Cruel Optimism. Am Ende der Zukunft
Besonders in neoliberalen Zeiten, in denen die beruflichen Aussichten breiter Bevölkerungsschichten zunehmend prekär erscheinen, blühen Fantasien des „guten Lebens“, eines Lebens in Wohlstand, Sicherheit und Geborgenheit. Lauren Berlant fasst diese grundlegende Spannung der Zukunftsorientierung unter prekären Erwerbsbedingungen mit der paradox anmutenden Formel des „Cruel Optimism“ zusammen. Im gleichnamigen Buch untersucht sie typische Inhalte und emergente Formen dieser krisenhaften Zukunftsorientierung im westlichen Kapitalismus, sie fragt nach den emotionalen Erfahrungsweisen und den kulturellen Genres, die sich daraus entwickeln. Die optimistische Bindung an „klassische“ Zukunftsszenarien ist aus ihrer Sicht nicht nur deshalb „grausam“, da diese angesichts von Transformationen des Arbeitsmarktes immer weniger realisierbar erscheinen, sondern weil die imaginäre Fixierung auf solche Fantasien selbst zu einem Hindernis für das eigene psychische Wohlbefinden und das berufliche Fortkommen werden kann. In diesem Kapitel gehe ich der Wechselbeziehung zwischen der Sehnsucht nach Normalität und der Normalisierung von Prekarität am Beispiel von Träumen und alltäglichen Formen des sich Zurechtfindens von Berliner Hauptschulabsolventen nach.
Zukunftsvorstellungen sowie die mit ihnen verknüpften Hoffnungen sind historisch, kulturell und sozial geprägt. Der Historiker Reinhart Koselleck hat die Geburt der Zukunft in der Frühen Neuzeit zwischen 1500 und 1800 verortet, bis dahin fügten sich die Menschen in Europa weitgehend unhinterfragt der vorgegebenen ständischen und göttlichen Ordnung.1 Mit dem Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft drifteten vor allem im Verlauf des 18. Jahrhunderts „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ merklich auseinander, die Erwartung des Unerwarteten, von kommenden Veränderungen verbreitete sich und somit die Vorstellung von Zukunft im modernen Sinne.2 Dieses Zukunftsverständnis wurde im Zuge der Aufklärung mit dem Fortschrittsdiskurs verknüpft, was mit einem Umschwung von pessimistischen auf optimistische Zukunftsszenarien einherging. Ungefähr seit der Jahrtausendwende, also etwa 200 Jahre später, scheinen sich die Vorzeichen der Zukunft nun wieder zu verfinstern. Diagnostiziert wird zunächst ein „Angriff der Zukunft auf die übrige Zeit“, eine quantitative Zunahme und eine wachsende Bedeutung von Zukunftsvorstellungen: Zum einen kursieren eine wachsende Zahl möglicher Zukunftsszenarien, zum anderen nehmen deren handlungsleitende und sinnstiftende Funktionen zu.3 Doch die Zukunft hat dabei ihren grundlegenden Optimismus eingebüßt, der Zukunftsbezug selbst hat sich teilweise negativ eingefärbt: Zukunft wird heute weniger als ein Versprechen auf Fortschritt und mehr als eine Drohung mit katastrophischen Zügen vorgestellt.4 Zukunftshandeln bedeutet unter diesen Vorzeichen vor allem Gefahrenvorsorge und Katastrophenprävention.
In der Kultur- und Sozialanthropologie haben sich die Vorzeichen des Schreibens über die Zukunft ebenfalls gewandelt, die beschriebenen Zukunftsszenarien sind düsterer und weniger hoffnungsvoll geworden.5 Das „Prinzip Hoffnung“ im Sinne eines utopischen Strebens über die vorherrschenden kapitalistischen Verhältnisse hinaus lässt sich mit dem Bedeutungsverlust marxistisch orientierter Systemalternativen nicht mehr ungebrochen aufrechterhalten.6 Ethnologen wissen angesichts umfassender neoliberaler Transformationen, deren Zukunftsverheißungen sich häufig als desaströs erwiesen haben, nicht mehr so recht, worauf sie hoffen sollen. Auch der Fortschritt ist für sie längst kompromittiert. Über Jahrzehnte hatten sie sich darin geübt, die ideologischen Narrative des Modernisierungsparadigmas zu dekonstruieren, doch seitdem in der neoliberalen Weltordnung erbarmungslos Regionen und Bevölkerungsgruppen zurückgelassen werden, erkennen sie, dass der Wunsch nach „Fortschritt“ für viele in Armut lebende Menschen durchaus seine Berechtigung hat. Die neue Anthropologie des Hoffens ist skeptisch gegenüber einer undifferenzierten Befürwortung des „Prinzips Hoffnung“. Angesichts der neoliberalen Aneignungen der Zukunft und des Optimismus schauen Feldforscher genauer hin, was in konkreten soziökonomischen Kontexten versprochen, erhofft und am Ende tatsächlich realisiert wird.7
Das Thema Zukunft ist emotional stark aufgeladen, neben den im letzten Kapitel geschilderten Angstgefühlen, sind auch die hier im Mittelpunkt stehenden Formen des Hoffens affektiv ausgerichtet. Um der sozialen Bedingtheit von emotional besetzten Zukunftsorientierungen nachzugehen, führe ich einige Überlegungen aus meiner vorigen Studie zu Hauptschülern zu weiter.8 Auf meine Fragen nach ihren Zukunftsträumen artikulierten die Schüler bereits im Jahr 2008/09 vor allem Wünsche nach beruflicher Sicherheit und familiärer Geborgenheit. Die ersten sechs Monaten nach Verlassen der Hauptschule waren dann jedoch vor allem von Misserfolgen und Demütigungen auf dem Arbeitsmarkt geprägt: Die Schüler scheiterten in der Regel bei Bewerbungsgesprächen und Einstellungstests oder fühlten sich als Praktikanten und unbezahlte Aushilfskräfte ausgebeutet. Den Träumen der Schüler ging ich im Schuljahr 2012/13 über Traumworkshops gezielter nach. Und diesmal begleitete ich die Absolventen nicht unmittelbar nach dem Verlassen der Schule, sondern traf einige von ihnen drei, fünf und – im Fall einer Neuköllner Schülerin aus meiner ersten Forschung – zehn Jahre nach Schulabschluss wieder. Ziel war es, zumindest punktuell eine mittel- und langfristige Perspektive auf berufliche und persönliche Lebensverläufe zu erhalten und dabei der Frage nachzugehen, was aus den einstigen Lebensträumen geworden war?
Das ungewöhnliche Format eines Traumworkshops hatte ich bereits kurz vor Beginn meiner Feldforschung im Rahmen des Bildungsprogramms der Busan Biennale 2012, einer Kunstausstellung in Südkorea, mit etwa gleichaltrigen südkoreanischen Schülern ausprobiert. Angeregt von den französischen Surrealisten, deren Versuchen über spiritistische Sitzungen, Schlafexperimente, Traumprotokolle, automatisches Schreiben und Collagen sich spielerisch dem Unterbewussten anzunähern, sollten die Jugendlichen auf Matten liegend mit geschlossenen Augen und von klassischer Musik begleitet zunächst ihren Träumen folgen und diese dann in selbst gewählter Form aufzeichnen und sich gegenseitig vorstellen.9 Dabei folgte ich den Empfehlungen Sigmund Freuds, demnach der Proband bei der Annäherung an Traumgedanken möglichst „eine ruhige Lage einnimmt und die Augen schließt“ und auf jedwede Kritik oder inhaltliche Vorgabe verzichtet wird. Da Traumdenken vor allem ein Denken in Bildern ist, lagen zudem Stifte und Blätter bereit.10 Die meist aus bildungsorientierten Familien stammenden südkoreanischen Schüler sehnten sich vor allem nach Oasen der Ruhe, in denen sie dem Stress der Schule und der Großstadt für eine Weile entkommen konnten. Die Traumworkshops an der Galilei-Schule fanden im Rahmen einer Projektwoche statt, dabei interessierte mich, welche Traummotive durch dieses Format evoziert werden und welche Vorstellung von Zukunft sich darin abzeichnen. Bei der Durchführung des Traumworkshops in Neukölln kam mir entgegen, dass ich die Schüler zu diesem Zeitpunkt bereits gut kannte und auch jene Schüler mir wohlgesonnen waren, die ansonsten zu Störungen des Unterrichts neigten. Zudem waren die Gruppen nicht zu groß, an den beiden Workshops in den Klasse 10a und 10b nahmen insgesamt 23 Schüler teil, also etwa die Hälfte des Abschlussjahrgangs der Galilei-Schule.
Meint man mit dem alltäglichen Ausspruch „eine Zukunft haben“ die normative Vorstellung eines möglichst reibungslosen Übergangs von der Schule in den Beruf und die daraus folgende Gründung eines eigenen Familienhaushalts, dann scheint die Zukunft für Berliner Hauptschüler tatsächlich an ihr Ende gelangt zu sein. Damit wird auch die Hoffnung auf sozialen Aufstieg grundlegend erschüttert, die klassischerweise für die Zukunftsorientierungen in statusorientierten kapitalistischen Gesellschaften von zentraler Bedeutung war. Doch was kommt nach dem Ende der Zukunft? Wovon träumen Heranwachsende in der „Abstiegsgesellschaft“?11 Und welche Hoffnungen entwickeln sich in schulischen Kontexten, in denen Hoffnungen zerstört werden?
SEHNSUCHT NACH NORMALITÄT
Träume sind imaginäre Erfüllungen von Wünschen – diese Grundeinsicht aus Sigmund Freuds Traumdeutung soll auch die Betrachtung der Traumbilder von Neuköllner Hauptschülern anleiten.12 Unterscheidet man mit Freud unterschiedliche Formen von Träumen entlang ihres Grades an Sinnhaftigkeit, dann erscheinen die meisten der hier besprochenen Träume als mehr oder weniger strukturiert und sinnvoll.13 Dies ist nicht als Einschränkung zu verstehen, denn die Traumarbeit bedarf ohnehin immer auch der Verdichtung und der Rücksicht auf bildliche Darstellbarkeit, Träume sind also nie ein reines Abbild des Unbewussten.14 Ich vertrete hier einen weiten Traumbegriff, der eher demjenigen des 19. Jahrhunderts entspricht, als man unter Träumen noch ein weites Feld von nächtlichen Träumen, Tagträumen, Visionen, Fantasien und Imaginationen verstand.15 Die in den Traummotiven erkennbar werdenden Wunschstrukturen werden nicht wie in der freudianischen Psychoanalyse auf ein ödipales Beziehungsgefüge zurückgeführt, sondern in Bezug auf gesellschaftlich bedingte Ungleichheitsverhältnisse und die durch sie bedingten Wunschstrukturen gedeutet. Dabei betone ich die prospektive Funktion von Träumen, die besonders Carl Gustav Jung als Ergänzung zu Freuds Traumverständnis als Wunscherfüllung stark gemacht hat.16 Demnach bieten Träume eine Antizipation zukünftiger Leistungen oder Errungenschaften, die aus einer Kombination von Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühlen heraus entsteht. Traumberichte bieten somit Möglichkeiten, Hoffnungen auf Zukünftiges zu untersuchen.
Von den empirisch verfahrenen Sozial- und Kulturwissenschaften hat die Ethnologie eine besondere Faszination für den Traum entwickelt.17 Die strukturalistische Methode, mit der Träume ethnologisch bevorzugt untersucht wurden, ähnelte psychoanalytischen Deutungsversuchen dahingehend, dass hinter den Trauminhalten grundlegendere Erklärungsmuster vermutet wurden. Die Untersuchung nicht-westlicher Träume hatte teilweise eine doppelt exotistische Schlagseite, indem zusätzlich zu fernen indigenen Stämmen noch deren als besonders vormodern geltenden Traumwelten untersucht wurden, sollte die westliche Zivilisation möglichst weit zurückgelassen werden. Einige solcher Auseinandersetzungen mit nichtwestlichen Träumen – wie Hans-Peter Dürrs Studie „Traumzeit“ und Bruce Chatwins Roman „Traumpfade“ – wurden ethnologisch inspirierte Bestseller. Doch ungefähr seit den späten 1980er Jahre entwickelte sich in der Ethnologie ein verstärktes Interesse an „westlichen“ Träumen, an Traumpraktiken in europäisch-nordamerikanischen Kontexten und auf die westliche Zivilisation bezogenen Trauminhalten. Dies ging einher mit einem allgemein verstärkten kulturtheoretischen Interesse an den „dunklen“ Seiten der Moderne, dem Unheimlichen und dem Verdrängten der Modernisierung, sowie an alltäglichen Formen des Tagträumens und Fantasierens.18
Traumzeiten
Die Galilei-Schüler träumten von unterschiedlichen Dingen, doch zeichneten sich im Traumworkshop dennoch gemeinsame Konturen und aufschlussreiche Motive ab. Ich kann an dieser Stelle den durch das Forschungsformat evozierten Trauminhalten nicht in ihrer Gesamtheit gerecht werden, sondern lediglich dem Hinweis Freuds folgend, mich auf ausgewählte Teilstücke statt auf Träume als Ganzes fokussieren.19 Dazu zählt die Frage nach den in den Schülerträumen sichtbar werdenden zeitlichen Orientierungen, die auffallende Prominenz des Motivs des Eigenheims und die deutlich hervortretende Sehnsucht nach Zukunftsvergessenheit – dem Wunsch, sich zumindest im Traum nicht mehr mit den als belastend empfundenen Zukunftsfragen beschäftigen zu müssen.
Die Frage nach den im Träumen hervortretenden Zeitkonzepten ist komplizierter als sie auf den ersten Blick erscheint, da zunächst geklärt werden muss, welche Ebene von Zeitlichkeit gemeint ist.20 Zunächst war der Traumworkshop selbst eine zeitliche Praxis, die auf spezifische Weise in den Schulbetrieb integriert war. Indem die Lehrer mir dafür einen Projekttag innerhalb der im Schuljahresplan vorgesehenen Projektwoche zur Verfügung stellten, wurde der Traumworkshop einerseits als verpflichtender Teil des schulischen Bildungsprogramms markiert und unterschied sich andererseits als experimentelles Format vom regulären Unterrichtsprogramm. Träumen ist zudem eine sehr spezifische Form der Auseinandersetzung mit Zeit, bei der etwa verdrängte Vergangenheiten wiederauftauchen oder Zukünftiges imaginiert wird. Träumen kann somit sowohl eine Form der Vergangenheitsbewältigung als auch eine Zukunftsvision sein, in beiden Fällen handelt es sich um eine zeitliche Praxis. Und schließlich waren die Trauminhalte zeitlich orientiert. Sie richteten sich entweder auf die unmittelbare Gegenwart, worunter ich auch noch die jüngste, wenige Tage zurückreichende Vergangenheit subsumiere, oder sie richteten sich in eine fernere Zukunft. Diese Zukunft war zeitlich nicht datiert, doch war damit auf unspezifische Weise wohl das spätere Leben als Erwachsener gemeint. Das Nebeneinander und die Spannung zwischen unmittelbarer Gegenwart und ferner Zukunft wurde besonders in einem von Khaled und Mohamad gemeinsam gezeichneten Traumbild greifbar. In der oberen Hälfte des Bildes hatte Khaled die vom Fernsehturm und Hochhäusern bestimmte Skyline von Berlin mit den Ausschlägen seines eigenen Herzschlages visuell verknüpft – sein Herz pochte demnach im Rhythmus der Stadt, ein Bild für absolute Gegenwart. Auf der unteren Bildhälfte hatte Mohamad die Szenerie einer ländlichen Idylle skizziert: Ein Haus auf einer sonnigen Wiese, daneben ein Baum und ein Zebra, eine positiv besetzter Fantasie-Ort in einer zeitlich unbestimmten Zukunft. Die Bezugnahmen auf die Gegenwart waren bei den Schülern sehr vielfältig, Roberto malte beispielsweise einen in einem Farbeimer versunkenen Menschen und erklärte dazu: „Wir ziehen ja grad um und renovieren noch. Und vorgestern hat sich ein Bekannter von mir mit Farbe bekleckert und das fand ich lustig. Deswegen ist der Typ jetzt in dem Farbeimer. Das war mein Onkel, alle haben gelacht.“ Die ferneren Zukünfte ähnelten sich dagegen auffallend, sie waren, worauf ich gleich noch eingehen werde, fast alle mit dem Motiv des Wohnhauses verknüpft.
Die parallele Betonung der unmittelbaren Gegenwart und die Ausrichtung auf eine ferne Zukunft gilt als besonderes Charakteristikum einer neoliberalen Zeitordnung. Bei ihren Untersuchungen der Zeitvorstellungen der neoliberalen ökonomischen Theorie und des evangelikalen Christentums in den USA diagnostizierte Jane Guyer einen Wandel der gesellschaftlich dominanten Zeithorizonte, bei denen die Gegenwart und die Zukunft zugunsten einer mittelfristigen zeitlichen Orientierung merklich an Bedeutung gewinnen.21 Schon seit den 1950er Jahren fand demnach in der neoliberalen Theorie eine Orientierung am weitgehend abstrakt bleibenden Motiv von zukünftigem Wachstum statt, wodurch gleichzeitig die meist mittelfristig angelegten politischen Steuerungsprogramme und Regulierungsinstrumente tendenziell in Misskredit gerieten. Diese Form der Zukunftsausrichtungen zeigt nach Guyer auffallende Parallelen zu protestantischen Konzepten von prophetischer Zeit mit deren Ausrichtung an einer verheißungsvollen Zukunft. Joseph Vogl geht bei der Verknüpfung von religiösen und ökonomischen Weltbildern sogar noch einen Schritt weiter, er spricht in Anlehnung an den älteren Begriff der „Theodizee“ vom Aufstieg einer „Oikozidee“ und meint damit die Ablösung des Glaubens an die Allmacht und Vorhersehung Gottes durch den Glauben an die Rationalität und Vernunft eines selbstregulativen Marktes.22 Diese Rechtfertigungslehre lässt sich nach Vogl bereits in der liberalen ökonomischen Theorie des 18. Jahrhunderts finden, sie wurde seit den 1970er Jahren mit dem Aufstieg des Neoliberalismus als Leitbild politischen Handelns durchgesetzt. Diese zeitliche Orientierung ist politisch folgenreich. Offenkundiges Unheil, wie gegenwärtige soziale Ungleichheiten aber auch die wiederholten Krisen der Finanzmärkte selbst, werden durch den unhinterfragten Glauben an die Unersetzlichkeit eines „freien Marktes“ gerechtfertigt, alternative Ordnungsvorstellungen gelten demnach als irrational und gefährlich. Die neoliberale Transformation ist demnach viel grundlegender als es auf den ersten Blick scheint, denn durch sie wandelt sich nicht nur das Verhältnis von Markt und Staat, sondern unser alltägliches Verständnis von Zeitlichkeit und unser Verhältnis zur Zeit.
Auch in den Träumen Berliner Hauptschüler dominierte die unmittelbare Gegenwart und die langfristige Zukunft, was weitgehend fehlte war eine mittelfristige Perspektive, in der konkrete Karriereschritte gemacht und Zukunftspläne umgesetzt werden. Man könnte an diesem Punkt einwenden, dass diese eher pragmatischen Aspekte des mittelfristigen Handelns nicht in den Bereich des Traums fallen, in dem es ja gerade um die Überwindung des Realitätsprinzips geht. So findet sich die Verbindung von Traum und (Zukunfts-)Visionen im Sinne einer Überschreitung des gegebenen Wahrnehmungsraums in verschiedenen Traumtheorien wieder, allen voran in der der Romantik und im Surrealismus.23 Zudem gelten Tagträume von Jugendlichen verglichen mit Erwachsenenträumen generell als weniger realitätsnah und als weitgespannter, da sie noch stärker an das kindliche Fantasiespiel anschließen.24 Doch nicht nur in den Traumbildern, auch in den darauf bezogenen Workshop-Diskussionen blieb die Frage der möglichen Realisierbarkeit der Trauminhalte auf erstaunliche Weise ausgespart. Hinzu kam die besondere Verbreitung von Millionärsfantasien, auf die ich an anderer Stelle bereits hingewiesen habe. Das Träumen von plötzlichem Reichtum, etwa durch Lottogewinne, ist Traumforschern zufolge unter (post-)proletarischen Jugendlichen insgesamt deutlich verbreiteter als unter Heranwachsenden aus der Mittelschicht, die in Träumen zwar ebenfalls verschiedene Zukunftsszenarien ausprobieren, diese aber häufiger schon mit konkreten Vorstellungen zu deren Realisierung verbinden.25 Die Galilei-Schüler lebten zumindest imaginär im Jetzt oder in zukünftigen Fantasiewelten. Was weitgehend fehlte, war eine Vorstellung davon, wie man von der Gegenwart in die Zukunft gelangen könnte. Dies hing zum einen damit zusammen, dass die Schüler zu diesem Zeitpunkt noch wenig Erfahrungen mit konkreten Schritten in die Berufs- und Erwachsenenwelt gemacht hatten und dass die damit verbundenen unangenehmen Fragen von Bewerbungsverfahren und möglicher Arbeitslosigkeit gerne umgangen wurden. Zum anderen deutete sich in dieser Traumpraxis bereits an, dass ihnen die Wege zur Realisierung ihrer Träume weitgehend versperrt waren.
Indem soziale Ungleichheiten auseinanderdriftende Zukunftsvorstellungen schaffen, gehen sie weit über Fragen der gerechten Verteilung materieller Güter hinaus. Dieser Problemstellung nachgehend hat der Anthropologe Arjun Appadurai am Beispiel indischer Slumbewohner die Wirkungen von Armut auf Zukunftsvorstellungen hinterfragt. Den Armen fehlt es demnach zwar nicht an imaginären Wunschvorstellungen, jedoch an aspirativen Kapazitäten, um diese konkret umzusetzen.26 Ihre Hoffnungen sind entweder zu klein und gegenwartsorientiert, um perspektivisch aus der Armut herauszuführen, oder unverhältnismäßig groß. Was fehlt, sind realistische Möglichkeiten des Navigierens, durch die gangbare Wege aus der Armut eingeschlagen werden können. Mit dieser Schwerpunktsetzung auf konkrete, realisierbare Zukünfte geht gleichzeitig eine kritische Neuausrichtung unseres Vokabulars des Zukünftigen einher. Imaginationen sind demnach nichts Abgehobenes mehr, sondern alltägliche Energien und Emotionen; Aspirationen keine unrealistischen Schwärmereien, sondern sozial ungleich verteilte Vorstellungen des Möglichen; und Antizipationen verweisen weniger auf Vorstellungen einer anderen Gesellschaft als auf Konzepte des guten Lebens in der bestehenden Gesellschaft. In die gleiche Richtung weist auch Martin Seels Revision des gängigen Verständnisses von Utopien, demnach diese gerade nicht das Unmögliche, sondern das möglicherweise Realisierbare vor Augen führen und deshalb die Frage der Denkbarkeit, Erfüllbarkeit und Erreichbarkeit von Utopien stets mitberücksichtigt werden sollte.27 Eine solche alltagspraktische Politik der Hoffnung legt nicht zufällig den Schwerpunkt auf die mittelfristige zeitliche Ebene des Planens, Navigierens und Realisierens.
Die Zeitvorstellungen der Berliner Schüler waren eng mit räumlichen Verortungen verknüpft. Während sich die Gegenwart meist im urbanen Raum allgemein oder an ganz konkreten Orten in Berlin abspielte, wurden Zukünfte tendenziell eher in den suburbanen Raum oder in die Natur verlegt. Teilweise bezogen sich die Schüler dabei auf die Herkunftsländer ihrer Eltern. In solchen Zukunftsszenarien wurden möglicherweise elterliche Zukunftsvorstellungen übernommen oder zumindest partiell integriert. Die erste Generation von Gastarbeitern aus den 1960ern und 1970er Jahren stellte sich für die fernere Zukunft zumeist eine Rückkehr in die Heimat vor, während sich die unmittelbare Gegenwart in Deutschland abspielte. Die Realisierung des Rückkehrwunsches wurde im Laufe der Jahre häufig immer weiter verschoben, blieb als zeitliche Zukunftsperspektive aber weiterhin in Migrantenfamilien präsent. Die zweite Migrantengeneration, zu der die Mehrheit der Galilei-Schüler zählte, nahm diesen tradierten Zukunftswunsch in ihre Zukunftsträume auf und veränderte ihn dabei gleichzeitig. Dabei handelte es sich nicht um den konkreten Wunsch nach einer Rückkehr in feste familiäre und traditionelle soziale Strukturen, sondern um eine unspezifische imaginative Gegenwelt zur von Missachtung und alltäglichen Schwierigkeiten geprägten Gegenwart in Deutschland. Hier zeigt sich, dass sozial und kulturell eingebettete Zukunftsvorstellungen auch nationalstaatliche Grenzen überschreiten können.
Postfordistische Träume
Die meisten Traumbilder der Galilei-Schüler verlangten nicht nach langer Dechiffrierung, sie stellten unverhüllte Wunschvorstellungen auf eine relativ direkte Weise dar. So meinte ein Schüler, dass er „einfach ein Haus, ein Auto und Sonnenschein“ geträumt hatte (Abb 12). Während Ernst Bloch die Tagträume der Arbeiterschicht noch als „konkrete Utopien“ begriff, in denen sich auf der Basis der Unzufriedenheit über die gesellschaftlichen Verhältnisse bereits die Gestalt einer besseren Zukunft abzeichne, dominierten in den Träumen der Berliner Hauptschüler eher konventionelle Vorstellungen von Glück. Wahrscheinlich waren Blochs Vorstellungen des revolutionären Wunschtraums, demnach die Arbeiter im Gegensatz zum Bürgertum von einem „Leben ohne Ausbeutung“ und einem „Sieg im proletarischen Klassenkampf“ träumten, ohnehin weitestgehend eine idealisierende Projektion.28 Besonders im Gegensatz zu diesem revolutionären Romantizismus fällt die materielle Ausrichtung der Träume der Neuköllner Jugendlichen auf. An diesen Befund anschließend gilt es zu fragen, wie die affektive Besetzung von Objekten im Traum funktioniert, welche Objekte von den Schülern ausgewählt wurden, welche Hoffnungen sich damit verknüpfen und wie diese Objektwahl mit Machtverhältnissen in Beziehung steht.
Abbildung 12: Hausmotiv I
Quelle: Traumworkshop Galilei-Schule
In der psychoanalytischen Traumtheorie wird im Traum ein niemals vollständig erreichbares Wunschobjekt imaginiert.29 In dieser Perspektive existiert affektives Begehren nicht vorab, sondern wird durch Imaginationen oder Fantasien konstruiert, die sich auf ein Objekt beziehen. Das Begehrte muss vorstellbar, vor allem visualisierbar sein, um von einem latenten in einen manifesten Trauminhalt transformiert werden zu können. Durch diese Form der Traumarbeit werden Traumgedanken immer wieder in Bilder und Objekte verwandelt.30 Doch wie lassen sich solche Traumbilder kulturwissenschaftlich untersuchen? Martin Saar hat vorgeschlagen, den in einem psychoanalytischen Kontext entwickelte Begriff des sozialen oder politischen Imaginären mit Rekurs auf Spinoza für eine allgemeinere Verbindung von Affektivität, Imagination und Politik fruchtbar zu machen.31 Die Vorstellungskraft bezieht sich dann nicht nur auf innerpsychische oder individualpsychologische Prozesse, sondern das soziale Imaginäre besteht aus einem Reservoir von affektiv besetzten Objekten. Eines von diesen spielte in den Träumen der Berliner Hauptschüler eine Hauptrolle: das Haus.
Das besonders häufige Vorkommen und die zentrale bildliche Bedeutung von Eigenheimen in den Traumbildern der Neuköllner Jugendlichen verweist auf die kulturelle Verbreitung von spezifischen Fantasien des guten Lebens. Die imaginierten Wohnhäuser waren keine Villen, der Traum vom eigenen Haus stand in materieller Hinsicht eher für die Sehnsucht nach relativem Wohlstand und moderatem sozialem Aufstieg. Es war der Wunsch nach Normalität und nach Zugehörigkeit, der die aspirativen Affekte sogenannter „Problemschüler“ am normativen Modell eines „Normallebenslaufs“ ausrichtete. Das hegemoniale Zukunftsmodell, in welchem das Eigenheim zum Schlüsselsymbol eines glücklichen Lebens avanciert ist, schränkt den imaginativen Horizont der Schüler gleichsam machtvoll ein, indem es wünschenswerte Zukünfte an ein heteronormatives Familienmodell und ein daran ausgerichtetes Wohnarrangement koppelt. Die damit verbundenen affektiven Bilder mitsamt ihren Assoziationen von räumlicher Geborgenheit und familiärer Idylle waren auch deshalb in den Träumen der Neuköllner Schüler so präsent, da diese überproportional häufig in problematischen Familienverhältnissen aufwuchsen und in eher beengt untergebrachten Großfamilien im urbanen Raum untergebracht waren. Es handelte sich bei den Wunschbildern also auch um eine Form von „Cruel Optimism“, um affektive Bindungen an kulturelle Formen wie die Familie, deren Dysfunktionalität für viele Probleme der Schüler mitverantwortlich war.
Abbildung 13: Hausmotiv II
Quelle: Traumworkshop Galilei-Schule
Ein anderer Schüler malte sich bei der Vorstellung seines Traumbildes (Abb. 13) die um das Eigenheim gebaute Zukunft bereits deutlich konkreter aus: „Das ist mein Traum: Mein eigenes Haus, ein Auto und was man da sieht. Ein Haus, in dem ich in Zukunft mal wohnen möchte, für mich und meine Frau und zwei Kinder, mit Garten. Das Haus ist eigentlich nicht in Deutschland, hier sind zu viele Hochhäuser. Es ist eher in der Türkei. Wir haben ein Haus, fast gleich wie das hier. Es hat eigentlich zwei Stöcke, doch eines ist noch nicht fertig. Mein Bruder wohnt schon da.“ Der Schüler malte ein Haus, das bereits in der Türkei existierte und dort von dessen älterem Bruder bewohnt wurde. Seine Zukunftsvorstellung war im Gegensatz zu denen seiner Mitschüler also bereits mit einem konkret vorstellbaren Umsetzungsplan verbunden. Dabei deuteten sich transnationale Lebenswelten und über Deutschland hinausweisende Zukunftsorientierungen an. Wie bei solchen Rückkehrer-Häusern ehemaliger Gastarbeiter durchaus üblich, wurde vorläufig nur eine Etage fertiggestellt, mit der Aussicht darauf, dass weitere Familienmitglieder nachziehen und das Gebäude dadurch vervollständigen würden.32 Diese Architekturpraxis berücksichtigt folglich Migrationsverhältnisse, in denen der Wunsch, die verschiedenen Generationen der Familie unter einem Dach zu vereinen, auch mit der räumlichen Trennung der Familienmitglieder in Beziehung steht. Ein solches migrantisches Traumhaus wäre im Gegensatz zum in Deutschland weithin präferierten Einfamilienhaus also ein Mehrfamilienhaus.
Abbildung 14: Hausmotiv III
Quelle: Traumworkshop Galilei-Schule
Ein dritter Schüler schließlich, dessen Familie aus dem Libanon einwanderte, entwarf sein zukünftiges Eigenheim als Teil einer Reihenhaussiedlung (Abb. 14), er imaginierte seine Zukunft somit als Teil eines seriell geprägten Wohnarrangements. Allerdings fügte er hinzu, dass sich diese Siedlung am Meer befände, womit er das Mittelmeer meinte, dass er vermutlich von Verwandtenbesuchen oder Erzählungen seiner Eltern kannte. Es ist ein fordistisch anmutendes Lebensmodell, das hier imaginiert wurde, mit einer separaten Zugangsstraße zu jedem Reihenhaus und mit einem extra Wölkchen für jede Wohneinheit. Auch hier spielen Migrationserfahrungen möglicherweise eine Rolle, der sich in der Reihenhausfantasie verbergende Wunsch nach stabilen Lebensverhältnissen hing möglicherweise mit den Fluchterfahrungen seiner kurdischen Familie zusammen.
Lauren Berlant sowie ihren Anregungen folgende Autoren wie Nitzan Shoshan und Andrea Muehlebach sind der eigentümlichen Wirkungskraft von fordistischen Fantasien des guten Lebens in postfordistischen Kontexten nachgegangen.33 Der Begriff Fordismus verweist auf die Fließbandproduktion des Autobauers Henry Ford aus der Zwischenkriegszeit und im übertragenen Sinne auf das mit standardisierter Massenproduktion und Massenkonsumtion verbundene Versprechen eines stabilen Mittelklassestatus. Schon Antonio Gramsci bemerkte, dass die Verheißungen des amerikanischen Fordismus für die in der Defensive befindliche italienische Arbeiterklasse der Zwischenkriegszeit durchaus attraktiv waren, für das prekäre postproletarische Milieu unserer Zeit gilt dies wohl umso mehr.34 Vor allem im romantisierenden Rückblick steht Fordismus für ein Lebensmodell, das mit gesicherten Arbeitsplätzen, stabilen Familienverhältnissen und relativem Wohlstand assoziiert wird. Das fordistische Zukunftsversprechen wurde zwar historisch nie vollständig eingelöst und war in vieler Hinsicht schon zu seiner Zeit anachronistisch. Dennoch prägt das damit verbundene Ideal von Normalität auch über die historische Epoche des Fordismus hinaus kulturelle Vorstellungen von Zukunft. In neoliberalen Zeiten, in denen Arbeits- und Lebensverhältnisse als besonders prekär wahrgenommen werden, erlebt es derzeit sogar wieder eine eigentümliche Renaissance. Das Eigenheim wird zu einem „happy object“, ein mit positiven Affekten besetztes Objekt, dessen Nähe zukünftiges Glück verspricht.35 Doch diese objektorientierte Glücksorientierung ist zugleich mit einer moralischen Ökonomie verbunden, innerhalb derer alternative Weisen des Fühlens und Antizipierens als außerhalb der Norm markiert werden.
Dass ein Schüler sogar einen Gartenzaun malte (Abb. 13), sollte nicht dazu verleiten, dies als kleinbürgerliche „Spießerfantasie“ zu belächeln. Die Sehnsucht nach Normalität in prekären Verhältnissen ist auch eine Sehnsucht nach einem Leben in Würde, ihr sozialer Sinn liegt nicht in der Aufrechterhaltung eines antiquierten Status quo, sondern im Wunsch, überhaupt einen anerkannten sozialen Status zu erreichen. Dennoch gilt es, die sich hier abzeichnende Bedeutung des Einfamilienhauses im sozialen und kulturellen Imaginären auch kritisch zu hinterfragen. Für die australische Sozialwissenschaftlerin Melinda Cooper sind solche Fantasien symptomatisch für die gegenwärtige Wahlverwandtschaft von Neoliberalismus und Neokonservatismus. In ihrem Buch „Family Values“ revidiert sie die weithin gängige Behauptung, der Neoliberalismus privilegiere das atomisierte Individuum über familiäre Solidaritäten. Stattdessen finde eine Verschiebung statt, bei der die Familie zunehmend die sozialen Funktionen des Staates übernimmt und die Risiken des Marktgeschehens zu tragen hat. Dadurch wird der schrittweise Abbau des Sozialstaates und die Entfesselung der Finanzmärkte auf eine Weise ideologisch flankiert, die vielen Betroffenen als eine attraktive Rückbesinnung auf solidarische Formen der Vergemeinschaftung erscheint. Die neokonservative Betonung familiärer Werte und vergeschlechtlichter Verantwortlichkeiten, die sich indirekt auch in der staatlichen Unterstützung des Eigenheimbaus artikuliert, ist demnach nicht so rückwärtsgewandt, wie sie auf den ersten Blick erscheint, sondern ein grundlegender Baustein der neoliberalen sozialen Ordnung.
Postfordistsche Affekte sind sozial ungleich verteilt, auch die Bereitschaft sich zu ihnen zu bekennen, variiert zwischen Schichten und innerhalb von Lebensphasen. Das kulturelle und affektive Gegenstück zur hier geschilderten Normalitätssehnsucht wäre das von Andreas Reckwitz beschriebene Streben nach Singularität, die Suche nach dem Besonderen und Einzigartigen.36 Auch dieses Affektprogramm ist ökonomisch ausgerichtet, das hierfür charakteristische Streben nach dem Neuen statt dem Normalen entspricht den Leitlinien der postindustriellen Ökonomie. Es handelt sich also um komplementäre postfordistische Affektregister, in denen Zukunft auf unterschiedliche Weise imaginiert wird. Elemente beider kultureller Ausrichtungen finden sich in allen Bevölkerungsschichten, doch lassen sich unterschiedliche soziale Gravitationszentren ausmachen. Während das Streben nach Singularität vor allem in der akademisch gebildeten bürgerlichen Mittelschicht verbreitet ist, prägt das Streben nach Normalität eher die Zukunftsvorstellungen in unterbürgerlichen Verhältnissen, in denen das Erreichen eines konventionellen Lebensstils in unsicheren Zeiten bereits als eine Errungenschaft gilt. Da die Geschmacksnormen jedoch einseitig von der dominanten bürgerlichen Schicht bestimmt werden, gilt die Singularität als innovativ und das Streben nach Normalität tendenziell als langweilig oder kulturell rückständig, es wird somit selbst als ein affektiver Ausweis von Minderwertigkeit betrachtet. Gegenüber diesem Abwertungsgestus ließe sich an die sozialen Hintergründe und an die integrative Ausrichtung dieses Affektprogramms erinnern. Den Schülern geht es nicht um einzigartige Häuser oder um besonders kreative Familien, sie träumen davon, überhaupt ein Haus zu bauen und eine Familie ernähren zu können. In ihren Eigenheimträumen artikuliert sich der soziale Wunsch nach Zugehörigkeit und Teilhabe in prekären Verhältnissen.
Zukunftsvergessenheit
In einer Reihe von Träumen ging es gerade nicht darum, sich das zukünftige Erwachsenenleben auszumalen. In eher eskapistischen Träumen wurden erholsamere, entspanntere und glücklichere Welten jenseits von Schule, Arbeit und Familienleben imaginiert. Diese Welten wurden weniger repräsentativ vorgestellt, in sie tauchten die Schüler eher ein. Solche immersiven Träume wirkten dadurch der Realität weiter entrückt. Die Zeitebenen blieben weitgehend unbestimmt, diese Träume spielten in überzeitliche Sphären, die sich meist nicht eindeutig der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft zuordnen ließen. Die Ruhephase des Träumens wurde somit selbst zu einer Zeit außerhalb der Zeit, in der der ökonomische Imperative der Zeitmaximierung temporär außer Kraft gesetzt war.37 Doch stellten die Schüler auch hier direkte oder indirekte Bezüge zu ihren Lebensverhältnissen her.
Abbildung 15: Naturmotiv
Quelle: Traumworkshop Galilei-Schule
Sven schien die Entspannungsübung besonders genossen zu haben. Er malte sich selbst in einem Park und beschrieb sein Bild (Abb. 15) anschließend mit folgenden Worten: „Ich habe richtig geschlafen. Ich habe einen Park gemalt, wo ich sitze. Da chille ich gerade. Und hier schwimme ich in einem See. Ich lag gerade so entspannt und das ist mir so eingefallen. Kein bestimmter Park. Manchmal mache ich das bei irgendeinem Park hier in der Nähe, ist eigentlich egal welcher.“ Neben Naturmotiven wie Parks und Seen tauchten bei mehreren Schülern Weltraumassoziationen auf: „Ich musste an den Weltraum denken. Ich höre oft so Melodien und nachts gehe ich mit einem Kumpel manchmal auf ein kleines Hochhaus oder auf einen Berg, wir sehen die Sterne und reden über alles. Deshalb habe ich dann hier auch einen Komet gemalt, wie eine Milchstraße. Weltraum als unendliche Zeit.“ Beide Schüler imaginierten zwar unbestimmte Orte, führten ihre Fantasien aber auf bestimmte Erholungspraktiken zurück, auf eigene Parkbesuche oder das amikale nächtliche Sterneschauen. Solche Zeiten abseits des geregelten Zeitverlaufs, in denen die eigene Situation reflektiert, diskutiert oder vergessen werden konnte, waren für Jugendliche, denen der mit vielen Ängsten verbundene Schritt aus der Schule in die Erwachsenenwelt bevorstand, von besonderer Bedeutung.
Sila versetzte sich in ihrem Traum nicht nur in ein naturnahes Setting, sie schaute selbst durch die Augen eines Schmetterlings und formulierte anschließend dazu folgenden Text:
Sila: „Gleich nachdem ich meine Augen schloss, sah ich einen Schmetterling. Ich habe die Welt aus der Sicht des Schmetterlings gesehen, obwohl es gleichzeitig auch der Blick von mir war. Es führte mich durch verschiedene Orte. Zuerst war es ein Wald. Die Geräusche, die von dort kommen, waren beruhigend. Dann waren wir in der Stadt, die Leute dort waren in Eile und achteten nicht auf mich und den Schmetterling. Danach waren wir auf den Bergen. Oben angekommen, schauten wir die Aussicht an, es war herrlich und auch irgendwie beängstigend. Danach fuhren wir über das Meer und der Meersalzgeruch füllte sich in meinen Lungen. Zum Schluss waren wir wieder im Wald und der Schmetterling setzte sich auf eine Blume.“
Das träumerische Motiv des Schmetterlings hat bekanntermaßen eine weibliche Konnotierung. Frigga Haug hat zu Recht kritisiert, dass die von ihr untersuchten romantischen Träumereien von Frauen nicht dem männlich konturierten heroischen Ideal des Klassenkämpfers entsprachen, doch konnte sie selbst die ihr als kitschig erscheinenden Träume aus einer ideologiekritischen Perspektive lediglich als eine Form der weiblichen Selbstunterdrückung deuten.38 Tanja Modleski wendet sich gegen die in verschiedenen politischen Lagern verbreitete Tendenz, romantische Mädchenfantasien abzuwerten oder lächerlich machen.39 Die Popularität dieser Traummotive liegt demnach nicht nur in den offensichtlichen Reizen des Eskapismus, vielmehr werden in diesen Fantasien auch gesellschaftliche Problemlagen verarbeitet. In Silas Schmetterlingsnarrativ artikulieren sich Ängste, Wünsche und Begehren, die wohl auch mit ihren bereits erwähnten Mobbingerfahrungen an der Galilei-Schule zusammenhängen, in deren Folge sie unter großem psychischen Stress litt. Im Schmetterlingstraum wird nicht nur eine Fantasiewelt beschrieben, hier wird ein anderer Blick auf die Welt geworfen und indirekt auch die Vorstellung von einem besseren Leben artikuliert.
Auch popkulturelle Motive und Erinnerungen an mediale Freizeitpraktiken spielten in eskapistischen Träumen eine wichtige Rolle. Schon die unter großem Erfolgsdruck stehenden koreanischen Schüler hatte sich imaginär in Internetwelten und Fernsehserien wie die Simpsons hineinversetzt. Von der im Traumworkshop eingesetzten klassischen Musik angeregt, fanden sich einige männliche Neuköllner Schüler in ihren Träumen in Computerspielen wie Dota 2 oder World of Warcraft wieder:
Yussuf: „Dota2 ist ein Strategiespiel, wo man viel nachdenken muss. Man muss sich halt überlegen, wie man durchkommt und den einen tötet, damit man das Zentrum erreicht. Ich hatte aber nicht den Namen, sondern nur ein Bild des Spiels im Kopf. Es ist immer das gleiche Bild und das gleiche Ziel. Bei World of Warcraft ist es mehr wie in der Realität, da gibt es eine Karte mit drei Kontinenten und bestimmten Ländern. Ich war im Traum bei meinem Lieblingsland, weil es da auch Berge gibt und ein paar Dinosaurier und Pflanzen und alles mit der Musik. Das fand ich auch toll. Ich spiele es aber schon lange nicht mehr. Mein Bruder meinte, ich solle aufhören und mich auf die Schule konzentrieren. Die Musik hat wieder eine Erinnerung daran geweckt.“
Die Assoziationen zu Computerspielen wurden durch die von mir im Traumworkshop eingesetzte ruhige klassische Musik wachgerufen, vor allem die an einigen Stellen leicht ansteigende musikalische Dramatik erinnerte den Schüler an Elemente der Computerspielmusik. Die imaginative Prägekraft des Computerspiels scheint besonders aus dessen synästhetischen Qualitäten, der simultanen Inanspruchnahme verschiedener Sinne, zu resultieren. Das Computerspielen wurde von den Schülern als lustvoll erinnert, hier lässt sich auf die ethnografische Studie von Christoph Bareither verweisen, der Computerspielen als populäres Vergnügen deutete und den damit verbundenen emotionalen Erfahrungen wie dem Selbstwirksamkeitserleben, den körperlichen Affizierungen und den kompetitiven Reizen detailliert nachgegangen ist.40 Im abschließenden Hinweis des Schülers, die positiven emotionalen Erfahrungen wurden von anderen als hinderlich für das schulische Fortkommen bewertet, deutet sich das vorherrschende negative Bild vor allem von gewaltorientierten Computerspielen in der Öffentlichkeit an.41
Neben Natur und Medien bildeten Urlaubsfantasien einen dritten Motivkomplex, mit dessen Hilfe primär Entspannung und Genuss verbunden wurde. Manche Schüler malten klassische Urlaubsmotive – ein Strand mit Palmen bei Sonnenuntergang – den sie dann bei der Vorstellung der Träume entweder mit konkreten Urlaubserinnerungen in Kroatien und der Türkei oder mit Wunschreisezielen wie Kalifornien und der Karibik assoziierten. Andere Schüler verknüpften verschiedene eskapistische Bildregister mit Zukunftsvorstellungen, so teilte eine Schülerin ihr Traumbild in drei Teile, denen sie die Überschrift: „Fallschirmspringen“, „mit Delphinen schwimmen“ und „Heiraten“ gab.
In den eskapistischen Motiven deutet sich der kompensatorische Charakter von Träumen an, der neben dessen prospektiven und wunscherfüllenden Funktionen zu dessen wichtigsten Eigenschaften zählt. Der Psychologe Carl Gustav Jung hat hervorgehoben, dass solche kompensierenden psychischen Vorgänge zwar stets individuell ausgeprägt sind und sich auf sehr unterschiedliche Weise in Träumen artikulieren, sich aber dennoch im Überblick „gewisse Grundzüge allmählich herauskristallisieren“.42 Natur, Medien und Urlaub zeichneten sich bei den Neuköllner Schülern als Traummotive ab, mit deren Hilfe den Zumutungen der Gegenwart und den Drohungen der Zukunft für eine Weile entkommen wurde.
NORMALISIERTE PREKARITÄT
Der sich in den Träumen der Schüler artikulierende Wunsch nach dem guten Leben war gekennzeichnet durch neoliberal geprägte Vorstellungen von Zeit, postfordistische Sehnsüchte nach Stabilität sowie durch Erholungs- und Freizeitfantasien. In systemkonformen Wünschen nach Normalität deutete sich gleichsam der Wunsch an, materielle Unsicherheit, soziale Marginalisierung und psychischen Druck zu überwinden. Das Streben aus der Arbeiterschaft und der damit verbundenen Armut hinaus ist ein weithin unterschätztes Motiv, dessen Bedeutung Jacques Rancière in seinen Erkundungen der „Archive des Arbeitertraums“ am Beispiel intellektuell ambitionierter Arbeiter im 19. Jahrhundert hervorgehoben hat.43 Untersuchungen zu den Nachwirkungen des Besuches stigmatisierter Schulformen heben die biografische Relevanz der damit verbundenen Missachtungserfahrungen hervor und sprechen mit Blick auf die weiteren Lebensverläufe von einer negativen Anerkennungsspirale.44 Fortwährende emotionale Belastungen und nachfolgende Krisen ergeben sich dabei häufig aus dem Wunsch, den vorigen Negativerlebnissen zu entfliehen oder diese zu kompensieren. Nicht nur in ihren Träumen, auch in ihren Versuchen nach der Schule im Alltag Fuß zu fassen, strebten die Neuköllner Jugendlichen danach, ihrem mit Stigmatisierung verbundenen sozialen Status als Hauptschüler zu entkommen. Sie hatten jedoch das Gefühl, diesen Weg jeweils alleine zu beschreiten und die dabei auftretenden Rückschläge weitgehend selbst verantworten zu müssen. Die Privatisierung von Prekarität prägte den Modus ihrer emotionalen Erfahrung, sie ist gleichsam ein tragender Pfeiler der herrschenden neoliberalen Ordnung.
Die Schüler erlebten die Etappen auf ihrem Weg nach der Schule als persönliche Erfolge oder Rückschläge, doch zeichneten sich bei der Betrachtung verschiedener Lebensläufe von Hauptschulabsolventen übergreifende Erfahrungen und geteilte Schicksale ab. Lauren Berlant fragt in Cruel Optimism nach den gegenwärtigen affektiven und kulturellen Formen, mit deren Hilfe Prekarität erlebt und verarbeitet wird. Dazu gehört vor allem, dass sich parallel zu wirtschaftlichen Krisenkonjunkturen verbreitende Gefühl, das Leben verlaufe als eine Art Dauerkrise. Durch die Normalisierung prekärer Zustände werden bisherige Lebensnarrative und Lebensformen erschüttert, neue Genres und Muster bilden sich unter dem Vorzeichen der Instabilität heraus. In den folgenden Abschnitten gehe ich einigen dieser emergenten Formen von Prekarität am Beispiel typischer Gefühlslagen von Hauptschülern in den Jahren nach dem Schulabschluss nach: dem Eindruck ständig am Abhang balancieren zu müssen, immer wieder in Sackgassen zu geraten sowie zwischen prekären beruflichen und problematischen familiären Situationen zu manövrieren.45 Ihre Leben erweisen sich dabei als eine Art negatives Spiegelbild ihrer Träume, die träumerische Sehnsucht nach Normalität und Stabilität korrespondiert mit der alltagsweltlichen Antizipation und Erfahrung von Prekarität.
Am Abhang. Leben im Krisenmodus
Wenn Schüler Lebenskrisen bemerkten, waren sie meist schon mittendrin und wenn sie glaubten, ihnen zu entkommen, kündigte sich oft schon unbemerkt die nächste Krise an. Als ich Khaled, Ali und Yussuf drei Jahre nach der Schule wiedertraf, hatten sie mal wieder mächtig Probleme, doch waren sie überzeugt, der Lage bald Herr zu werden. Weitere zwei Jahre später hatte sich ihre Situation wenig verändert, nur dass nun neuer Ärger vor der Tür stand. Mit Krisenerfahrungen meine ich hier nicht einfach alltägliche Stimmungsschwankungen, sondern gravierende Einschnitte wie plötzliche Arbeitsplatzverluste, drängende Schulden oder drohende Gefängnisstrafen. Der ständige Wechsel zwischen „Hartz IV“, prekärer Arbeit im Niedriglohnsektor sowie begonnenen und wieder abgebrochenen Ausbildungen ging mit dem Gefühl einer festsitzenden Dauerkrise einher. Aufgrund der zur unsicheren sozialen Lage hinzukommenden juristischen, finanziellen und privaten Probleme erschien das eigene Leben immer wieder kurz vor dem Abgrund. Beständig war lediglich der Wechsel von meist kurzfristigen Beschäftigungen.
Khaled: „Nach der Schule bin ich zu einer Maßnahme gegangen, hab es da aber nicht lange ausgehalten. Du hast ja gesehen, Schule war nicht so mein Ding. Dann bin ich da raus und kam durch Kontakte so in die Versicherungsbranche. Habe mich da erstmal selbstständig gemacht, schon mit 17, Versicherungen verkauft, Sparanlagen, Investitionen und so weiter. Hab erstmal eine Schulung gemacht über drei Wochen, damit ich weiß, was es alles gibt. Dann habe ich losgelegt. Erstmal gutes Geld gemacht. Aber bei Versicherungen ist es halt so, wenn da was storniert wird, muss man das selber zurückzahlen. Man ist nicht immer im Plus und hat schnell Schulden. Die meisten Kunden waren Araber. Die denken natürlich, sie haben einen Sonderkredit. Da hatte ich keinen Bock drauf und habe es nach einem Jahr geschmissen. Dann habe ich über Freunde von einer Security-Firma gehört und habe da erstmal für einen Monat gearbeitet. Die Leute aber haben zu viel Scheiße gebaut und wir haben den Auftrag verloren. Dann bin ich zu einer anderen Security-Firma gewechselt, wo auch mein Bruder arbeitet, eine große Firma mit 900 Leuten, 7,50 Euro die Stunde. Aber nach einem Jahr bekam ich einen Anruf von einem Freund aus der ersten Firma, dass er eine neue aufmacht und bin mit meinem Bruder dahin gewechselt. Hier mache ich jetzt Einsatzleitung und Teamplanung, es gibt natürlich immer Stress: Der eine ist besoffen, der andere verschläft, die nächsten prügeln sich. Wir bewachen alles Mögliche: Flüchtlingsheime, Baubewachung, Designershops, alle möglichen Veranstaltungen.“
Khaleds berufliche Erfahrungen nach Schulende waren typisch für männliche Galilei-Schüler migrantischer Herkunft, was auch damit zusammenhing, dass ihre berufliche Orientierung stark an der eigenen Peer-Gruppe ausgerichtet war. Die Mehrzahl der Schüler begann zunächst Fortbildungsmaßnahmen in sogenannten Ausbildungszentren, die sie häufig vorzeitig abbrachen. Auch andere ehemalige Galilei-Schüler machten sich danach zunächst in der Versicherungsbranche selbstständig, prahlten gegenüber ihren Freunden mit dem schnellen Geld und verschwiegen die Schulden. Und schließlich landeten viele von ihnen im Sicherheitsgewerbe, das männlichen Absolventen ihres Bildungsgrades eine halbwegs respektable Anstellungsmöglichkeit versprach. Vor allem die Flüchtlingszuwanderung aus Syrien ab 2015 eröffnete vielen männlichen Galilei-Absolventen kurzfristig eine unverhoffte Jobperspektive, denn aufgrund ihrer Herkunft und Sprachkenntnisse wurden sie bevorzugt zum Schutz von Flüchtlingsunterkünften eingesetzt. Allerdings war auch dies eine prekäre Tätigkeit, die Schüler berichteten von gewalttätigen Konflikten bei der Arbeit, zudem war der Bedarf an Flüchtlingsunterkünften nur temporär. Khaled versuchte durch Firmenwechsel kleine soziale Aufstiege zu erringen, doch auch dies war nur von kurzer Dauer, bei meinem letzten Kontakt arbeitete er schon nicht mehr bei der Sicherheitsfirma seines Freundes.
Khaled: „Drei Jahre schon vorbei? Wie schnell die Zeit läuft. Ehrlich, ich hoffe die letzte Zeit kommt nie wieder. Ich habe sehr viele Probleme gehabt. Ich habe selber Scheiße gebaut – Gerichtsverhandlungen, Schulden, die ich jetzt noch abbezahle – dann musste ich mehrmals die Arbeit wechseln. Mein Opa ist gestorben und meine Oma hatte einen Schlaganfall. Und die sind in Palästina und ich kann ihnen nicht helfen, was es nochmal doppelt schlimm macht. Ich hatte finanzielle Probleme, erst letzten Monat habe ich das letzte Schmerzensgeld zurückgezahlt. Und dann noch Stress mit Mädchen. Das alles ging über Jahre. Das ist auf jeden Fall krass gewesen. Langsam baut sich das hoffentlich ab, sieht schon etwas besser aus.“
Im Rückblick resümiert Khaled die Jahre nach dem Schulabschluss als eine Ansammlung von kleineren und größeren Katastrophen, die sich zum Eindruck einer krisenhaften Zeit summieren. Zu den hier angedeuteten Problemen gehörten auch die im letzten Kapitel beschriebene kriminelle Laufbahn, die sich dadurch verschärfende Gefahr einer Abschiebung und die damit verbundenen Gerichtsverhandlungen – eine Problemkonstellation, die er mithilfe elterlicher Unterstützung und einer Hinwendung zum Islam gegen Ende der Schulzeit relativ gut in den Griff bekommen hatte. Anders als noch zur Schulzeit zeigte sich Khaled in der Postadoleszenz deutlich weniger religiös orientiert, und anders als noch als Minderjähriger drohten ihm nun eher Gefängnisstrafen statt Sozialstunden. Auch anderen Schülern erschien die Zeit nach der Schule als ein unangenehmes Wechselbad der Gefühle:
Ali: „In der zehnten habe ich mich ja durch den MSA durchgekämpft und ihn auch bestanden. Eigentlich war immer mein Ziel Fachabitur zu machen, aber leider habe ich nicht den Durchschnitt dafür hinbekommen. Ich wollte ja immer im sozialen Bereich arbeiten, mit Jugendlichen und Kindern, mit Migrationshintergrund so wie ich. Ich habe dann Sozialassistenzausbildung gemacht am OSZ-Sozialwesen, auch bestanden. Danach hat man eine kleine Voraussetzung für eine Erzieherausbildung. Dafür wurde ich dann auch bei einer Grundschule angenommen. Hab dann da angefangen, aber nicht weiter gemacht. Ich habe vor ein paar Monaten aufgehört. Das war eigentlich immer mein Traum, was mit Jugendlichen im Sozialbereich zu machen. Aber es war dann doch nicht so richtig mein Ding. Ich habe es gespürt. Ich habe mich dann abgemeldet und dachte erstmal ‚Scheiße, jetzt bin ich wieder auf Null.‘ Alles was ich mir aufgebaut habe seit der Schule, war ja darauf ausgerichtet. Ich wollte immer in den Sozialbereich. Das habe ich nicht geschafft. Jetzt bin ich Hartz IV. Mein Plan ist nicht für lange. Im schlimmsten Fall mache ich irgendeine Ausbildung. Ich bin grad so ein bisschen außer mir. Ich weiß nicht, was ich richtig will. Das ist das Schlimmste, was es gibt.“
Bei der eingangs beschriebenen Sozialassistenz handelt es sich noch nicht um eine vollwertige Ausbildung, nach der man erfolgreich in das Berufsleben einsteigen kann, sondern um eine Vorbereitungsmaßnahme, mit deren Hilfe Jugendlichen der Zugang in den Ausbildungsmarkt erleichtert werden soll. Der sozialstaatliche Umgang mit niedrigqualifizierten Schulabgängern wird von diesen als eine Politik der Umwege, Wartezeiten und Geduldsproben erlebt, mit deren Hilfe die Ausbildungsferne von Hauptschülern gleichsam institutionell reproduziert und legitimiert wird.46 Das sich daraus ergebende Gefühl, festzusitzen oder zumindest nicht angemessen voranzuschreiten, da man von den gesellschaftlichen Umständen an der Realisierung der eigenen Mobilitätswünsche gehindert wird, sieht Pierre Bourdieu als typisch für das Zeitgefühl des Subproletariats an.47 Durch den institutionell erschwerten Zugang zur Arbeit werden Erfahrungen der Herabsetzung aus der Schulzeit fortgeschrieben und das Streben in eine bessere Zukunft ausgebremst. Was folgt sind Unzufriedenheiten und Sehnsüchte im Wartestand.48 Diese gesellschaftliche Entmündigung wirkte besonders für diejenigen demotivierend, die nach der Schule dringend einen Neuanfang suchten. Dennoch war ich irritiert, dass Ali genau an der Schwelle zu einem von ihm lange angestrebten Ausbildungsberuf plötzlich von sich aus die Tür zuknallte. Auf die Gründe werde ich gleich noch eingehen, zunächst schildere ich kurz seinen weiteren Weg. Ali war zunächst ein Jahr arbeitslos, in dem er mit Freunden herumhing, Aushilfsjobs nachging, Kampfsport machte und eine Reise nach Marokko unternahm. Nach einem Jahre fing er eine neue Ausbildung an, wieder im Sozialbereich. Diese gefiel ihm zwar deutlich besser, doch als ich ihn zwei Jahre später wiedertraf, bahnten sich bereits neue Probleme an:
Ali: „Die letzten zwei Jahre waren auch Scheiße. Mein Leben ist so, wie als ob ich auf einem Hang laufe, da gibt es immer Tiefen, in die man Stürzen kann, und kleine Höhen über die man muss. Da gibt es Steine, auf die man aufpassen muss, aber manchmal sieht man die zu spät. Manchmal stoppt man und genießt für einen Moment einen schönen Ausblick. Ich habe auch so ein Leben, aber mein Leben läuft nie gut. Also, das perfekte Leben gibt es sowieso nicht. Aber es gibt Menschen, die sind zufrieden und andere, die sagen: ‚Scheiße, ich stehe kurz vor dem Abgrund!‘“
Zu den neuerlichen Problemen gehörten ähnlich wie bei Khaled der Tod naher Verwandter und drohende Gerichtsverhandlungen. Zwar hatte Ali während der Schulzeit auch schon wegen Körperverletzung Sozialstunden ableisten müssen, doch die neuerlichen juristischen Probleme waren für ihn weniger überschaubar und drohten ernsthaftere Konsequenzen zu haben – auch wenn es sich aus meiner Sicht lediglich um ein belangloses Vergehen handelte. So fürchtete er mit einem möglicherweise belasteten Führungszeugnis seinen Führerschein zu verlieren und seine späteren Chancen auf eine Anstellung als Erzieher zu verspielen. Die nach einer Phase der Desorientierung gerade neu aufgebauten Zukunftspläne drohten somit wieder zusammenzufallen: „Seit drei Tagen kann ich deswegen nicht schlafen. Mein Kopf bleibt an, manchmal weine ich auch, ich bin echt am Arsch.“
Je mehr das Berufs- und Erwachsenenleben als bedrückend erlebt wurde, desto eher erschien die Schulzeit im Rückblick als eine relativ geschützte und glückliche Zeit. Bei Ali und anderen ehemaligen Galilei-Schülern führte diese Haltung sogar zu einer nostalgischen nächtlichen Rückkehr an die ehemalige Schule: „Wir haben uns letztes Jahr wieder getroffen, um auf dem Schulhof eine zu Rauchen. Ich wollte die Erinnerung wieder wecken. Es war sehr schön. Wir sind um Mitternacht über den Zaun geklettert, standen in der Raucherecke und haben eine Zigarette geraucht. Ich habe fast geweint, ich habe gedacht, die beste Zeit war das, die schönste Zeit. Da war man noch ein Kind, das richtige Leben hat erst nach der Oberschule angefangen. Da hat man erst gemerkt, was alles auf einen zukommt und wie belastend das ist. Schule war Lernen, Chaos, Spaß – alles gemischt.“
Sackgassen
Sackgassen sind für Lauren Berlant eines der prägenden Genres der Gegenwart. Vergleichbar mit der homologen Beziehung der fortschreitenden Handlung des realistischen Romans mit dem Selbstverständnis des Bildungsbürgertums im 19. Jahrhundert, artikuliert diese semantischen Figur gegenwärtige gesellschaftliche Erfahrungen von verstellten Zukunftswegen in sozialen Randlagen.49 Berlant verwendet die englische Bezeichnung „impasse“, in welcher der Zustand von Passivität, das Gefühl des Ausgeliefertseins deutlicher als im Deutschen anklingt.50 Im deutschen Begriff der „Sackgasse“ tritt dagegen die soziale Situation des Festsitzens und des Nicht-Mehr-Vorankommens stärker hervor. Hauptschul-Absolventen werden systematisch in Sackgassen geschickt, etwa in Maßnahmen des Jobcenters, die ihre marginale Stellung auf dem Arbeitsmarkt eher bestätigen statt diese zu überwinden helfen.51 Doch die Schüler wählen oft auch von sich aus eine ungünstige Abzweigung oder fahren sogar mit offenen Augen gegen eine Wand.
Eine markante Form des Sich-Selbst-im-Wege-stehen zeichnete sich im für die Jugendlichen in den Jahren nach dem Schulabschluss typischen Anfangen und Abbrechen von Ausbildungen ab. So berichtete die Schwester eines Neuköllner Schülers aus meiner ersten Forschung, der damals als Musterschüler galt und später das Fachabitur bestand, dieser habe kurz vor dem Abschluss seiner Ausbildung „plötzlich alles hingeschmissen“ und sich einer kleinkriminellen migrantischen Clique angeschlossen. Die Beweggründe für solche von außen sprunghaften erscheinenden Ausbildungsverläufe sind meist vielfältig, an Alis Beispiel wird deutlich, auf welchen Wegen sich Unzufriedenheit und Zweifel allmählich einnisten. Im Rückblick schildert er die Gründe für seinen Abbruch wie folgt:
Ali: „Der Grund war auch, es war schwer. Zu viel für mich auf einmal. Ich bin es nicht gewohnt, so viele Hausarbeiten zu machen und alles Mögliche – und das alles ohne Unterstützung, ganz alleine. Das war die eine Sache und die andere war, dass ich einfach die Lust verloren habe. Es war nicht mehr so interessant. Das Bedürfnis Jugendlichen zu helfen und sozial zu sein war schon da, aber nicht mehr so, dass ich das jetzt auch noch als Arbeit machen muss. Und dann ist die Erzieherarbeit zwar sehr anspruchsvoll, aber nicht so bezahlt, wie sie sein sollte. Und Geld spielt schon eine sehr wichtige Rolle, wenn man eine Familie gründen will. Man ist ja jetzt 21, da überlegt man schon mal, was weiter so passieren soll. Und dann sehe ich Freunde, die sind in meinem Alter und machen schon sehr viel Geld. Legal, natürlich gibt es auch ein paar Illegale. Und jetzt zu sagen, ich mache jetzt noch drei, vier Jahre Schule … wow, dann bin ich 25 und habe fast ich nichts aufgebaut. Das lag vielleicht auch daran. Die Einflüsse kamen von vielen Seiten.“
Wie bereits erwähnt, arbeitete ein großer Teil von Alis ehemalige Mitschülern zu dieser Zeit im Sicherheitsgewerbe, was deutlich mehr männliche Reputation und zumindest kurzfristig auch mehr Gehalt versprach. Andere kamen als Kleinkriminelle zu schnellem Geld. Dadurch konnten sich einige bereits eigene Wohnungen und eigene Autos leisten, auch Alis ältere Schwestern waren allesamt früh von zu Hause ausgezogen, um Familien zu gründen. In dieser Vergleichskonstellation erscheint ihm eine mehrjährige Ausbildung zu einem relativ schlecht bezahlten und als eher feminin geltenden Ausbildungsberuf wenig attraktiv. Das ersehnte Ankommen in der Berufswelt und die mit finanzieller Sicherheit möglich werdende Familiengründung lassen zu lange auf sich warten, was im mehrfachen Verweis auf bestimmte Lebensjahre deutlich wird. Alis Unbehagen hängt auch mit spezifischen Vorstellungen des „Normallebenslaufs“ zusammen, zu dem eine Familiengründung unbedingt dazugehörte. Weibliche Galilei-Schülerinnen wollten oft schon mit Anfang 20, männliche tendenziell eher mit Mitte 20 Kinder bekommen, womit sie jeweils deutlich unter dem bundesdeutschen Durchschnitt lagen. Spannungen und irritierend wirkendes Verhalten ergaben sich daraus, dass die Vorstellungen von Lebenszeit der Neuköllner Jugendlichen nicht synchron mit den gesellschaftlich dominanten Vorstellungen eines „normalen“ Lebens waren und die nach der Schule zur Verfügung stehenden Bildungsmaßnahmen den Weg in die angestrebte finanzielle Unabhängigkeit in den Augen der Schüler noch weiter verzögerten. Die damit einhergehenden langen Wartezeiten mit unsicheren Resultaten sind kein zufälliges oder beiläufiges Ergebnis sozialstaatlicher Steuerung, sondern ein Markenzeichen der neoliberalen Regierung der Armen, wie Javier Auyero in seiner Ethnografie des – zumeist ungeduldigen und entnervten – Wartens in argentinischen Behörden zur Verteilung staatlicher Sozialhilfen aufzeigt.52 Die auf solche Angebote Angewiesenen werden durch schwer durchschaubare bürokratische Verfahren passiv gemacht und gleichzeitig in Schach gehalten.
Symptomatisch für die gesellschaftliche Missachtung der Lebenszeit von Niedrigqualifizierten ist die systemische Forderung des Nachholens von Schulabschlüssen bei gleichzeitiger Abwertung des Begriffs „Ausbildung“. Die den Jugendlichen nach dem Schulabschluss zur Verfügung stehenden Überbrückungsangebote ermöglichten kaum zusätzliche Qualifikationen außer dem Nachholen von in der Regelschulzeit versäumter Schulabschlüsse und sie garantierten auch keinen Zugang zu einem Ausbildungsplatz.53 Auch Absolventen die wie Ali bereits in der Regelschulzeit einen Mittleren Schulabschluss (MSA) erworben hatten, mussten noch auf solche Ausbildungszentren, bevor sie einen Ausbildungsplatz erhielten. Die mittels solcher Programme vorgesehene Erreichung des Status der „Berufswahlreife“ geht davon aus, dass Hauptschulabsolventen diese vorher nicht besaßen, sie also „nicht ausbildungsreif“ waren. Hauptschulabsolventen verbringen oft mehrere Jahre erfolglos damit, in verschiedenen institutionellen Arrangements Schulabschlüsse nachzuholen oder auf die Ausbildung vorbereitet zu werden. Durch diese Verzögerungen entstehen teilweise neue Probleme, zudem gibt es auch nach Ausbildungsantritt noch weitere Hürden zu nehmen.
Parallel zur Verlängerung von Ausbildungswartezeiten wird der Ausbildungsbegriff zunehmend entleert. Von staatlicher und privatwirtschaftlicher Seite wird diese Bezeichnung mittlerweile auch für vorbereitende Maßnahmen verwendet, um Ausbildungsstatistiken zu schönen. Die Schüler übernehmen einerseits diese euphemistische Begriffsverwendung, um ihre prekäre Position aufzuwerten, andererseits geht dadurch allmählich der Anspruch und das Versprechen einer Berufsausbildung verloren. Dies führte schließlich soweit, dass eine ehemalige Schülerin zu mir meinte, ihre Kinder sollen später „bloß keine Ausbildung“ machen. Gerade aufgrund des drängenden Wunsches instabile Verhältnisse endlich hinter sich zu lassen, trafen Schüler kurzfristig Entscheidungen, die für die Realisierung ihres Projekts eines „guten Lebens“ eher hinderlich waren. Wenn es eine übergreifende Gefühlslage des gegenwärtigen Prekariats gibt, dann zeichnet sich diese durch solche widersprüchlichen Entscheidungen und Einstellungen unterhalb eines formierten Klassenbewusstseins aus.54
Mit etwas Abstand sortierte Ali die Beweggründe für seinen unsteten Weg und gab ihnen dabei eine positive Wendung.
Ali: „Ich dachte immer, Sozialarbeit ist genau das Richtige für mich. Dann habe ich diesen Weg eingeschlagen. Ich habe mich selbst ins kalte Wasser geschmissen und diese Ausbildung als Sozialassistent angefangen. Das war alles schön und gut. Aber nach einer gewissen Zeit fehlte dann das gewisse etwas. Irgendwas hat mir gesagt ‚es passt nicht zu Dir‘. Aber es lag nicht an mir und es lag nicht an der Ausbildung, es lag an der Schule. Die Lehrer waren nicht kompetent genug, ich hatte kein individuelles Lernen, wie ich es brauche. Ich musste das Lernen neu erlernen. In der Schule haben wir ja nur Scheiße gebaut, Fehlzeiten, alles Mögliche. Und dann habe ich erstmal ein Jahr aufgehört – Sense! Ich war sehr verzweifelt, hatte eine sehr schwierige Zeit. Dann habe ich wieder zurückgefunden und die Erzieherausbildung wieder angefangen. Natürlich kam dann auch irgendwann der Familiendruck, dass ich eine Ausbildung mache. Ich bin ja der einzige Sohn im Haus, mit fünf Schwestern, die vier älteren sind alle schon verheiratet. Ich wollte meinen Eltern natürlich auch nicht den Stolz und die Hoffnungen für ihren Sohn wegnehmen. Aber ich habe es geschafft, ich bin wieder in der Erzieherausbildung, in einer Privatschule. Wir sind 13 Schüler, individuelles Lernen, hilfsbereite Lehrer. Ich bin sehr zufrieden bis jetzt. Das Probehalbjahr habe ich fast schon bestanden. Die Noten sind auch ganz ok. Ich ziehe das jetzt durch!“
Die biografische Narration folgt einer Fortschrittsorientierung, bei der Krisen jeweils überwunden und nach Fehlanläufen neue, diesmal erfolgreichere Versuche gestartet werden. Den Tipp für die Privatschule als Alternative zur staatlichen Ausbildung als Sozialassistent hatte Ali von einem Freund bekommen, er verband diesen wiederholten Anlauf mit einer neuen Lebensperspektive, spricht von „meinem neuen Ziel“ im kommenden Sommer eine daran anschließende weitere Ausbildung als Kindergärtner zu machen.
Lauren Berlant beschreibt strukturell bedingte Zwischenzonen und wiederkehrende Übergangsphasen als ein typisches biografisches Muster normalisierter Prekarität, die mit verstärkten Gefühlen der Verunsicherung und Erfahrungen verringerter Selbstwirksamkeit einhergehen.55 Die damit verbundenen Phasen des Wartens sind zwar mit diversen Aktivitäten und Bewegungen gefüllt, fühlen sich aber dennoch wie Leerlauf an, da sie mit dem Eindruck einhergehen, sich nicht vom Platz zu bewegen. Soziologen sprechen in diesem Zusammenhang von einer „Ausweitung der Zwischenzone“, in welcher das Pendeln zwischen Arbeitslosigkeit und wechselnden prekären Beschäftigungen mitsamt den damit verbundenen Risiken und Unsicherheiten für eine wachsende Bevölkerungsgruppe zur Normalität wird.56 Da für solche gelebten Erfahrungen sozialer Instabilität noch kein passendes narratives Genre existiert, werden sie zumeist in ältere sprachliche Muster gepresst. Indem Krisen als temporäre Abzweige auf dem Weg des biografischen Fortschritts gelten, kann ihnen im Nachhinein sogar eine positive Sinnhaftigkeit zugeschrieben werden. Auf diese Weise wird Prekarität von den Hauptschulabsolventen in tradierte Narrative des „guten Lebens“ integriert und gleichzeitig gesellschaftlich normalisiert. Ali sah seine ungewisse Zukunft sogar als einen Ausdruck von Zeitgenossenschaft an: „Die Welt ändert sich. Es gibt nicht mehr diesen klassischen Weg: Man macht Schule, man macht Ausbildung, geht in den Beruf und bekommt Familie.“
Neben diesen eher subtilen Formen der Veralltäglichung sozialer Unsicherheit, machten die Schüler auch reichlich Erfahrungen mit offenen Formen der Ausgrenzung. Vor allem wenn migrantische Schüler nach der Schule ihr vertrautes Umfeld in Berlin-Neukölln verließen, wurden sie mitunter auf drastische Weise mit Rassismus konfrontiert.
Yussuf: „Seit der Schule ist es hin und her gegangen. Ich habe schon während meiner Schulzeit in der zehnten Klasse nach einer Ausbildung gesucht, im Tiefbaubereich. Nach einer Weile habe ich dann endlich eine Firma gefunden und war dort ein halbes Jahr lang. Das Problem war, dass das in einem kleinen Dorf im Havelland war – zweieinhalb Stunden von hier. Die haben dort ein Internat, da bin ich auch eine Zeit lang raufgegangen. Aber ich habe mich da nicht wohlgefühlt. Ich war einer der wenigen Ausländer dort. Die haben Sachen gesagt wie ‚geh dorthin zurück, wo du hergekommen bist‘. Mein Lehrer hat mich unterstützt und meinte, ich solle das ignorieren und die Ausbildung durchziehen. Aber dann kamen noch Sprüche wie ‚so was wie euch, hat man damals verbrannt‘. Das war schon ziemlich nazimäßig. Da habe ich mich auch nicht mehr zurückgehalten, es kam zum Streit und wir haben uns fast geschlagen. Manchmal konnte ich ruhig bleiben, aber wenn die dann auch noch meine Familie beleidigt haben, bin ich aggressiv geworden. Nach einem halben Jahr ging es mir so beschissen, dass ich die Ausbildung abgebrochen habe. Es war natürlich schade, aber es ging nicht mehr, zwei Jahre hätte ich das nicht durchgehalten.“
Im Verweis auf das „hin und her“ deutet sich an, dass der eigene Lebensverlauf hier weniger als Fortschrittsgeschichte, sondern als ein unangenehmes Pendeln im prekären Bereich verstanden wird. Yussuf hatte zunächst gemeinsam mit Khaled ein Praktikum bei der zweieinhalb Stunden von Berlin-Neukölln entfernten Firma absolviert, doch nur ihm wurde anschließend eine Ausbildung angeboten. Er war skeptisch, allein nach Brandenburg zu gehen, er sah gewissermaßen schon die Warnschilder „Sackgasse“. Dass er sich mangels Alternativen dennoch dafür entschied, es auszuprobieren, zeugt von seiner starken Sehnsucht, in stabile Arbeitsverhältnisse zu gelangen. Diesem Wunsch lief er jedoch auch in den weiteren Jahren meist nur hinterher.
Yussuf: „Danach habe ich mal hier, mal dort gearbeitet. In der Restaurantbranche – ein Cousin hat ein arabisches Grillrestaurant eröffnet, da war ich ein halbes Jahr. Es war nie was Festes, ging immer hin und her. Habe dann wieder eine Ausbildung angefangen, im Bereich Physiotherapie, als Bewegungstherapeut. Das war so mit Yoga und dies und das. Das habe ich dann auch nach einem Jahr wieder abgebrochen. Ich musste mir das selber finanzieren. Es waren zwar nur 100 Euro im Monat, aber ohne Hilfe und nur mit Hartz IV ging das nicht. Das Jobcenter hat das nicht unterstützt. Und es war auch zu umfangreich, so dass ich nicht nebenbei arbeiten konnte, auch weil die Zeiten so unterschiedlich waren. Eigentlich hatte mir das gut gefallen. Dann war ich im Sicherheitsbereich. Wir arbeiten in Flüchtlingsheimen. Ich fand das sehr geeignet, da ich ja Arabisch spreche und nebenbei ein bisschen beim Übersetzen helfen kann. Meine Eltern waren ja auch Flüchtlinge. Aber langfristig kann ich mir das nicht vorstellen.“
Yussufs Vater stammt aus einer in Syrien lebenden palästinensischen Flüchtlingsfamilie, er war in den 1970er Jahren als 16-Jähriger zum Arbeiten nach Deutschland gekommen. Nach etwa zehn Jahren ging er zurück nach Syrien, lebte dort für einige Jahre, heiratete eine Exil-Palästinenserin und kam mit ihr zurück nach Deutschland. Zur Zeit des Interviews während des Syrienkriegs beherbergte die Familie immer wieder aus den syrischen Kriegsgebieten geflüchtete Verwandte. Yussuf fühlte sich von deren dramatischen Kriegsschicksalen deprimiert, fand es aber auch wohltuend, ihnen bei der Orientierung helfen zu können. Als ich mich nach fünf Jahren erneut nach ihm erkundigte, hatte er mittlerweile eine Frau aus dem palästinensischen Familienumfeld geheiratet. Auffallend war, dass weder Khaled, Ali noch Yussuf ihre prekäre Situation auf grundlegende gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse zurückführten. Enttäuschungen wurden sich weitgehend selbst zugeschrieben und Kritik lediglich an bestimmten Institutionen und Personen geübt. Yussuf meinte sogar: „Ich fand das ganz normal. Es ist ganz normal, dass man sich am Anfang durchschlagen muss, und hier und dort was probieren muss, bis man das Richtige findet. Mein Problem war ja auch, dass ich zur Schulzeit gar nicht wusste, was ich genau werden wollte.“
Die überwiegende Mehrzahl der Galilei-Schüler hatte nach Schulabschluss keinen Ausbildungsplatz und hielt sich in den folgenden Jahren auf diese oder ähnliche Art über Wasser. Doch auch die drei einzigen Schüler, die bis zum Schulabschluss einen wirklichen Ausbildungsplatz gefunden hatten, waren keineswegs auf einem sicheren Weg in die berufliche „Zukunft“. Nach fünf Jahren hatte nur einer von ihnen, Roberto, seine Berufsausbildung wie geplant abgeschlossen und eine Anstellung im Ausbildungsbetrieb angetreten. Die anderen beiden, Thomas und Hazal, empfanden ihre Ausbildungen als Sackgassen und mussten sich neu orientieren. Thomas war von der Bundeswehr „sehr enttäuscht“, fand jedoch eine Alternative bei der Feuerwehr, bei der er sich schon als Jugendlicher freiwillig engagiert hatte. Hazal fühlte sich bei ihrer Ausbildung in einer Arztpraxis „total ausgebeutet“, knüpfte dort jedoch Kontakte zu einem Arzt, der sie später in seine neue Praxis mitnahm, wo sie aber zuletzt ebenfalls nicht mehr arbeitete. Die ersten Rückschläge in der Arbeitswelt konnten von ihnen beiden also teilweise abgefedert werden. Doch das Gefühl, ausgebeutet zu werden und gleichzeitig nur wenig alternative Optionen zur Verfügung zu haben, begleitete auch die beruflich erfolgreichsten Galilei-Schüler auf ihrem Weg nach der Schule.
Rückzug ins Private? Familiäre Orientierungen
Bisher habe ich vor allem männliche Formen des Sich-Zurechtfindens in prekären Verhältnissen geschildert, die vom Pendeln zwischen Arbeitslosigkeit, Ausbildungen und Aushilfsjobs gekennzeichnet waren. Viele ehemalige Galilei-Schüler kombinierten „Hartz IV“ mit Billiglohnjobs, teilweise auch mit illegalen Beschäftigungen. Demgegenüber stand eine vornehmlich weibliche Form des Navigierens durch prekäre Verhältnisse, die durch größere elterlichen Kontrolle und frühere familiäre Verpflichtungen gekennzeichnet war. Die Ansichten über junge muslimische Frauen sind moralisch besonders stark aufgeladen: während von migrantischer Seite Sorgen über die Entfremdung der Kinder dominieren, wird der Diskurs der Mehrheitsgesellschaft von Befürchtungen über „Zwangsehen“ bestimmt. Am Beispiel von Amira und Cigdem schildere ich exemplarisch, wie sich ehemalige Hauptschülerinnen in diesem Konfliktfeld zurechtfinden.
Amira hatte nach längeren erfolglosen Bemühungen einen Ausbildungsplatz beim Jobcenter selbst gefunden und war im Verlauf dieses Ausbildungsprogramms während meiner Feldforschung an die Galilei-Schule zurückgekehrt. Im Interview nahm sie zunächst die staatliche Perspektive einer angehenden Berufsberaterin ein, die den Mädchen berufliche Optionen jenseits des Hausfrauenstatus vermitteln sollte. Gleichzeitig zeigte sie Verständnis für die schwierige Lage der Schülerinnen, von denen viele als Hauptschülerinnen mit Kopftuch auf dem Arbeitsmarkt doppelt stigmatisiert waren.
Amira: „Ich fand es selber sehr schwer einen Ausbildungsplatz zu finden, ich habe meinen erweiterten Hauptschulabschluss geschafft aber nicht den mittleren Schulabschluss. Ich habe sehr viele Bewerbungen geschrieben und wurde auch zu Bewerbungsgesprächen eingeladen. Aber wenn sie gesehen haben, die hat ein Kopftuch an, wurde ich sofort abgelehnt. ‚Nein, brauchen wir nicht‘, ‚wollen wir nicht‘. Aber ich saß nicht faul zu Hause, sondern habe immer Praktikum gemacht und mich beworben. Viele von den Mädchen hier meinen, sie werden sowieso bald heiraten und dann Hausfrau sein. Das kennen die so von ihren Familien – die Männer gehen arbeiten und die Frauen bleiben zu Hause. Sie bekommen aber auch nicht viele Möglichkeiten, etwas anderes zu machen.“
Im Verlauf des Gesprächs zog Amira immer wieder Parallelen zu ihrer eigenen Situation und driftete dadurch allmählich in die Rolle einer mit fremden und eigenen Erwartungen konfrontierten muslimischen Frau. Die Kritik an den familiären Prägungen der Schülerinnen wandelt sich auf diese Weise zu einer Erläuterung der eigenen familiären Prägungen.
Amira: „Wir gehören einfach als islamische Frau zu einem islamischen Mann. Ich hatte früher mal einen anderen Freund, da sind meine Eltern total ausgerastet. Das war es mir nicht wert. Man versucht ja immer, die Eltern glücklich und stolz zu machen. Ich höre auch von vielen, das Mädchen wird dann ausgestoßen und gehört nicht mehr zur Familie. Also bei uns ist es auch so, ich darf auch keinen Türken nehmen, oder – ich bin ja Libanesin – ich darf keinen Palästinenser nehmen, obwohl er auch ein Moslem und ein Araber ist. Das sind dann halt solche Sachen, das wird uns von klein auf eingeprägt, ohne einen richtigen Grund zu nennen. Bis wir irgendwann sagen: ‚Ja, mein Mann wird sowieso ein libanesischer Schiit‘.“
Die besondere Bedeutung, die ethnischen Zugehörigkeiten in den Familien der Schülerinnen zugeschrieben wurde, war kein Ausdruck tatsächlich unvereinbarer kultureller Unterschiede.57 Die Betonung der eigenen Herkunft ergab sich vielmehr aus einem Migrationskontext, indem mit der sich abzeichnenden Integration der Einwanderergruppen auch der elterliche Einfluss auf die Kinder zu schwinden drohte. Erst in dieser sozialen Konstellation wurde die ethnische Herkunft künftiger Familienpartner zu einem Dauerthema, wurden massive Anstrengungen unternommen, durch eine ethnische Heiratspolitik das Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken. Betont wurde dabei nicht nur der Unterschied zur deutschen Mehrheitsbevölkerung, besonders vehement wurden die unscharfen Grenzen zwischen den Einwanderergruppen selbst bewacht.
Dies zeigte sich besonders deutlich bei Cigdem, einer ehemaligen Neuköllner Schülerin aus meiner ersten Feldforschung. Am Ende der Schulzeit, als sie massiv unter Magersucht litt, hatte sie nur knapp den mittleren Schulabschluss verpasst, auch beim Versuch, diesen in einem Ausbildungszentrum nachzuholen, scheiterte sie erneut knapp – beides erlebte sie als emotionale biografische Tiefpunkte. Ich hatte sie bereits drei Jahre nach ihrem Schulabschluss noch einmal wiedergetroffen, als sie gerade einen schweren Streit mit ihren Eltern austrug, die ihren neuen Freund ablehnten. Während die Ehe eines ihrer Brüder mit einer deutschen Frau nur eine kurzfristige väterliche Verstimmung hervorrief, wurde in Cigdems Beziehung zu einem jungen kurdischen Einwanderer ein unüberbrückbares kulturelles Problem gesehen, obwohl Cigdems Mutter selbst kurdischer Herkunft war und sich die Familien untereinander kannten. Die ethnische Karte wurde von den Eltern also hervorgezogen, um eine statusorientierte migrantische Heiratspolitik gegenüber der auf der Autonomie ihrer Gefühle bestehenden Tochter zu rechtfertigen.
Sieben Jahre später traf ich Cigdem in einem migrantisch geprägten Neuköllner Café wieder, sie trug mittlerweile ein Kopftuch und hatte ihre beiden kleinen Töchter dabei, eine davon konnte ich mit einem Schoko-Muffin zufriedenstellen, das Baby interessierte sich mehr für mein Aufnahmegerät. Die Zeit nach der Schule resümierte Cigdem als ein ständiges Auf und Ab aus kleinen Fortschritten und immer wieder neuen Rückschlägen.
Cigdem: „Nach der Schule habe ich erstmal ein Jahr OSZ gemacht, da wollte ich meinen Abschluss nachmachen, meinen MSA. Das habe ich leider wieder ganz knapp nicht bestanden. Dann war ich für ein Jahr in einer Maßnahme, wo man seinen MSA auch nachmachen kann. Und dann kam die dreijährige Ausbildung als Bürokauffrau, die habe ich aber leider nicht zu Ende gemacht. Nach zwei Jahren habe ich meinen Mann kennengelernt, dann kam die Heirat und viele familiäre Probleme, weil meine Eltern nicht damit einverstanden waren. Irgendwann hatte ich dann einfach zu viele Fehlzeiten gehabt. Später, nach der Heirat, habe ich dann nochmal im Vivantes eine Ausbildung angefangen, als Altenpflegerin. Das hat mir eigentlich sehr gut gefallen, dann bin ich aber mit ihr schwanger geworden. Das war gar nicht geplant, mein Arzt meinte, ich kann nicht schwanger werden. Ich habe das dann auch abgebrochen, aber sie haben mir die Zusage gegeben, dass ich da später wieder anzufangen kann. Ich will dann aber eher medizinische Fachangestellte machen. Seitdem war ich nicht mehr arbeiten. Sie ist jetzt 4 Jahre alt und sie sechs Monate. Ich habe eine gute Kita gefunden, da bin ich sehr zufrieden. Leider gibt es ein paar Probleme mit dem Jugendamt, da mein Mann zwei Mal gewalttätig geworden ist gegen mich. Ich habe ihn dann rausgeschmissen, er kam dann natürlich zurück und wollte wieder rein. Da musste ich die Polizei rufen, und die haben dann das Jugendamt eingeschaltet. Wir sind jetzt wieder zusammen, nehmen aber beide Beratung. Dadurch ist es viel besser geworden.“
Cigdem hat sich eine optimistische Grundhaltung bewahrt, auch wenn ihr Alltag von massiven Problemen belastet wird, deren Hintergründe im weiteren Verlauf des Gesprächs Stück für Stück weiter zum Vorschein kommen. Drei Jahre lang hatte sie nach dem Streit keinen Kontakt zu ihrem türkischstämmigen Vater in Berlin. Gleichzeitig war auch das Verhältnis zu ihren neuen kurdischen Schwiegereltern angespannt, da diese aus ihrer Sicht „extrem konservative“ Ansichten zur ehelichen Rolle der Frau vertraten. So musste Cigdem bei den mehrmonatigen sommerlichen Türkei-Besuchen stets das Kopftuch aufsetzen, welches ihr schon der eigene Vater als Jugendliche erfolglos aufzwängen wollte. Nachdem sie in der Kopftuchfrage über Jahre hinweg pragmatisch hin- und herpendelte – im familiären Kontexten eher mit Kopftuch, bei der Ausbildung stets ohne – entschied sich nach der Geburt der Kinder vorläufig dazu, das Kopftuch dauerhaft zu tragen. Auch ihr als „extrem eifersüchtig“ beschriebener Mann befand sich aufgrund seines ungültigen Aufenthaltsstatus lange in einer besonders unsicheren, mit zahlreichen alltäglichen Einschränkungen vor allem in den Bereichen Arbeit, Gesundheit und Wohnen verknüpften Lage.58 Die Jahre in der Illegalität machten ihn angewiesen auf die Hilfe anderer, die sich daraus ergebenden Abhängigkeiten holten ihn später immer wieder ein. So wurde er von ehemaligen Helfern erpresst, die drohten ihn anzuzeigen. Und die Verwandten, die ihm zunächst eine Anstellung im familienbetriebenen Dönerladen verschafft hatten, erwarteten nun, dass er auch Einkünfte aus künftigen Beschäftigungen an die zurückgebliebenen Familienangehörigen überweise, was wiederum Cigdem vehement ablehnte. An solchen Geldfragen entfachten sich heftige Familienstreits, etwa als sich das junge Ehepaar ein Auto kaufte, statt wie vonseiten der kurdischen Familie erwartet, in ein Haus für die Großfamilie in Anatolien zu investieren. Als die Streitigkeiten mit ihrem Mann und dessen Familie eskalierten, zog Cigdem für einen Monat zurück zu ihren Eltern, mit denen sie sich zwischenzeitlich ausgesöhnt hatte. Im Nachhinein gab sie ihrem Vater Recht und führte ihre Probleme selbst auf die unterschiedlichen Mentalitäten zwischen „Türken“ und „Kurden“ zurück, auch wenn sie ihren Beschreibungen nach eher aus prekären Lebensverhältnissen resultierten. Durch die Flucht zu den Eltern entkam sie zwar der häuslichen Gewalt, doch es ergaben sich weitere Einschränkungen sowie zusätzliche Belastungen: strenge Auflagen vonseiten des Jugendamtes, ein väterlich verfügtes Besuchsverbot gegenüber der Familie des Ehepartners, krank geborene Kinder und vieles mehr. Auch Cigdems ehemalige Mitschülerinnen hatten mit ähnlichen Problemen zu tun.
Cigdem: „Safa hat zwei Söhne, leider aber auch viele Probleme. Sie wollte ja in den Libanon. Sie war auch da, hatte dort aber Streit mit ihrer Schwiegermutter. Sie kam dann wieder zurück zu ihren Eltern, konnte sich aber nicht scheiden lassen. Nach zwei Jahren kam er hierher, er arbeitet jetzt als Autowäscher, sie macht eine Ausbildung als zahnmedizinische Fachangestellte – mit Kopftuch in Hellersdorf! Da hat sich die Lage jetzt ziemlich beruhigt. Hayat hatte einen Mann in Jordanien und ist mit ihm nach Dubai gegangen. Jetzt lebt sie allein mit dem Kind in Berlin und arbeitet bei einem Juwelier. Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, wollte sie aber wieder zurückgehen. Khadir hat auch geheiratet, sich aber schon zwei Mal scheiden lassen. Jetzt ist sie mit einem Türken zusammen und hat auch einen Sohn. Weil sie als Araberin einen Türken genommen hat, hat die Familie von ihr Abstand genommen. Mein Vater würde auch niemals einen Araber akzeptieren! Hasna hat einen Deutschen geheiratet, bei ihr ist das was anderes, ihre Mutter ist ja Deutsche und der Vater Araber. Sie ist sehr glücklich, sie hat zwei Jahre als Sozialassistent gemacht und arbeitet jetzt im Kindergarten. Rinda hat im Hotel eine Ausbildung in der Küche angefangen, aber auch nicht zu Ende gemacht. Nach zwei Jahren hat sie geheiratet und dann abgebrochen. Ihre Tochter ist noch ganz klein.“
Die mehrheitlich (post-)migrantischen Neuköllner Hauptschülerinnen heirateten in der Regel relativ bald nach dem Schulabschluss mit etwa Anfang 20 und bekamen wenig später Kinder. Die milieutypische elterliche Strategie, die Heranwachsenden zu Ehepartnern aus der als eigen markierten ethnischen Gruppe zu drängen, führte auch bei ihnen immer wieder zu Konflikten, welche nicht nur die Beziehungen zu den Eltern, sondern auch zwischen den Ehepartnern belasteten. Die ethnisch begründete familiäre Heiratspolitik ließ sich jedoch gegenüber den Heranwachsenden nur teilweise durchsetzen, in keinem der erwähnten Fälle kam es zu einer „Zwangsheirat“. Dennoch wurde familiärer Druck ausgeübt und gezielt Ehen im erweiterten Familien- und Bekanntenkreis angebahnt.
Bei den im Vergleich zu Schülerinnen aus anderen Schultypen relativ frühen Familiengründungen handelt es sich nicht einfach um jenen Rückzug in den Hausfrauenstatus, der den Mädchen bereits während der Schulzeit von vielen Lehrern prophezeit wurde. Die Schilderung von Cigdem macht deutlich, dass die meisten weiblichen Absolventen einen prekären Wechsel zwischen Ausbildungsphasen und Familienzeiten durchlebten. Auch Cigdem hielt am Wunsch fest, mittelfristig wieder eine Ausbildung zu beginnen, sie befürchtete zwar ihr Freund werde keine männlichen Mitschüler dulden, sich aber letztlich der Einsicht in die finanzielle Notwendigkeit eines doppelten Einkommens fügen. Auch die familiären Beschäftigungen selbst wurden von ihr nicht als Rückzug, sondern als eine besonders intensive Form des Engagements erlebt. Die vor allem der Mutter zufallende Fürsorge für die Kinder ging zunächst mit zahlreichen Arztbesuchen und Beratungsterminen einher. Auch die bürokratische Organisation des Familienhaushalts, die Kommunikation mit dem Jugendamt, der Hausverwaltung oder anderen Behörden wurde von Cigdem übernommen, da ihr Mann nur über geringe Schriftkenntnisse im Deutschen verfügte. Hinzu kam ihr Engagement als Elternsprecherin in einer größeren Kindertagesstätte, wo Probleme mit anderen Eltern und deren Kindern gelöst werden mussten, Kitafeste und Kuchenbasare auf die Beine gestellt wurden, es mal einen Clown, mal einen Fotografen zu engagieren galt, Anträge beim Quartiersmanagement gestellt oder Anliegen bei der Kitaleitung durchgesetzt werden mussten. Die Bewältigung dieser Herausforderungen unter angespannten familiären und prekären beruflichen Bedingungen war ein alltäglicher Balanceakt. Auch bei Cigdem veränderte sich dadurch im Nachhinein die Einschätzung der eigenen Schulzeit:
Cigdem: „Ich vermisse die Schule sehr, wenn wir uns manchmal mit Freundinnen treffen, dann vermissen wir schon diese Zeiten. Ich hätte im Nachhinein alles anders gemacht, mich mehr angestrengt, um einen richtigen guten Beruf zu bekommen. Wenn ich neu anfangen könnte, würde ich das besser machen und erst später heiraten. Jetzt bereue ich natürlich, meine Ausbildung abgebrochen zu haben, aber als ich schwanger war, konnte ich im Krankenhaus nicht weitermachen. Für meine Kinder wünsche ich mir einen anderen Weg, als ich gegangen bin. Sie sollen die Schule gut zu Ende machen, das Abitur machen und später etwas Festes machen, einen besseren Beruf mit mehr Sicherheit.“
SCHLUSS: NORMALISIERUNG VON ZUKUNFTSLOSIGKEIT
Lauren Berlant beschreibt „Cruel Optimism“ als eine Gefühlsausrichtung derjenigen, die noch von den Verheißungen eines „guten Lebens“ träumen, während sie sich gleichzeitig in zunehmend prekären Verhältnissen zurechtfinden müssen. Diese Form des Hoffens prägte auch die Zukunftsorientierungen von Berliner Hauptschülern. Die Verbreitung der Normalitätssemantik war, wie Georges Ganguilhem am französischen Beispiel gezeigt hat, eng mit der Etablierung des modernen Schulsystems verknüpft.59 Auch das Wort „Hauptschule“ verweist bereits auf einen gesellschaftlichen Normalitätsstandard. Doch sind Haupt- und teilweise auch die reformierten Sekundarschulen mittlerweile zu Symbolen der Normalisierung von Prekarität geworden. Sie entsprechen nicht mehr der gesellschaftlich geltenden Bildungsnorm, weshalb Hauptschülern nicht einmal in Zeiten unbesetzter Ausbildungskräfte die Türen zum Arbeitsmarkt geöffnet werden.60 Da die Galilei-Schüler mehrheitlich aus prekären Familien stammten, stellt sich die beunruhigende Frage, was in dieser sozialen Konstellation überhaupt noch als Normalitätsstandard gelten kann.
Die Galilei-Schule war eine gesellschaftliche Institution der Normalisierung von Zukunftslosigkeit. Mit dieser Zeitdiagnose zeichnet sich ein Wandel der vorherrschenden Zukunftserwartungen vom Positiven ins Negative ab. Welche emotionalen Folgen dies mit sich bringen könnte, lässt sich am Beispiel des bereits seit Längerem marginalisierten globalen Süden studieren. Eine Situation, in der Ausgrenzung und Armut bereits seit vielen Generationen als die Regel gelten, beschreibt Dia Da Costa am Beispiel Indiens. Wenn die affektive Bindung an Fantasien des „guten Lebens“ nicht mehr mit Optimismus und Aufstiegshoffnungen verknüpft werden, sollte man in Anlehnung an Berlant eher von einem „Cruel Pessimism“ sprechen.61 Eine andere Situation führt uns James Ferguson am Beispiel eines ehemaligen Bergbaugebiets im afrikanischen Sambia vor Augen, das im Zuge der Deindustrialisierung vom Welthandel weitgehend abgekoppelt wurde.62 Der Region wurde somit auch der Modernitätsstatus wieder entzogen, existierende Transportverbindungen wurden eingestellt, die Lebenserwartung und die Einkommen sanken wieder. Diese Entwicklung war nur möglich, da der hegemoniale neoliberale Diskurs im Gegensatz zum älteren, auf andere Art korrumpierten, Entwicklungsdiskurs überhaupt keinen allgemeinen Fortschrittsanspruch mehr erhebt, sondern einseitig auf eine ökonomische Gewinnorientierung ausgerichtet ist. Die sozioökonomisch „Überflüssigen“63 können dadurch aussortiert werden, was mit Degradierungs- und Demütigungserfahrungen einhergeht. Ihnen bleibt im Falle Sambias die nostalgische Erinnerung an die Fortschrittsversprechen der Moderne und die Rückbesinnung auf traditionale Formen der Subsistenzwirtschaft.
Während ich in diesem Kapitel die Träume und Wege der Schüler nachzeichnete, bleibt noch die Frage offen, wie sich die Galilei-Schule nach meiner Forschung im Jahr 2012/13 weiterentwickelte. Ich selbst habe seitdem nicht mehr an der Schule geforscht, doch gaben mir ehemalige Pädagogen eher negative Einschätzungen. Dies ist umso bemerkenswerter, da sich ihnen zufolge die Lage der Galilei-Schüler auf dem Arbeitsmarkt vor allem aufgrund des durch die Schulreform bedingten Wegfalls des Hauptschülerstigmas verbesserte und allmählich mehr Schüler einen berufsqualifizierenden Ausbildungsplatz fanden. Die Gründe für die Negativentwicklung lagen diesmal weniger an äußeren Umständen als an internen Fehlentwicklungen, sie wurden vor allem einem Wechsel auf der Direktorenposition kurz nach meiner Feldforschung zugeschrieben. Seitdem haben zahlreiche Lehrer, darunter alle Fachbereichsleiter, die Schule verlassen und konnten angesichts des Berliner Lehrermangels nur unzureichend ersetzt werden. Neben den Lehrern kamen der Schule auch die Schüler abhanden, die Fehlzeiten sanken nach der Umwandlung von einer Haupt- in eine Sekundarschule nicht wie erwartet, sie stiegen wieder an und führten die Galilei-Schule bald wieder an die Spitze des Berliner „Schwänzer-Rankings“.
Die Frage, ob es angesichts der beschriebenen Zustände auch eine „Hoffnung ohne Optimismus“ geben kann, ist mit Blick auf die sich abzeichnenden neoliberalen Entwicklungstendenzen von zentraler Bedeutung. Terry Eagleton verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass uns die sprachlichen und imaginativen Ressourcen zur Vorstellung alternativer Zukünfte weitgehend abhandengekommen sind, das Prinzip der Hoffnung aber auch nach dem Verblassen revolutionärer Utopien nicht völlig aufgegeben werden sollte.64 Demnach kann man zwar ohne naiven Optimismus doch nur schwer ohne Sehnsüchte leben. In den hier zunächst geschilderten Träumen wird die Hoffnung selbst am Leben erhalten, und auch in den anschließend beschriebenen prekären Verhältnissen blieb der Wunsch nach einem anderen, einem lebenswerteren Leben als Ideal präsent. Die Hoffnung hat sich also noch nicht gänzlich verabschiedet, doch die Zukunft ist spürbar düsterer geworden.
1Vgl. Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 9-37; Luhmann: Die Zukunft kann nicht beginnen.
2Vgl. Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 349-375.
3Vgl. Uerz: ÜberMorgen.
4Vgl. Horn: Zukunft als Katastrophe.
5Vgl. Jansen/Kleist: Hope over time; Ortner: Dark Anthropology and its others.
6Vgl. Bloch: Das Prinzip Hoffnung.
7Vgl. Cross: The Economy of Anticipation.
8Vgl. Wellgraf: Hauptschüler, S. 105-134.
9Vgl. Barck (Hg): Surrealismus in Paris.
10Vgl. Freud: Die Traumdeutung, S. 121.
11Vgl. Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft.
12Vgl. Freud: Die Traumdeutung, S. 141ff.
13Vgl. Freud: Schriften über Träume und Traumdeutungen.
14Vgl. Freud: Die Traumdeutung, S. 476ff.
15Vgl. Hareaus: Traumvorstellung und Bildidee.
16Vgl. Jung: Traum und Traumdeutung.
17Vgl. Tedlock: The New Anthropology of Dreaming.
18Vgl. Jay: Cultural Semantics, S. 157-164; Gordon: Ghostly Matters; Collins/Jervis: (Hg.): Uncanny Modernity.
19Vgl. Freud: Die Traumdeutung.
20Vgl. Reckwitz: Zukunftspraktiken.
21Vgl. Guyer: Prophecy and the Near Future.
22Vgl. Vogl: Das Gespenst des Kapitals; Comaroff/Comaroff (Hg.): Millenial Capitalism and the Culture of Neoliberalism.
23Vgl. Reck: Traum/Vision.
24Vgl. Singer: Phantasie und Tagtraum.
25Vgl. Ehn/Löfgren: The Secret World of Doing Nothing, S. 177ff.
26Vgl. Appadurai: The Future as Cultural Fact, S. 179-195.
27Vgl. Seel: Drei Regeln für Utopisten.
28Vgl. Bloch: Das Prinzip Hoffnung, S. 45.
29Zu unterschiedlichen psychoanalytischen Theorien der affektiven Objektbesetzung vgl. Freud: Trauer und Melancholie; Klein: A Study of Envy and Gratitude; Zizek: Mehr-Genießen, S. 13-52.
30Vgl. Pontalis: Zwischen Traum und Schmerz.
31Vgl. Saar: Die Immanenz der Macht, S. 275-328.
32Vgl. Bürkle: Migration von Raum.
33Vgl. Berlant: Cruel Optimism, S. 161-189; Muehlebach/Shoshan: Post-Fordist Affect.
34Vgl. Gramsci: Americanism and Fordism.
35Vgl. Ahmed: The Promise of Happiness, S. 21-49.
36Vgl. Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten.
37Vgl. Crary 24/7; Stein: Work, Sleep, Repeat.
38Vgl. Haug: Tagträume.
39Vgl. Modleski: Loving with a Vengeance; Gohl: Liebe, Lust und Abenteuer.
40Vgl. Bareither: Gewalt im Computerspiel.
41Vgl. Sørensen: Violent Video Games in the German Press.
42Jung: Traum und Traumdeutung, S. 105.
43Vgl. Rancière: Die Nacht der Proletarier.
44Vgl. Sandring: Schulversagen und Anerkennung; Schneider: Schulische Aufwärtsqualifizierungen bei Hauptschülern im Rahmen biografischer Prozessverläufe. Für eine biografische Langzeitperspektive auf Hauptschulabsolventen aus den 1970er Jahren vgl. Held/Kehnken: Handlungsforschung an einer Hauptschule 1972/74.
45Vgl. Stewart: Precarity’s Forms.
46Vgl. Auyero: Patients of the State.
47Vgl. Bourdieu u.a.: Das Elend der Welt, S. 212.
48Vgl. Jansen: Yearnings in the Meantime.
49Vgl. Zum Verhältnis von Literatur und Gesellschaft vgl. Goldmann: Soziologie des Romans; Williams: Culture and Materialism, S. 11-30.
50Vgl. Berlant: Cruel Optimism, S. 191ff.
51Vgl. Solga: Increasing risks of stigmatization.
52Vgl. Auyero: Patients of the State.
53Vgl. Walther: The Struggle for ,Realistic‘ Career Perspectives.
54Vgl. Reay: Beyond Consciousness?
55Vgl. Berlant: Cruel Optimism, S. 191ff.
56Vgl. Grimm/Hirseland/Vogel: Die Ausweitung der Zwischenzone.
57Vgl. Barth (Hg.): Ethnic Groups and Boundaries; Wimmer: Ethnic Boundary Making.
58Vgl. Münz/Alscher/Özcan: Leben in der Illegalität.
59 Vgl. Canguilhem: Das Normale und das Pathologische; Link: Versuch über den Normalismus.
60 Vgl. Protsch: Segmentierte Ausbildungsmärkte.
61 Vgl. Da Costa: Cruel Pessimism.
62 Vgl. Ferguson: Expectations of Modernity.
63 Vgl. Bude/Willisch (Hg.): Exklusion.
64 Vgl. Eagleton: Hope without Optimism.