Soziale Ängste.
Arbeitslosigkeit und Abschiebung
Leben wir in einer Angstgesellschaft? Historikern zufolge ist Angst in der westlichen Moderne zu einer dominanten Emotion avanciert.1 Angst und Furcht werden vielfach zu den emotionalen Grunddispositionen des Menschen gezählt, doch in ihrer jeweiligen Ausprägung sind sie in erster Linie historische, kulturelle und soziale Phänomene.2 Bestimmte Formen der Angst haben ihre spezifischen Plätze in der Geschichte, wie Joanna Bourke anhand der Angst vor dem Lebendig-Begraben-Werden im Viktorianischen Zeitalter, nuklearen Ängsten im Kalten Krieg und schließlich den gegenwärtig florierenden Terrorängsten illustriert.3 Soziologen behaupten ebenfalls, dass wir in einer „Gesellschaft der Angst“ leben, da ein mit relativem Wohlstand und Sicherheit verknüpftes kollektives Integrationsversprechen moderner Gesellschaften im Zuge jüngster Desintegrationsprozesse durch individuell erfahrene Abstiegsängste abgelöst wurde.4 Die mit Stichworten wie Deindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit verbundenen Ängste verteilen sich zudem innerhalb der Bevölkerung auf ungleiche Weise, wobei sie in postproletarischen Schichten besonders verbreitet sind.5
In diesem Kapitel blicke ich über die Schulzeit hinaus und beschäftige mich mit sozialen Ängsten, also mit Ängsten, die in besonderem Ausmaß durch gesellschaftliche Strukturen, vor allem durch die gegenwärtigen Arbeitsmarkt- und Grenzregime, hervorgebracht werden. Von Arbeitslosigkeit und Abschiebung sind Berliner Hauptschüler mit ihrer mehrheitlich migrantischen Herkunft aufgrund ihrer sozialen Position stärker als andere Schülergruppen betroffen. Bei den darauf bezogenen Ängsten handelt es sich jeweils um Zukunftsängste. Die ihnen zugrundeliegenden Formen der Ausgrenzung sind auf vielfältige Weisen miteinander verknüpft. Von Abschiebung Bedrohten wird der Zugang zum Arbeitsmarkt erschwert oder gar verboten, während gleichzeitig Erfolge auf dem Arbeitsmarkt die drohende Abschiebung hinauszögern oder verhindern können. Beide Exklusionsprozesse sowie die Modi ihrer emotionalen Erfahrung divergieren aber auch: Arbeitslosigkeit steht am Ende der Hauptschulzeit unmittelbar vor der Tür und die Angst davor wird auch durch die beständige Thematisierung im Unterricht evoziert. Die statistisch deutlich weniger wahrscheinliche Abschiebung wird dagegen vonseiten der Schule konsequent ausgeblendet und die Angst davor verbreitet sich eher untergründig über informelle Gespräche, Gerüchte und Erzählungen. Im Alltag vieler Schüler sind beide Ängste dennoch gleichzeitig präsent und befördern gemeinsam ein weitgehendes Gefühl der Unsicherheit.
Der Fokus auf statistisch wahrscheinliche Arbeitslosigkeit und statistisch unwahrscheinliche Abschiebung legt auf den ersten Blick eine Unterscheidung zwischen einer konkreten Furcht und einer eher diffusen Angst nahe, wie sie in der Philosophie weit verbreitet ist.6 Doch sollte mit dieser analytischen Trennung vorsichtig umgegangen werden, da sie weder der Alltagssprache noch der Alltagserfahrung der Jugendlichen entspricht. Die Unterscheidung ist dennoch hilfreich, um Fragen der kulturellen Vermittlung und Bearbeitung von sozialen Ängsten nachzugehen. Der Historiker Heinz Dieter Kittsteiner hat die Entwicklung der abendländischen Angst als Reaktion auf die fehlende Sinnhaftigkeit und Verfügbarkeit des geschichtlichen Prozesses gedeutet.7 In der Frühen Neuzeit verloren die gottgegebene Ordnung und die mit ihr verbundenen Ängste vor dem „Bösen“ an Bindungskraft, es entstand ein offener Zukunftshorizont, der jedoch auch mit neuen, eher diffusen Unsicherheiten einherging. Die Moderne wurde somit selbst als eine Quelle von Angst und Bedrohung erlebt.8 Ängste wurden im Verlauf der Modernisierung tendenziell reflexiv, wanderten also gewissermaßen nach „innen“, gleichzeitig kam es vor allem in Krisenphasen zur Rückübersetzung latenter Ängste in emotional besetzte Feindbilder, so wurden anhand von „Hexen“ und „Juden“ Ängste symbolisch abgeleitet sowie Handlungsmacht demonstriert.9
Bezieht man diese historische Deutung auf gegenwärtige Formen der Angst-bearbeitung, zeigt sich, dass auch Berliner Hauptschüler kaum noch Ansätze für wirksames zukunftsgestaltendes Handeln finden und dadurch in ihrem Selbstwertgefühl enorm verunsichert sind. Ihre Ängste artikulieren sich ebenfalls in emotional besetzten symbolischen Bezugssystemen, wobei in diesem Fall Orte wie das „Jobcenter“ oder die „Ausländerbehörde“ von ihnen als Schreckensszenarien ausgemalt und bürokratische Dokumente wie Arbeitslosen- oder Aufenthaltsbescheide affektiv aufgeladen werden. Einige dieser miteinander verbundenen Formen der Verinnerlichung und Entäußerung, der Internalisierung und Verschiebung von Ängsten verfolge ich in diesem Kapitel. Im ersten Abschnitt schildere ich körperliche Reaktionen, sprachliche Umgangsformen und aktivistische Handlungsweisen im Kontext drohender Arbeitslosigkeit. Im zweiten Teil rekonstruiere ich, wie differentiell Abschiebungs-Ängste wahrgenommen werden, mit welchen Ausgrenzungsmechanismen sie verbunden sind und welche psychischen Folgen tatsächliche Abschiebungen haben können.
Dabei zeigen sich Konturen einer umfassenden Prekarisierung, was die eingangs angedeutete These einer Gesellschaft unter dem Vorzeichen der Angst und Verunsicherung unterstreicht. Der Begriff der Prekarisierung, der vom französischen Soziologen Robert Castel geprägt wurde, bezeichnet unsichere und instabile Arbeitsverhältnisse im Niedriglohnsektor, die sich im westlichen Europa im Übergang zum Postfordismus systematisch ausgebreitet haben.10 Zwar ist das sogenannte „Prekariat“ nicht mit einer sozialen Klasse identisch, doch verweist die dem Begriff zugrundeliegende Wortverknüpfung von „Prekarität“ und „Proletariat“ dennoch auf eine enge Verbindung von Klassenlage und dem Ausmaß an Prekarisierung. Klaus Dörre, der wesentlich zur Verbreitung der Prekarisierungsforschung in Deutschland beigetragen hat, unterscheidet in einem Forschungsüberblick eine engere, empirische Verwendung von einem kritisch-zeitdiagnostischen Prekarisierungsbegriff.11 Während Dörre selbst vor allem wichtige empirische Studien durchführte, unter anderem zu „Hartz-IV“-Empfängern und in Bedrängnis geratenen Industriearbeitern, hat Oliver Marchart den Prekarisierungsbegriff als Instrument einer kritischen Zeitdiagnose systematisch entfaltet.12 Seinen Begriff einer umfassenden Prekarisierung grenzt er von einem Prekaritätsverständnis ab, welches dieses lediglich am gesellschaftlichen Rand oder in einer bestimmten Zone des Arbeitsmarktes verortet. Stattdessen begreift er Prekarisierung als ein umfassendes, nicht auf bestimmte Milieus oder Sphären eingrenzbares, Charakteristikum gegenwärtiger Vergesellschaftung. Ich folge diesem Ansatz und versuche anhand ethnografischer Beobachtungen die Eigentümlichkeiten von Zukunftsängsten am unteren Rand der Bildungshierarchie genauer nachzuvollziehen.
ANGST VOR ARBEITSLOSIGKEIT
Die Angst vor der Arbeitslosigkeit verweist gleichsam auf gesellschaftliche Valorisierungen und auf die moralische Dimension von Gefühlen. Lohnarbeit ist in Europa erst im Verlauf der Modernisierung zur Ware und zum zentralen Vehikel der Verteilung von Status und Anerkennung avanciert.13 Unsere Gesellschaft formierte sich während der Industrialisierung zu einer Arbeitsgesellschaft, bei der gesellschaftliche Teilhabe über die Integration in den kapitalistischen Arbeitsmarkt vermittelt und gesellschaftlicher Erfolg am Modell männlicher Lohnarbeit ausgerichtet wurde.14 In früheren europäischen Epochen, als Arbeit noch stärker mit körperlichen Gefahren assoziiert wurde, galt die Arbeit selbst als eine Quelle der Angst und die Befreiung von der Notwendigkeit zu schwerer körperlicher Arbeit wurde als Privileg herbeigesehnt. Dieses Verhältnis hat sich in der Moderne umgedreht: Nun richtet sich die Angst auf den Verlust oder die Abwesenheit von Arbeit.15 Als soziale Kategorie und sozialpolitisches Problem etablierte sich Arbeitslosigkeit erst um 1900, als begonnen wurde zwischen Armut und Erwerbslosigkeit zu unterscheiden.16 Arbeitslos zu sein, bedeutet seitdem einen empfindlichen sozialen Makel und geht mit einem spürbaren Statusverlust einher. Aus Sicht der Schüler steht drohende Arbeitslosigkeit für die Gefahr, den anstehenden Schritt ins Erwachsenenleben nicht erfolgreich zu bewältigen. Dadurch drohen sich die Probleme, die aus einer von Misserfolgen und Demütigungen bestimmten Schullaufbahn resultieren, zu verstetigen und möglicherweise noch zu verschärfen.
Zeitgenössische Transformationen der Arbeitsmarktpolitik, wie die am Prinzip des „Fordern und Förderns“ ausgerichteten „Hartz“-Reformen, tragen wesentlich zur Intensivierung und Entgrenzung der Ängste vor Arbeitslosigkeit bei. Die gegenwärtig zu beobachtende „Neuerfindung des Sozialen“ basiert, so der Soziologie Stephan Lessenich, vor allem auf der Aktivierung von Eigenverantwortung: „Im Zentrum des neuen Regierungsmodus steht der tendenzielle Übergang von der öffentlichen zur privaten Sicherheit, vom kollektiven zum individuellen Risikomanagement, von der Sozialversicherung zur Eigenverantwortung, von der Staatsversorgung zur Selbstsorge. Ziel dieser veränderten Programmatik ist die sozialpolitische Konstruktion doppelt verantwortungsbewusster, und das bedeutet: sich selbst wie auch der Gesellschaft gegenüber verantwortlicher Subjekte.“17 Arbeitslosigkeit wird nunmehr selbst in Krisenzeiten weniger als weitgehend unverschuldetes kollektives Schicksal betrachtet, sondern verstärkt als Zeichen persönlichen Fehlverhaltens bewertet, das sozialmoralische Abwertungen und sozialstaatliche Sanktionen zur Folge hat. Im Zuge der Anhebung des Bildungsniveaus in den letzten Dekaden spielt das Schulsystem in diesem Prozess der Verantwortungszuschreibung gegenüber niedrigqualifizierten Bildungsverlierern eine entscheidende Rolle.18 Die gesellschaftlich produzierte Verunsicherung spiegelt sich auch in den besonders von Arbeitslosigkeit bedrohten Segmenten des Arbeitsmarktes wider, wo sie zu Tendenzen der Entsolidarisierung und Entfremdung beiträgt.19 Die soziokulturellen Entwicklungen hin zur Aktivierungsgesellschaft bilden den Angst evozierenden Hintergrund für die Furcht vieler Hauptschüler vor der Ausbildungsplatzsuche und die damit assoziierten Gefahren eines persönlichen „Scheiterns“.
Verkörperte Ängste
Bei ihren Bemühungen um einen Ausbildungsplatz registrierten die Schüler im Verlauf der 10. Klasse allmählich ihre miserable Lage auf dem Arbeitsmarkt, die im Wesentlichen auf strukturelle Bedingungen und nicht auf ihr individuelles Verschulden zurückzuführen war. Die Angst vor der Arbeitslosigkeit wuchs in dieser Zeit zu einem deutlich wahrnehmbaren und relativ prägnanten Kollektivgefühl an, das in den Monaten vor dem Schulabschluss für viele Schüler zu einer enormen emotionalen Belastung wurde. Die Auswirkungen des kollektiven Statusverlusts, von dem Hauptschüler in den letzten Jahrzehnten betroffen waren, wurden als individuelle Gefährdungen erfahren, mit denen die Heranwachsenden auf sehr unterschiedliche Weisen umgingen. Während manche Schüler mit protzigen Millionärsfantasien die alltäglichen Mühen der Suche nach einem Ausbildungsplatz überspielten, maßen andere Schüler jedem einzelnen Schritt auf dem Weg zu einem qualifizierten Arbeitsplatz eine enorme Bedeutung zu. Die Angst richtete sich dann vor allem darauf, bloß nicht den Anschluss zu verlieren.
Der drängende Charakter dieser Ängste zeigte sich am Ausmaß ihrer psychischen und körperlichen Verinnerlichung, an den Albträumen und Bauchschmerzen, die sie typischerweise hervorriefen. In meiner Studie „Hauptschüler. Zur gesellschaftlichen Produktion von Verachtung“ habe ich die psychische Wirkung von Zukunftsängsten hervorgehoben und diese im Anschluss an Sigmund Freud als drei miteinander verbundene Formen des „Unheimlichen“ gedeutet: Als Angst vor dem beruflichen Scheitern, als Angst davor, sich selbst aufzugeben und sich in eine ausweglos erscheinende Situation zu fügen, und schließlich als Angst vor Schicksalsschlägen, wie sie in den Biografien und Familien der Schüler auffallend häufig auftraten.20 Zukunftsängste artikulierten sich in Schreckensszenarien des sozialen Abrutschens und wurden symbolisch durch Doppelgängerfiguren aus dem engeren Familien- oder Freundeskreis personifiziert. Unheimlich waren diese Ängste deshalb, da sich die Jugendlichen vor etwas fürchteten, was ihnen gleichsam auf unangenehme Weise vertraut erschien. Arbeitslosigkeit stand für einen möglichen Lebensweg, welchen die Jugendlichen unbedingt vermeiden wollten, auf den sie vielfach aber dennoch ungewollt zusteuerten.
Ergänzend dazu hebe ich hier die körperliche Erfahrung sozialer Ängste hervor. Der somatische Charakter sozialer Ängste wird bisher vor allem in künstlerischen, filmischen und literarischen Darstellungen prekärer Verhältnisse vermittelt, auf besonders beeindruckende Weise in den Sozialstudien der Dardenne-Brüder. In deren Film „Rosetta“ aus dem Jahr 1999 wird eine in einer Wohnwagensiedlung lebende Jugendliche auf der verzweifelten Suche nach einer Arbeit und einem „normalen Leben“ portraitiert, mitsamt den Bauchkrämpfen, Wutausbrüchen und moralischen Dilemmata, die sich aus einer solchen sozialen Situation ergeben. In den Sozialwissenschaften wird die körperliche Dimension sozialer Ausgrenzung noch weitgehend vernachlässigt. Doch wer nur abstrakt die gesellschaftliche Hervorbringung von sozialen Ängsten rekonstruiert, droht deren affektives Ausmaß und deren körperliche Manifestationen aus dem Blick zu verlieren.
Feldtagebuch: Englischunterricht, letzte Stunde für heute. Die meisten Schüler sind schon etwas müde. Martin hat plötzlich akute Atemnot. Er schnappt nach Luft und kann sich kaum noch auf den Beinen halten. Die Lehrerin meint, er soll „mal frische Luft“ bekommen. Jamil und ich begleiten ihn nach draußen und setzen uns in die Sonne. Martin berichtet von starken Schmerzen in der Lunge und im Magenbereich, dabei krümmt er sich immer wieder krampfartig zusammen. „Wenn es schlimmer wird, bekomme ich Herz-Rhythmus-Störungen und so eine Art epileptischen Anfall“, warnt er uns schon mal im Voraus. Wir empfehlen ihm, sich erstmal zu entspannen. Er will aber unbedingt so schnell wie möglich zurück in den Unterricht. „Ich brauche jede Minute Unterricht, grad in Englisch. Auch wenn die Noten jetzt sowieso egal sind. Ich will hier trotzdem mit einem guten Zeugnis von der Schule gehen.“ Dann fragt er mich noch, ob ich mein Handy dabeihabe. Er fühle sich ruhiger, wenn er weiß, ich könne jederzeit einen Notarzt anrufen, falls er „doch wegklappt“. Ich halte das für keine besonders beruhigende Aussicht. „Meine Hand wird taub“, ruft Martin plötzlich. Außerdem hat er jetzt auch Schmerzen im Rücken. Sein Arzt meint wohl, es sein eine „Angst-Störung“, eine Art Panikzustand, der ihn überkommt, wenn er Atemnot verspürt. Er selbst nennt es einen „Schockzustand“. Die behandelnden Ärzte haben bisher nichts gefunden, manche glauben, es sei Asthma, andere vermuten ein Virus, aber eine richtige Erklärung hat bisher keiner. Martin wirkt blass, übernächtigt, und in sich zusammengefallen. Seine Haare hängen ihm so weit ins Gesicht, dass man dieses kaum noch erkennen kann. Er macht Atemübungen, die ihm der Arzt empfohlen hat. „Alter, lass Arzt rufen“, meint Jamil. Ich empfehle noch abzuwarten: „Die paar Minuten Englisch sind jetzt auch nicht so wichtig. Ruh Dich lieber erstmal aus.“ Doch Martin will unbedingt noch zurück in den Unterricht. Auf dem Weg dahin braucht er schon auf der Treppe eine Pause. Dabei bittet er mich, oben im Raum das Fenster für ihn aufzumachen. Zurück im Raum angekommen, macht Martin tatsächlich sofort seine Englischübung weiter. Die Lehrerin lächelt zufrieden, das Problem scheint behoben.
Eine bedrückende Szene, zumal sie kein Einzelfall war. Schon am Beispiel von Sila hatte ich eine ähnliche Situation geschildert, bei der ich ebenfalls als Ethnograf zur Hilfe gezogen wurde. Auch in Martins Fall kann ich die Ursachen für seine körperlichen Beschwerden nicht genau bestimmen, doch schien mir die soziale Situation eine wesentliche Rolle für sein Unwohlsein zu spielen. Als ich ihn am nächsten Tag wiedertraf, klagte er immer noch über Übelkeitsgefühle. Auf meine Frage, ob er beim Arzt gewesen war, antwortete er ausweichend. Als ich mich erkundigte, was seine Mutter dazu meinte (bei autochthonen Schülern ging ich wie selbstverständlich davon aus, dass die Väter abwesend seien), antwortete er: „Was soll sie schon davon halten?“ Später erfuhr ich von problematischen Familienverhältnissen, bei denen die alleinstehende, arbeitslose Mutter eine Einzelfallhelferin zugeteilt bekam, deren Hilfe sie jedoch verweigerte.
Hauptschüler inkorporierten auf unterschiedliche Weisen soziale Verhältnisse und verkörperten sie gleichsam in differenten Stilen. Ihre Körper waren einerseits ein Produkt der Gesellschaft, in die sich Strukturen und Werte einschrieben, und andererseits Produzenten von Gesellschaft, indem sie das Zusammenleben beeinflussten und soziale Arrangements herstellten.21 Der Soziologe Robert Gugutzer spricht in diesem Zusammenhang im Anschluss an Anthony Giddens von einer „Dualität von Struktur und Verkörperung“ und weist damit darauf hin, dass sich soziale Strukturen und verkörperte Handlungen wechselseitig prägen und hervorbringen.22 Martins gesundheitliche Beschwerden deuten darauf hin, wie sich familiäre Verhältnisse und soziale Ängste in Körper einschreiben. Die Körperlichkeit der Angst wurde dabei an den typischen physiologischen Symptomen wie Übelkeit, Schwindel, Atemnot und Bauchschmerzen deutlich. Die Betonung der körperlichen Erfahrung sozialer Ausgrenzung sollte jedoch nicht zu dem Schluss führen, die Schüler wären unfähig gewesen, über ihre Situation zu reflektieren. Vielmehr zeigte sich die Zukunftsangst auch körperlich und körperliche Angstsymptome hingen wiederum auch mit rationalen Erwägungen zusammen, in Martins Fall mit Überlegungen zur Relevanz des Englischunterrichts für die Berufswelt und der Bedeutung von Schulnoten für das eigene Selbstwertgefühl.23
Martin fürchtete sich, in einem als besonders berufsrelevant geltenden Unterrichtsfach ins Hintertreffen zu geraten. Im übertragenen Sinne hatte er Angst davor, noch weiter ins gesellschaftliche Abseits zu geraten. Der von Soziologen diagnostizierte „Wandel sozialer Selbsteinschätzung“24, demzufolge in der Gegenwartsgesellschaft mit der spürbaren Wiederkehr sozialer Gegensätze auch die für die alte Bundesrepublik prägende konsenshafte Identifikation mit der Mittelschicht wieder ab- und antagonistische Selbstzuschreibungen zunehmen, muss für die bereits marginalisierten Berliner Hauptschüler differenziert werden. Für eine positive Identifikation mit dem sozialen „Unten“ war für die Neuköllner Jugendlichen einerseits der „alte“ proletarische Arbeiterstolz aufgrund der fast durchweg prekären beruflichen Situation der Eltern nicht mehr verfügbar, andererseits traf sie als Hauptschüler die kulturelle Entwertung der „neuen Unterschicht“ besonders stark. Parallel zur weitverbreiteten Angst der Mittelschicht vor dem Abrutschen in prekäre Verhältnisse, klammerten sich die Schüler von unten an die Hoffnung auf einen Mittelschichtsstatus, mit dem sie zumindest noch ein gewisses Maß an Sicherheit und Respektabilität verbanden.
Als ich bei meiner ersten Studie zu Berliner Hauptschülern im Jahr 2008/09 direkt nach einer sozialen Einordnung fragte, verorteten sich fast alle Schüler etwas unterhalb der Mitte, auf Stufe drei oder vier einer zehnstufigen sozialen Leiter. Diese Einordnung in der unteren Mittelschicht verteidigten sie damit, dass sich unter ihnen noch eine nicht-respektable Schicht aus „Zigeunern“, „Sonderschülern“ und „Schulabbrechern“ befand, während der Abstand zu Realschülern, mit denen sie symbolisch die gesellschaftliche „Mitte“ verbanden, nur als geringfügig angesehen wurde, da ja auch an der Hauptschule ein Realschulabschluss erworben werden konnte. Mit dieser Selbsteinschätzung wurde die moralische Kodierung sozialer Hierarchisierung fortgeschrieben, nur dass man sich selbst einen möglichst schmeichelhaften Platz darin zuschrieb. In der damaligen wie in der hier vorgestellten Forschung aus dem Jahr 2012/13 artikulierte sich die Mittelschichtssehnsucht vor allem in einer demonstrativen Konsumorientierung, deren kulturellen Ausprägungen ich in vorherigen Kapiteln bereits nachgegangen bin.
Den Schülern fehlten jedoch das Selbstverständnis und die Ressourcen der Mittelschicht. Warum dies so entscheidend ist, zeigt sich anhand von zwei ethnografischen Studien über Jugendliche in prekären Verhältnissen aus Österreich. Gerlinde Malli stellt von Drogenabhängigkeit, Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit betroffene Heranwachsende in institutionellen Settings der Jugendhilfe vor, deren Familien teilweise schon seit zwei oder drei Generationen in Armut leben.25 Gilles Reckinger wendet sich Jugendlichen aus der unteren Mittelschicht zu, die aufgrund biografischer Einschnitte und familiärer Brüche in der Schule strauchelten, ihre mangelnden Schulabschlüsse aber mit Rückgriff auf einen mittelständischen Habitus teilweise kompensieren und sich so in die prekären Bedingungen eines neoliberalen Arbeitsmarktes einpassen können.26 Galilei-Schüler wie Martin gerieten gegen Ende ihrer Schullaufbahn an eine Weggabelung, nach der sie tendenziell auf einer dieser beiden Optionen zusteuerten. Martins Engagement im Englischunterricht zeigte, wie ernst er diese anstehende Weichenstellung nahm. Sein labiler Körper deutete an, wie belastet er war.
Sprache: „Hartz-IV“-Dialoge
Berliner Hauptschüler „sprachen“ nicht nur mit ihren Körpern, sie artikulierten Zukunftsängste auch verbal. Die drohende Arbeitslosigkeit wurde in der zehnten Klasse auf diverse Weisen thematisiert, sowohl im Unterrichtsgespräch als auch im informellen Austausch. Das Sprechen über Arbeitslosigkeit war gleichsam kulturell überformt, Ängste wurden dadurch sprachlich bearbeitet und verbal abgeleitet. Metaphern und diskursive Knotenpunkte wie „Brennpunktschule“ oder „Hartz IV“ spielten dabei eine wichtige Rolle, in ihnen bündelten sich Ängste und wurden gleichsam sprachlich handhabbar. Teilweise war, vor allem unter männlichen Hauptschülern, eine Ironisierung stigmatisierender Zuschreibungen verbreitet, bei denen negative Verhaltensweisen der Mitschüler mit Bemerkungen wie „voll Hartz IV“ oder „typisch Brennpunktschule“ kommentiert wurden. Gleichzeitig entstand durch die ständige Konfrontation mit negativen Zuschreibungen eine enorme Verunsicherung, und somit das Bedürfnis, sich untereinander über die eigene soziale Positionierung auszutauschen.
Roberto: „Die Schulen mit mehr als 75 Prozent Hartz IV bekommen nächstes Jahr 100.000 Euro mehr Geld. Nur wer sich Brennpunktschule nennt, bekommt das.“
Frau Herrmann: „Wie kommt es denn, dass es Brennpunktschulen gibt?“
Mustafa: „Kommt darauf an, wo die Schulen liegen. Hier kommen 98 Prozent der Schüler aus Neukölln. Fast alles Ausländer, Leute die arm sind oder mit Problemen. Die lassen dann ihre Wut in der Schule raus, gegen Lehrer oder Mitschüler.“
Burak: „Einige sind halt schlauer und andere dümmer.“
Roberto: „Aber dafür bekommen wir auch neue Computer!“
Burak: „Und dann schneidet wieder jemand die Kabel durch.“
Frau Herrmann: „Wer schneidet denn die Kabel durch?“
Burak: „Die Brennpunktschüler!“
Mustafa: „Die Schule hier ist doch eigentlich locker. Jeder lebt sein Leben und man wird nicht verprügelt.“
Frau Herrmann: „Was macht denn eine Brennpunktschule aus?“
Schüler: „Mobbing.“, „Schwänzer.“, „Schüler gegen Lehrer.“.
Frau Herrmann: „Schuldistanz und eine ganz schlechte Absolventenquote.“
Burak: „Schüler, die faul herumsitzen und nichts machen.“
Mustafa: „Ich schwör mir auch jeden Samstag im Bett, dass ich endlich meine Schulsachen mache. Das ist Faulheit! Sonst mache ich meine Sachen, aber bei Schule bin ich faul.“
Yussuf: „Es gibt hier eigentlich voll viele Möglichkeiten, was zu machen.“
Theo: „Quatsch, unsere Schule ist die Ärmste der Welt.“
Duc: „Stimmt!“
Mustafa: „Da musst Du mal in Dein Heimatland gehen und nicht so viel Reis essen.“
Roberto: „In manchen Schulen gibt es überall Löcher in den Wänden.“
Frau Herrmann: „Wie viele Schüler haben denn eine Ausbildung?“
Roberto: „Ich bin der einzige, der eine Ausbildung hat.“
Thomas: „Und ich bei der Bundeswehr.“
Theo: „Ich werde mehr Geld verdienen, als ihr alle zusammen.“
Frau Herrmann: „Zwei haben eine Ausbildung, zwei oder drei schaffen es vielleicht noch im Nachhinein über das OSZ. Das sind höchstens 5 von 45. Na, herzlichen Glückwunsch! Und wie viele Dauerschwänzer haben wir?“ (Nimmt sich das Klassenbuch und fängt laut an zu zählen.)
Theo: „Fast die ganze Schule bezieht Hartz IV. Keiner bezahlt für Bücher. Deshalb ist die Schule arm.“
Burak: „Ich glaube nicht, dass es an den Hartz-IV-Kindern liegt.“
Mustafa: „Meine Mutter arbeitet, aber sie kriegt trotzdem Hartz IV.“
Theo: „Schwarzarbeit!“
Mustafa: „Du kleiner Asozialer! Aber viele Ausländer, die vielleicht kein Deutsch können, überlegen sich halt, dass sie mehr Geld für ihre Familie haben, wenn sie Schwarzarbeit und Hartz IV machen.“
Thomas: „Aber dann kriegt man keine Rente.“
Frau Herrmann: „Wo kommt denn Hartz IV her?“
Mustafa: „Von denen, die arbeiten. Aber viele Ausländer denken, sie kriegen so mehr. Manche Araber hier in der Sonnenallee, die sind richtig reich. Die Schischa-Bars und Spielcasinos, das sind alles Araber. Ich kenne da welche, die wohnen in Rudow, die fahren alle dicke Autos und haben viele Freundinnen.“
Roberto: „Wie kommt es, dass Schüler auf Brennpunktschulen gehen?“
Frau Herrmann: „Weil das Schulamt sie herschickt. Wir kriegen die Schüler, die nicht dagegen klagen oder anderswo rausgeflogen sind.“
Roberto: „Aber wir kriegen vielleicht auch neue Smartboards.“
Frau Herrmann: „Was mache ich mit Smartboards unter solchen Bedingungen. Ich mag Tafeln sowieso mehr.“
Ausgehend vom Hinweis eines Schülers auf in Aussicht stehende staatliche Zuwendungen für besonders problembelastete Schulen, entspann sich im Ethik-Unterricht eine Diskussion über die Einschätzung der eigenen Schulsituation. Diese drehte sich zunächst um mit dem Label „Brennpunktschule“ verbundene Fragen sozialräumlicher Ausgrenzung und anschließend anhand des Stichworts „Hartz IV“ um Formen der Existenzsicherung in prekären Verhältnissen. Am Gesprächsverlauf fallen Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Schülerschaft und Übernahmen hegemonialer Deutungsmuster auf. Mustafa und Roberto schätzten die Lage eher positiv ein und verwiesen auf noch schlechter dastehende Schulen und vorhandene Möglichkeiten. Theo und Duc widersprachen mit dem Hinweis auf die katastrophale Finanzierung. Burak betonte vor allem die Mängel und Versäumnisse der Schülerschaft. Die Lehrerin vertrat ebenfalls eine negative Bewertung der Schulsituation. Erstaunlicherweise erschienen im Verlauf der Diskussion die Schüler selbst als eines der größten Probleme der Schule, sie bezichtigten sich minderer Intelligenz und gestanden mangelndes Engagement ein, sie wiederholten also stigmatisierende Zuschreibungen, denen zufolge Hauptschüler dumm und faul und demnach für ihre Situation selbst verantwortlich seien. Auch gängige Vorhaltungen, migrantische Familien würden das deutsche Sozialsystem missbrauchen, wurden bestätigt, mit Bezug auf die eigene Familie aber relativiert. Hinzu kamen diverse, auch rassistische Beleidigungen und die einsame Hoffnung auf individuellen Reichtum. Das Unterrichtsgespräch bot zwar die willkommene Möglichkeit des Austauschs unter Betroffenen, es führte aber nicht zu gegenseitiger Unterstützung angesichts prekärer Verhältnisse, sondern illustriert eher Tendenzen der Entsolidarisierung und Muster der Schuldzuweisung in neoliberalen Zeiten.
Durch Sprache können Ängste hervorgebracht und mobilisiert, benannt und kommuniziert, intensiviert und abgemildert werden.27 Die sich im Gesprächsverlauf durchsetzende negative Deutung wird vermutlich nicht dazu beigetragen haben, die bereits vorhandenen Zukunftsängste abzuschwächen. Die vor der Diskussion noch relativ positiv gestimmten Schüler wurden mit einer niederschmetternden Einschätzung der Lehrerin konfrontiert, zudem konnten sich alle versammelten Jugendlichen ausrechnen, ob sie am Ende der Schulzeit wohl zu den Wenigen mit Ausbildungsplatz oder zur Mehrheit ohne Ausbildungsplatz gehören werden. Dies gilt auch für diejenigen Schüler, die sich nicht am Gespräch beteiligt hatten – auf der einen Seite die anwesenden jungen Frauen, auf der anderen Seite schüchterne junge Männer wie Martin. Die Selbstverortung als Problemschule und der teilweise negative Gesprächston sprechen also eher für die Hervorbringung von negativen Gefühlen der Enttäuschung, Verlorenheit und Frustration.
Die Begriffe „Brennpunktschule“ und „Hartz IV“ gaben den Rahmen vor, innerhalb dessen sich das Unterrichtsgespräch entfaltete. Da ich im Kapitel über „Ghetto“-Stolz schon auf die Bedeutung sozialräumlicher Metaphern eingegangen bin, beschränke ich mich hier auf einige Bemerkungen zum sprachlichen Umgang mit „Hartz IV“. Ursprünglich diente „Hartz IV“ als Abkürzung für das vom Sozialdemokraten und VW-Manager Peter Hartz konzipierte „Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, die letzte Stufe eines Gesetzespakets, mit dem Anfang der 2000er Jahre das deutsche Wohlfahrtsregime in Richtung eines aktivierenden Sozialstaats umgewandelt wurde.28 Die Neuregelungen umfassten unter anderem eine Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe unter dem Niveau der vorigen Sozialhilfe, eine Kürzung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld sowie eine Veränderung der Zumutbarkeitskriterien bei der Arbeitsvermittlung. Deutschland war bei der neoliberalen Umstrukturierung des Sozialstaats ein Nachzügler, in den 1980er Jahren waren die USA und England unter den Regentschaften von Reagan und Thatcher Vorreiter dieser Entwicklung gewesen und in den osteuropäischen Transformationsländern war bereits in den 1990er Jahren eine neoliberale Reformagenda durchgesetzt worden.29 Da Arbeitslosenhilfe nach den „Hartz“-Reformen erst nach dem Aufbrauchen von Ersparnissen ausbezahlt wurde, ging Arbeitslosigkeit in stärkerem Ausmaß mit Verarmung einher. Gleichzeitig entstand eine neue Form des Billiglohnsektors, bei dem „Hartz-IV“-Bezieher auf zusätzliche Angebote im offiziellen Niedriglohnsektor oder im inoffiziellen Schwarzmarktbereich angewiesen waren, um ihre materielle Existenz zu sichern. Bei dem von Mustafa erwähnten Beispiel handelte es sich wahrscheinlich um eine Form des „Aufstockens“.30
Umgangssprachlich wurde mit dem Begriff „Hartz IV“ schon bald nach Einführung der Reformen vor allem die neue Form einer an Auflagen gekoppelten Grundsicherung bezeichnet. Darüber hinaus verwies die Bezeichnung in typisierender Weise auf negative Charaktereigenschaften, wie sie klassischerweise mit dem „Pauperismus“ und in jüngster Zeit mit der „neuen Unterschicht“ verbunden werden.31 Die abwertende Haltung gegenüber fürsorgebedürftigen Arbeitslosen, die im Zuge der „Agenda 2010“ zum staatlichen Leitbild wurde, verdichtete sich auf diese Weise symbolisch in der Chiffre „Hartz IV“, die mittlerweile als Kürzel für prekäre Lagen oder gescheiterte Biografien auf dem Arbeitsmarkt gilt. Auch von den Neuköllner Hauptschülern wurde der Begriff nicht nur in beschreibender, sondern auch in diffamatorischer Absicht verwendet. Da die Eltern der Schüler selbst zu einem großen Teil von „Hartz IV“ abhängig waren, artikulierten sich in einer solchen Begriffsverwendung indirekt auch negative Selbstbilder und eigene Zukunftsängste.
Im jugendlichen Sprachgebrauch wurden abwertende und individualisierende Zuschreibungen reproduziert und gesellschaftliche Entwicklungstendenzen somit in den schulischen Alltag übersetzt. Der sprachliche Umgang miteinander in der zitierten Gesprächspassage wirkt verletzend, es lässt sich eine prekäre Form des Dialogs beobachten, in dem sozialmoralische Schuldzuweisungen und ideologische Ressentiments hervorstechen. Bei dieser Version von „erzählter Prekarität“ steht nicht der Versuch im Mittelpunkt, nachträglich lebensweltliche Kohärenz und biografische Kontinuität herzustellen, einen Verarbeitungsmodus, den Ove Sutter in seinen Interviews mit prekär Beschäftigen in Österreich in den Mittelpunkt stellte.32 Bei den „Hartz-IV“-Dialogen an der Galilei-Schule dominierten negative Zuschreibungen und Versuche der individuellen Profilierung auf Kosten der Mitschüler. Es zeichnete sich eine neoliberale Färbung des Sprechens ab, eine Sprache der Anschuldigung und der Angst – einer Angst, die sich vor einem unsicheren Zukunftshorizont individualisierend und entsolidarisierend entfaltet.
Bewerbungswahn: Angst-Abwehr und Angst-Produktion
Je unerbittlicher die Tür zum Arbeitsmarkt sich schloss, umso obsessiver wurde die Aufmerksamkeit auf den verbleibenden schmalen Spalt fokussiert. Im regulären Unterricht, in schulischen Zusatzangeboten und in individuellen Bemühungen ging es immer wieder um die Hoffnung, trotz widriger Umstände vielleicht doch noch einen Ausbildungsplatz zu ergattern. Die Beteiligten erlebten sich durch diese aktivistische Haltung nicht als passiv, sondern als Akteure mit Wahl- und Handlungsmöglichkeiten. Durch die intensive Beschäftigung mit der Frage, wo und wie man sich bewerben sollte, wurde gleichsam die Angst vor der Arbeitslosigkeit kanalisiert.
Im Fach Berufsorientierung (BO), bei dem es in der zehnten Klasse vor allem um Möglichkeiten der Vermittlung in den Arbeitsmarkt ging, ließ sich diese Form der Angst-Abwehr besonders gut beobachten. In der ersten Schuljahreshälfte drehte sich der Unterricht immer wieder um die Schülerpraktika, die anhand von Praktikumsordnern, Praktikumswandzeitungen und Praktikumspräsentationen über Monate hinweg besprochen wurden. Dadurch entstand eine auffällige Diskrepanz zum eher geringen Ertrag vieler Praktika für die Jugendlichen. Parallel dazu und verstärkt noch einmal in der zweiten Jahreshälfte wurde regelmäßig der Stand der Bewerbungen abgefragt. Auch dadurch ergab sich ein latentes Überzeugungsproblem, denn den Schülern wurde zwar immer wieder ins Gewissen geredet, ohne aber überzeugende Erfolgschancen in Aussicht stellen zu können:
Feldtagebuch: Die Lehrerin ermahnt die Schüler verzweifelt, die Beratungsangebote der Jobcenter und freien Träger anzunehmen. Die Schüler lassen ihr zufolge die Termine zu oft ausfallen, aber haben dann doch meist ein schlechtes Gewissen. Eine Schülerin, die im Sozialbereich ein Praktikum gemacht hat, erzählt nun stolz, dass sie dort ehrenamtlich weiterarbeiten darf. Sie hat sich sehr darüber gefreut, da sie sich dadurch eine Chance auf einen Ausbildungsplatz erhofft. „Normal dürfen da nur Abiturienten arbeiten.“ Die Lehrerin ermuntert sie, das Angebot „unbedingt“ wahrzunehmen und es „nicht zu vermasseln“. Als nächstes fragt sie die anwesenden Schüler nach ihren Berufswünschen: Theo will als Verkäufer oder als Kaufmann im Einzelhandel arbeiten. „Ich weiß es nicht. Keine Ahnung“, antwortet ein anderer Schüler, der kürzlich aus dem „Netzwerk“-Beratungsprogramm herausgeschmissen wurde, da er dort – wie viele andere – nicht mehr zu seinen Beratungsterminen erschienen ist. Die Lehrerin weist darauf hin, dass dies im Jobcenter vermerkt und der Schule mitgeteilt wurde. „Wenn Du später Hilfsleistungen in Anspruch nehmen willst, kann es Dir Schwierigkeiten verursachen, wenn man Hilfsangebote nicht wahrgenommen hat.“ „Woher sollen die wissen, was ich will, wenn ich es selbst nicht weiß?“, reagiert der Schüler genervt. Martin will IT-Informatiker werden, Susanne Altenpflegerin und Maria ist sich noch nicht sicher: OSZ will sie auf keinen Fall, vielleicht auch Altenpflege. Jasha möchte studieren, weiß aber, dass es „schwer wird“. Die Schüler fragen nach, wie viel man in der Ausbildung verdient und wie man das herausfinden kann. „700 Euro“, meint schließlich einer, der sich auszukennen scheint. Anschließend wird zum wiederholten Male nach den bisherigen Bewerbungsschreiben gefragt. Viele haben schon sieben, acht oder zehn Bewerbungsversuche hinter sich, andere wissen nicht so recht, wofür sie sich bewerben sollen. „Ihr müsst mindestens 100 schreiben“, ermahnt die Lehrerin und ermuntert die Schüler nochmals, „unbedingt“ die Beratungs-Angebote anzunehmen.
Den Galilei-Schülern standen bei der Ausbildungsplatzsuche zahlreiche Hilfsprogramme zur Verfügung – vonseiten der Schule, der Bundesagentur für Arbeit und von zahlreichen externen Trägern wurden Beratungsangebote und Bewerbungshilfen angeboten. Die Schüler konnten folglich auf unterschiedlicher Bewerbungshelfer zurückgreifen, die teilweise miteinander in Konkurrenz standen. Dieser enorme gesellschaftliche Aufwand führte aber nicht zu einer spürbaren Verbesserung ihrer Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Im Gegenteil, auf einer mittleren Ebene zwischen Staat und Betrieben wirksame Steuerungs- und Regulationsmechanismen bewirkten zuletzt eher eine weitere Schließung des Arbeitsmarktes, die darin kulminierte, dass selbst vorhandene Ausbildungsstellen eher unbesetzt blieben, als damit Hauptschülern eine Zukunftsperspektive zu eröffnen.33 Die auch in Zeiten des Fachkräftemangels fortgesetzte Exklusion von Teilen der heranwachsenden Bevölkerung wurde dadurch begründet, dass viele Schüler im offiziellen Jargon als „nicht ausbildungsreif“ galten, sie verkörperten also das Gegenteil der im Neoliberalismus geforderten „employability“. Eine unangenehme Aufgabe der diversen Berufsberatungsangebote bestand indirekt darin, die Erwartungen der Schüler „abzukühlen“ und ihnen ein „realistisches“ Selbstbild zu vermitteln – sie also auf ein Leben in der Prekarität vorzubereiten.34
Mit den „Hilfsangeboten“ gingen gleichzeitig Formen der sozialstaatlichen Überwachung einher. In den Drohungen der Lehrerin klang bereits an, dass die Nichtwahrnehmung solcher Angebote von staatlicher Seite registriert und sich bei der späteren Falleinschätzung durch das Jobcenter negativ bemerkbar machen könnte. So wurde das hier erwähnte „Berliner Netzwerk für Ausbildung“ von der Bundesagentur für Arbeit betrieben, welche auch für die spätere Bemessung der „Hartz-IV“-Sätze zuständig war. Dadurch entstand eine paradoxe Situation: Einerseits hatten die Bewerbungen von Hauptschülern kaum Aussicht auf Erfolg, andererseits drohten Strafen, wenn man die Bewerbung verweigerte oder angesichts beschränkter Möglichkeiten nicht wusste, wofür man sich bewerben sollte. Dass es den Schülern nicht an Motivation mangelte, wenn sich ihnen tatsächlich eine Möglichkeit zu eröffnen schien, zeigte sich am Beispiel jener Schülerin, die sich mit kostenlosem Arbeitseinsatz für einen möglichen Ausbildungsplatz zu empfehlen versuchte. Diese Art der Verwaltung von Arbeitslosigkeit produzierte verzweifelte Lehrer und verängstigte Schüler.
Dieses auf Angst und Einschüchterung basierende Bewerbungssystem betraf nicht nur die Schüler, auch die betreuenden Sozialarbeiter befanden sich häufig mit einem Bein in der Arbeitslosigkeit, wie das Interview mit der damals an der Galilei-Schule tätigen Bewerbungshelferin zeigt:
Frau Förster: „Im Prinzip ist es ja mein Beruf, den Leuten weiterzuhelfen. Gerade in der Berufseinstiegsbegleitung suchen wir Möglichkeiten für die Schüler, die es besonders schwer haben, eine Ausbildung zu finden, vielleicht doch noch etwas zu finden. Eigentlich macht mir das sehr viel Spaß. Das anstrengende sind nicht die Schüler, sondern die ganze Administration. Weil wir ja auch Berichte machen und Beurteilungen schreiben müssen.“
S.W.: „Wie viele von den betreuten Schülern finden denn eine Ausbildungsstelle?“
Frau Förster: „Wir sind schon glücklich, wenn wir von 20 Schülern, die wir betreuen, einen dabeihaben. Wir haben hier aber auch wirklich schwer zu vermittelnde Fälle. Meistens aufgrund der hohen Fehlzeiten. Daran arbeiten wir auch mit den Jugendlichen. Wir betreuen die Schüler auch nach der Schule.“
S.W.: „In welcher Form sind sie hier an der Schule angestellt?“
Frau Förster: „Ich komme von einem freien Träger, einer Bildungs-GmbH. Ursprünglich komme ich aus dem naturwissenschaftlichen Bereich und bin dann über eine Berufsvorbereitung hier reingekommen. Wir haben alle nur befristete Arbeitsverträge. Einen Burnout, wie die Lehrer hier, kann ich mir nicht leisten. Dafür fehlt mir die berufliche Absicherung. Wir arbeiten meist von einem Halbjahr zum nächsten, manchmal auch länger, aber maximal zwei Jahre. Ich habe den Träger schon mehrfach gewechselt, da die Programme ja immer nur befristet sind. Zwischendurch war ich auch immer mal wieder arbeitslos. Da man sich immer schon ein Vierteljahr vorher arbeitslos melden muss, ist man auch selbst immer wieder mit dieser Thematik konfrontiert. Das ist natürlich eine enorme Last, zusätzlich zur emotionalen Belastung durch die Arbeit. Aber man lernt damit zu leben. Leider entsteht dadurch viel Konkurrenzdenken unter Kollegen. Manche Sozialarbeiter sind hier nur über Maßnahmen vom Arbeitsamt finanziert. Zum Glück bin ich gewöhnt, mit diesem Stress umzugehen. Bisher ging es immer irgendwie weiter. Es ist nicht schön, ich wünschte mir das auch anders. Vor allem auch wegen den Schülern, die brauchen Beständigkeit. Wie sollen sie selber Beständigkeit lernen, wenn ihre Betreuer immer wieder wegfallen?“
S.W.: „Mit welchen Gefühlen kommen denn die Schüler zu ihnen?“
Frau Förster: „Die Schüler hier in der zehnten Klasse haben viel Angst vor dem neuen Weg, der für sie ab dem Sommer bereitsteht. Schon dieses Aus-der-Schule-kommen ist ja ein großer Schritt und dann noch die berufliche Unsicherheit, das macht den Schülern schon irgendwie Angst. Sie versuchen das irgendwie zu verdrängen, aber man merkt es trotzdem. Aber das ist normal. Ich glaube, das haben alle. Manche drängen darauf, sich enorm viel zu bewerben, andere bewerben sich gar nicht, weil sie meinen, sie werden sowieso abgelehnt. Bei manchen gehen wir auch mit zu den Vorstellungsgesprächen, wenn sie zu große Panik haben.“
Die unsichere Beschäftigungssituation der Sozialarbeiterin resultierte aus Privatisierungen im Bereich des Sozialstaats. Die Bundesagentur für Arbeit schrieb zum Zeitpunkt meiner Forschung in der Regel nur kurzfristig bemessene Programme der „Berufseinstiegsbegleitung“ an kommerziell ausgerichtete Fremdfirmen aus und entschied sich dann, so zumindest die Einschätzung von Frau Förster, in der Regel eher für kostengünstigere anstatt für inhaltlich überzeugendere Angebote. Die Bewerbungshelfer mussten sich flexibel in prekären Beschäftigungsverhältnissen behaupten, auch sie wurden von der ständig präsenten Angst vor der Arbeitslosigkeit angetrieben. Frau Förster ging zum Zeitpunkt des Interviews im Februar davon aus, dass ihre Stelle über das Schuljahr hinaus nicht verlängert werden würde, da der Umfang des örtlichen Programms für Berufseinstieghelfer von neun auf fünf Stellen reduziert werden sollte und zudem bereits eine andere Bildungs-GmbH dafür den Zuschlag bekommen hatte.
Eine weitere, komplementäre Form des Umgangs mit Zukunftsängsten zeigte sich in schulischen Zusatzangeboten, in denen die Schüler eher allgemein motiviert und optimistisch gestimmt werden sollten. Dazu gehörten an der Galilei-Schule das Fellow-Programm „Teach First“, das Schulentwicklungsprogramm „School Turnaround“ sowie zahlreiche Workshop-Formate. Diese setzten auf einen demonstrativen Positivismus, der unter anderem durch Show-Elemente und eine ausgeprägte Belobigungskultur zum Ausdruck kam. In expliziter Ablehnung der als altmodisch verstandenen „ideologischen Grabenkämpfe“ früherer Generationen von Sozialarbeitern wurde dabei eine als „zeitgemäß“ verstandene Form des Sozialengagements vertreten, die eher an die Selbstverantwortung von Schülern und Lehrern appellierte, statt Strukturen gesellschaftlicher Ungleichheit zu kritisieren. Im Prozess der Implementierung solcher Programme traten allerdings Brüche und Widersprüche hervor. Auffallend war zum einen die große Kluft zwischen zum Teil hochtrabenden Verheißungen und den eher dürftigen Effekten im Schulalltag, zum anderen ergaben sich bei den ausführenden Personen im Zuge der alltäglichen Arbeit mit den Schülern selbst Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieser Angebote. Bei einem Ausbildungsworkshop eines solchen Bildungsträgers mussten die Schüler ein Plakat ausfüllen, bei dem neben einem großen gelben „Smile“ der Satz stand: „Ich glaube fest daran, dass ich einen Beruf finde, der mir gefällt.“. Anschließend sollten sie ihre Namen eintragen und dahinter „Ja“, „Vielleicht“ oder „Nein“ ankreuzen. Bis auf einen ablehnend und einen unentschieden votierenden Schüler folgten alle anderen der impliziten Aufforderung, sich im „Ja“-Feld einzuordnen. Das Plakat hing anschließend über Wochen hinweg im Klassenraum.
Auch penetranter Optimismus schafft die Ängste vor Arbeitslosigkeit nicht aus der Welt, wenn er nicht von tatsächlichen Verbesserungen der strukturellen Lage von Hauptschülern auf dem Arbeitsmarkt begleitet wird. Der beschwörende Charakter solcher Maßnahmen und die ständige Aktivierung zu Bewerbungsbemühungen konnte die Schüler höchstens eine Zeit lang täuschen, denn diese entwickelten früher oder später ein recht realistisches Gespür für ihre Chancen bei der Arbeitssuche. Der an der Galilei-Schule betriebene Bewerbungswahn, wie er in der häufig gemachten Aufforderung zum Ausdruck kam, mehr als 100 Bewerbungen schreiben zu müssen, lenkte den Blick immer nur wieder auf das drohende Negativszenario. Das mit Ermahnungen und Hoffnungen, mit Einschüchterung und Überwachung einhergehende Bewerbungssystem produzierte die Ängste, die es vorgab zu bannen.
ANGST VOR ABSCHIEBUNG
Neben den Ängsten vor Arbeitslosigkeit war eine drohende Abschiebung eine der größten Quellen der Verunsicherung bei den mehrheitlich in Migrantenfamilien aufgewachsenen Neuköllner Hauptschülern. Sowohl die gesellschaftlichen Ängste in Bezug auf Überfremdung als auch die Ängste der Migranten vor Ausgrenzung sind nicht einfach bedauernswerte Nebenprodukte politischer Steuerungsprozesse, sondern ein Grundelement des gegenwärtigen „Grenzregimes“.35 Arbeitsmarkt- und Migrationspolitik sind eng aneinander gekoppelt, da Grenzpolitik eine zentrale Rolle in der Filterung und Steuerung des Arbeitskräfteangebots spielt.36 Der Zustrom von Migranten wird genutzt, um die heimischen Arbeitskräfte unter Druck zu setzen und die Widerstände gegen den schrittweisen Abbau von sozialen Sicherungsmechanismen zu mindern, die Illegalisierung der Migration wiederum legitimiert rassistische Ausgrenzungen auf dem Arbeitsmarkt und fördert gleichsam informelle Beschäftigungen. Mittels Abstufungen gesellschaftlicher Teilhabe in Bezug auf Aufenthaltsstatus, Bildungsgrad und Zugang zum Arbeitsmarkt werden Grenzziehungen nicht nur an den Rändern fest umrissener geografischer Territorien, sondern innerhalb der Gesellschaft und auch durch Institutionen wie die Schule vollzogen. Die gegenwärtige Sozialstaats- und Grenzpolitik wird von einer paradoxen Struktur geprägt, denn während in Bezug auf Finanzströme offene Grenzen propagiert und von Arbeitskräften Flexibilität gefordert werden, wird der Handlungsspielraum von Niedrigqualifizierten und die Bewegungsfreiheit von Migranten stark eingeschränkt, wobei sicherheitspolitische und kulturalistische Gefährdungsszenarien und somit auch die Angst eine entscheidende Rolle im politischen Diskurs spielen. Die Galilei-Schüler bekommen dieses Janusgesicht neoliberaler Steuerungsweise in besonderem Ausmaß zu spüren.
Die diskursiven Rahmungen der Ängste vor Einwanderung müssen sowohl in ihrer Historizität als auch im Kontext einer „nationalen Ordnung der Dinge“ verstanden werden.37 Ein spezifischer Nexus von Flucht und Angst war Peter Nyers zufolge bereits in die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 eingeschrieben.38 Angst, das etymologisch ursprünglich auf Transiterfahrungen verweist, wurde dabei den als turbulent imaginierten Bedingungen der Flucht zugeschrieben und die demgegenüber wohlgeordnet erscheinende Aufnahmegesellschaft mit einer Zone der Sicherheit assoziiert. Die Angst wurde somit aus dem Bereich des westlichen Nationalstaats weitgehend ausgelagert, es ist ein Anliegen dieses Textes, sie analytisch wieder an den Wirkungsbereich hiesiger politischer Steuerung zurückzubinden.39 Die Problematisierung und Benennung „illegaler“ Migration rückte in den westeuropäischen Staaten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vermehrt auf die politische Agenda und hat hierzulande vor allem seit den 1990er Jahren Konjunktur.40 Migrationsbewegungen wurden in Deutschland in den 1960er und 70er Jahren vor allem als „Gastarbeiter“-Phänomen und in den 1980erJahren vorwiegend als „Flüchtlings-Problem“ verstanden. Seit den 1990er Jahren wurde das Bedrohungsszenario „illegaler Migration“ zu einem Leitmotiv der Migrationspolitik. Eine weitere Zuspitzung in Richtung Gefährdungsszenarien lässt sich in den 2000er Jahren durch die zunehmende Verknüpfung von Migrationsfragen mit Terrorismus- und Sicherheitsdiskursen beobachten. Parallel zu dieser diskursiven Verschiebung fand mit dem „Anwerbestopp“ im Jahr 1973 und den Einschränkungen des Asylrechts seit den 1990er Jahren eine Illegalisierung vorhandener Migrationsbewegungen auf gesetzlicher Ebene statt. In Folge dieser Entwicklungen, der Verknüpfung von Migration mit Angstdiskursen und der Einschränkung legaler Einwanderungsmöglichkeiten, wurde Abschiebung zu einem zunehmend bedeutenden Thema und Instrument von Migrationspolitik.
Abschiebungen sind Teil einer Politik der Unsicherheit, bei der das Evozieren und Instrumentalisieren gesellschaftlicher Ängste anstelle positiver Vorstellungen von Gemeinwohl in das Zentrum politischer Selbstverständigung rücken.41 Abschiebungen fungieren in Bezug auf die Mehrheitsgesellschaft als Ausweis politischer Handlungsmacht, auch wenn sie aufgrund ihrer minimalen Steuerungseffekte eher als Zeichen politischer Ohnmacht angesichts globaler Verflechtungen und ohnehin kaum kontrollierbarer Migrationsbewegungen gedeutet werden können.42 Mit Blick auf die (post-)migrantische Bevölkerung dienen Abschiebungen als eine Form von Abschreckung, als demonstratives Zeichen von Nichtzugehörigkeit und als Instrument der Disziplinierung. Von der damit verbundenen Verunsicherung werden selbst diejenigen betroffen, denen keine unmittelbare Abschiebung droht.
Politik der Unsicherheit:
Zum emotionalen Umgang mit Aufenthaltstiteln
Unsicherer Aufenthaltsstatus wird über politisch legitimierte und diskursiv flankierte administrative Verfahren der Vorenthaltung von Staatsbürgerrechten hergestellt. Die Galilei-Schüler erfuhren die eben beschriebenen Entwicklungen in der Migrationspolitik also vor allem vermittelt über amtliche Dokumente sowie das mit ihnen verbundene Antragswesen. Die Jugendlichen hatten vielfach nicht nur verschiedene Aufenthaltsstatusse, sie gingen auch emotional sehr unterschiedlich mit den damit verbundenen alltäglichen Herausforderungen um.
Roberto: „Ich habe nur eine Aufenthaltserlaubnis, keine Staatsbürgerschaft. Aber auf dieser steht, ich darf arbeiten. Mein Ausbildungsbetrieb hat gesagt, ich soll eine Kopie davon machen und ihnen schicken. Hier guck, hier steht es ‚Erwerbstätigkeit gestattet‘. Das ist nur ein Ausweisersatz, weil mein Pass abgelaufen ist. Demnächst beantrage ich die deutsche Staatsbürgerschaft. Das ist mir wichtig. Dann kann ich auch wählen gehen. So was kostet 90 Euro. Sie haben mir auch gesagt, ich soll das machen und dass ich dafür einen Brief von ihnen kriege, dass ich bei ihnen eine Ausbildung mache. Das sieht immer gut aus und dann geht es auch schneller. Wahrscheinlich steht dann da aber nur, dass sie mich genommen haben, bis ich einen deutschen Pass habe.“
S.W.: „Hm, hier steht ‚Bis zum Ablauf der Gültigkeit des Aufenthaltstitels – der Aussetzung der Abschiebung (siehe Seite 5)‘. Und dann steht hier noch eine Frist.“
Roberto: „WAS? ABSCHIEBUNG? Wo steht Abschiebung? (Schaut sich das Dokument an.) Da muss ich dann wieder hin, sonst bin ich staatenlos, wenn ich da nicht verlängere. Ich bin hier geboren, die können mich nicht abschieben. Und wenn doch, verklage ich die, ich habe jetzt eine Ausbildung. Ich nehme mir einen Rechtsanwalt!“
Roberto war zum Zeitpunkt des Interviews sehr beunruhigt, dass er seinen endlich in Aussicht stehenden Ausbildungsvertrag wegen der fehlenden Staatsbürgerschaft nicht unterschreiben könne. Er hatte zuvor dutzende Bewerbungen geschrieben, monatelang auf Antworten gewartet und nun befürchtete er, die ersehnte Unterschrift könnte dadurch gefährdet oder ihre Gültigkeit befristet werden. Als ich etwas unvorsichtig das Wort „Abschiebung“ vorlas, offenbarte sich, wie enorm angstbesetzt das Thema Aufenthaltsrechte und die damit verbundenen Dokumente für ihn waren. Sein Panikanfall war juristisch relativ unbegründet, doch gesellschaftspolitisch durchaus folgerichtig. Robertos Aufenthaltstitel war zum Zeitpunkt des Interviews noch ungefähr ein Jahr, bis zu seinem 18. Geburtstag, gültig und dem Ausbildungsbetrieb schien eine Kopie seines bisherigen Ausweisdokuments zu genügen. Seine Eltern waren in den 1990er Jahren vor dem Krieg aus Bosnien-Herzegowina nach Deutschland geflüchtet, sie lebten zum Zeitpunkt meiner Forschung seit etwa 20 Jahren mit einem temporären Aufenthaltsstatus in Berlin. Obwohl in Deutschland geboren, besaß auch Roberto nicht die deutsche Staatsbürgerschaft. Diese fortwährende Verweigerung eines amtlichen Zeichens von Zugehörigkeit fand seine bürokratische Zuspitzung in seiner damaligen Aufenthaltsgenehmigung. Indem darauf eine „Aussetzung der Abschiebung“ vermerkt war, wurde gleichsam die Abschiebung als der lediglich aufgeschobene Normalfall proklamiert. Dass eine solche staatliche Drohgebärde verunsichernd wirken kann, besonders für Schüler, die ohnehin in prekären Verhältnissen leben, ist an Robertos Beispiel gut nachzuvollziehen.
Illegalität ist ein Rechtseffekt, ein Resultat von Migrationsgesetzgebung und keine vorgängige Eigenschaft der Träger dieser Zuschreibung. Die legale Produktion von migrantischer „Illegalität“, wie Nicholas de Genova diesen Klassifikationsmechanismus in kritischer Absicht bezeichnet, hat weitreichende Folgen für die Teilhabemöglichkeiten an unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen wie Bildung, Arbeit und Wohnen.43 Aufenthaltsdokumente sind aufgrund ihrer herausgehobenen Bedeutung für gesellschaftliche Integrationsprozesse mit Ängsten und Hoffnungen verknüpft, sie werden zu affektiv aufgeladenen „phantasmatischen Objekten“, die selbst dann noch reale Effekte haben, wenn sie auf Falschangaben oder juristischen Fehleinschätzungen beruhen.44 Entscheidungen über Asylgewährung verlaufen über bürokratische Prozesse, deren Eigenwilligkeiten und Machtasymmetrien zwischen „Antragstellern“ und „Entscheidern“ Thomas Scheffer in seiner mikro-soziologischen Studie von Asylverfahren detailliert nachgezeichnet hat.45 Amtliche Beurteilungen von Immigranten beruhen auf affektiv gefärbten Einschätzungen von Fragen kultureller Zugehörigkeit und werden von aktuellen politischen Machtkonstellationen beeinflusst.46 Gleichzeitig stehen sie im Kontext von Neoliberalisierungsprozessen, zum einen auf eher indirekte Weise, indem über Migrationsfragen vor allem im Rahmen von individueller Verantwortung und nutzbringendem Humankapital diskutiert wird, zum anderen durch konkrete bürokratische Umstrukturierungen, wie das Outsourcing von Teilen des Asylverfahrens in den privatwirtschaftlichen Sektor, das mit Strategien der Auslagerung von politischer Verantwortlichkeit einhergeht.47
Typischerweise hatten die Familienmitglieder der migrantischen Galilei-Schüler voneinander divergierende rechtliche Statusverhältnisse, meist kürzere oder länger Aufenthaltsgenehmigungen der Eltern sowie eingebürgerte oder (noch) nicht eingebürgerte Geschwister. Aufgrund langjähriger Erfahrungen mit sozialer und rechtlicher Missachtung wurde auch der Möglichkeit, einen deutschen Pass zu erhalten, tendenziell mit gemischten Gefühlen begegnet:
Yussuf: „Ich habe jetzt auch meinen deutschen Pass bekommen, bei so einer komischen Zeremonie in der Blaschkoallee. Ich war zwiespältig. Das Ganze war auch ein bisschen lustig, so mit Hand aufs Herz und dann vorlesen. Aber das gehört halt dazu. Meinen syrischen Pass musste ich abgeben. Mein Vater hat das alles mit der Ausländerbehörde geregelt, ich habe das gar nicht so mitbekommen. Mein Vater hat jetzt unbegrenzten Aufenthalt und meine Mutter erstmal nur drei Jahre, aber wegen dem Krieg in Syrien kann sie nicht zurückgeschickt werden. Wir Kinder haben jetzt nach und nach alle deutsche Pässe bekommen.“
Viele migrantische Galilei-Schüler erhielten wie Yussuf gegen Ende oder nach Abschluss der Schule mit der Volljährigkeit die deutsche Staatsbürgerschaft, während ihre Eltern oft weiterhin mit dauerhaften oder temporär beschränkten Aufenthaltsgenehmigungen und den damit einhergehenden Einschränkungen leben mussten. Bei manchen Schülern wurde die Aufenthaltssituation aber auch zunehmend problematisch, ihnen drohte mit der Volljährigkeit in verstärktem Maße die Abschiebung, vor allem dann, wenn sie nicht in Deutschland geboren und in Strafverfahren verwickelt waren. Dies galt vor allem für Khaled, einen in Palästina zur Welt gekommenen Jugendlichen, dessen Eltern während seiner Kindheit in mehreren Etappen über den Libanon nach Berlin geflohen waren. Seine Aufenthaltsgenehmigung war aufgrund diverser Straftaten bereits während der Schulzeit stets nur befristet verlängert worden. Als ich ihn drei Jahre nach der Schule wieder traf, drohten ihm sowohl Gefängnis als auch Abschiebung.
Khaled: „Ich habe früher immer ein halbes Jahr bekommen, jetzt schon fünf mal sechs Monate. Dann einmal drei Jahre und dann habe ich wieder Stress mit der Polizei gehabt. Und deswegen kriege ich jetzt in letzter Zeit nur noch drei Monate Aufenthalt. Dann muss ich wieder bei der Ausländerbehörde antanzen. Meine Eltern kriegen immer drei Jahre, irgendwann können sie einen Unbefristeten beantragen und danach vielleicht einen deutschen Pass. Uns wurde schon oft die Abschiebung angedroht. So richtige Schreiben, auf denen das Datum der Abholung stand und dass wir unsere Sachen packen müssen. Wir sind dann zum Anwalt gegangen und konnten es immer verhindern. Zur Abschiebung kann es eigentlich nicht kommen. Weil wir aus Palästina sind, darf uns keiner dahin abschieben.“
Obwohl Khaleds Situation deutlich bedrohlicher erscheint, zeigte er sich mir gegenüber demonstrativ unbesorgt. Die bereits mehrfach angekündigte, aber immer wieder verhinderte Abschiebung der Familie, hatte keine erkennbaren Angstanzeichen zur Folge. Lediglich der Hinweis, dass die Abschiebung „eigentlich“ aufgrund seiner Staatenlosigkeit als Palästinenser nicht stattfinden könne, deutet auf eine gewisse Unsicherheit hin. Doch selbst auf diese juristische Unwägbarkeit, die angesichts der fortlaufenden staatlichen Neubewertungen von „sicheren Herkunftsländern“ durchaus als brisant gelten könnte, reagierte Khaled auffallend abgeklärt. Gleiches galt für die ihm drohende Gefängnisstrafe. Einige Tage vor dem oben zitierten Interview hatte die Berliner Polizei mit einem Durchsuchungsbefehl seine Wohnung gestürmt, da sie seine Verwicklung in einen Entführungsfall vermutete. Zwar erwies sich dieser Verdacht als unbegründet, doch liefen gleichzeitig noch andere Strafverfahren wegen Raub und schwerer Körperverletzung. Auf meine Frage, ob er Angst habe, daraufhin seinen derzeitigen Job im Sicherheitsgewerbe zu verlieren, antwortete er mit einem Scherz: „Ich mache meinen Job aus dem Knast weiter.“ Khaleds unheimliche Nonchalance hing zumindest teilweise mit seiner langjährigen Erfahrung mit Gerichtsverfahren zusammen, sowohl seine eigene kriminelle Karriere als auch seine Familie betreffend, um dessen juristische Belange er sich ebenfalls kümmerte. Er kannte unterschiedliche Richter und konsultierte für laufende Straf- und Asylverfahren verschiedene Anwälte. Einmal empfiehl er mir einen aus seiner Sicht besonders guten Anwalt – „falls ich mal Ärger bekomme“.
Exklusionsmechanismen übersetzen sich nicht nahtlos in Exklusionsgefühle. Zwar gibt es eine deutliche Korrelation zwischen rechtlicher Unsicherheit und emotionaler Verunsicherung, weshalb Ängste in Bezug auf Abschiebung bei vielen Hauptschülern verbreitet sind. Doch zeigt sich an den sehr konträren Beispielen, dass es keine Eins-zu-Eins-Relationen zwischen Gefährdungslage und Gefährdungsempfindungen gibt, und sich vielmehr unterschiedliche Formen des Umgangs mit unsicheren Aufenthaltsverhältnissen beobachten lassen. Roberto bekam Panik, obwohl seine Aufenthaltssituation vergleichsweise günstig wirkte, Yussuf artikulierte gemischte Gefühle beim Erhalt der deutschen Staatsbürgerschaft, und Khaled hielt seine coole Fassade auch noch in einer rechtlich äußerst prekären Situation aufrecht. Die doppelte Gefährdung aus Abschiebung und Gefängnis ließ Khaled aber letztlich doch nicht so kalt, wie es hier zunächst den Anschein hat.
Kriminalisierung
Die Verwicklung in Strafverfahren hatte, wie bereits angedeutet, einen negativen Einfluss auf den Aufenthaltsstatus von Khaled, auch die Gefahr der Durchführung einer Abschiebung erhöhte sich dadurch für ihn. Die Quote der Abschiebungen aus Jugendvollzugsanstalten war in Folge von Strafverschärfungen um die Jahrtausendwende bereits auf knapp 20 Prozent gestiegen.48 An Khaleds Fall wird deutlich, wie eng Prozesse von Ausgrenzung, Strafverfolgung und drohender Abschiebung miteinander verbunden sind:
Khaled: „Also, ich bin ja nicht hier geboren. Ich wohne seit knapp zehn Jahren hier. Als ich hierherkam, war alles ganz anders für mich. Ich konnte die deutsche Sprache ja nicht. Saß erstmal ein Jahr Hause und habe versucht, ein bisschen Deutsch zu lernen. Erst zum Ende der dritten Klasse bin ich in die Schule gegangen, im Wedding war das noch. Na ja, man lernt dann auch in der Grundschule und später in der Oberschule halt so Leute kennen, die nur Scheiße im Kopf haben. Durch die bin ich ein bisschen auf die schiefe Bahn geraten. Dann sind wir nach Neukölln umgezogen, Hermannplatz, da war es noch schlimmer. Richtig kriminelle Jungs. Aber ich habe mich trotzdem mit den verstanden, weil es auch Araber waren. Und so ging es los. […] Am Anfang war ich noch ängstlich und hatte oft ein schlechtes Gewissen. Später hat man gar nicht mehr daran gedacht, nichts mehr gefühlt einfach.“
Eine Kindheit in libanesischen Flüchtlingscamps und deutschen Flüchtlingsheimen führte über migrantische Jugendgangs in eine sich allmählich zuspitzende kriminelle Karriere. Nach einer Verfolgungsjagd mit der Polizei landeten Khaled und seine Freunde schließlich im Polizeigewahrsam. Dort befand er sich an einem biografischen Scheidepunkt:
Khaled: „Also man sitzt da allein in einer Zelle, nur eine Holzbank. Ist schon kalt, mit Schuhen darf man nicht rein. Alles womit man sich würgen kann, muss man abgeben, Schnürsenkel zum Beispiel. Manche dürfen auch nur mit Boxershorts und Unterhemd rein. Wir waren da also drin, wurden erwischt. Wir fanden es am Anfang einfach lustig, haben uns über die lustig gemacht. Wir wollten denen nicht zeigen, dass wir voll Angst haben. Wir sind locker geblieben, ganz cool, haben gelacht. Ganze Zeit Witze gemacht. Als ein Polizist gesagt hat ‚Habt ihr einen Clown gefrühstückt?‘, meinten wir, ‚Nein, wir waren bei City Chicken.‘ Weil wir so frech waren, kam dann jeder in eine eigene Zelle, zwischen jeder waren zwei Zellen frei, damit wir nicht miteinander reden konnten. Meine Eltern haben mich dann nach 18 Stunden abgeholt. Ich hatte Schiss, wie mein Vater reagieren wird. Da kamen so viele Gedanken. Danach habe ich aufgehört. Es kamen dann aber noch ein paar Verfahren wegen Körperverletzung. Von meiner alten Schule wurde ich damals auch rausgeschmissen. Die hatten bei der Klassenkonferenz auch die Polizei dazu gerufen. Schulamt war da, Jugendamt war da und alle Lehrer plus der Schuldirektor. Die saßen da und wollten mich einfach nur fertigmachen. Danach saß ich dann ein halbes Jahr zu Hause. So wie die Penner auf der Straße, nur das ich drinnen saß und die draußen. Und irgendwann meinte ich zu mir: So geht es einfach nicht weiter. Ich werde nichts erreichen – ohne Schule, ohne Schulabschluss. Wie will ich später mal meine Kinder ernähren? Wie kann ich meine Eltern stolz machen? Wenn ich so weitermache, lande ich irgendwann im Knast.“
Formen des institutionellen Umgangs mit strafauffälligen Jugendlichen haben einen wesentlichen Einfluss auf den Verlauf von Kriminalitätskarrieren.49 An Khaleds Beispiel zeigt sich eine harte Haltung der Schule sowie die Tendenz einer zunehmenden Verwischung der Grenzen zwischen Polizei, Schule, Jugendhilfe und Justiz, die in Berlin-Neukölln besonders durch die Jugendrichterin Kirsten Heisig vorangetrieben worden war.50 Diese Entwicklungen stehen wiederum im internationalen Kontext einer „punitiven Wende“, gemeint ist damit eine Reihe von Verschärfungen des (Jugend-)Strafrechts, die mit der zunehmenden Betonung von individueller Verantwortlichkeit einhergehen und durch die Ausweitung von Mechanismen der sozialen Kontrolle flankiert werden.51 Solche Rechtsverschärfungen sind Ausdruck von Regierungstechniken der Responsibilisierung, der Betonung von Eigenverantwortung statt mildernder Umstände, und somit Teil neoliberaler Transformationsprozesse.52 Doch statt im Gefängnis landete Khaled zunächst wieder in der elterlichen Wohnung und bald darauf auch in der Moschee: Die Polizei konnte den arrestierten Jugendlichen keine schwere Straftat nachweisen. Einige von ihnen schritten daraufhin auf dem kriminellen Pfad weiter voran, bei anderen wurde die Krisenerfahrung zum Movens für eine Neuorientierung, die bei Khaled mit einer Hinwendung zum Islam einherging.
Khaled: „Dann habe ich überlegt, was alles falsch ist, wie ich einen geraden Weg finden kann. Da waren ein paar falsche Freunde, denen habe ich dann gesagt ‚Ok, wir sind Freunde, aber mit dir will ich nicht mehr abhängen‘. Wenn ich sie sehe, dann grüße ich sie natürlich noch aus Respekt, aber wir haben nichts mehr miteinander zu tun. Dann kam ich nach meinem Rausschmiss auf die Galilei-Schule und sagte dem Direktor, der ja meine Akte kannte, ‚Ich will einen Neuanfang‘. Einfach ruhig im Unterricht sitzen und keine Scheiße mehr bauen. Mein Vater hat damals auch viel mit mir geredet. Wir sind ja Moslems und was ich gemacht habe, ist Sünde. Wenn man den Islam, den Koran wirklich versteht, ändert man sich automatisch. Mein Vater durfte ja nicht arbeiten. Er hatte nur eine Duldung. Wir leben bis jetzt vom Sozialamt. Er meinte zu mir ‚Du siehst ja, ich sitze hier jeden Tag zu Hause. Ich langweile mich zu Tode. Ich will arbeiten gehen und es geht nicht. Willst Du so enden? Ich sage Dir, so ein Leben ist scheiße. Willst du so werden wie ich? Guck mich an, das ist ein falscher Weg.‘“
Ein Neuarrangement des Freundeskreises, eindringliche väterliche Ermahnungen, ein schulischer Neuanfang und eine stärkere religiöse Orientierung – das sind die Bausteine, mit deren Hilfe sich Khaled fortan ein neues Leben aufbaute. Auffallend ist daran, dass der von der Familie getrennt lebende Vater sich selbst als abschreckendes Beispiel hervorhob und dabei ein durch Arbeitsverbot geprägtes Flüchtlingsdasein als Inbegriff eines unwürdigen Lebens thematisierte. Der Sohn erlebte eine religiöse Phase, er fing an regelmäßig zu beten und die Moschee zu besuchen. Mit der Festigung seines Glaubens – er verwies im Interviewverlauf mehrfach auf die weitreichende Bedeutung eines „starken Iman“ – ging ein Prozess der Läuterung und inneren Festigung einher. Auch sein Verzicht auf Alkohol und Drogen, der ihn möglicherweise vor einem weiteren „Abrutschen“ bewahrte, wurde religiös begründet. Der Islam war hier also keine Gefährdung für marginalisierte Jugendliche, wie es in gegenwärtigen Terrordiskursen suggeriert wird, sondern fungierte als eine Art transzendentale Rückversicherung in prekären Lagen. Nach der Schule trat die demonstrative Religiosität bei Khaled und einigen anderen arabischen Jugendlichen allerdings wieder in den Hintergrund, manche von ihnen rutschten daraufhin in Alkohol- und Drogenmissbrauch ab, andere fanden alternative Ankerpunkte in Arbeit und Elternschaft.
Die narrative Zuspitzung auf den emotional besonders aufrüttelnd erlebten Moment in Polizeigewahrsam verdeckt ein wenig, dass es sich dabei um einen mühseligen Prozess handelte. Khaled hatte bereits an seiner alten Schule mehrfach einen Neuanfang probiert, war damit aber immer wieder gescheitert, nach eigenen Angaben auch deshalb, weil einige Lehrer ihm seine Läuterung nicht abnahmen. Er räumte allerdings auch ein beträchtliches Ausmaß an früheren schulischen Vergehen ein. An der neuen Schule bot ihm der Direktor in einem Gespräch an, seine unrühmliche schulische Disziplinarkarriere hinter sich zu lassen. Khaled wurde kein Musterschüler, anfangs kamen sogar noch Strafanzeigen aufgrund spontaner Gewalttaten hinzu, doch im Verlauf der zehnten Klasse verhielt er sich innerhalb der Schule relativ friedlich und blieb auch außerhalb auf Distanz zu verbrecherisch agierenden Gruppen. Dieses allmähliche Herauswachsen aus kriminellen Verstrickungen ist durchaus typisch für einen Großteil vormaliger jugendlicher Mehrfachtäter. 53 Allerdings hatte Khaled im Verlauf der zehnten Klasse immer noch alte Gerichtsverfahren laufen und musste für zurückliegende Vergehen Sozialstunden ableisten. Die anstehenden Gerichtstermine machten ihm Angst:
Khaled: „Das ist auf jeden Fall belastend. Ich versuche mich auf die Schule zu konzentrieren. Aber im Kopf hat man immer die Gerichtstermine und die möglichen Strafen, vielleicht Strafstunden oder Arrest. So was. Dieser Hintergedanke ist immer da und man kann sich fast gar nicht mehr konzentrieren, weil man denkt, jetzt kann ich richtig auf die Fresse fallen. Deshalb ist man dann vor Gericht richtig ängstlich, was einen erwartet. Ich habe jetzt zwei Mal 40 Stunden bekommen und einmal einen Freispruch. Die Richterin dort kannte sogar meine Zeugnisnoten.“
Während die eigentlichen Strafstunden von Khaled, die er in einem Kreuzberger Sozialprojekt absolvierte, als nicht besonders unangenehm empfunden wurden, belastete ihn die rechtliche Unsicherheit laufender Strafverfahren und die Aussicht auf möglicherweise empfindlichere Strafen. Seine Verunsicherung war auch deshalb so grundlegend, da sie nicht auf einen abgegrenzten Lebensbereich beschränkt war. Neben einer Gefängnisstrafe drohten ihm, wie bereits dargelegt, auch Abschiebung und Arbeitslosigkeit, zudem gefährdete er möglicherweise auch den Aufenthaltsstatus seiner Eltern und Geschwister.
Migrantische Jugendkriminalität wird gesellschaftlich mitproduziert, sie wird strukturell durch Exklusionsprozesse hervorgebracht und diskursiv durch Mythenbildungen ins Rampenlicht gerückt. In der Studie „Ausgegrenzt, eingesperrt und abgeschoben“ zeigen die Autoren am Beispiel Kölns, wie migrantische Jugendliche, die in ihrem Lebensverlauf auf wiederholte Weise als unerwünscht behandelt wurden, sich in einem Netz aus devianten Orientierungen einerseits und staatlichen Kontrollinstanzen andererseits verfangen.54 Die engen Beziehungen zwischen sozialer Marginalisierung und kriminellen Karrieren, etwa durch die Blockierung von Bildungskarrieren und die Vorenthaltung von Bürgerrechten, werden in gängigen Vorstellungen von migrantischer Jugendkriminalität weitgehend ausgeblendet. Stattdessen verknüpfen sich drei jeweils angstbesetzte Diskursstränge – Überfremdung, Kriminalität und Jugend – auf eine Weise, in der sich verschiedene Bedrohungsszenarien miteinander vermischen und gegenseitig verstärken. Auch die Bedingungen des sich Loslösens von kriminellen Laufbahnen sind, wie Khaleds Beispiel bezeugt, gesellschaftlich bedingt. Soziale Faktoren wie familiäre Unterstützung, die Eröffnung neuer Perspektiven und Zugriffsmöglichkeiten auf alternative Sinnressourcen spielten an einem entscheidenden Punkt seiner Biografie eine wichtige Rolle.
„Psychostress“
Auch wenn während meiner Feldforschung keiner der Galilei-Schüler abgeschoben wurde, mussten einige von ihnen dennoch mit der Möglichkeit einer Abschiebung leben. Die Ängste davor verbreiteten sich in (post-)migrantischen Freundeskreisen über Berichte von Besuchen bei der Ausländerbehörde und über Erzählungen von tatsächlich durchgeführten Abschiebungen, beispielsweise derjenigen der Familie Akkouch. Über diese wurde in einem Dokumentarfilm berichtet, den die meisten Schüler kannten und auf den ich hier als Ergänzung zu meinen Feldforschungen zurückgreife. „Neukölln Unlimited“ erzählt eine aufmunternde Geschichte über Hip-Hop und jugendliche Kreativität, die ich bereits im Kapitel über „Ghetto“-Stolz erwähnt habe, aber auch eine deprimierende Geschichte über eine Abschiebung und ihre Folgen. Der Dokumentarfilm spielt um das Jahr 2009 in Neukölln entlang der von migrantischen Geschäften geprägten Sonnenallee in einer arabischen Großfamilie. Diese war Teil einer Flüchtlingsbewegung von Palästinensern aus dem Libanon nach Berlin in den 1980er Jahren, von denen viele bis heute aufenthaltsrechtlich nur geduldet werden. Durch die damit verbundene jahrzehntelange Ausschließung vom Arbeitsmarkt wurde diese Flüchtlingsgruppe systematisch in den Bereich der illegalen Beschäftigung und der Kriminalität gedrängt, doch wird diese aus gesellschaftlicher Exklusion resultierende Tendenz im Nachhinein mittlerweile kulturalisiert, als Ausdruck zivilisatorischer Rückständigkeit und tiefsitzender krimineller Neigungen von „arabischen Clans in Neukölln“ interpretiert. Portraitiert werden vor allem drei Geschwister: Hassan Akkouch machte zu dieser Zeit sein Abitur, Lial Akkouch absolvierte eine Ausbildung und Maradona Akkouch besuchte damals die Galilei-Schule. Zwar war er etwa ein, zwei Jahre älter als die von mir begleiteten Schüler, doch waren einige mit ihm befreundet oder kannten ihn über den erweiterten Bekanntenkreis von Neuköllner Jugendlichen arabischer Herkunft. Das durch den Film dokumentierte Schicksal seiner Familie ist ein besonders drastischer Beleg für die desaströsen Auswirkungen bundesdeutscher Abschiebungspolitik.
Das für die Geschwister bedrohliche Thema Abschiebung wird bereits am Anfang des Films bei einem Besuch der Ausländerbehörde eingeführt. Hassan und Lial verirren sich in den Fluren des für seine Unübersichtlichkeit berüchtigten Gebäudekomplexes der Ausländerbehörde in Berlin-Moabit. Auf einem Plakat mit der Aufschrift „Wir helfen Ihnen bei der Rückkehr in Ihr Heimatland“ wird ein zwiespältiges Hilfsangebot unterbreitet. Solche Euphemismen verschleiern, dass Abschiebungen häufig brutal gegen den Willen der Migranten durchgesetzt werden.55 Sie stehen aber systematisch für eine staatliche Politik der Täuschung über das Ausmaß und die Umstände von Abschiebungen aus Deutschland, die sich auch in irreführenden amtlichen Unterscheidungen zwischen „Abschiebung“, „Zurückschiebung“, „Rücküberstellung“ und „freiwilliger Ausreise“ manifestiert.56 Danach Filmschnitte zwischen Schule und Ausländerbehörde. Im Klassenraum hängt neben der Tafel eine Libanon-Fahne, im Mathematik-Unterricht werden anhand von „Hartz-IV“-Sätzen Rechenaufgaben ausgeführt.57 Wie viel Geld bleibt pro Tag übrig, wenn man einen monatlichen „Hartz-IV“-Satz von 247 Euro durch 30 teilt? Zurück in der Ausländerbehörde: Lial ist happy, sie bekommt wegen ihrer Ausbildung eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltsgenehmigung – fast schon ein Grund für eine „Kartoffelparty“, mit welcher Erfolge bei der Erlangung von Staatsbürgerschaftsrechten manchmal gefeiert werden. Hassan erhält nur ein Jahr. Als er ein Jahr später eine Schulbescheinigung seines Gymnasiums vergisst, sind es nur noch zwei Monate. Offenbar trauen ihm die Behörden das Abitur nicht zu. Als er sich daraufhin beschwert, bekommt er nach eigenen Angaben zu hören: „Du dürftest eigentlich gar nicht mehr hier sein.“ Der Rest der seit 15 Jahren in Deutschland lebenden Familie ist, wie bundesweit insgesamt 140.000 Personen (im Jahr 2015), lediglich „geduldet“ und dadurch beständig von der Abschiebung bedroht.58 Der alleinerziehenden Mutter fehlt eine Arbeitserlaubnis, die Mobilität ihrer Kinder ist aufgrund der Residenzpflicht stark eingeschränkt. Die Familie Akkouch wurde bereits einmal aus Deutschland abgeschoben, ihr gelang aber die Rückkehr nach Berlin. Im Film wird diese Episode über Comicfiguren inszeniert und von Hassan Akkouch als eine albtraumhafte Familienerinnerung erzählt:
Filmtranskript: „Es war genau am Mittwoch, dem 2. April 2003. Maradona hatte an diesem Tag seinen 9. Geburtstag. Es war ungefähr fünf bis sechs Uhr morgens. Alle schliefen tief und fest in ihren Betten. (Klopfen an der Tür) Ich wurde sofort wach und noch bevor meine Mutter an der Tür war, wusste ich in diesem Moment, was los war. In diesem Moment fühlte ich mich so, als hätte ich ein Herz aus Stein. Ich zeigte keinerlei Gefühle. Ich reagierte einfach wie eine Maschine. Ich weiß nicht warum, aber ich spürte keine Trauer, sondern eher so etwas wie eine Gleichgültigkeit. Durch die Tür hörte man eine Männerstimme. ‚Kriminalpolizei Berlin, öffnen sie die Tür!‘. Vier Beamte drangen sofort ein und fragten nach den Kindern. Sie betraten mit ihren Schuhen alle Zimmer und zählten uns ab, als wären wir eine Herde Schafe. Die Beamten erzählten meiner Mutter, dass wir abgeschoben werden sollten. Meine Mutter versuchte mit ihnen zu reden, denn es lief noch ein Asylverfahren. Man hätte uns nicht abschieben dürfen. Aber natürlich nützte das alles nichts. Sie weckten alle Kinder und sagten, dass wir so schnell wie möglich unsere Sachen packen sollen. Denn es geht heute zurück in den Libanon. Die Polizisten meinten auch: ‚Wenn ihr wollt, könnt ihr noch ein Spielzeug mitnehmen‘. Bei diesem Satz wurde ich richtig wütend, weil man sich in so einem Moment diesen Spruch sparen könnte. Ganz plötzlich fiel meine Mutter zu Boden und fing am ganzen Körper an zu zittern. Ich wusste nicht, was sie hatte. Die Polizisten sagten ihr, dass sie damit aufhören soll, mit dieser Schauspielerei. Und dass es nichts bringen wird. Das war damals ihr erster epileptischer Anfall. Lial versuchte noch mit ihr zu reden, aber sie war wie weggetreten. Sie war nicht ansprechbar. Nach ungefähr 10 bis 15 Minuten öffnete sie endlich die Augen, doch sie konnte sich noch nicht selbstständig bewegen. Die Polizisten bestanden darauf, dass sie aufsteht und sich fertigmacht, damit wir gehen können. Man fuhr uns zu einer Polizeistation in der Nähe des Flughafen Tegels. Während der ganzen Fahrt herrschte Stillschweigen. Ich blickte das letzte Mal in die Umgebung, wo ich aufgewachsen bin und versuchte mir vorzustellen, was uns noch erwartete.“
Maradona ist ein frecher, lebhafter Schüler, das Sorgenkind und gleichzeitig der Clown der Familie. Er trägt gern Basecap und Silberketten, und er liebt Parfum. Als talentierter Breakdancer bewirbt er sich erfolgreich bei „Deutschland sucht das Supertalent“, scheitert dort aber in der ersten Runde. Bald bekommt er Probleme in der Schule, hat schlechte Noten und wird mehrfach suspendiert. Als er heimlich eine Waffe mit ins Schulgebäude nimmt, folgt eine Anzeige der Berliner Polizei. Sein älterer Bruder redet ihm ins Gewissen, sein Verhalten gefährde den Aufenthalt der gesamten Familie. Maradona reagiert daraufhin ungewohnt kleinlaut und räumt ein, dass er daran „sehr oft schon“ gedacht habe. Gleichzeitig wendet sich der in Berlin geborene Galilei-Schüler demonstrativ der Herkunftskultur seiner Eltern zu, er betont seine palästinensische Zugehörigkeit sowie seine muslimische Religiosität. Im Film wird angedeutet, dass er in besonderem Maße unter dem Fehlen seines Vaters leidet. Der Bruder sieht zudem die Abschiebung als einen Hauptgrund für dessen Selbstethnisierung, er habe sich von der deutschen Gesellschaft „verstoßen gefühlt“. Der Tag der Abschiebung fiel zufällig auf seinen Geburtstag.
Filmtranskript: „Wir waren die ersten im Flugzeug und durften nur ganz hinten sitzen. Die gesamte Crew wusste Bescheid. In diesem Moment betest du zu Gott und bittest ihn darum, dass er einen Blitz schickt, um das Flugzeug einfach nur startunfähig zu machen. Wir schauten aus dem Fenster und sahen, wie wir unsere Heimat verloren und alles immer kleiner wurde. In dem Moment, als das Flugzeug abhob, wurde mir bewusst, dass das Leben kein Spiel mehr ist. Ich denke, dass jeder diesen Moment kennt, wo man spürt, dass man kein Kind mehr ist. Die Abschiebung hat mich aus der Kinderwelt herausgerissen. Ich konnte mit meinen 15 Jahren damit umgehen. Aber was passierte mit meinen Geschwistern? Konnten sie das verkraften? Konnten sie überhaupt damit umgehen. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, was für Schäden bei meinen Geschwistern bleiben würden. In all dem Stress hatten wir sogar vergessen Maradona zum Geburtstag zu gratulieren. Aber seitdem wollte er eh keine Geburtstage mehr feiern.“
Dass die Abschiebung auf Maradonas Geburtstag fiel, blieb den übrigen Galilei-Schülern vom Film besonders in Erinnerung und wurde in Gesprächen mitunter als Beleg für die besondere Grausamkeit deutscher Ausländerpolitik hervorgehoben. Die Abschiebung belastet die Familie auch nach der Rückkehr nach Berlin, zumal ihr rechtlicher Status weiterhin prekär bleibt. Im Verlauf des Films erhält die Familie eine Nachricht von der Berliner Härtefallkommission, diese habe zwar für eine Bleiberecht der Familie votiert, wurde jedoch vom damaligen Berliner Innensenator Körting überstimmt. Lediglich den älteren Geschwistern wird im Fall einer erfolgreichen Ausbildung eine Perspektive in Deutschland aufgezeigt. Die Trennung der Familie droht und Lial und Hassan überlegen, ob es in diesem Fall strategisch günstiger wäre, mit der Familie zusammen zu gehen oder sich von Deutschland aus für deren Belange einzusetzen. Beide versuchen zunächst durch „harte Arbeit“ den Lebensunterhalt für die die Familie aufzubringen, Lial als Eventmanagerin bei Boxveranstaltungen und Hassan als Hip-Hop-Tänzer, doch es kommt nicht genügend Geld zusammen. Später konfrontiert Hassan den Senator bei einer Veranstaltung in Neukölln persönlich mit dem Schicksal seiner Familie, wirft ihm vor, er „schürt Hass“, woraufhin sich dieser damit verteidigt, Familien aus dem Libanon seien ein „großes Problem“ und hätten bereits vielfach „den Staat beschissen“. Hassan ist wütend und berichtet in der nachfolgenden Szene von den Nachwirkungen der Abschiebung:
Hassan Akkouch: „Meine Mutter hatte am Tag der Abschiebung ihren ersten epileptischen Anfall. Meine Schwester, nachdem wir wiedergekommen sind, hatte Bulimie, sie war intensiv in einem Krankenhaus extra für Bulimie-Kranke. Mein kleiner Bruder hat ADS. Jeden Morgen, wenn es an der Tür klingelt, hat er Angst. Die wissen nicht, was für Folgen das hat für Menschen.“
Auch seine Schwester Lial hebt die mehrfachen emotionalen Belastungen hervor, sie spricht von „Trauma“, davon, dass die vorherige Trennung der Eltern und die Abschiebung vor allem die jüngeren Geschwister wie Maradona doppelt hart getroffen habe. Eine Freundin kritisiert die kalkulierte Angstmacherei staatlicher Behörden: „Den Psychostress machen die extra.“. Für Lial Akkouch und ihre Familie ist die Angst vor der Abschiebung ein ständiger Begleiter: „Die Angst ist immer da, dass die früh morgens vor deiner Tür stehen und sagen: ‚Ok, deine Family muss jetzt weg!‘ Wir müssen halt damit leben, mit der Angst mussten wir schon unser ganzes Leben lang leben.“
Das Beispiel von Maradona Akkouch und seiner Familie ähnelt dem zuvor geschilderten Fall Khaleds, nicht zufällig kannten sie sich auch untereinander. Beide waren sie palästinensischer Herkunft, beide als Kinder mit ihren Familien über den Libanon nach Berlin geflüchtet, beide mit meist abwesenden Vätern in Großfamilien aufgewachsen und beide schließlich in Neukölln angekommen und auf der Galilei-Schule gelandet. Auch hatten beide Probleme mit der Polizei und durchlebten eine Phase der Hinwendung zum Islam sowie des politischen Engagements für die Anliegen der Palästinenser. Während der Berliner Lokalpolitiker Körting libanesisch-palästinensische Einwandererkinder als besondere Problemgruppe hervorhob und dabei auf gängige Bilder von kriminellen migrantischen Jugendlichen arabischer Herkunft und den Sozialstaat ausnutzenden Migrantenfamilien anspielte, habe ich die Konstruktion von sozialer Marginalität und jugendlicher Devianz durch miteinander verschränkte Formen von Ausgrenzung, Kriminalisierung und Illegalisierung hervorgehoben. Soziale Ängste sind der heimliche Motor dieser Exklusionsprozesse: Verängstigung ist der Treibstoff gesellschaftlicher Stigmatisierung sowie das Vehikel punitiver Strafpolitik, zugleich der Einsatz und das Ergebnis gegenwärtiger Migrationspolitik.
SCHLUSS: ANGSTPOLITIK
Die Rekonstruktion von Ängsten vor Arbeitslosigkeit und vor Abschiebung veranschaulicht, wie eng soziale und ethnische Ausgrenzung im Schüleralltag miteinander verflochten sind. Borders und Boundaries verweisen auf unterschiedliche Formen der sozialen Hierarchisierung, nationalstaatliche Grenzziehungen basieren primär auf Selektion, soziale Grenzziehungen eher auf Distinktion.59 Doch diese Klassifikationsmechanismen sind auf vielfache Weise miteinander verschränkt und überlappen sich in den Formen emotionaler Erfahrung. Sie verstärken sich in ihren exkludierenden und verunsichernden Effekten und machen die Hauptschule zu einem sozialen Raum, in dem soziale und rechtliche Unsicherheit in starkem Ausmaß erfahren wird. Die Ängste und Unsicherheiten der Schüler reichen weit über das Problem eines versperrten Zugangs zu regulärer Arbeit und vollen Bürgerrechten hinaus, sie betreffen sowohl die Persönlichkeit der Schüler als auch das Wohlergehen ihrer Familien und werden dadurch als umfassende und entgrenzte Ängste wahrgenommen. Wenn menschlicher Wert an Arbeit gemessen wird und das Überleben von Familien durch Abschiebungen bedroht erscheint, dann handelt es sich im wörtlichen Sinne um existentielle Ängste.
Jugendliche Ängste vor Arbeitslosigkeit und Abschiebung werden, wie auch gesellschaftliche Ängste vor Überfremdung und Terror, zu Instrumenten politischer Steuerung, sie resultieren aus gegenwärtigen Formen von Neoliberalismus und Nationalismus und sie dienen der Disziplinierung von sozial Deklassierten sowie ethnisch markierten Minderheiten.60 Soziale Ängste wirken in konkreten Herrschaftsverhältnissen und dienen der Erhaltung bestehender Machtverteilungen, sie werden deshalb von politischen Eliten durchaus auch gezielt inszeniert und instrumentalisiert.61 Soziale Verunsicherung, das Gefühl, keinen sicheren Boden mehr unter den Füßen zu haben, ist ein Grundelement neoliberaler Politiken der Aktivierung und Flexibilisierung.62 Arbeitslosigkeit und prekarisierte Arbeit setzen gleichzeitig sowohl Arbeitssuchende als auch Belegschaften unter Druck und wirken einer kollektiven politischen Mobilisierung im Niedriglohnsektor entgegen. Abschiebungspolitik zielt auf nationalstaatliche Einhegung, ein zwar anachronistisches anmutendes Programm, mit dem sich aber dennoch Wählerstimmen mobilisieren lassen. Die Funktion von Abschiebungen liegt weniger in ihrer tatsächlichen Beeinflussung von Migrationsströmen, sondern in ihrer symbolischen Wirkung – als Zeichen von politischer Handlungsfähigkeit an die Mehrheitsbevölkerung und als Zeichen der Nichtzugehörigkeit an bestimmte migrantische Bevölkerungsgruppen. Die staatliche Verhinderung von Zukunftsperspektiven und Entfaltungsmöglichkeiten durch die Verweigerung von sicheren Aufenthaltstiteln und umfassenden Bürgerrechten hat katastrophale Folgen für familiäre Entwicklungen und führt besonders bei migrantischen Teenagern mitunter zu Formen der Re-Ethnisierung. Abschiebungen selbst gehen mit enormen psychischen Belastungen, vor allem mit Gefühlen der Verzweiflung und Ausweglosigkeit einher, auf welche auch die auffallend hohen Selbstmordraten in Abschiebegefängnissen hindeuten.63
Angst ist ein Signum der „Abstiegsgesellschaft“, in der das Aufstiegsversprechen der „Sozialen Moderne“ von wachsender sozialer Ungleichheit, weitreichender Prekarisierung und gesellschaftlichen Abwärtstendenzen abgelöst wurde.64 Für die unteren sozialen Schichten hält diese sich abzeichnende Gesellschaftsformation kaum noch Aufstiegschancen bereit, dafür aber größere Existenzsorgen sowie unerbittlichere Formen der sozialstaatlichen Kontrolle und Bevormundung. Hinter den prospektiven Ängsten vor Arbeitslosigkeit und Abschiebung steht für die Schüler die zukünftige Gefahr einer noch weiteren Marginalisierung und eines endgültigen Ausschlusses aus der Gesellschaft. Die Emotionen der Hauptschüler zeigen uns an, dass ihnen selbst eine Minimalbasis von gesellschaftlicher Respektabilität und Teilhabe schon als hochgradig gefährdet erscheint. Sie haben Angst, noch tiefer zu fallen.
1Vgl. Stearns: Fear and Contemporary History.
2Vgl. Koch (Hg.): Angst.
3Vgl. Bourke: Fear.
4Vgl. Bude: Gesellschaft der Angst.
5Vgl. Rackow/Schopp/Scheve: Angst und Ärger.
6Vgl. Kierkegaard: Der Begriff Angst; Heidegger: Sein und Zeit, S. 140-142, 184-191.
7Vgl. Delumeau: Angst im Abendland; Kittsteiner: Die Stabilisierungsmoderne.
8Vgl. Böhme: Zur Kulturgeschichte der Angst seit 1800.
9Vgl. Kittsteiner: Wir werden gelebt, S. 103-128.
10Vgl. Castel: Die Metamorphosen der sozialen Frage; Castel/Dörre (Hg.): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung.
11Vgl. Dörre/Happ/Matuschek (Hg.): Das Gesellschaftsbild der LohnarbeiterInnen.
12Vgl. Marchart: Die Prekarisierungsgesellschaft; Dörre: Prekarität als Konzept kritischer Gesellschaftsanalyse.
13Vgl. Honneth: Arbeit und Anerkennung.
14Vgl. Kocka (Hg.): Geschichte und Zukunft der Arbeit; Bierwisch (Hg.): Die Rolle der Arbeit in verschiedenen Epochen und Kulturen.
15Vgl. Schäfer: Arbeitslosigkeit.
16Zur sozialpolitischen Problematisierung und emotionalen Erfahrung von Arbeitslosigkeit vgl. Zimmermann: Arbeitslosigkeit in Deutschland; Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel: Die Arbeitslosen von Marienthal; Bohlender: Von ‚Marienthal‘ zu ‚Hartz IV‘.
17Vgl. Lessenich: Die Neuerfindung des Sozialen, S. 82.
18Vgl. Solga: Ausbildungslose und die Radikalisierung ihrer sozialen Ausgrenzung.
19Vgl. Schultheis: Der Lohn der Angst.
20Wellgraf: Hauptschüler, S. 128ff.
21Vgl. Gugutzer: Soziologie des Körpers, Schroer (Hg.): Soziologie des Körpers.
22Vgl. Gugutzer: Soziologie des Körpers, S. 149.
23Vgl. Krämer: Einige Überlegungen zur „verkörperten“ und „reflexiven“ Angst.
24Vgl. Neckel: Die gefühlte Unterschicht.
25Vgl. Malli: „Sie müssen nur wollen“.
26Vgl. Reckinger: Perspektive Prekarität.
27Vgl. Scheer: Emotionspraktiken; Reddy: The Navigation of Feeling.
28Vgl. Schmid: Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt; Hassel/Schiller: Der Fall Hartz IV.
29Vgl. Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent.
30Vgl. ebd., S. 277-305.
31Vgl. Lindner/Musner (Hg.): Unterschicht.
32Vgl. Sutter: Erzählte Prekarität.
33Vgl. Protsch: Segmentierte Ausbildungsmärkte.
34Vgl. Walther: The Struggle for ,Realistic‘ Career Perspectives.
35Vgl. Hess/Kasparek (Hg.): Grenzregime.
36Vgl. Mezzadra/Neilson: Border as Method; Pijpers: Waiting for Work.
37Vgl. Schiffauer: Fremde in der Stadt, S. 71-91; Malkki: Refugees and Exile.
38Vgl. Nyers: Rethinking Refugees, S. 43-67.
39Vgl. Betzelt/Bode (Hg.): Angst im neuen Wohlfahrtsstaat.
40Vgl. de Genova: Migrant „Illegality“ and Deportability in Everyday Life; Karakayali: Gespenster der Migration.
41Vgl. Huysmans: The Politics of Insecurity.
42Vgl. Oulios: Black Box Abschiebung.
43Vgl. de Genova: Migrant „Illegality“ and Deportability in Everyday Life.
44Vgl. Navaro-Yashin: Make-Believe Papers, Legal Forms and the Counterfeit, S 81.
45Vgl. Scheffer: Asylgewährung.
46Vgl. Graham: Emotional bureaucracies; Tuckett: Rules, Paper, Status.
47Vgl. Gill: Presentational state power; Eriksen: Diversity versus Difference.
48Vgl. Ostendorf: Strafverschärfungen im Umgang mit Jugendkriminalität.
49Vgl. Dollinger/Schmidt-Semisch (Hg.): Handbuch Jugendkriminalität.
50Vgl. Emig: Kooperation von Polizei, Schule, Jugendhilfe und Justiz; Heisig: Das Ende der Geduld.
51Vgl. Albrecht: Internationale Tendenzen in der Entwicklung des Jugendstrafrechts.
52Vgl. Biebricher: Neoliberalismus zur Einführung.
53Vgl. Schumann: Jugenddelinquenz im Lebensverlauf; Naplava: Jugendliche Intensiv- und Mehrfachtäter.
54Vgl. Buckow/Jünschke/Spindler/Tekin: Ausgegrenzt, eingesperrt und abgeschoben; Scherr: Jugendkriminalität – eine Folge sozialer Armut und sozialer Benachteiligung?
55Vgl. Oulios: Black Box Abschiebung.
56Vgl. ebd., S. 19ff.
57Der Regelsatz des Arbeitslosengeldes II lag im Jahr 2012 bei 374 Euro. Vgl. Biebricher: Neoliberalismus zur Einführung, S. 148.
58Vgl. Oulios: Black Box Abschiebung, S. XVI.
59Vgl. Lamont/Molnár: The Study of Boundaries in the Social Sciences; Kearney: The Classifying and Value-Filtering Missions of Borders.
60Vgl. Ahmed: The Cultural Politics of Emotions, S. 62-81; Massumi: Ontopower, S. 171-187.
61Vgl. Robin: Fear.
62Vgl. Massumi (Hg.): The Politics of Everyday Fear.
63Vgl. Oulios: Black Box Abschiebung, S. 38ff.
64Vgl. Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft.