
49Vgl. Becker: Abwesenheit und Störung als Ausdruck von Unaufmerksamkeit.
50Vgl. Frances: Normal.
51Vgl. Klimke: Die Politische Ökonomie der Sicherheit, S. 139, Wacquant: Bestrafen der Armen; Wacquant: Der neoliberale Leviathan.
52Vgl. Heisig: Das Ende der Geduld; Weidner/Kilb (Hg.): Konfrontative Pädagogik; Bueb: Lob der Disziplin. Für eine Kritik des gegenwärtigen deutschen Strafregimes vgl. Amos/Cremer-Schäfer (Hg.): Saubere Schulen; Kury/Scherr (Hg.): Zur (Nicht-)Wirkung von Sanktionen.
53Vgl. Matt: Schulbiographien, Delinquenz und Ausschluss.
54Vgl. Helsper: Pädagogisches Handeln in den Antinomien der Moderne.
55Vgl. Helsper u.a.: Unpolitische Jugend?; Marchart: Die politische Differenz.
56Vgl. Radtke: Disziplinieren.
57Vgl. Rodriguez: Digna Rabia – Dignified Rage; Foessel: Les raisons de la colère.
58Vgl. Boucheron: L’émotion souveraine.