Ruinierte Schule. Atmosphäre der Langeweile
„Dem muss aber langweilig gewesen sein“, mit Bemerkungen solcher Art kommentierten Schüler mitunter deviante Verhaltensweisen ihrer Mitschüler, die von „Herumblödeln“ bis zur scheinbar grundlosen Zerstörung der Schuleinrichtung reichten. Gelegentlich fügten sie noch ein besonders akzentuiertes „sehr langweilig“ hinzu, um das beträchtliche Ausmaß des Normbruchs aus der negativen Wahrnehmung des Schulbetriebes heraus verständlich zu machen. Langeweile ist ein schwer fassbares und doch weit verbreitetes Phänomen, zum einen eine sich der Beschreibung entziehende „Erfahrung ohne Eigenschaften“1, zum anderen ein „delikates Monster“2, das fast alles verschlingt und gleichmacht. Reflexive Bemerkungen und Zwischenrufe, in denen Langeweile im Sinne eines emotionalen Sprechakts gleichsam artikuliert und evoziert wurde, waren an der Galilei-Schule allgegenwärtig, die Zuschreibung „langweilig“ wurde dabei für verschiedenste Situationen und Zustände gebraucht.3 Diese inflationäre Verwendung verweist auf einen weiten Begriff der Langeweile als Erfahrung einer allgemeinen Reizarmut und Anregungslosigkeit, der ich in diesem Kapitel am Beispiel der räumlichen Verwahrlosung der schulischen Infrastruktur und der zeitlichen Entleerung des Schulalltags nachgehen werde.
Die Langeweile hatte bereits eine lebendige, vielgestaltige Geschichte als sie um 1800 mit der Aufklärung zu einem begrifflichen Markenzeichen moderner Subjektivität wurde.4 Die westlich-moderne Form der Langeweile hatte einen Vorläufer in der höfischen Kultur des 17. Jahrhunderts, griff auf die sich herausbildende bürgerliche Kultur des 18. und 19. Jahrhunderts über und verbreitete sich im 19. und 20. Jahrhundert auch in proletarischen Kreisen, bevor sie an der Schwelle zum 21. Jahrhundert zu einer Art Grundbefindlichkeit des gesellschaftlichen Unbehagens in der Postmoderne avancierte.5 Trotz dieser gesellschaftsübergreifenden Relevanz variieren Erfahrungen und Zuschreibungen von Langeweile je nach sozialräumlicher Positionierung. Bestimmte Zeitphasen im Lebensverlauf, wie die Jugend und das Alter, gelten als besondere Blütephasen der Langeweile, die sich zudem in bestimmten räumlich-institutionellen Arrangements, wie der Schule oder dem Gefängnis, besonders gerne einnistet.6 Langeweile wird auf unterschiedliche Weisen bewertet, während sie in manchen Kreativmilieus als Quelle möglicher Inspiration positiv konnotiert ist, beklagen Hauptschüler eher einen Überfluss an Langeweile.7 Und während unterbürgerlichen Schichten in der Regel nur das Erleben einfacher oder situativer Langeweile zugestanden wird, nimmt man in bürgerlichen und elitären Kreisen gerne die distinguierende Erfahrung einer tiefen oder existenziellen Langeweile für sich in Anspruch.8 Wer Situationen der Langeweile ethnografisch beschreiben will, muss folglich den im jeweiligen Untersuchungsfeld dominierenden Erfahrungs- und Zuschreibungsmodus herausarbeiten und diesen in gesellschaftliche Machtverhältnisse einbetten.
Langeweile ist weder eine „klassische“ Emotion wie Liebe, Wut oder Eifersucht noch ein Affekt im Sinne einer sprachlich und sozial noch weniger eindeutig klassifizierten Erfahrung, sondern eher eine negative Stimmung oder ein atmosphärisches Unbehagen. Im Folgenden greife ich auf den Atmosphärenbegriff zurück, der in der neueren deutschen Phänomenologie von Philosophen wie Hermann Schmitz und Gernot Böhme entwickelt und seitdem fächerübergreifend diskutiert wurde.9 Schmitz wendete sich seit den 1960er Jahren den in ihrer Wirkmacht oft unbeachteten Bereichen der Lebenswelt zu und schlug ein begriffliches Instrumentarium vor, um die Räumlichkeit und Leiblichkeit von Gefühlen herauszustellen.10 Er begreift den Leib als spürend und Gefühle als ein leibliches Betroffensein sowie als räumlich „ergossene Atmosphären“.11 Daran anschließend hat in den letzten Jahren vor allem der Philosoph Gernot Böhme zum weiteren Verständnis von Atmosphären beigetragen. Der Begriff der Atmosphäre dient ihm zunächst zu einer Ausdehnung des Begriffs des Ästhetischen über die Sphäre der Kunst hinaus auf Alltagspraktiken und darüber hinaus als Grundbegriff für eine systematische Theorie sinnlicher Erkenntnis. Böhme weist darauf hin, dass Atmosphären vor allem über Räume und Dinge in Räumen wahrgenommen werden und spricht deshalb von „gestimmten Räumen“.12 Bei Schmitz und Böhme wird jedoch tendenziell der Eindruck erweckt, Gefühle und Atmosphären hätten einen objektiven Charakter, als seien sie unabhängig von Akteuren und sozialen Strukturen vorhanden. Um ihren phänomenologischen Ansatz in Richtung einer macht- und ungleichheitssensiblen Analyse schulischer Langeweile zu öffnen, ließe sich praxistheoretisch ergänzen, dass sich Raumgefühle nur mittels räumlich und zeitlich situierter sowie kulturell kodierter Aneignungspraktiken herstellen und sie auf diese Weise mit Interpretationsschemata und Handlungsroutinen verknüpft sind.13 Die affektive Qualität von schulischen Umgebungen und Situationen entsteht im Zusammenspiel sozialräumlicher Konstellationen mit kulturell kodierten subjektiven Wahrnehmungsweisen. Atmosphären sind folglich keine naturgegebenen, sondern kontextuelle Phänomene, deren Untersuchung den Blick für die historischen, kulturellen, materiellen und sozialen Dimensionen der Herstellung von Gefühlsräumen eröffnet. Um deren Beitrag in der Ausgestaltung der Affektivität des Sozialen herauszustellen, ließe sich mit Ben Anderson auch von „affektiven Atmosphären“14 sprechen.
Um sich der schulischen Atmosphäre der Langeweile empirisch anzunähern, fokussiere ich mich auf deren räumliche und zeitliche Dimensionen. Diese heuristische Unterscheidung führt mich zunächst zur Analyse sozialräumlicher Transformationsprozesse und Wahrnehmungsweisen und anschließend zu einer Rekonstruktion des schulischen Zeitmanagements sowie zur Frage nach dem übergreifenden zeitlichen Horizont des Schulalltags. Die Untersuchung des Schulraums verbinde ich mit Diskussionen um urbane Infrastrukturen und postkoloniale Formen der Ruinierung, die Darstellung des schulischen Zeitregimes mit sozialphilosophischen Reflektionen zu Entfremdung. Diese Neujustierung der Analyse von Atmosphären als eine Kritik gesellschaftlicher Machtverhältnisse macht es notwendig, Raum und Zeit als sozial konstituiert zu begreifen. Henri Lefèbvre folgend, verstehe ich Raum weder als einen neutralen physischen Container noch als eine rein subjektive Vorstellung, sondern verfolge am Beispiel der Galilei-Schule Prozesse der Produktion von Raum unter anderem anhand von ermöglichten oder verhinderten Aneignungspraktiken.15 Gebäude erscheinen aus diesem Blickwinkel nicht als statische, endgültig fixierte bauliche Strukturen, sondern als sich kontinuierlich transformierende Gebilde, deren Zustand und Bedeutung sich wandelt – in unserem Fall zu einem als entfremdet wahrgenommenen Raum.16 Schularchitektur ist demnach ein gesellschaftliches Produkt und gleichzeitig ein Medium des Sozialen. Analog dazu verstehe ich Zeit als eine soziale Institution sowie als ein zentrales Element der Organisation moderner Gesellschaften. Zeitauffassungen sind historisch wandelbar, kulturell verschieden und selbst innerhalb einer Gesellschaft milieubedingt unterschiedlich ausgeprägt. Mit Blick auf die Langeweile an der Galilei-Schule skizziere ich durch ein spezifisches Zeitregime hervorgebrachte und dieses wiederum hervorbringende Zeitpraktiken von Lehrern und Schülern. Als langweilig empfundene Räume und Zeiten sind demnach nicht naturgegeben, sie werden hier vielmehr als Artikulationsformen gesellschaftlicher Widersprüche betrachtet.
RUINIERTE INFRASTRUKTUR:
DER ABSTIEG EINER SCHULE
Obwohl von Schülern und Lehrern meist nur beiläufig registriert, prägen Architekturen und andere räumliche Infrastrukturen die an einer Schule vorherrschende Atmosphäre.17 Im Fall der Galilei-Schule zeigte sich an manchen Stellen noch der Glanz vergangener Tage, etwa in der imposanten und überdimensioniert erscheinenden Aula, in welche die gesamte Schülerschaft hineinpasste. Doch auffälliger waren die Zeichen des Zerfalls, die ich anhand des Schulgebäudes, des Schulhofs und eines Klassenzimmers nachzeichnen werde. Schulgebäude tragen die Spuren ihrer Vergangenheit in die Gegenwart.18 Erst im schularchitektonischen Rückblick wird die Historizität von Atmosphären kenntlich, die Art und Weise wie sich diese herausbilden und im Zeitverlauf transformieren.
Geschichte der Galilei-Schule
Zur feierlichen Eröffnung des Schulgebäudes der heutigen Galilei-Schule wehte auf dem Dach sowohl die preußische Landesfahne als auch die schwarz-rot-goldene Fahne der Weimarer Republik.19 Jener 19. Mai 1929 war ein stadtpolitisches Ereignis ersten Ranges, denn der erste Neubau einer höheren Schule in Berlin seit 30 Jahren galt zugleich als „modernste und schönste Schule Deutschlands“20. Ansonsten waren es eher unruhige Zeiten – die kommende Weltwirtschaftskrise zeichnete sich bereits ab, Berlin hatte unter einem harten Winter mit minus 25 Grad gelitten und in Neukölln hatte es kurz zuvor am 1. Mai bei Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und KPD-Anhängern 33 Tote gegeben.
Das neu errichtete Schulgebäude war geprägt vom Zeitgeist der Weimarer Republik, es setzte sich architektonisch sowohl von der preußischen Schulkaserne als auch von radikalen Reformbestrebungen ab. Die meisten Berliner Schulgebäude jener Zeit stammten aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, der sogenannten Gründerzeit, in der vorwiegend räumlich an der Kaserne und am Kloster orientierte Korridorschulen entstanden waren.21 Das neue Schulgebäude folgte zwar dem Grundprinzip der an Fluren aufgereihten Klassenzimmer, war aber auch durch Einflüsse der „Neuen Sachlichkeit“ geprägt und mit seinen großen Fenstern und breiten Treppen deutlich heller und großzügiger gestaltet. Als innovativ galten vor allem die zahlreichen Räume für manuelle, künstlerische und sportliche Tätigkeiten: Werk- und Experimentierräume, zwei von der Firma Agfa eingerichtete Dunkelkammern für fotografische Arbeiten, eine Rundfunkanlage für den Fremdsprachenunterricht, eine Turnhalle mit Duschräumen und Toiletten, die „denen eines vornehmen Hotels“22 entsprachen, eine Aula für 600 Personen und schließlich als Besonderheit eine Sternenwarte im Dachbereich. Die Schulraumgestaltung unterschied sich aber auch deutlich von der zur gleichen Zeit ebenfalls in Neukölln vom Reformpädagogen Fritz Karsen geplanten Dammwegschule, einer Art Pavillonschule, die aufgrund politischer Bedenken und finanzieller Engpässe nie fertiggestellt wurde. Auch in der Klassenraumgestaltung wurde eine Zwischenposition gewählt, statt den vorher üblichen Schulbänken saßen die Schüler fortan an Zweiertischen, die aber weiterhin frontal ausgerichtet waren. Ein Ordnungsprinzip, das auch in der bundesrepublikanischen Nachkriegsschule aufrechterhalten wurde und an der Galilei-Schule bis heute vorherrscht.
Berlin-Neukölln hatte sich bis in die 1920er Jahre zu einer vorstädtischen Großstadt proletarisch-sozialistischer Prägung entwickelt. Das „rote Neukölln“ besaß jedoch noch kein Gymnasium. In das neue Schulgebäude zog deshalb eine altbekannte Schule aus der Berliner Friedrichstadt ein, die dort im Jahr 1747 von Julius Hecker initiierte „ökonomisch-mathematische Realschule“. Diese galt im Preußen des 18. Jahrhunderts als das fortschrittlichste Modell einer allgemeinbildenden Schule und wurde 1897 in „Kaiser-Wilhelm-Realgymnasium“ umbenannt. Schon bald nach dem Umzug nach Neukölln setzten sich die SPD und KPD in der dortigen Bezirksversammlung für eine Umbenennung in „Friedrich-Engels-Gymnasium“ ein. Man einigte sich schließlich pragmatisch auf „Staatliches Gymnasium in Neukölln“. Die Lehrer- und Schülerschaft stammte in den Anfangsjahren vor allem aus der eher konservativen bürgerlichen Mittelschicht. Viele von ihnen waren stolz auf die neue Schule, das Tragen der die Schulzugehörigkeit verratenden Schülermützen konnte jedoch auf den Straßen des proletarischen Neuköllns eine Tracht Prügel zur Folge haben.23
Die geschichtlichen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts prägten die Schule auch in der Folgezeit auf eindringliche Weise. Die nationalsozialistische Herrschaft, während derer die Schule zwischenzeitlich wieder „Kaiser-Wilhelm-Schule“ hieß, wurde von der Lehrerschaft mehrheitlich begrüßt und fast die gesamte Schülerschaft war in NS-Jugendverbänden organisiert. Zur Zeit des Krieges diente die Schule als Lazarett, der Schulbetrieb wurde verlegt, viele machten ein „Notabitur“ und wurden anschließend zum Reichsarbeitsdienst und zur Wehrmacht eingezogen. Mehr als ein Drittel der Schülerschaft überlebte den Krieg nicht. Das Schulgebäude trug keine größeren Schäden davon und so konnte der Schulbetrieb schon 1946 wiederaufgenommen werden. Die Anfang der 1950er Jahre renovierte Aula avancierte als einer der wenigen intakten Veranstaltungsräume zu einem kulturellen Zentrum des Nachkriegs-Neuköllns. Der „Kalte Krieg“ traf die Schule aufgrund ihrer Nähe zur innerstädtischen Grenze in besonderem Ausmaß. Im Zuge der Abriegelung der Sektorengrenzen und des Berliner Mauerbaus wurde 1961 etwa 100 Schülern der bisherige Schulweg versperrt, 25 von ihnen flohen bald darauf nach West-Berlin.24 Bereits in den späten 1950er Jahren hatte es „Ostklassen“ gegeben, in denen Schüler gesammelt wurden, die vorwiegend aus politischen Gründen nicht mehr im Ostteil Berlins zur Schule gingen.
In den folgenden Jahrzehnten wurde die Schule immer mehr zu einem Auffangbecken für Ausgegrenzte und Migranten, was mit einem baulichen Verfall und sozialen Spannungen einherging. Nach mehreren Umbenennungen und Neuausrichtungen verließen im Jahr 1963 die letzten Abiturienten die Schule, das Gymnasium mit seiner altehrwürdigen Tradition wurde endgültig aufgelöst und wenig später jene Schule gegründet, die ich in dieser Studie die „Galilei-Schule“ nenne. Diese Hauptschule war seit den 1970er Jahren geprägt von Konflikten zwischen türkischstämmigen und ethnisch deutschen Schülern, die sich unter anderem mit einem Schülerstreik im Jahr 1980 gegen die Neuankömmlinge wehrten. Als im Jahr 1987 die migrantischen Schüler vom Berliner Schulamt entsprechend ihrer Nationalität aufgeteilt wurden, erhielt die Galilei-Schule den übrig bleibenden „Rest der Welt“. Bis heute kommen die Schüler aus unterschiedlichsten Nationen, neben den Nachfahren der türkischen Gastarbeitergeneration fanden sich darunter auch viele Heranwachsende aus palästinensischen, kurdischen und ehemals jugoslawischen Flüchtlingsfamilien. Als im Jahr 2010 schließlich die Hauptschule in Berlin abgeschafft und diese mit Realschulen zu neuen Sekundarschulen fusionieren sollten, blieb für die Galilei-Schule keine Neuköllner Realschule mehr übrig, mit der sie hätte fusionieren können. Auch die Eltern kehrten der Schule den Rücken zu, der Mangel an Neuanmeldungen hatte zur Folge, dass verstärkt Schüler zugewiesen wurden, die an ihrer Wunschschule keinen Platz erhalten hatten. Die Galilei-Schule stand in der Folge nicht nur „für eine hohe Quote schuldistanzierter Schüler“ sondern auch für „schwache Leistungsergebnisse und Schulabschlüsse, hohe Lehrerfluktuation und Gewaltbereitschaft“.25 Die von mir begleiteten zehnten Klassen waren der letzte Jahrgang der auslaufenden Hauptschule in Berlin. Zum Zeitpunkt meiner Forschung im Jahr 2012/13 lag der Anteil der Schüler „nichtdeutscher Herkunftssprache“ bei 88,4 Prozent. Von der Zuzahlung zu Lernmitteln waren 92 Prozent der Schüler befreit. Ich begegnete also einer vorwiegend postmigrantischen Schülerschaft, deren Familien größtenteils von staatlichen Transferleistungen lebten.
Im kursorische Überblick über die räumliche und institutionelle (Vor-)Geschichte der heutigen Galilei-Schule wird ein deutlicher Abwärtstrend erkennbar. Aus einer der „fortschrittlichsten“ Schulen, die in einem der „schönsten“ und „modernsten“ Schulgebäude Deutschlands untergebracht war, wurde eine Schule, die in den Berliner Zeitungen mit pejorativen Bezeichnungen wie „Problemschule“, „Brennpunktschule“ und „Hort der Gewalt“ assoziiert wird. Von der Berliner Morgenpost wurde sie im Jahr 2015 sogar zur unbeliebtesten Schule Berlins gewählt.26 Diese Abstiegsgeschichte lässt sich auch als eine Geschichte sozial-räumlicher Wandlungen und Aneignungen beschreiben, die von vornehmen zu fast unbenutzbaren Schülertoiletten reicht und vom anfänglichen Stolz der bürgerlichen Neuköllner Schüler zu einer sich wegen ihrer Schule schämender und von ihr gelangweilter Schülerschaft führte. Entscheidend dabei ist, dass die Schüler nicht allein von einzelnen Lehrern oder Fächern gelangweilt waren, wie dies wohl in jeder Schule gelegentlich vorkommt, sondern von ihrer Schule insgesamt enttäuscht wurden. Diese Entfremdung äußerte sich am offensichtlichsten in den hohen Fehlzeiten, sowie in einer weit verbreiteten Skepsis gegenüber allen mit Schule assoziierten Angeboten, gegen die auch jene anzukämpfen hatten, die versuchten den Schülern attraktive Angebote zu machen.
Diese tiefsitzende Schuldistanz hat unter anderem mit einem enttäuschten Bildungsversprechen zu tun. Um zu verstehen, welchen Bildungsansprüchen die Galilei-Schule nicht mehr gerecht wird, muss zunächst der Bildungsbegriff etwas differenzierter betrachtet werden. Bildung ist ein schillerndes Wort, das von zwei gegensätzlich erscheinenden Bedeutungssträngen bestimmt wird: Auf der einen Seite steht das Ideal von Bildung als individuellem Erfahrungsprozess, verstanden als eine durch die Entfaltung der menschlichen Anlagen möglich werdende Transformation des Verhältnisses zu sich, zu anderen und zur Welt.27 Dieses Bildungsverständnis wird häufig auf philosophische Konzepte des deutschen Idealismus um 1800 sowie auf die Schriften von Wilhelm von Humboldt zurückgeführt. Es kann, Georg Bollenbeck folgend, als ein spezifisch „deutsches Deutungsmuster“ von Bildung verstanden werden.28 Auf der anderen Seite kann man diesem Bildungsmodell, stark vereinfacht, ein sich gegenwärtig auch in Deutschland ausbreitendes neoliberales Bildungsmodell US-amerikanischer Prägung gegenüberstellen. Hier steht Bildung eher für Ausbildung und zielt primär auf ökonomische Verwertbarkeit. Hinter dieser etwas holzschnittartigen Gegenüberstellung verbergen sich vielschichtige historische Prozesse: So richtete sich die deutsche Bildungspraxis zu keinem Zeitpunkt allein nach den Idealen der Neuhumanisten und auch hierzulande wirkte bereits im Kontext der deutschen Aufklärung ein auf Nützlichkeit ausgerichtetes Bildungsverständnis. Das US-amerikanische Bildungssystem orientierte sich seinerseits im 19. Jahrhundert noch sehr an Vorbildern aus dem deutschsprachigen Raum, bevor es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts selbst zum hegemonialen Modell wurde.
Auch am Standort der heutigen Galilei-Schule lässt sich die historische Verflechtung beider Dimensionen von Bildung nachvollziehen. Das hier zunächst beheimatete „Kaiser-Wilhelm-Gymnasium“ war ein sogenanntes Realgymnasium, dieses war einerseits vom Bildungsverständnis von Aufklärung, Pietismus und Philanthropismus geprägt, fokussierte sich aber anders als die humanistischen Gymnasien stärker auf eine volkswirtschaftliche und naturwissenschaftliche Ausbildung, mit dem Ziel qualifizierte Arbeitskräfte für Manufaktur, Gewerbe und Handel heranzuziehen.29 Auch die seit den 1960er Jahren das Schulgebäude übernehmende Hauptschule und die seit kurzem hier beheimatete Sekundarschule orientierten sich primär auf eine praxisbezogene Berufsvorbereitung. Der mit weitreichenden Stigmatisierungsprozessen einhergehende Abstieg der Hauptschule zur „Restschule“ führte jedoch dazu, dass in den letzten Jahren höchstens noch eine Hand voll Schüler pro Abschlussjahrgang einen Ausbildungsplatz erhielten. Diese Zukunftslosigkeit trug zur Erosion der Legitimation der Schule bei, was massive Disziplinarprobleme zur Folge hatte, die wiederum die Aufrechterhaltung eines geregelten Unterrichtsbetriebs erschwerten. Die Galilei-Schule enttäuschte das Versprechen von Bildung auf doppelte Weise, sie bot weder die zur Entfaltung menschlicher Fähigkeiten erforderliche Lernatmosphäre noch eine erfolgversprechende Berufsausbildung. Die Institution Schule verfehlte demnach ihre eigenen historisch tradierten Bildungsansprüche, sie stand einer gelingenden Selbstentfaltung und erfolgversprechenden Weltaneignung eher im Wege, als dass sie diese befördern würde. Aus einer erweiterten marxistischen Perspektive erscheinen die Schüler sowohl vom Prozess der Bildung (dem Lernen) als auch von ihrem Produkt (dem Wissen) abgeschnitten. Eine solche Kritik wurde bereits im Kontext der marxistischen Schulkritik der 1970er Jahre formuliert,30 nur dass damals noch davon ausgegangen wurde, die entfremdete Schullaufbahn führe in ein entfremdetes Arbeitsleben, während die Galilei-Schule heute eher in die Arbeitslosigkeit führt. Die Folge ist eine Atmosphäre der enttäuschten Langeweile, bestimmt durch Schuldistanz bei Schülern und institutionelle Skepsis bei Lehrern.
Ruinieren
An der Gestaltung des Schulgeländes lässt sich die räumliche Komponente dieser Misere weiter illustrieren. Der Schulhof der heutigen Galilei-Schule grenzte Ende der 1920er Jahre noch an ein freies Feld, erst in den 1930er Jahren entstand im Umfeld der Schule im Rahmen des Wohnungsbauprogramms der Nationalsozialisten eine Reihenhaussiedlung. Geschmückt wurde der Schulhof von einer „Olympischen Gruppe“ des Bildhauers Josef Thorak, der später einer der Lieblingskünstler Adolf Hitlers werden sollte. Während die anhaltende Präsenz seiner Werke im öffentlichen Raum anderswo in Deutschland für Aufsehen sorgt, wird die Statue an der Galilei-Schule unbeachtet von Moos und dickem Gebüsch überwuchert. Da der Schulhof kaum noch gepflegt wird, erobert sich die Natur den Raum zurück. Bäume und hohe Sträucher breiten sich von den Rändern her heimlich aus und bieten den Schülern beim Rauchen Schutz vor den Blicken der Lehrer. Die Mitte des Schulhofes ähnelt einer Steppe, auf einer großen Freifläche sprießt hier im Sommer gelber Löwenzahn und im Winter wird sie von matschigem Schnee oder rutschigem Eis bedeckt, da es hier keinen Winterdienst mehr gibt. Am Rande bieten ein Basketballkorb und ein verrostetes Fußballtor die einzigen Freizeitangebote.
Abbildung 1: Schulhof der Galilei-Schule
Quelle: Stefan Wellgraf
Als ich mit dem Hausmeister Holger Thomalla über den Schulhof spreche, winkt dieser frustriert ab: „Wir wollten hier schon seit Jahren was machen, aber es heißt immer nur, es gibt kein Geld. In Zehlendorf sieht es auf dem Schulhof anders aus. Hier für einen Schulhof in Neukölln interessiert sich niemand und so sieht er dann auch aus.“ Die Struktur des Berliner Sozialraums wird als hierarchisch wahrgenommen und anhand räumlicher Oppositionen zum Ausdruck gebracht, einen Mechanismus, den Pierre Bourdieu bereits am Beispiel der infrastrukturell benachteiligten Pariser Banlieues herausgearbeitet hat.31 Der Sozialraum ist demnach durch wechselseitige Ausschließungen definiert, wobei die relationale Positionierung im Raum auch den sozialen Rang im gesellschaftlichen Machtgefüge anzeigt. Auch der Schuldirektor Wolfgang Rüttgen wählt einen Vergleich mit dem wohlhabenderen Berliner Stadtteil Zehlendorf und sieht die Gründe für den desolaten Zustand des Schulhofes in der Unterfinanzierung der Schule und der fehlenden Unterstützung durch die Eltern.
Herr Rüttgen: „Sie werden lachen, wenn wir Besuch kriegen, sind die Leute ganz begeistert, dass wir so einen grünen Schulhof haben. Bei den anderen ist eine Betonfläche. Aber Scherz beiseite – wir haben hier sehr wenig Angebote für die Schüler. Im Zuge der Bezirksreformen sind die Gelder, die hier in Neukölln vorher den Schulen zugutekamen, zugunsten anderer Abteilungen gegangen. Das Grünflächen- und Naturschutzamt ist zum Beispiel um etwa 70 Prozent zusammengestrichen worden. Da kommt nichts mehr. Früher, da kam zwei Mal im Jahr so eine Kolonne, die haben die Büsche geschnitten und sind mit einer Walze über den Schulhof gefahren, damit der Boden wieder fest ist. Das habe ich seit vier, fünf Jahren nicht mehr gesehen. Das Ganze funktioniert eigentlich nur, wenn die Schüler beteiligt sind, aber dafür haben wir gar nicht die Mittel. Wir haben nur fünf Spaten, zwei Hacken und eine Harke. […] Wir leben hier in Neukölln, um das mal klarzumachen. In anderen Bezirken wurde zwar auch gekürzt, aber die können das teilweise besser auffangen. Schauen Sie sich doch an, wie viele Elternvereine es an Schulen in Zehlendorf gibt. Ich lebe ja dort und meine Kinder sind dort zur Grundschule gegangen. Da hat der Rektor einfach nur gefragt, welche Eltern für diese oder jene Sache spenden würden und sofort sind 7.000 Euro zusammengekommen. Die können das ja zum Teil auch steuerlich absetzen. Die haben einfach mehr private Unterstützung. Hier in Neukölln leben halt weniger Fabrikbesitzer. Unsere Schüler kommen ja zum größten Teil aus Hartz-IV-Familien, da ist das völlig anders.“
Neben der ungleichen Lage zwischen ärmeren und reicheren Bezirken wurde bei anderer Gelegenheit auch auf eine Ungleichverteilung innerhalb Neuköllns hingewiesen. Während der „Campus Rütli“, das neue städtische Vorzeigeprojekt, Millionenbeträge und mediale Aufmerksamkeit erhalte, blieben die restlichen Neuköllner Schulen auf der Strecke. Zudem machten sich nicht nur die Kürzungen beim Grünflächenamt bemerkbar, auch bei der Schulreinigung wurde gespart, was ein massives Müll- und Sauberkeitsproblem an der Schule zur Folge hatte. Die Schulflure wurden seltener gewischt, die Toiletten verdreckten und auf dem Schulhof sammelten sich nicht weggeräumte Abfälle. Die Schulleitung reagierte, indem sie die Schüler zum Mülleinsammeln verpflichtete, was jedoch nur mäßigen Erfolg hatte.
Auch die Schüler waren mit Ihrem Schulhof unzufrieden, so bemängelt Theo während eines Interviews den ästhetisch wenig ansprechenden Raum und die mangelnden Freizeitmöglichkeiten: „Unser Schulhof ist eigentlich hässlich. Man steht nur herum und langweilt sich. Es gibt nur eine einzige Bank. So eine Schule kostet Millionen und dann ist hier einfach nichts für uns.“ Viele Schüler reagierten darauf, indem sie das Schulgelände verbotenerweise während der Hofpausen verließen. Da die räumlichen Bedingungen nicht den Ansprüchen der Schüler entsprachen, wurde eine affirmative Raumaneignung oder eine Identifikation mit dem Schulraum erschwert und stattdessen ein Unbehagen sowie eine Meidung des Schulhofes befördert. Die Lehrer versuchten – meist vergeblich – die überbordende Schülerflucht zu verhindern. Bis vor einigen Jahren verließen die Schüler die Schule auch schlichtweg deshalb, da diese keine Essens- und Verpflegungsangebote bereitstellte. Mittlerweile wurde eine Mensa eingerichtet, doch diese war deutlich zu klein konzipiert und viele Schüler präferierten weiterhin die Angebote der nahegelegenen Bäckereien und Imbisse. So spielten sich zu jeder Hofpause wiederkehrende Flucht- und Versteckspiele am niedrigen Schulhofzaun ab, ein mitunter auch an anderen Schulen zu beobachtendes Ritual, dass hier aufgrund mangelnder schulischer Angebote jedoch besonders ausgeprägt war.
Die Folgen des institutionellen Abstiegs der Schule in den letzten Jahrzehnten zeigten sich in der Gegenwart ganz konkret in einem teilweise verwahrlosten Schulgelände. Der bereits erwähnte Gernot Böhme spricht vom ästhetischen Recht, in einer Umgebung zu leben, die man mitgestalten kann und in der ein Gefühl des Wohlbefindens ermöglicht wird.32 Solche ästhetischen Grundbedürfnisse wurden auf dem ruinierten Schulhof der Galilei-Schule mit seiner mangelnden Infrastruktur kaum erfüllt. In verbalen Äußerungen positionierten sich Schüler mit einem Schuss Resignation und einer kräftigen Prise Distanz zu den räumlichen Bedingungen und den Gestaltungsmöglichkeiten ihres Schulhofes. Distanzierte Langeweile erschien mir als der schultypische Modus der sozialräumlichen Affizierung.
Neuere Theorieansätze der kritischen Stadtforschung und der postkolonialen Studien aufgreifend, lässt sich das Schulgelände der Galilei-Schule auch als eine räumliche Infrastruktur begreifen, die systematisch ruiniert wurde. Beim Wort „Infrastruktur“ denkt man üblicherweise zunächst an ein materielles Versorgungssystem, etwa an ein Straßen- und U-Bahn-Netz oder an die Systeme der Elektrizitäts- und Wasserversorgung, doch auch schulische Infrastrukturen lassen sich als ermöglichende Bedingungen begreifen.33 Diese hängen eng mit technischen, administrativen und finanziellen Fragen zusammen, es handelt sich also stets um vielfältig vernetzte Infrastrukturen.34 Infrastrukturen lenken Subjektivierungsprozesse, sie positionieren im sozialen Raum und formen Handlungsroutinen und Einstellungen. Die Machtdimension von Infrastrukturen erschließt sich durch eine relationale Perspektive, etwa durch den Vergleich der materiellen Ausstattung unterschiedlicher Schultypen.35 Gleichzeitig machen sich, wie gesehen, Akteure anhand des Zustandes von Infrastrukturen häufig selbst ein Bild von größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen. Die räumliche Infrastruktur der Galilei-Schule erfüllte ästhetische und funktionale Mindeststandards nur teilweise, zwar wurde das räumliche Basisangebot für den Unterricht bereitgestellt, doch für darüberhinausgehende Pausenangebote standen der Schule nicht mehr ausreichend Mittel zur Verfügung. Dies war ein schleichender Verfallsprozess, denn sichtbar werden mangelhafte Infrastrukturen in der Regel erst bei Störungen und Zusammenbrüchen, oder – wie im Berliner Fall – durch zufällig entdeckte Missstände an einer einzelnen Schule.36 So entfachte sich in Berlin am Fall einer Grundschule im benachbarten Stadtteil Friedrichshain-Kreuzberg Anfang 2014 in den Lokalmedien eine empörte Debatte über die mangelnden hygienischen Zustände an Berliner Schulen, die unter anderem eine Elterninitiative für saubere Schultoiletten zur Folge hatte.37 Was in der Regel verborgen bleibt, sind nicht-sichtbare Formen der Vorenthaltung angemessener Mittel für Pflege und Instandhaltung. Der Hinweis auf die seltener kommenden Reinigungskräfte oder die ganz wegbleibenden Gärtner verdeutlicht die alltägliche Weise, durch die ein einstmals prächtiges Schulgebäude heruntergewirtschaftet wurde.
In Bezug auf (post-)koloniale Infrastrukturen hat die US-amerikanische Historikerin Ann Stoler ins Bewusstsein gerufen, dass es sich bei der Ruinierung von Infrastrukturen meist nicht um natürliche Verfallserscheinungen, sondern um politisch gesteuerte räumliche Exklusionsprozesse handelt.38 Und diese lassen sich auch in Berlin konstatieren, so deuten die erwähnten Klagen über den Standortnachteil Neukölln zumindest an, dass die zur Neugestaltung oder Aufrechterhaltung schulischer Infrastrukturen zur Verfügung stehenden Ressourcen in der Stadt ungleich verteilt sind. Eine postkoloniale Perspektive, der zufolge rassistischen Ausgrenzungspraktiken in der Gegenwart weiterwirken, lenkt zudem den Blick darauf, dass die räumliche Vernachlässigung der Galilei-Schule seit den 1970er Jahren parallel zum steigenden Migrantenanteil der Schülerschaft verlief. Zehlendorf steht demnach symbolisch nicht nur für eine wohlhabende, sondern auch für eine „deutsche Schule“ und Neukölln im Gegenzug nicht nur für Armut, sondern auch für eine migrantisch geprägte Schülerschaft. Auch wenn die Galilei-Schule keine Ruine ist, legt der Hinweis auf subtile Weisen des Ruinierens eine politische Lesart von räumlich bedingter schulischer Langeweile nahe.
Produktion von Raum
Anders als auf dem Schulhof mangelt es in den Klassenzimmern der Galilei-Schule nur teilweise an geeigneten räumlichen Grundvoraussetzungen und unterstützendem materiellem Zubehör. Die pädagogische Interaktion scheitert hier weniger an der materiellen als an der personellen Ausstattung und Prozesse der Entfremdung und Atmosphären der Langeweile zeichnen sich eher am spezifischen Umgang mit räumlich arrangierten Dingen ab. Um einen Eindruck vom Geschehen im Klassenzimmer zu gewinnen, hilft der Blick auf einen von mir während des Unterrichts unbemerkt eingefangenen Moment (Abb. 2).
Die Fotografie könnte als Illustration einer Inventur von Gesten der Langeweile dienen, die Peter Toohey als Indizien für Langeweile beschreibt: Verschränkte Arme, auf dem Tisch liegende Ellenbogen sowie darauf abgelegte Köpfe und starre, träumende Blicke ins Nichts – die abgebildete Szene steht exemplarisch für eine schulische Atmosphäre der Langeweile.39 Ursprünglich wollte ich das Foto machen, weil mir aufgefallen war, dass in der hinteren Ecke des Klassenraumes drei Schüler den Kopf in den Armen versunken hatten und ein vierter mit leerem Blick vor sich hinstarrte. Doch bis meine Kamera bereit war, hatte sich die Situation verändert: Ein Schüler blickte müde auf, ein zweiter begann in seiner Tasche herumzukramen und eine dritte Schülerin entschied sich für einen kleinen Spaziergang zum Mülleimer, um sich Abwechslung zu verschaffen. Was blieb, war das weitgehende Desinteresse am Unterrichtsgeschehen, dessen räumlicher Dimension ich mich genauer zuwenden möchte.
Abbildung 2: Klassenzimmer der Galilei-Schule
Quelle: Stefan Wellgraf
Der Klassenraum ist durch hierarchisch auf den Lehrer ausgerichtete Zweier-Tische mit frei davor beweglichen Stühlen bestimmt, ein Ordnungsprinzip, das zur Eröffnung des Schulgebäudes Ende der 1920er Jahren als fortschrittlich galt und sich in Deutschland nach dem Ende des Nationalsozialismus endgültig gegenüber der reihenförmigen Schulbank durchsetzte.40 Das Prinzip des an der Galilei-Schule verwendeten Kufenstuhls und Kufentischs wurde im Jahr 1950 als Patent angemeldet.41 Es galt seinerzeit als rücken- und bodenschonend und das „Huckepack-Prinzip“ erleichterte die Reinigung der Klassenräume. Seit dem Jahr 1973 wurden für den Kufenstuhl Oval-Stahlrohr und Sperrholzsitze verwendet, was diese leichter und billiger machte. Diese Bestuhlungsvariante ist bislang in Deutschland am weitesten verbreitet, die Firma VS produziert etwa 400.000 solcher Stühle pro Jahr. Mittlerweile gelten jedoch schwingende Stuhllehnen als rückenfreundlicher. Doch können konventionelle Schulmöbel auf eine entfremdete Atmosphäre hindeuten? Vielleicht dann, wenn man sich ihre Nutzung und Anordnung genauer anschaut. Die Schüler hängen auf ihren Stühlen und nutzen die Tischplatte zur Entspannung. Zudem fällt auf, dass die Stühle an den nicht benutzen Tischen vor oder während des Unterrichts nicht herunter gestellt worden sind, wie es die Lehrer gelegentlich einfordern. Sicher nur eine Nebensächlichkeit, die jedoch als Hinweis auf eine distanzierte Haltung zum Unterrichtsgeschehen gelesen werden kann, zumal die leeren Stühle gleichsam an die nicht zum Unterricht erschienenen Schüler erinnern.
Wie spezifische Schulräume in solchen Beziehungen zwischen Menschen und Artefakten konstituiert werden, lässt sich mit Hilfe raumsoziologischer Überlegungen begreifen. Die Soziologin Martina Löw stellt sich Raum als eine relationale Anordnung von Gütern und Menschen an Orten vor, die über Positionierungen, Verknüpfungen und Syntheseleistungen im Handeln entsteht und nicht bereits durch eine Gebäudestruktur vorgegeben ist.42 Löws Raumsoziologie basiert auf einer Verbindung von Lefèbvres postmarxistischer Idee der Produktion von Raum, nach der dieser im Kontext von kapitalistischen Ungleichheitsverhältnissen hergestellt wird, mit Anthony Giddens praxistheoretischer Formel der „duality of structure“, die – von Löw zur „Dualität des Raumes“43 abgewandelt – darauf hinweist, dass Räume im Handeln entstehen und gleichzeitig Handeln strukturieren. Sie selbst nutzt ihre Perspektive auf Raum unter anderem für eine Lektüre von gegenkulturellen Schulräumen in Paul Willis klassischer Studie „Learning to Labour“.44 Konzeptionell weiterentwickelt wurde ihr Ansatz zuletzt vom Schulforscher Georg Breidenstein, der mittels einer ethnografischen Analyse herausarbeitet, wie Schulräume aus sich überlagernden visuellen, akustischen und haptischen Räumen entstehen.45 Eine Differenzierung, mit deren Hilfe sich die Produktion von Raum an der Galilei-Schule besser verstehen lässt.
Beschreibung Videoaufnahme: Herr Steiß steht vorne am Fenster und erklärt zwei Mädchen eine Rechenaufgabe. In der Mitte des Raumes sammeln sich einige Jungs um Jamils Tisch herum und quatschen im Stehen. Zwei von ihnen laufen vor in Richtung des Lehrers, betatschen, direkt neben dem Lehrer stehend, das Heft von einer der Schülerinnen, gucken sich noch kurz um und kommen wieder zurück. Ein anderer Junge beginnt im Gang zwischen den Tischen mit Liegestützen. Im einen Ohr hat er noch einen Kopfhörer, über den er zuvor während des Unterrichts Musik gehört hatte. Nach etwa zehn sorgsam ausgeführten Liegestützen gesellt sich ein weiterer Schüler hinzu. Gemeinsam machen sie noch einmal zehn Liegestütze. Zwischendurch kontrollieren sie – angeregt von launischen Zwischenbemerkungen der vom Geschehen angeregten Jungs – ihre Übungshaltung. Ein Schüler setzt sich zum Spaß mit halbem Gewicht auf einen der Übenden. Anschließend kommentiert die Jungsrunde die Szene mit fachmännischen Sprüchen. Der Lehrer ist weiterhin, mittlerweile seit etwa zwei bis drei Minuten, mit den Mädchen in der ersten Reihe beschäftigt. Als er fertig ist, blickt er auf und meint, die Schüler mögen sich wieder an ihre Plätze setzen. Die meisten schlendern daraufhin gemütlich zu ihren Stühlen zurück und führen ihre Gespräche im kleinen Kreis weiter.
Die beschriebene Szene aus dem Mathematikunterricht einer zehnten Klasse wirkt wie ein Zustand der Anomie, in dem Regeln kraftlos, die schulische Ordnung erschüttert und die Abweichung zum Normallfall werden. Der in dieser Situation hergestellte schulische Raum ist durch eine partielle Entstrukturierung und temporäre Neuhierarchisierung bestimmt. Zwar findet die Szene in der räumlichen Umgebung eines „klassischen“ Schulzimmers statt, doch die Raumelemente werden umfunktioniert und der Lehrer hat die Kontrolle zeitweise an eine Gruppe männlicher Zehntklässler verloren, was sich auf einer visuellen, akustischen und haptischen Ebene nachvollziehen lässt. Der visuelle Raum des Lehrers ist stark eingeschränkt, sein Blickfeld richtet sich auf die direkt vor ihm sitzenden Schülerinnen, das restliche Geschehen verliert er aus dem Blick. Auch wenn es dem Lehrer gelingt, die Schüler am Ende der Situation wieder an ihre Plätze zu lenken, wie schwach seine Herrschaft über den Raum ist, zeigt sich daran, dass die Jungen ihn zuvor auch in seiner unmittelbaren Umgebung einfach ignoriert haben. Der Lehrer bemüht sich kaum noch, seine untergrabene Autorität wiederherzustellen. Während zwei Jungen und die am Rand sitzenden restlichen Mädchen sich still mit ihren Aufgaben beschäftigen, übernimmt eine Gruppe von etwa fünf Schülern für einige Minuten die Hoheit über den Klassenraum, indem sie in diesem umherschweifen, sich gruppieren und diesen eigenmächtig für sportliche Aktivitäten zweckentfremden. Mit der territorialen Inbesitznahme geht ein akustischer Dominanzwechsel einher. Haben sie sich vorher auf Zwischenrufe beschränkt oder musikalisch abgelenkt, so dominieren nun ihre Gespräche den Raum, während der im Abseits stehende Lehrer kaum noch zu vernehmen ist. Auch ihren haptischen Raum haben die Schüler ausgeweitet, sie tragen Gegenstände umher, berühren auf provozierende Weise die Hefter der Mädchen und nutzen den Boden für Kraftübungen. Die Botschaft, die von der geschilderten Szene ausgeht ist deutlich: Die Schüler fühlen sich von der Schule und vom Lehrer nicht angesprochen.
Als ich den Schülern bei späterer Gelegenheit diese und andere Videoaufnahmen von ähnlichen Situationen vorspielte, ergab sich eine lebhafte Diskussion mit unterschiedlichen Reaktionen. Zunächst wurde reflexhaft die mangelnde Autorität des Lehrers kritisiert: „Das ist doch kein richtiger Lehrer, er hätte doch meckern müssen. So was ist doch kein Unterricht, wie soll man da was lernen. Der Lehrer ist einfach nur Scheiße.“ Auf meine Nachfrage, wurde als Grund für das Verhalten der Schüler Langeweile angeführt, die speziell den Mathematikunterricht betraf, aber auch als pauschale Begründung für deviantes Verhalten verschiedener Art angesehen wurde: „Die machen das, weil sie Langeweile haben. […] Mathe ist natürlich auch für viele nicht gerade ein Lieblingsfach. Viele haben da einfach keine Lust drauf.“ Schließlich wurde die Schuld auch beim eigenen Verhalten gesucht und eine generelle Unzufriedenheit mit der Schule artikuliert: „Ganz ehrlich, ich schäme mich dafür. Das ist Kindergarten. Wenn andere das sehen, lachen die uns aus. Wer macht denn im Mathe-Unterricht Liegestütze? […] Ich bereue es, auf diese Schule zu gehen. Ich wollte auch nicht hierher, aber meine Mutter hat mich hierhergeschickt.“
Der institutionelle Abstieg einer einst stolzen Schule, die ihr Bildungsversprechen mittlerweile nicht mehr erfüllen kann, zeigte sich an einem heruntergekommenen Schulhof, für den keine ausreichenden Mittel mehr zur Verfügung standen, sowie in Klassenzimmern, in denen die schulische Ordnung kaum noch aufrechterhalten wurde. Die Folge waren depressive Atmosphären und resignative Stimmungen, die mit Gefühlslagen der Langeweile einhergingen. Nicht jede Situation war derart negativ konnotiert, vielmehr kultivierten die Schüler verschiedenste gegenwartsorientierte Formen der Zerstreuung und Kurzweile, denen ich mich im folgenden Kapitel noch zuwenden werde. Doch fragte man Pädagogen und Schüler, was sie von ihrer Schule insgesamt hielten, dominierten enttäuschte Einschätzungen und diese negative Grundtendenz prägte das gesamte Schulklima.
LEERE ZEIT: SINN- UND ZUKUNFTSLOSIGKEIT
Gegenüber dem üblichen Verständnis von Langeweile als einer Verlangsamung des Zeitverlaufs sowie einer Dehnung von Zeitintervallen habe ich darauf hingewiesen, dass Langeweile auch mit Formen der sozial-räumlichen Degradierung einhergehen kann. Um nun der Frage nachzugehen, wie Zeit und Langeweile miteinander zusammenhängen, rekonstruiere ich zunächst den an der Galilei-Schule zu beobachtenden Umgang mit Zeit, danach verbinde ich meine Beobachtungen zum schulischen Zeitregime mit dem Problem der Langeweile, bevor ich diese im Zusammenhang mit Entfremdungsdiagnosen diskutiere. Zuvor sind aber zunächst einige terminologische Unterscheidungen zwischen den schwer fassbaren Begriffen der Atmosphäre, der Stimmung und des Gefühls notwendig.46
Atmosphären bezeichnen, wie gesehen, die ästhetisch-affektiven Qualitäten von räumlichen Umgebungen und Situationen. Stimmungen beschreiben die über einzelne räumliche Arrangements hinausgehende affektive Einfärbung eines Zeitabschnitts, die mit entsprechenden Wahrnehmungen, Bewertungen und Verhaltensweisen einhergeht.47 Stimmungen lassen sich schwer lokalisieren oder abgrenzen, da sie nicht auf bestimmte Situationen begrenzt sind, sondern die Art und Weise prägen, in der wir unterschiedliche Situationen wahrnehmen. Gefühle sind zumeist kurzlebiger als Stimmungen und drängen sich eher in den Vordergrund, sie können schnell wieder vergehen, sich unter bestimmten Bedingungen aber auch zu Gefühlslagen verfestigen. Während die existentielle, also die eher langfristige und mit Sinnfragen einhergehende Langeweile tendenziell als eine Stimmung zu betrachten ist, lässt sich die kurzfristigere und stärker auf äußerliche Umstände bezogene situative Langeweile eher als ein Gefühl beschreiben. Stimmungen und Gefühle bedingen sich wechselseitig, wodurch die Grenzen zwischen ihnen im Schulalltag verschwimmen: Eine langweilige Grundstimmung kann einerseits in bestimmten Momenten zu einem als unerträglich empfundenen Gefühl der Langeweile beitragen und das wiederholte Auftreten von als langweilig wahrgenommenen Situationen kann andererseits zu einer dauerhaften, übergreifenden Stimmung der Langeweile führen. Die Langeweile steht an der Galilei-Schule also sowohl im Hintergrund als auch im Vordergrund. Als drängendes Gefühl betrifft sie bestimmte raum-zeitliche Situationen, denen man am liebsten entfliehen möchte. Als latente Stimmung bildet sie den Erfahrungsrahmen, eine existentiell anmutende Grundbefindlichkeit, in der das Geschehen wahrgenommen und bewertet wird. Atmosphären der Langeweile liegen wiederum quer zu dieser idealtypischen Unterteilung, denn sie umfassen potentiell sowohl situative als auch über-situative und institutionelle Formen der Langeweile. Insgesamt neigen Atmosphären, Stimmungen und Gefühle zu einer gewissen Abgestimmtheit, auch weil die gruppeninterne Kommunikation über sie häufig suggestiv-ansteckend verläuft.48
Doch lassen sich an der Galilei-Schule auch disparate Raumelemente, abweichende Stimmungen und emotionale Gegenreaktionen beobachten: So standen am Ende des Schuljahres plötzlich eine Handvoll an Raumkapseln erinnernde schrille Gebilde auf dem Schulhof herum, manche schwer verliebte Schülerpaare schwebten wie auf einer rosa Wolke über den grauen Schulhof und schließlich ging die schulische Langeweile auch mit der kompensatorischen Suche nach Abwechslung und Kurzweile einher. Mit Blick auf solche Abweichungen, alternativen Empfindlichkeiten und Gegenreaktionen stellt sich die Frage nach der Übertragbarkeit von Atmosphären. Atmosphären übertragen sich zwar auf Individuen, aber nicht in determinierender Weise, sie wirken eher wie ein wirkmächtiges Kräftefeld, in dem Variationen und Abstufungen existieren und von dem sowohl Anziehungs- als auch Abstoßungseffekte ausgehen.49 Aktuell entwickelte relationale Konzepte wie das „Affektif“ und das „affektive Arrangement“ erweitern das Verständnis des Affektiven systematisch um materielle Elemente und sinnliche Interaktionen und zielen damit gleichzeitig auf eine De-Zentrierung des Subjekts.50 Solche Heuristiken lassen Raum für dynamische und unvorhersehbare Prozesse und gehen gleichzeitig von einer gewissen Regularität und Festigkeit affektiver Arrangements aus. Aus dieser Perspektive wird auch verständlich, warum individuelle Schüler auf unterschiedliche Weise von der Galilei-Schule affiziert wurden und sich gleichzeitig mit Blick auf die sozialräumliche Ebene eine deutliche Tendenz zu Schuldistanz abzeichnete.
Entstrukturierung des Zeitregimes
Da Zeit auf unsichtbare Weise unseren Alltag durchdringt, könnte man dazu neigen, sie als etwas Natürliches zu betrachten. Die Kontingenz von Zeitordnungen wird meist erst infolge von Konflikten sichtbar, so drehen sich gesellschaftliche Widersprüche oft um Fragen des Umgangs mit Zeit. Die heute in Deutschland vorherrschende Orientierung an abstrakter Zeit wurde im Zuge von mit großen Widerständen einhergehenden Modernisierungsprozessen gegenüber einer aufgabenorientierten Strukturierung des Arbeitstages und einer an Lerninhalten ausgerichteten Gliederung des Unterrichts durchgefochten.51 Die zeitliche Strukturierung des Schulalltags ist folglich das Ergebnis von nicht immer reibungslos verlaufenden Lern- und Internalisierungsprozessen. Zeitregime sind nicht nur historisch geformt, kulturell geprägt und gesellschaftstypisch, sie divergieren auch innerhalb einer Gesellschaft.52 An der Galilei-Schule wurde die zeitliche Ordnung gerade deshalb wiederholt beschworen, da die Schule in eine Sinn- und Legitimationskrise geraten war.
Feldtagebuch: Wegen dem matschigen Schnee lasse ich an diesem Morgen das Fahrrad stehen und torkele im Halbschlaf zum Bus. Er hat Verspätung. Viele Schüler sind auf diese Buslinie angewiesen und so kommt eine große Traube von ihnen etwa eine Viertelstunde zu spät am Schulgebäude an. Nur einige jüngere Schüler beeilen sich noch. Die Eingangstür ist sowieso abgeschlossen. Die Schüler schauen mich fragend an, aber ich habe auch keinen Schlüssel. Es ist verdammt kalt und wir stehen frierend direkt unter dem Fenster vom Lehrerzimmer. Die Ethiklehrerin zeigt ein bisschen Menschlichkeit und öffnet uns nach etwa fünf Minuten heimlich die Tür zum Schulgebäude. Die Türen der Klassenzimmer sind um diese Zeit normalerweise ebenfalls abgeschlossen, manche Lehrer lassen die Schüler trotzdem herein, der Rest der verspäteten Schüler geistert bis zur nächsten Stunde im Schulgebäude herum. In einer späteren Rede zur Schulpünktlichkeit wird der Schuldirektor genau solche Beispiele zum Anlass für eine wütende Standpauke nehmen: „Die Arbeitgeber interessiert es nicht, ob der Bus Verspätung hatte. Und diejenigen, die den Schülern die Türen öffnen, verhalten sich unkollegial – gegenüber den Lehrern und den Schülern. Wer nicht lernt pünktlich zu sein, ist nicht fit für das Leben.“
Mit seiner Mahnung erinnerte der Direktor an die zentrale gesellschaftliche Funktion der Institution Schule, Orientierung an den gesellschaftlich vorherrschenden Zeitstrukturen zu vermitteln und somit den Übergang der Schüler ins Arbeitsleben zu erleichtern. Die damit verbundene Disziplinierung erfolgt normalerweise durch die Verinnerlichung von bald als selbstverständlich geltenden Zeitvorgaben: Von Schülern wurde und wird erwartet morgens pünktlich um 8 Uhr zur Schule zu kommen, so wie sie später in einem ähnlichen Rhythmus ihrer Arbeit nachgehen sollen. Diese gesellschaftliche Aufgabe lässt sich nur mittels zeitlicher Mess- und Ordnungsinstrumente in die Praxis umsetzen. Uhrzeiten und die Vorläufer der heutigen Stundenpläne tauchen erstmals im 15. Jahrhundert in den deutschen Schulverordnungen auf.53 Durch die mittlerweile etablierten Schuluhren und Stundenpläne wird die Zeit überhaupt erst greifbar und ein schulisches Zeitregime durchsetzbar, welches die Schule wiederum an die dominante gesellschaftliche Zeitordnung bindet. Die Schule trug auf diese Weise wesentlich zur Durchsetzung eines linearen und abstrakten Zeitverständnisses zunächst in Westeuropa und später in weiteren Teilen der Welt bei. Zeit war somit auch ein Machtinstrument und Schulen und Uhren wurden zu Symbolen der Modernisierung.
Doch an der Galilei-Schule war die Zeit aus dem Lot. Eine Entstrukturierung des Zeitregimes bedrohte das Funktionieren der Schule. Die verschlossenen Eingangstüren und die Entrüstung des Direktors waren Reaktionen auf ein Problem, dessen Ursachen weit über die Schule hinauswiesen und dessen Konsequenzen sich dennoch auf den gesamten Schulalltag auswirkten. Mit dem Scheitern an der Aufgabe, den Schülern Wege in das Berufsleben zu eröffnen, drohte auch der Horizont des schulischen Zeitregimes zusammenzufallen.54 Der schulische Ausbildungsbetrieb verlor seinen langfristigen Sinn und die mittels zeitlicher Vorgaben durchgesetzten Disziplinarmaßnahmen büßten einen Teil ihrer Legitimationsgrundlage ein. Die Zeit drohte zu zerfallen. Der augenscheinlichste Indikator dafür waren die massiven Fehlzeiten und Verspätungen, so erschienen manche Schüler tage- oder wochenlang überhaupt nicht, andere kamen nur gegen Mittag für zwei bis drei Stunden vorbei, um sich mit Freunden zu treffen.
Daneben gab es noch zahlreiche weitere Indikatoren, die auf ein Bröckeln zeitlicher Ordnungsvorgaben hindeuten: Beim Betreten des Schulgebäudes richtete sich der Blick der Schüler stets als erstes auf den Vertretungsplan, der sich oft kaum erkennen ließ, da so viele Schüler vor ihm versammelt waren. Auch aufgrund des hohen Krankheitsstands der Lehrer gab es fast keinen Tag ohne Unterrichtsausfall oder Vertretungsstunden, teilweise fielen Fächer für ein ganzes Halbjahr aus und nicht selten bestanden Schultage ausschließlich aus Vertretungsstunden. Manchmal waren die Schüler ganz ohne Lehreraufsicht. Auch die Trennung zwischen Unterrichts- und Pausenzeiten wirkte porös. Die Schüler ignorierten häufig das Klingeln, kamen zu spät in den Unterricht hinein oder verließen ihn einfach zwischendurch. Während das Schulklingeln den Schülern nur als vage Orientierung diente, wurde von den Lehrern immer wieder hilflos darauf hingewiesen, um die Rückkehr zu einem von ihnen geregelten Unterrichtsbetrieb einzufordern. Durch das Zerbröckeln der Unterrichtszeit entstand ein spezifischer Rhythmus, ein raumzeitliches Muster schulischer Interaktion. Dieser Rhythmus war weniger durch den Wechsel von Anspannung während des Unterrichts und Entspannung während der Pausen bestimmt, sondern durch längere Phasen der Passivität, die durch eruptive Momente, durch aggressive Zwischenrufe oder plötzliches „Herumblödeln“, unterbrochen wurden. Henri Lefèbvre deutete die Ablösung von zyklischen Rhythmen durch lineare, technisch festgelegte Rhythmen im Zuge der Industrialisierung noch in einer klassischen marxistischen Lesart als grundlegenden Entfremdungsprozess. Für die Galilei-Schule könnte man mittlerweile zu einer umgekehrten These gelangen: Der zyklische, momenthafte, von den Schülern eigenmächtig bestimmte Rhythmus steht hier symptomatisch für entfremdete Zustände, während das zusammenfallende lineare schulische Zeitregime noch vage an das alte Versprechen der Moderne von Bildung als Weg in die Zukunft erinnert.55 Die morgendlich verschlossenen Türen waren eine verzweifelte Gegenmaßnahme gegen den drohenden Zerfall der Unterrichtszeit, die jedoch nur teilweise durchgesetzt wurde und zudem unerwünschte Nebenfolgen wie auf dem Schulgelände unkontrolliert herumlaufende Schüler zur Folge hatte. Schließlich war die eigentliche Unterrichtszeit häufig in dem Sinne inhaltsleer, dass eine geregelte Vermittlung von Lehrinhalten kaum noch stattfand.
Feldtagebuch: Als es nach 45 Minuten klingelt – das Klingeln ähnelt eher einem elektronischen Piepen – dürfen die Handvoll der verspäteten Schüler für den Rest der 90-minütigen Doppelstunde Berufsorientierung in das Klassenzimmer hinein. Sie trotten ohne Entschuldigung zu ihren Plätzen. Statt wie die anderen Schüler ebenfalls an ihren Wandzeitungen zum Praktikum zu arbeiten, machen sie einfach gar nichts. Es lohnt sich anscheinend aus ihrer Sicht eh nicht mehr, zumal sich die Arbeit an den Wandzeitungen sowieso über mehrere Wochen hinstreckt. Die Stimmung ist gedämpft und müde, Montagmorgen halt. Ein Junge gähnt und legt den Kopf in die Arme, ein Mädchen schaut minutenlang auf ihre lackierten Fingernägel. „Mir ist langweilig“, ruft einer der Schüler nach einer Weile in den Raum, ohne dass irgendjemand reagiert. Einer der Schüler steht auf, nimmt die über der Eingangstür hängende Uhr ab und beginnt sie zu reparieren. Der Lehrer schaut sich die Sache an und meint, man müsste mal eine neue Uhr besorgen.
Die kaputte Uhr kann als Symbol für die in der Langeweile stillstehende Zeit dienen sowie als Metapher für die zerrissene Verbindung zwischen historisch tradiertem Schulauftrag, schulischer Gegenwart und beruflicher Zukunft. Das Zeitverständnis des schulischen Bildungssystems ist auf die Zukunft ausgerichtet, die Sinnhaftigkeit des Lernens bildet sich vor einem Horizont von Möglichkeiten. Die mangelnde berufliche Zukunftsperspektive der Galilei-Schüler erschütterte dieses Selbstverständnis. Schulen sollen bei der Durchsetzung von Zeitdisziplin eine entscheidende Rolle spielen, doch an der Galilei-Schule fehlte es den Lehrern an überzeugenden langfristigen Anreizen, die Schüler zu disziplinieren. Da über 90 Prozent der Schüler aus Familien kamen, die von staatlichen Hilfsleistungen abhängig waren, wurden viele Schüler auch in ihren von Arbeitslosigkeit geprägten Elternhäusern nicht zu einer am Modell des Arbeitstages orientierten Zeiteinteilung erzogen. Die Folge des Zerfalls der schulischen Zeitordnung war eine sich schleichend ausbreitende Langeweile.
Langeweile und Schule
Die in der beschriebenen Szene beklagte Langeweile entstand aus einer bestimmten Situation heraus, es handelte sich um einen Montagmorgen, an dem auch das graue Wetter und die morgendliche Müdigkeit zur Teilnahmslosigkeit und dem Eindruck sich dehnender Zeit beitrugen. Auch ich hatte an diesem Tag mit der Müdigkeit zu kämpfen, die Schüler fragten mich angesichts meiner müden Augen, ob ich am Wochenende Drogen genommen habe und die Lehrer boten mir später Kaffee an. Doch die spezifische Situation steht gleichzeitig für das situationsübergreifende Problem von Sinn- und Zukunftslosigkeit, das im Fach Berufsorientierung besonders virulent ist. Sie führte zu einer depressiven institutionellen Grundstimmung, die sich nicht auf einen verschlafenen Montagmorgen beschränkte. Solche Stimmungen lassen sich empirisch schwer greifen, am ehesten offenbaren sie sich in Details oder irritierenden Momenten, etwa den nicht herunter gestellten Stühlen im Klassenzimmer, den sich nicht beeilenden verspäteten Schülern oder der nicht mehr funktionierenden Uhr im Klassenraum.56
Gefühle und Stimmungen der Langeweile werden individuell erfahren und sind gleichzeitig über einzelne Akteure und ihre Interpretationen hinaus in der Schule beobachtbar. „Langweilig“ gehörte zu den von den Schülern am häufigsten verwendeten Beschreibungsformeln. Das Adjektiv diente über seine Zustände oder Umstände qualifizierende sprachliche Funktion hinaus als eine Art Kürzel oder Slogan für ein generelles Unbehagen in der Schule. In diesem Fall handelt sich also um eine aus dem Feld selbst stammende Kategorisierung, während ich in anderen Kapiteln vorwiegend aus der Fachliteratur abgeleitete Klassifizierungen verwendet habe. Der Ausruf „mir ist langweilig“ im Klassenzimmer war Gefühlsbekundung und Anklage zugleich. Es wurde eine emotionale Reaktion auf einen als langweilig empfundenen Unterricht zur Sprache gebracht und gleichsam implizit kritisiert, dass der Unterricht nicht interessanter und anregender sei. Nach Pierre Bourdieu äußert sich im Zeitgefühl der Langeweile ein Auseinanderfallen von Erwartungen und Zuständen.57 Auch wenn die Schüler eine subjektive Befindlichkeit artikulierten, so schwang in ihren Gefühlsäußerungen der normative Anspruch mit, Schule müsse eigentlich interessanter sein. Bekundungen von Langeweile im Unterricht sind demnach auch als eine situierte Kritik an den als unbefriedigend empfundenen schulischen Verhältnissen zu verstehen.
Die Zeitempfindung der Langeweile entsteht im Kontext von Modernisierungsprozessen parallel zur Durchsetzung eines abstrakten Verständnisses von Zeit.58 Das englische Wort „boredom“ und die deutsche Bezeichnung „Langeweile“ bilden sich im 18. Jahrhundert in Abgrenzung zu älteren und verwandten Begriffen wie „Acedia“, „Melancholie“ und „Ennui“ heraus. Sie etablieren sich um 1800 zunächst als männliches Elitephänomen und verbreiten sich im 19. Jahrhundert auch in anderen Gesellschaftsschichten. Dabei findet ein Wandel in der geschlechtlichen Kodierung statt, denn um 1900 gilt nicht mehr der männliche Künstler, sondern die auf dem Sofa sitzende Hausfrau als Prototyp der Langeweile.59 Zu den Entstehungsbedingungen der Langeweile zählen Säkularisierung, Individualisierung und Industrialisierung. In Folge von Aufklärung und Säkularisierung tritt der Glauben an eine göttlich vorbestimmte Ordnung zugunsten eines Strebens nach Fortschritt und Glück auf Erden zurück. Indem dem Subjekt und der individuellen Lebensgestaltung mehr Bedeutung zugemessen wird, entsteht überhaupt erst eine Sensibilität für Langeweile sowie der Anspruch, das eigene Leben solle nicht langweilig sein. In Folge von Industrialisierung und der sie begleitenden Durchsetzung von Uhren setzt sich allmählich ein mechanisches Zeitverständnis durch. Die moderne Institution Schule spielt für diese Vorgänge eine tragende Rolle: Sie ist Anwalt von Aufklärung und Säkularisierung, mit ihrem Bildungsverständnis stark auf individuelle Selbstentwicklung ausgerichtet und als disziplinierende Ausbildungsstätte gleichzeitig Vermittlungsinstanz für eine abstrakte Auffassung von Zeit.
Das Thema Langeweile wurde bisher meist am Beispiel der Arbeitslosigkeit mit deprivilegierten sozialen Lagen in Verbindung gebracht. Schon in der klassischen Studie über „Die Arbeitslosen von Marienthal“ aus dem Jahr 1933 spielte der Zeitzerfall eine wichtige Rolle, die lähmende Wirkung der Arbeitslosigkeit zeigte sich in der Reduktion des Aktivitätsbereichs und dem Verfall der zeitlichen Strukturierung der wenigen ausgeübten Tätigkeiten.60 Der merkliche Rückgang des Tragens von Armbanduhren wurde als Indiz und Folge dieser Entwicklung gedeutet.61 Bei den mehrheitlich arbeitslosen Eltern der Galilei-Schüler fanden sich sowohl Väter und Mütter, die gerade dennoch ihren Kindern Pünktlichkeit zu vermitteln versuchten, als auch Familien, in denen die Jugendlichen als einzige am Vormittag aufstanden und anschließend ohne Frühstück zur Schule kamen. Erschienen die Arbeitslosen von Marienthal noch als eine homogene Gruppe, so konstatierte der Volkskundler Johannes Moser für die zeitgenössischen Arbeitslosen neben einer Krise der Zeitstrukturierung auch flexible und kreative Umgangsformen mit der nicht mehr an die Arbeit gebundene Zeit.62 Diese Heterogenität von Zeitpraktiken ließ sich auch an der Galilei-Schule beobachten. Während in den beschriebenen Situationen der Langeweile manche Schüler die Zeit dösend verstreichen ließen, arbeiteten andere Schüler an ihren Lernaufgaben, während wiederum andere alternativen Beschäftigungen nachgingen.
Feldtagebuch: Ali legt die Füße auf den vor ihm stehenden Stuhl, um besser entspannen zu können. Er malt abstrakte Formen auf ein Blatt. Khaled greift sich, mit dem Oberkörper auf der Tischplatte liegend, den vor ihm stehenden freien Stuhl. Er hebt ihn wiederholt an, um wie in einem Fitness-Studio seine Arm- und Rückenmuskulatur zu stärken. Anschließend macht er noch ein paar Dehnübungen, um das Muskeltraining abzurunden. Kai trommelt mit den Händen auf dem Tisch, wahrscheinlich zu der Musik, die er gerade über Kopfhörer hört. Theo schläft komplett durch, ohne dass es auffällt. Ein anderer scheint selbst erstaunt, was man so alles mit einem Kaugummi machen kann. Zwei Mädchen verstecken sich hinter ihrer Tasche und spielen mit ihren Smartphones, was eigentlich verboten ist. Nachdem die Schüler bereits einen Praktikums-Ordner abgegeben und wochenlang an einer Praktikums-Wandzeitung gearbeitet haben, sollen sie nun eigentlich von der Vertretungslehrerin an die Tafel geschriebene Fragen abschreiben und dabei beantworten, ob sich das Praktikum für sie gelohnt hat. „Was macht das denn für Sinn?“, echauffiert sich einer der Schüler. Statt zur Arbeit fühlen sich die Schüler immer wieder auch zu verbalen Abschweifungen in Form spontaner Zwischenrufe angeregt: „Ich muss seit zwei Tagen kacken, aber es kommt nichts raus.“ Andere steigen darauf ein: „Ich seit fünf Tagen.“ Daraufhin erzählt wiederum ein anderer Schüler von einem Mann, der einen Monat lang nicht aufs Klo konnte und dann „eine Spritze in den Arsch bekam“. Die Lehrerin ist ratlos: „Das Praktikum ist das Wichtigste in der zehnten Klasse, weil es der erste Schritt ins Berufsleben ist. […] Wahrt doch wenigstens den Schein, als ob ihr arbeiten würdet.“
Georg Breidenstein entdeckte während seiner ethnografischen Beobachtungen des Schulalltages einen stillschweigenden schulischen Konsens, demzufolge Langeweile und die dazugehörigen Formen des Zeitvertreibs von den Lehrern akzeptiert werden, solange sie sich im Stillen abspielen und die Sinnhaftigkeit des Unterrichts nicht offen infrage gestellt wird.63 Die Aushilfslehrerin scheint den Schülern ein solches Angebot zum gegenseitigen Waffenstillstand machen zu wollen. Doch die implizite Übereinkunft zu schulischer Langeweile wurde vonseiten der Schüler aufgekündigt. Diese stellten ihre Langeweile demonstrativ zur Schau und brachten die Lehrerin durch abschweifende Zwischenbemerkungen und provokative Fragen in die Bredouille. Deren ungenügend mit ihren Kollegen abgestimmter Unterricht wurde als unnötige Wiederholung wahrgenommen. Die erneute Beschäftigung mit dem Praktikum konnte die Schüler nicht über ihre miserablen Berufsaussichten hinwegtäuschen, sie führte ihnen diese vielmehr noch deutlicher vor Augen. Schulische Langeweile wurde von den Schülern nicht stillschweigend hingenommen, wenn sie sich nicht mehr nur auf einzelne Fächer oder Lehrer beschränkte, sondern die Schule insgesamt keine Zukunftsorientierung mehr vermitteln konnte. In solchen Fällen handelt es sich nicht mehr um temporäre Phasen der Langeweile in einer eigentlich als sinnvoll erachteten Schule, sondern Schule wird trotz einzelner Episoden ansprechenden Unterrichts als Ganze langweilig.
Dem Thema Schule und Langeweile haben sich in den letzten Jahren mehrere Autoren auf unterschiedliche Weise zugewendet: Kathrin Lohrmanns quantitative Messung von „Langeweile im Unterricht“64, Sabine Schomäckers hermeneutische Auseinandersetzung mit der Frage, ob Schule Langeweile braucht,65 sowie die „Mixed Method“-Untersuchung von Thomas Götz und Anne Frenzel zur „Phänomenologie schulischer Langeweile“66 liefern unter anderem weiterführende kategorische und begriffliche Differenzierungen. Wendet man diese auf die Galilei-Schule an, lassen sich mit Lohrmann die Reaktionsweisen unterteilen in affektive Formen der Leere und Antriebslosigkeit, kognitive Formen des Abschweifens, physiologische Ausdrucksformen der Müdigkeit, Schlaffheit und Ausdruckslosigkeit, in expressiven Gesten des Gähnens oder Dösens sowie in motivationalen Strategien des Tätigkeitswechsels und der Suche nach alternativen Stimuli. Mithilfe der von Sabine Schomäcker vorgeschlagenen Unterscheidung vermischen sich in der Langeweile Elemente einer von Trägheit bestimmten „indifferenten Langeweile“, einer abschweifenden „kalibrierenden Langeweile“, einer von Beschäftigungsdrang bestimmten „zielsuchenden Langeweile“ und einer mit Ärger, Aggression und Hilflosigkeit in Beziehung stehenden „reaktanten Langeweile“. Götz und Frenzel wiederum betonen die Unterschiede zwischen sich eher auf der Hinterbühne abspielenden latent-aktiven und deutlich sichtbareren exponiert-aktiven Formen der Langeweile, die beide wiederum sowohl dem individuellen Zeitvertreib als auch der – an der Galilei-Schule besonders markanten – Provokation des Unterrichtsgeschehens dienen können.
Je stärker Studien zu Schule und Langeweile quantitativ ausgerichtet sind, desto eher liefern sie repräsentative Befunde zur massiven Verbreitung von Langeweile im Unterricht. Doch desto weniger gelingt es ihnen, die subjektive Erfahrung von Langeweile und deren existentielle Dimension zu berücksichtigen. Da letztere weniger in ein methodisch von standardisierten Fragebögen bestimmtes Analyseraster passt, wird sie einfach für irrelevant erklärt und komplett ausgeblendet.67 Der Frage nach der Verbindung von Langeweile mit der Sinnhaftigkeit des Unterrichts geht vor allem Breidenstein nach, wobei er sich jedoch mit gesellschaftskritischen Überlegungen zurückhält.68 Bei ihm finden sich auch hilfreiche methodische Reflektionen zur Ethnografie der Langeweile, so macht er unter anderem auf das Problem aufmerksam, bei der Beobachtung von Langeweile meist nur Formen des Zeitvertreibs und somit eher Reaktionen auf Langeweile in den Blick zu bekommen. Die daraus entstehenden Tableaus der Ablenkung vermitteln dennoch einen Eindruck von dem, was eigentlich während eines großen Teils des Unterrichts an der Galilei-Schule passierte. Um dabei nicht bei einer pathologischen Diagnose stehen zu bleiben, werde ich mich im folgenden Kapitel den situativen Dynamiken und soziokulturellen Kontexten diverser Formen des Zeitvertreibes widmen.
Fehlt der quantitativ-soziologischen Perspektive auf Langeweile tendenziell das Gespür für Atmosphären, Stimmungen und subjektive Befindlichkeiten, so mangelt es in den deutlich zahlreicheren geisteswissenschaftlichen Studien zur Langeweile, die sich zumeist auf klassische Werke der Philosophie und Literatur der Moderne beziehen, an einer milieuspezifisch differenzierten Perspektiven auf die Gegenwart der Langeweile.69 Dennoch finden sich aufschlussreiche Hinweise zur Neukodierung der Langeweile seit dem 20. Jahrhundert. So fragt Elisabeth Goodstein angesichts von Tendenzen der Psychologisierung und Medikamentalisierung, ob sich durch die klinische Behandlung von Langeweile-Symptomen wie Hyperaktivität existentielle Sinnkrisen beheben lassen.70 Für die einst religiös beantworteten und später philosophisch reflektierten Sinnfragen fällt es uns ihr zufolge zunehmend schwer, überhaupt noch eine Sprache zu finden, existentielle Langeweile werde am ehesten noch in elitären Künstlerkreisen artikuliert, während der Masse der Bevölkerung damals wie heute meist lediglich profane Formen der Langeweile zugestanden werden. Der Soziologe Martin Doehlemann versucht in seinem anregenden Büchlein „Langeweile? Deutung eines weit verbreiteten Phänomens“ sozial- und geisteswissenschaftliche Perspektiven miteinander zu verbinden.71 Für ihn gilt das Jugendalter als eine bevorzugte Phase und die Schule als ein typischer Ort der Langeweile, doch verbleibt er zu sehr im Essayistischen und wendet letztlich weder sozialwissenschaftliche Methoden noch geisteswissenschaftliche Ansätze konsequent an.72 Deshalb entgehen seinem Blick auf jugendliche Langeweile und Schule markante Unterschiede zwischen Schultypen und Gruppen von Jugendlichen. Differenziert und vergleicht man darüber hinaus noch innerhalb einer Schule, so wird deutlich, dass manche Lehrer das Problem der Langeweile sehr unterschiedlich handhaben und es teilweise durch ihren Unterrichtsstil weiter verstärken.
Feldtagebuch: Der größte Teil des Mathematik-Unterrichts besteht aus einem einzigen Monolog des Lehrers. Ausgehend vom Problem der Zinsrechnung, das am Beispiel des Schuldenmachens behandelt werden soll, entspinnt sich eine Geschichte nach der anderen. Zunächst berichtet Herr Steiß von einer 46-jährigen Frau, die ihr altes Zeugnis von 1982 wieder vorlegen musste, um sich bei der Post bewerben zu können. „Das brauchte sie noch 30 Jahre später. Ihr seht also, Zeugnisse sind wichtig. Übrigens auch für die Rentenversicherung.“ Als im weiteren Verlauf der Geschichte auf die Bedeutung der „Potenzrechnung“ verweist, bekommen einige Schüler einen Lachkrampf. „Das finde ich unfair mir gegenüber und unfair gegenüber der Klasse“, echauffiert sich der Lehrer, was die Lachenden nur noch mehr amüsiert. Alle warten auf das Ende der Rede. Doch stattdessen geht es weiter mit dem Palästinakonflikt: „Die Islamisten sind nicht rational gesteuert“ und „der Krieg der Zukunft wird mit Robotern gekämpft“, sind einige der von ihm ausgebreiteten Ansichten. „Zeitverschwendung. Was für ein Scheiß-Gerede“, ruft Theo in die Unterrichtsstunde hinein. Nachdem Herr Steiß berichtet hat, wie er in der „Abendschau“ von einer gewalttätigen Hamas-Demo in Berlin erfahren hat, plaudert er über seine Schiffsreise den Gaza-Streifen entlang. Auch zur Reichweite der Raketen der Konfliktparteien und zu Jassir Arafat fällt ihm eine Menge ein, etwa dass er Spendengelder privat abgezweigt und somit sein Volk betrogen habe. Die palästinensischen Schüler in der Klasse schweigen mit versteinerten Mienen. Später meint Khaled zu mir: „Es interessiert mich nicht, was er über Palästina erzählt. Er will immer beweisen, dass wir nichts wert sind.“ Am Ende soll in den letzten zehn Minuten doch noch Mathematik-Unterricht stattfinden. Der Lehrer fordert die Schüler auf, das Buch aufzuschlagen: „Seite 154. Eins. Fünf. Vier.“ Aus der Klasse hallt es zurück. „Hey, so dumm sind wir auch nicht.“
Mit der abschließend zitierten Bemerkung reagierten die Schüler in ambivalenter Weise auf den gegenüber Hauptschülern immer wieder gemachten Vorwurf, sie seien dumm. Das Problem des unter den Schülern als besonders langweilig geltenden Mathematik-Unterrichts lag darin, dass die durchaus vorhandenen Schwierigkeiten vieler Schüler im Fach Mathematik in dieser Unterrichtsform nicht behoben werden konnten. Die Schwächeren schalteten einfach ab und die Leistungsstärkeren fühlten sich unterfordert. Khaled und Theo, die beide ein besonderes Faible und Talent für Mathematik hatten, reagierten darauf in unterschiedlicher Weise. Während der bereits mehrfach für Gewaltdelikte vorbestrafte Khaled versuchte seine Missachtung gegenüber dem Lehrer durch friedliche Ignoranz zu überspielen, neigte der eigentlich als braver Schüler geltende Theo im Mathematik-Unterricht zu aggressiven verbalen Gesten. An anderer Stelle verwies er zudem auf den von ihm angestrebten Realschulabschluss, dessen Vorbereitung durch die Monologe des Lehrers boykottiert würden. Beide Schüler erhielten am Ende des Schuljahres schlechte Noten, worauf ich im Kapitel zur Hauptschulnote noch näher eingehen werde. Langeweile entstand hier aus Unterforderung von gleichzeitig als dumm abgestempelten Schülern.73
Schulische Langeweile als Entfremdung
Die beobachtete Schuldistanz lässt sich als eine Form von Entfremdung deuten. Der Begriff der „Entfremdung“ verweist historisch auf einen ähnlichen Erfahrungshorizont wie die moderne Langeweile, zieht daraus jedoch andere Konsequenzen. Entfremdungsdiagnosen dienten seit dem 19. Jahrhundert ebenfalls als Ausdrucksform für ein Unbehagen an der Moderne, sie stehen jedoch in einem stärker marxistisch orientierten Theoriezusammenhang und zielen auf gesellschaftliche Veränderungen. Marx Entfremdungsbegriff richtete sich in kritischer Absicht auf das aus seiner Sicht durch Industrialisierung und Mechanisierung im Zuge der Moderne gestörte Verhältnis des Arbeiters zum Arbeitsprozess und dem Produkt seiner Arbeit.74 Ich orientiere mich vor allem an der von Rahel Jaeggi vorgelegten sozialphilosophischen Reformulierung des Entfremdungsproblems als gestörtes Selbst- und Weltverhältnis und die damit verbundene Erweiterung des Entfremdungsbegriffs über ökonomische Bedingungen hinaus auf subjektive Verhältnisse und emotionale Befindlichkeiten.75 Dabei begreife ich prinzipiell zwar nicht jede Form der Langeweile als Entfremdung, doch die Ruinierung der räumlichen Infrastrukturen der Galilei Schule führten in Verbindung mit einer als zukunfts- und sinnlos empfundenen Schulzeit zu entfremdeten Zuständen, die sich wiederum am besten über das an der Schule weit verbreitete Gefühl der Langeweile erfassen lassen. Das Verhältnis zwischen Langeweile und Entfremdung lässt sich sowohl im Rekurs auf klassischen Kommentatoren der Moderne wie Martin Heidegger und Walter Benjamin sowie in Bezugnahme auf zeitgenössischen Autoren diskutieren.
Die existentialistische Frage nach dem Sinn von Sein steht im Zentrum von Martin Heideggers philosophischem Werk.76 Der Langeweile widmete sich er vor allem in seinen postum veröffentlichten Vorlesungen über „Die Grundbegriffe der Metaphysik“, gehalten an der Universität Freiburg im Wintersemester 1929/30.77 Kennzeichnend für die Langeweile ist für ihn vor allem die Spannung zwischen Hingehaltensein und Leergelassenwerden. Ähnlich wie heutige Autoren hielt auch Heidegger die Langeweile, die er in drei Formen untergliederte, für ein Signum seiner Zeit. „Das Gelangweiltwerden von etwas“, die erste und einfachste Form der Langeweile, kann durch ein Buch, eine Umgebung oder ein Schauspiel hervorgerufen werden, als Beispiel führt Heidegger das Warten an einem öden Bahnhof aus. Ich musste bei dieser situativen Langeweile an den Schulhof der Galilei-Schule denken, bei dem bestimmte äußere räumliche Arrangements zum Gefühl von Langeweile beitrugen. Die zweite Form der Langeweile, „das Sichlangweilen bei etwas und der ihr zugehörige Zeitvertreib“, wird von Heidegger am Beispiel einer langweiligen Abendeinladung veranschaulicht. Diese Langeweile ist unbestimmter und situationsungebundener, sie ähnelt der existentiellen Langeweile darin, dass es sich eher um eine aus dem Inneren aufsteigende langweilige Stimmung handelt, die zudem typischerweise mit einem Arsenal an ablenkenden Nebenbeschäftigungen einhergeht. Die beschriebenen Situationen im Mathematikunterricht und im Fach Berufsorientierung ähnelten langweiligen Dinnerpartys dahingehend, dass sie den Schülern gerade angesichts der angebotenen Beschäftigungsmaßnahmen sinnlos erschienen. Zwar war die Einladung zum Unterricht nicht freiwillig, doch wurde sie von vielen Schülern dennoch lieber ausgeschlagen. Heideggers dritte Form der Langeweile, die „tiefe Langeweile“, ist in seiner Sicht gleichzeitig die höchste Form des sich Langweilens. Gemeint ist eine existentialistisch gedachte Leergelassenheit, in der sich ein tieferer Blick in das Dasein offenbart. Diese Langeweile wird als ein Weg der philosophischen Erkenntnis propagiert, von dem jede Form des Zeitvertreibs nur ablenken würde. An dieser dritten Form zeigen sich die Stärken und Schwächen von Heideggers Ansatz. Die in der Langeweile angelegte reflexive Perspektive, die auch in der Galilei-Schule zu Fragen wie „Was mache ich hier?“ oder „Was soll das Ganze?“ führen könnte, bedarf einer gewissen Stimmung oder Gestimmtheit, in der die Welt in einem bestimmten Licht erscheint. Langeweile hat deshalb auch eine ästhetische Dimension. Der Philosoph Heidegger kann sich die Gestimmtheit der tiefen Langeweile jedoch nur als geistige Kontemplation über einen großen verborgenen Sinn vorstellen und nicht als in alltäglichen Praktiken angelegte oder in Zwischenrufen artikulierte kritische Reflektion des Alltags.
Walter Benjamin suchte dagegen auch im Profanen nach Illuminationen. Überlegungen zur Langeweile finden sich vor allem im Konvolut D des „Passagenwerks“ – jener berühmten, unvollendet gebliebenen Sammlung von Notizen und Überlegungen, an denen Benjamin zwischen 1927 und seinem Tod 1940 arbeitete.78 Der fragmentarische Charakter dieser Skizzen und Reflektionen zur Langeweile lädt zu verschiedenen Deutungen ein, besonders markant ist die Verbindung zum Traum und zum geschichtsphilosophischen Motiv der ewigen Wiederkehr.79 Das Vergangene verschwindet bei Benjamin nicht einfach, es versinkt in Träumen und hält somit die Gegenwart in seinem Bann. Langeweile lässt sich mittels dieser Denkbewegung als eine Art fortwährendes wohliges doch auch akzentloses Schlummern vorstellen, ein Erwachen wäre dagegen eine Befreiung aus dem Albtraum der Geschichte.80 Die ewige Wiederkehr des Gleichen meint im „Passagenwerk“ die für die Moderne als typisch erachtete sinnlose Wiederholung von disparaten Erlebnissen, von leeren Momenten, die sich nicht mehr zu einer authentische Erfahrung verbinden und somit letztlich zu Langeweile führen. Die ewige Wiederkehr ist im Werk Benjamins gleichzeitig geschichtsphilosophisch konnotiert. Da er nicht an ein marxistisch inspiriertes lineares Fortschrittsmodell glaubte, sondern Geschichte als Ansammlung von Katastrophen begriff, erschien ihm die ewige Widerkehr als das Fortleben von historischen Tragödien in der Kultur der Gegenwart.81 Lässt man sich auf diesen Gedankengang ein, erscheint auch die Geschichte der Schule in Deutschland als ein nicht enden wollender Albtraum. Eine solche – zunächst vielleicht eher abwegig erscheinende – Deutung drängt sich auf, wenn man sich mit Ludwig von Friedeburg die Geschichte gescheiterter Bildungsreformen in Deutschland vergegenwärtigt.82 Ausgehend von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart dient die Schule in Deutschland Friedeburgs Lesart folgend entgegen ihrem offiziellem Selbstverständnis primär der Reproduktion von Macht- und Klassenverhältnissen. Viele Bildungsreformen, vor allem jene der 1970er Jahre, zielten auf eine größere Inklusion, doch am Ende kam es nie zu einer umfassenden Veränderung der Klassenverhältnisse. Anhaltende Reformen des Schulsystems führen demnach nicht zu einer stetigen Verbesserung, sie erscheinen vielmehr als ewige Wiederkehr des Gleichen in stets neuen Gewändern. Die Veränderungsdynamik scheint sich dabei noch zu beschleunigen, so kommen die Berliner Schulen den ständigen Schulreformen kaum noch hinterher. An der Galilei-Schule wurde im Jahr 2012/13 beispielsweise, noch während des laufenden Prozesses der Umwandlung von einer Haupt- in eine Sekundarschule, bereits das auf eine erneute Umwandlung der Schule zielende Projekt eines „School-Turnarounds“ angekündigt. Die aus Sinn- und Zukunftslosigkeit resultierende Langeweile könnte nur überwunden werden, wenn Schulen sich vom Bann des Segregationsprinzips befreien und aus dem Albtraum der Exklusion erwachen würden.
Zeitgenössische Anknüpfungspunkte zum Thema Langeweile und Entfremdung finden sich derzeit vor allem im weiteren Umfeld der Frankfurter Schule, etwa bei der Sozialphilosophin Rahel Jaeggi und dem Soziologen Hartmut Rosa, die gegenwärtig zu beobachtende Formen der Entfremdung von der dinglichen und sozialen Welt mit Blick auf die durch gesellschaftliche Strukturen oder soziale Institutionen gestörten Welt- und Selbstverhältnisse untersuchen. In ihrer Studie zum Entfremdungsbegriff konzipiert Jaeggi diesen als eine „Beziehung der Beziehungslosigkeit“.83 Mit Entfremdung meint sie demnach nicht die Abwesenheit einer Beziehung, sondern eine defizitäre Bindung, in unserem Fall das Fehlen einer positiven Identifikation mit der Schule. Die Nichtbeachtung zeitlicher Ordnungsvorgaben, der als sinn- und bedeutungslos empfundene Unterricht sowie die damit einhergehende Langeweile, stehen exemplarisch für Prozesse der Entfremdung von einer Institution, von der Schüler gerade deshalb enttäuscht sind, da sie ihnen nicht egal ist. Jaeggi koppelt den Entfremdungsbegriff an das Autonomieproblem, indem sie Freiheit und Selbstbestimmung als die entscheidenden Merkmale von Nicht-Entfremdung postuliert, mit dieser Engführung geraten jedoch eher spielerische und alltagspragmatische Reaktionen auf das Problem der Langeweile tendenziell aus dem Blick.84 Auch Hartmut Rosa begreift den Entfremdungsbegriff als eine Schlüsselkategorie der Sozialkritik.85 Vor allem seine damit in Verbindung stehenden Überlegungen zum Begriff der Resonanz bieten sich für eine Übertragung auf das Thema Schule und Langeweile an.86 Der öde Schulhof sowie der weitgehend inhaltsleere Unterricht ermöglichen den Schülern der Galilei-Schule keine positiven Resonanzerfahrungen mehr, Schule erscheint ihnen als kahl und dröge. Rosa deutet schulische Resonanzverhältnisse sozialtheoretisch als Ursache und Folge gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse: Während privilegierte Schülergruppen die Institution Schule tendenziell als einen positiven Resonanzraum erleben, wird sie für Bildungsverlierer zu einer von Indifferenz und Repulsion geprägten Entfremdungszone.87 Rosas Kritik der Klassenverhältnisse wird jedoch durch seine romantisierende Resonanzemphase, seine bildungspolitische Ausrichtung an einem idealisierten Humboldt’schen Bildungsverständnis und seine beispielhaft aufgeführten positiven Erfahrungen im Umgang mit Eliteschülern teilweise wieder untergraben. Rosa und Jaeggi tendieren sowohl in ihren normativen Prämissen als auch in ihren Beispielen zu einer verallgemeinerten bildungsbürgerlichen Lesart des Entfremdungsproblems, die bei Marx als Werkzeug zur Analyse von Klassenverhältnissen konzipierte Entfremdungskritik wird damit unfreiwillig ein Stück weit entpolitisiert.
Langeweile fungiert heute als eine Art Überkategorie für diverse Formen von Lähmung und Unterstimulation, doch droht sie gerade aufgrund ihres postmodernen Siegeszugs zu einer „toten Metapher“ zu werden.88 Klassische und zeitgenössische Diagnosen von Langeweile und Entfremdung in der Moderne sind neben Bestandsaufnahme stets auch Kritik. Denn Langeweile ist nicht einfach eine neutrale Diagnose von langsam vergehender Zeit, sie impliziert auch ein Unbehagen an einer als leer empfundenen Zeit. Siegfried Kracauer bezeichnete tiefe Langeweile als eine „radikale Langeweile“, da sie mit einer kritischen Reflektion der eigenen Lebensumstände einhergehen kann.89 Und Henri Lefèbvre fand in der Langeweile Spuren von unerfüllten Wünschen und nichtrealisierten Möglichkeiten und schrieb ihr deshalb ein utopisches Potential zu.90 Auch in der Galilei-Schule schwingt, wie bereits angedeutet, in den häufigen Klagen über Langeweile neben der persönlichen Unzufriedenheit auch eine Kritik an der Schule mit. Situative Momente der Langeweile schaffen Raum und Muße zur Selbstreflexion, die zu existentiellen Fragen nach dem Sinn des Schulbesuchs führen können. Schulische Langeweile und die mit ihr einhergehenden Ablenkungsmanöver werden jedoch zumeist nicht als kritische Reflektion, sondern als individuelle Lernverweigerung sowie als Störung des Unterrichts aufgefasst. Langeweile wird heute oft mit impulsivem Verhalten in Beziehung gesetzt und in der Folge als Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) medikamentös behandelt.91 Die Privatisierung, Pathologisierung und Medikamentalisierung von Langeweile tragen wesentlich dazu bei, deren soziale Ursachen und gesellschaftliche Dimension aus dem Blick zu verlieren und Langeweile somit ihres kritischen Potentials zu berauben.
SCHLUSS: LANGEWEILE ALS PROBLEM
Schulische Atmosphären der Langeweile sind zwar diffuse und ephemere, doch gleichsam auch wirkmächtige Phänomene, deren Erforschung empirische Herausforderungen und konzeptionelle Schwierigkeiten mit sich bringt. Denn zu den Eigenheiten der Langeweile gehört ihre Eigenschaft, Räume blass und grau sowie Zeiten fad und leer zu machen und sie somit als eigenschaftslos erscheinen zu lassen.92 Zudem zeichnet sich der strenge Grenzziehungen zwischen Subjektivem und Objektivem unterlaufende Atmosphärenbegriff durch semantische Offenheit und Ambiguitäten in den begrifflichen Gebrauchsweisen aus.
Die vorgeschlagene analytische Verknüpfung von affektiven Atmosphären der Langeweile mit einem Blick auf Prozesse der Ruinierung und Entfremdung verbindet die Untersuchung der räumlichen und zeitlichen Dimensionen von Exklusionsprozessen mit ethnografischem Gespür für die affektive Wahrnehmung und das emotionalen Erleben von sozialer Ausgrenzung. Eine akademische Grabenkämpfe überspringende Verbindung unterschiedlicher Forschungsansätze erweist sich dabei als Voraussetzung, um in einer „dichten Beschreibung“93 unterschiedliche Facetten von Atmosphären hervorheben zu können: historische Beschreibungen und sozialtheoretische Reflektionen, subjekt- und objektorientierte Analyseperspektiven, sozial- und geisteswissenschaftliche Forschungsansätze, sowie phänomenologische und politische Blickweisen.94 Affektive Atmosphären schulischer Langeweile veranschaulichen die exkludierenden Wirkungen von Strukturbildungen sozialer Raumzeit, bei denen die Ruinierung sozialer Räume mit einem Zusammenbruch zeitlicher Ordnungsvorstellungen einhergeht.95 Neuköllner Hauptschüler wurden mit dem Zusammenbruch beruflicher Zukunftsperspektiven auf eine ewige Gegenwart zurückgeworfen, während sie durch die bildungspolitische Delegierung auf schulische Inseln der Ausgegrenzten gleichzeitig sozialräumlich segregiert wurden.96 Daran anschließend lässt sich ein metaphorisches Bild zeichnen, auf dem die mit der Institution Schule assoziierten Zukunftsversprechen zerbröckeln wie der Putz an den Wänden der Galilei-Schule und die Aussichten der Schüler auf dem Arbeitsmarkt so trostlos und deprimierend wirken wie ihr ruinierter Schulhof.
Situative und existentielle Formen der Langeweile sind in diesen Exklusionsprozessen miteinander verbunden und sollten deshalb nicht analytisch getrennt werden. Nur wer beide Seiten der Medaille im Blick behält, kann die Mehrdeutigkeit von Langeweile erfassen. Während quantitativ-soziologische Ansätze die „tiefe“ Langeweile nicht greifen können, fehlt es geisteswissenschaftlichen Perspektiven tendenziell am Zugang zu den „profanen“ Formen der Langeweile. Mein ethnografisch-kulturwissenschaftlicher Ansatz fokussierte sich auf konkrete Situationen alltäglicher schulischer Langeweile und entdeckte in banal erscheinenden Alltagsmomenten räumliche und zeitliche Texturen sowie wiederkehrende Muster von Problemen und Reaktionsweisen. Mit der Deutung von Atmosphären der Langeweile als Ergebnis von allmählicher Ruinierung und als alltägliches Beispiel für Entfremdung schlug ich eine politische Lesart vor, welche die allmähliche Ruinierung der räumlichen Infrastrukturen und das bröckelnde Zeitregime der Galilei-Schule gesellschaftstheoretisch deutet. Die Langeweile an der Galilei-Schule ist nicht einfach nur ein Problem der dortigen Schüler und Lehrer, sie ist die Folge gesellschaftlicher Exklusionsprozesse und somit ein Problem unserer Gesellschaft.
1Goodstein: Experience without Qualities.
2Dale Pezze/Salzani: The Delicate Monster.
3Vgl. Cavell: Performative and Passionate Utterance.
4Vgl. Toohey: Boredom.
5Vgl. Breuninger/Schiemann (Hg.): Langeweile.
6Vgl. Doehlemann: Langeweile?, S. 132ff.
7Vgl. Han: Müdigkeitsgesellschaft, S. 24-29.
8Zum elitären Selbstverständnis vgl. exemplarisch Cioran: Sonntage des Lebens. Zur Unterscheidung von situativer und existentieller Langeweile vgl. Svendson: Kleine Philosophie der Langeweile.
9Vgl. Böhme: Atmosphäre; Böhme: Aisthetik; Andermann/Eberlein (Hg.): Gefühle als Atmosphären, Bondi/Davidson/Smith (Hg.): Emotional Geographies; Lehnert: Raum und Gefühl.
10Vgl. Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle.
11Ebd., S. 23.
12Böhme: Atmosphäre, S. 45; Böhme: Aisthetik, S. 49; Vgl. dazu auch Böhme: Architektur und Atmosphäre.
13Vgl. Reckwitz: Affective Spaces; Schroer/Schmitt (Hg.): Exploring Atmospheres Ethnographically.
14Vgl. Anderson: Affective Atmospheres.
15Vgl. Lefèbvre: The Production of Space.
16Vgl. Gieryn: What buildings do; Delitz: Architektursoziologie, S. 79ff.
17Zu Raum und Gefühl vgl. Reckwitz: Affective spaces; Lehnert (Hg.): Raum und Gefühl; Bondi/Davidson/Smith (Hg.): Emotional Geographies. Zu Schularchitektur vgl. Göhlich: Die pädagogische Umgebung; Böhme (Hg.): Schularchitektur im interdisziplinären Diskurs; Jelich/Kemnitz (Hg.): Die pädagogische Gestaltung des Raums.
18Vgl. Navaro-Yashin: The Make-Believe Space; Larkin: The Politics and Poetics of Infrastructure.
19Zum Schulgebäude vgl. Homann: Berliner und Neuköllner Schulgeschichte von 1747-1992.
20Ebd., S. 137.
21Vgl. Schneider: Die Suche nach dem idealen Schulbau im 20. Jahrhundert; Göhlich: Die pädagogische Umgebung; Göhlich: Schulraum und Schulentwicklung.
22Homann: Berliner und Neuköllner Schulgeschichte von 1747-1992, S. 138.
23Vgl. ebd.
24Vgl. dazu den Dokumentarfilm „Die Klasse – Berlin 61“ von Michael Klette und Ben von Grafenstein.
25Gößwald (Hg): Neukölln macht Schule, S. 137.
26Vgl. ebd.
27Vgl. Wellgraf/Reimers: Bildungssemantiken und Bildungspraktiken.
28Vgl. Bollenbeck: Bildung und Kultur; Koselleck: Begriffsgeschichten, S. 105ff.
29Vgl. Homann: Berliner und Neuköllner Schulgeschichte von 1747-1992.
30Vgl. Gintis: Towards a political economy of education.
31Vgl. Bourdieu: Ortseffekte.
32Vgl. Böhme: Atmosphäre, S. 40ff.
33Vgl. Star: The Ethnography of Infrastructure; Angelo/Hentschel: Interactions with infrastructure as windows into social worlds.
34Vgl. Larkin: The Politics and Poetics of Infrastructure.
35Zur Unterfinanzierung von Haupt- und Sekundarschulen vgl. Schmidt: Warum Mittelmaß?; Allmendinger/Leibfried: Education and the Welfare State, S. 73: „The missing competences of these students in the secondary education system in Germany may well be explained by an investment bias discriminating against primary and lower secondary education.“
36Vgl. Graham: When Infrastructure Fails.
37Vgl. Claus-Dieter Steyer: Völlig von der Rolle. Grundschule droht Schließung wegen Hygienemängeln; Susanne Vieth-Entus: Nicht ganz sauber. Unhygienische Zustände an Schulen, beides in: Berliner Tagesspiegel, 14.01.2014.
38Vgl. Stoler: Imperial Debris; Stoler: „The Rot Remains“; Martin: Towards a Political Understanding of New Ruins; Street: Affective Infrastructure, Navaro-Yashin: The Make-Believe Space. Zu einer postkolonialen Perspektiven auf Berlin vgl. Hentschel: Postcolonializing Berlin and the Fabrication of the Urban; Lanz: Über (Un-)Möglichkeiten, hiesige Stadtforschung zu postkolonialisieren.
39Vgl. Toohey: Boredom, S. 35ff.
40Vgl. Müller: Die Entwicklung des Schulmöbels als Industrieprodukt.
41Vgl. ebd.
42Vgl. Löw: Raumsoziologie.
43Ebd., S. 166ff.
44Vgl. Willis: Learning to Labor; Löw: Raumsoziologie, S. 231ff.
45Vgl. Breidenstein: Teilnahme am Unterricht, S. 39ff. Für weitere erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf Schule und Raum vgl. unter anderem Rieger-Ladich /Berdelmann: Klassenzimmer und ihre „materielle“ Dimension; Rieger-Ladich /Graubau: Schule als Disziplinierungs- und Machtraum.
46Angelehnt an Fuchs: Zur Phänomenologie der Stimmungen.
47Vgl. Wellbery: Stimmung; Gumbrecht: Stimmungen lesen; Gisbertz (Hg.): Stimmung; Reents/Meyer-Sickendiek (Hg.): Stimmung und Methode.
48Vgl. Wellbery: Stimmung.
49Vgl. Stewart: Atmospheric Attunements; Brennan: The Transmission of Affect.
50Vgl. Seyfert: Beyond Personal Feelings and Collective Emotions; Slaby/Mühlhoff /Wünschner: Affective Arrangements.
51Vgl. Urry: Time.
52Vgl. Schell: Zeit in volkskundlicher Perspektive.
53Vgl. Dohrn-van Rossum: Die Geschichte der Stunde; Macho/Kassung (Hg.): Kulturtechniken der Synchronisation; Luhmann: Weltzeit und Systemgeschichte; Luhmann: Gleichzeitigkeit und Synchronisation.
54Vgl. Drews: Zeit in Schule und Unterricht, S. 24f.
55Vgl. Lefèbvre: Éléments de rythmanalyse; Grang: Rhythms of the City; Vogelpohl: Urbanes Alltagsleben.
56Vgl. Gumbrecht: Stimmungen lesen, S. 29.
57Vgl. Bourdieu: Méditations pascaliennes, S. 297ff.
58Vgl. Goodstein: Experience without Qualities; Dale Pezze/Salzani: The Delicate Monster; Meyer Spacks: Boredom.
59Zu Langeweile und Gender vgl. Pease: Modernism, Feminism and the Culture of Boredom; Kessel: Langeweile.
60Vgl. Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel: Die Arbeitslosen von Marienthal.
61Ebd. S. 84.
62Vgl. Moser: „Time is what you make out of it“.
63Vgl. Breidenstein: Teilnahme am Unterricht, S. 85.
64Lohrmann: Langeweile im Unterricht.
65Schomäcker: Schule braucht Langeweile?
66Götz/Frenzel: Phänomenologie schulischer Langeweile.
67Vgl. Lohrmann, S. 32.
68Vgl. Breidenstein: Teilnahme am Unterricht, S. 65ff.
69Vgl. Goodstein: Experience without Qualities; Dale Pezze/Salzani: The Delicate Monster; Meyer Spacks: Boredom, Toohey: Boredom.
70Vgl. Goodstein: Experience without Qualities, S. 23f.
71Vgl. Doehlemann: Langeweile?
72Ebd., S.138ff.
73Zum Verhältnis von Unterforderung und Langeweile vgl. Prammer: Boreout.
74Vgl. Marx: Entfremdete Arbeit.
75Vgl. Jaeggi: Entfremdung.
76Vgl. Heidegger: Sein und Zeit.
77Vgl. Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik, S. 111ff.; Wüschner: Die Entdeckung der Langeweile.
78Vgl. Benjamin: Das Passagenwerk, S. 156ff.
79Für einen Überblick zur Langeweile im Werk Benjamins vgl. Salzani: The Atrophy of Experience.
80Vgl. Benjamin: Das Passagenwerk, S. 161f.
81Vgl. Benjamin: Über den Begriff der Geschichte.
82Vgl. Friedeburg: Schulreform in Deutschland.
83Vgl. Jaeggi: Entfremdung, S 19.
84Vgl. Jaeggi: Freiheit als Nicht-Entfremdung.
85Vgl. Rosa: Kritik der Zeitverhältnisse.
86Vgl. Rosa: Resonanz; Beljan: Schule als Resonanzraum und Entfremdungszone.
87Vgl. Rosa: Resonanz, S. 402-420.
88Vgl. Goodstein: Experience without Qualities, S. 420.
89Vgl. Kracauer: Das Ornament der Masse, S. 321ff.
90Vgl. Gardiner: Henri Lefebvre and the ,Sociology of Boredom‘.
91Vgl. Pease: Modernism, Feminism and the Culture of Boredom; Kessel: Langeweile; Boden: The Devil Inside.
92Vgl. Svendson: Kleine Philosophie der Langeweile, S. 118ff.
93Vgl. Geertz: Dichte Beschreibung.
94Vgl. Navaro-Yashin: Affective Spaces, Melancholic Objects.
95Vgl. Weidenhaus: Soziale Raumzeit.
96Vgl. ebd., S. 205ff.