Erika Hammer: Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität. Terézia Moras Romantrilogie »Der einzige Mann auf dem Kontinent«, »Das Ungeheuer« und »Auf dem Seil«
Bielefeld: transcript 2020 – ISBN 978-3-8376-5330-4 – 65,00 €
https://doi.org/10.14361/zig-2022-130111
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Werk der 1972 in Ungarn geborenen Büchnerpreisträgerin Terézia Mora hat in den letzten Jahren deutlich an Fahrt aufgenommen. Zuletzt erschien ein von Klaus Siblewski in der edition text + kritik herausgegebener Band zum Werk der Autorin, das mittlerweile aus vier Romanen, zwei Erzählbänden sowie mehreren Poetikvorlesungen besteht.
Erstmals nimmt nun die an der Universität Pécs im Süden Ungarns lehrende Literaturwissenschaftlerin Erika Hammer, von der bereits mehrere einschlägige Aufsätze zu Moras Romanen und Erzählungen vorliegen, die gesamte Romantrilogie um den IT-Fachmann Darius Kopp – bestehend aus Der einzige Mann auf dem Kontinent (2009), Das Ungeheuer (2013) und Auf dem Seil (2018) – intensiv in den Blick. Eher am Rande streift sie auch die Erzählbände Seltsame Materie (1999) und Die Liebe unter Aliens (2016), Moras ersten und hochgelobten Roman Alle Tage (2004) sowie ihre Poetikvorlesungen Nicht sterben (2015) und Der geheime Text (2016).
Hammers Studie setzt sich aus 11 Kapiteln zusammen, wobei nach einer Einleitung die Kapitel 2 bis 5 (vgl. 19-144) der theoretischen Fundierung vorbehalten sind und die Kapitel 6 bis 11 (vgl. 145-356) einer detaillierten Analyse der drei Romane. Die Analysen basieren auf einem theoretischen Fundament, welches das »Janusköpfige der Grenze« im Werk Moras als Metapher »für existenzielle, soziale, kulturelle, sprachliche Erfahrungen« (13) auffasst und versucht, »Erscheinungsformen des Phänomens ›Grenze‹ in der Prosa Moras systematisch zu erfassen.« (14)
Um den ausgeprägten Übergangscharakter von Grenze, die weniger als punktuelle Schwelle als vielmehr als ausgedehnte Zone gefasst werden muss, akzentuierter herausarbeiten zu können, macht Hammer das theoretische Konzept der Liminalität für ihre Studie fruchtbar. In Kapitel 2 (vgl. 19-42) stellt sie daher zunächst Viktor Turners sowie Arnold von Genneps Konzepte der Liminalität vor. Doch für das Werk von Terézia Mora greifen klassische Dreiphasenmodelle von Liminalität (Bruch, Krise, Bewältigung o.Ä.) nur bedingt. Eher führt das Konzept von Árpád Szakolczai ins Zentrum des Werks von Mora. Der Zustand des Grenzübertritts und der Liminalität wird darin als dauerhaft modelliert, das Subjekt, bei Mora meist als suchend und radikal fremd konzeptualisiert, befindet sich permanent in »transitorischen Schwellenräumen« (26) und Grenzübertritten.
Die Verfasserin zeigt in Kapitel 3 (vgl. 43-81), dass das Konzept der Liminalität keineswegs nur als inhaltliche Kategorie verstanden, sondern auch auf den Transit der Sprachen bezogen werden kann. Den Texten Moras seit ihrem ersten Erzählband Seltsame Materie (1999) ist ein hohes Maß an Mehrsprachigkeit, Multilingualität und Polyglossie inhärent. Literarische Figuren wie Dolmetscher, Übersetzer, Reiseführer etc. finden sich in allen ihren Texten. Hammer deutet diesen Sachverhalt aber weniger als künstlerische Ausprägung einer in Ungarn bilingual aufgewachsenen Autorin oder als Ausdruck interkulturellen Schreibens. Insofern ist es nur folgerichtig, dass sie auch jeglichen Ansätzen einer Etikettierung der Literatur Moras als interkulturelle Literatur oder als Migrationsliteratur eine klare Absage erteilt.
Vielmehr sei Multilingualität bei Mora als grundlegende »Störung« (44) und Sprachverwirrung zu verstehen, und damit als Abweichung von einer Ordnung der Monolingualität. Gerade in der Störung finde sich der »Nicht-Ort des Monsters und des Monströsen in einem liminalen Schwellenraum« (47). Hammer interessieren daher insbesondere »monströse Anordnungen im Zusammenhang mit sprachlichen Zeichen und der Kollaps der Zeichenordnung selbst« (48). In erster Linie geht es ihr um die auch einer einzelnen Sprache wie dem Deutschen inhärente Polyglossie. Figuren seien immer »Anderssprechende« (52), deren Kommunikationsschwierigkeiten kein Phänomen zwischen Sprachen und Kulturen sei, sondern auch innerhalb einer Sprache oder Kultur und zwischen Menschen gleicher Muttersprache zu Tage treten könnten.
Eines der wichtigsten Ergebnisse der Studie von Erika Hammer ist der Nachweis einer ausgeprägten Zeitdiagnostik der Romantrilogie. Viel stärker als die frühere Prosa Moras, die vielfach von allegorischen Figuren wie Fischer, Fremdenführer und Dolmetscher besiedelt ist, ziele die Trilogie auch auf die postmoderne Arbeitswelt und den ökonomischen Diskurs bzw. deren Auswirkungen auf das Individuum. So zeigt die Verfasserin in Kapitel 4 (vgl. 83-113), in welcher Form (insbesondere) im ersten Teil, Der einzige Mann auf dem Kontinent, transitorische Identitäten in heutigen, digital geprägten Informations- und Wirtschaftswelten reflektiert werden. Der Protagonist Darius Kopp bewegt sich als Salesmanager einer weitgehend digital aufgestellten Firma permanent in liminalen Zwischenräumen, die Orientierung oder überschaubare Ordnungen verhindern. Das bezieht sich auf Orte und Identitäten, aber auch auf die »Verwischung von Ordnungsstrukturen durch die neuen Medien« (93f.). Eine Konsequenz einer für das Individuum undurchdringlichen Gegenwart in Bezug auf identifikatorische Elemente ist der Versuch, sich immer wieder neu zu entwerfen, ohne jemals einen festen Punkt oder gar ein Ankommen zu finden. Eben solche »Chiffren für Orientierungslosigkeit« (93) arbeitet Hammer an den Texten von Mora heraus. Sie betont in Kapitel 5 (vgl. 115-144), dass der Interdiskurs zwischen dem Ökonomischen und dem Literarischen bei Mora sehr ausgeprägt ist. Dabei sei die Literatur durch die ihr inhärente Fähigkeit, viele Diskurse in sich aufnehmen zu können, in der Lage, ökonomische Modelle wie die New Economy, Motive des Geldkreislaufs etc. narrativ zu inszenieren, um Auswirkungen auf Lebens- und Arbeitswelten zu reflektieren bzw. zu diskutieren. Anhand von Darius Kopp werden Krisenerfahrungen des postmodernen Individuums sichtbar, die auch deutliche Spuren im Erzählmuster hinterlassen.
Die Kapitel 6 bis 9 (vgl. 145-271) sind dem zweiten Roman der Trilogie, einer Art road novel, gewidmet. Dabei stehen in der Analyse von dem Ungeheuer zunächst die beiden Hauptprotagonisten Darius Kopp (vgl. Kap. 6) und seine Frau Flora (vgl. Kap. 7) im Mittelpunkt, bevor sich der Blick auf Erzählformen (vgl. Kap. 8) und die ausgeprägte Intertextualität im Roman richtet.
Darius Kopp und seine Frau Flora werden beide als Grenzgänger bezeichnet. So sehr sie sich äußerlich unterscheiden – er überaus dick, sie extrem dünn –, so sehr gleichen sie sich in zentralen Aspekten. Nach dem Selbstmord seiner Frau verbringt Darius in einer Art Schockstarre Monate in seiner Wohnung, bevor er sich mit dem Auto und der Urne Floras im Kofferraum auf eine lange Reise von Berlin bis Athen durch Süd-Ost-Europa begibt. Sein Auto wird nun für lange Zeit seine Behausung und gleichzeitig Begegnungsort mit Figuren wie Oda und Doiv. Die lange Reise von Darius, die Hammer als labyrinthischen Irrweg charakterisiert, kann als Versuch der Trauerbewältigung verstanden werden, stellt aber auch einen »Übergang in Permanenz« (154) dar. Das spiegelt sich auch im narrativen Muster des Romans als episodenhaftes Erzählen ohne Zentrum und hierarchische Ordnung.
Im Gegensatz zu Darius wird die Figur der Flora eher mit einer Scherbe in Bezug gesetzt. Sie befindet sich in einem ewigen Übergang und ist dem »Ungeheuer schutzlos ausgeliefert« (257). Floras ungarische Aufzeichnungen, die Darius als Dateien nach dem Tod Floras erhält und nur in einer Übersetzung ins Deutsche kennt, zeigen laut Hammer, dass bei der jungen Frau alle ordnungsstiftenden Muster (wie Heimat, Religion, Familie) an Bedeutung verlieren und einer transzendentalen Obdachlosigkeit weichen. Floras Lebensweg ist in besonderer Weise mit der Figur des Monströsen verbunden, das überall lauert und ihre Ordnung bedroht bzw. Ordnungsstrukturen auflöst. Auch der selbstgewählte Rückzug in die umzäunte Idylle des Gartens verschafft Flora kein Ankommen oder Heimischwerden und ist Ausdruck einer radikalen, unauflösbaren Fremdheit im Sinne von Bernhard Waldenfels’ Konzept.
In Kapitel 8 (vgl. 205-230) geht Hammer auf die Bedeutung der Schrift für Darius und Flora ein. Während Flora die Verfasserin der Tagebucheinträge im unteren Textteil des Romans ist, ist Darius nach dem Selbstmord seiner Frau ihr Rezipient. Für Flora stellen die Aufzeichnungen den vergeblichen Versuch dar, innere Klarheit zu gewinnen, für Darius sind sie Begegnung mit dem Nachlassmaterial sowie Kommunikation mit der Verstorbenen und sich selbst. Immer wieder taucht in den Tagebucheinträgen die Frage auf, ob es möglich ist, Erlebtes, Gefühltes und Wahrgenommenes zu beschreiben. Hammer deutet das als grundlegende Erfahrung Floras, dass Dinge allgemein nicht beschreibbar sind. Der vielsprachige Text, der vielfach intertextuelle Verweise auf ungarische Autorinnen und Autoren enthält, aber auch Themen wie Armut, Fremdenfeindlichkeit, Intoleranz und patriarchalische Gesellschaftsstrukturen aufgreift, erzeugt bei der Übersetzerin Judit, die die Dateien für Darius ins Deutsche überträgt, und mit ihr beim Leser »vollkommene Konfusion« (219). Hammer zeigt, wie schwierig an manchen Stellen allein die Rekonstruktion einzelner Wörter ist, die durch das Vorhanden- oder Nichtvorhandensein einzelner Akzente im Ungarischen komplette Bedeutungsveränderungen erfahren. Sie verweist auch v.a. darauf, dass die Aufzeichnungen »in diesem liminalen Bereich, also in der Unbestimmtheit zu Hause [sind], was ihre Deutung erschwert oder sogar zunichte macht.« (223)
In Kapitel 9 (vgl. 231-271) geht Hammer auf die ungeheure Fülle an intertextuellen Verweisen im zweiten Teil, Das Ungeheuer, ein. Insbesondere für die Tagebuchaufzeichnungen einer innerlich zerrissenen Flora ist »ein Vagabundieren durch die Textwelt« (233) kennzeichnend, was v.a. auch damit zu tun hat, dass die junge Frau durch exzessives Lesen aus der dauerhaften Krise zu gelangen versucht. Doch genau das gelingt nicht, vielmehr schwillt der Text mit seiner kaum überschaubaren thematischen Fülle und Polyphonie der Sprachen, Zitate und Stile zu einer Monstrosität an, während die junge Frau selbst immer dünner wird. Der ganze Text halte sich »in einem liminalen Schwellenraum verschiedener Texte, Strukturen, Gattungen, Normen und Ordnungen« (241) auf und biete »ständig neue Anschlussmöglichkeiten für neue, beliebige Themenbereiche als Erkundung dieser Linien« (261).
Sehr erhellend sind die Ausführungen Hammers zur Lektüre Floras. Die Wissenschaftlerin interessieren dabei insbesondere Strukturhomologien, die sich auf ganze Bündel von Texten beziehen. So werden die Bezüge zu László Némeths Roman Iszony (Ekel) und zu Marlen Haushofers Roman Die Wand ausführlicher dargelegt. Während die Parallelen zu Haushofer schon verschiedentlich in der Forschung aufgegriffen wurden, stellt der Vergleich der Strukturhomologie der Figurenkonstellation von dem Ungeheuer mit Iszony von Németh eine ganz neue Perspektive auf den Text dar und soll als wichtiger Ertrag hervorgehoben werden.
Kapitel 10 (vgl. 273-330) greift den 2018 erschienenen abschließenden Teil der Trilogie Auf dem Seil auf. Das Seil wird als Metapher der Bewegung und Ausdruck für Befindlichkeiten der Gegenwart gedeutet. Hammer liest den Roman als eine Art Bildungs- und Entwicklungsroman, der allerdings ohne wirkliche Rückkehr des Subjekts nach überstandenen Abenteuern endet. Zu Beginn des Romans lebt Darius Kopp auf Sizilien, und gleich einer Vertreibung aus dem Paradies wird er im Laufe der Handlung in eine modrige Wohnung in Berlin gespült. Dabei spielt seine Nichte Lore, die als Lorelei-Figur mythologische Züge verliehen bekommt und als »monströses Doppelwesen« und »paradigmatische Schwellenfigur« (303) gedeutet wird, eine wichtige Rolle. Doch die vermeintliche Vertreibung aus dem (sizilianischen) Paradies wird nicht nur negativ gesehen, sondern auch als Aufbruch in eine Phase der Liminalität, deren Kennzeichen wiederum eine dauerhafte Krisenhaftigkeit ist, die vom Subjekt, das seine Entwürfe immer wieder der Realität anpasst, niemals endgültig überwunden werden kann. Eine Besonderheit dieses Romans sieht Hammer darin, dass er im Gegensatz zu den vorhergehenden Teilen der Trilogie immer wieder Momente der Gastlichkeit enthält, die ein Ankommen kurzzeitig ermöglichen. So werden die verlorenen Figuren in Berlin zum Beispiel einander zu Ersatzfamilien, ein Zustand, der bereits in Alle Tage z.B. anhand von Anarchia Kingania, der Wohngemeinschaft der Gestrandeten, ausgestaltet wurde. Darius und Lore leben in Berlin über Monate hinweg eine Art Couchdasein. Als Denkfigur ruft Hammer hier unter Bezugnahme auf Walter Benjamin das Modell des Porösen auf, das mit dem Konzept der Liminalität korrespondiert. Letztendlich kann es »als Schwellenraum zwischen zwei Ordnungen gefasst« (297) werden. Hammer zeigt an zahlreichen Beispielen, wie im Roman Denkfiguren der Kulturgeschichte aufgerufen werden, die mythische und biblische Modelle für Menschheitskatastrophen und Erfahrungen des Wandels und Übergangs inszenieren.
Resümierend lässt sich festhalten, dass die umfangreiche Studie von Erika Hammer zahlreiche neue Impulse für die Forschung zu Terézia Moras Werk setzt. Der Begriff der »deterritorialisierten Literatur« (335) trifft ins Zentrum der Texte Moras. In einer Art Schwellenraum versucht die Autorin die von Widrigkeiten bedrängte conditio humana in all ihren Verästelungen zu erkunden. Dabei gerät die Liminalität nicht nur als bis ins Unendliche ausgedehnter Zustand in den Blick, sondern ebenso als Erzählverfahren Moras.
René Kegelmann