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Zeitschrift für interkulturelle Germanistik – 14. Jahrgang, 2023, Heft 2: Gottfried Benns Süden als (post-)moderne Parodie (Raluca-Andreea Rădulescu)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik – 14. Jahrgang, 2023, Heft 2

Gottfried Benns Süden als (post-)moderne Parodie (Raluca-Andreea Rădulescu)

Gottfried Benns Süden als (post-)moderne Parodie1

Raluca-Andreea Rădulescu

Abstract

This paper explores the representation of the South (focusing the Mediterranean space) in Gottfried Bennʼs (post)expressionist poetry. The main thesis is that the South is not only a metaphor and a symbolic icon for an idealized place of refuge from the perverted European civilization, as scholarship has so far stressed. On the contrary, the examined corpus shows the ambivalent perception and literary representation of a culturally stereotyped region which becomes the subject of a parody. When analysing the intersection of cultural and poetic alterity, the study also aims to question the aesthetic substantiation of this critical challenge of both historical, political and literary discourses of the time, and comes to the conclusion that such parodic representations go hand in hand with the modern poetics of deconstruction and deformation, sometimes enriched by Benn with postmodern strategies.

Title

Gottfried Benn’s South as (Post-)Modern Parody

Keywords

Gottfried Benn (1886-1956); mediterranean studies, postcolonial studies, expressionism, modernism.

Einstieg

»Jawohl, zwei Sonnen waren auf dem Bild, gewirbelt zwischen die Zypressen, und ein Kornfeld, auf das der Himmel schrie –: eine flache Stirn, eine fliehende Stirn, eine Verbrecherstirn: kotz – kotz – kotz auf alle Um- und Abwelt: der Idiot von Arles.« (Benn 1984: 95) So nahm Benn 1920 in seinem Prosastück Der Garten von Arles auf Gemälde van Goghs Bezug, die um 1890 kurz vor seinem Tod entstanden waren. Ob Der Weg mit Zypressen, Kornfeld mit Zypressen oder Kornfeld mit Krähen, wohl sein letztes Werk, gemeint sind oder eine Montage aus allen dreien, jedenfalls stehen sie als Testament des Selbstmord begehenden Malers, Chiffre einer deformierten, provenzalischen Natur, bei der nichts von einer mediterranen Idylle übrigbleibt. Hingegen nimmt die Landschaftsdarstellung von mimetischen Konventionen Abschied, die Stilisierung zu einer Todesvision geht auf eine grundsätzliche Verformung und Umpolung des Vertrauten zurück.

Es sind übrigens Mittel, die die späteren Avantgarden vorwegnehmen, und selbst Gottfried Benn wird in seiner ursprünglichen expressionistischen Schaffensphase von ihnen Gebrauch machen. Seine bekannte Hinwendung zum Mythos des Südens und die Bevorzugung des Mediterranen oder der Südsee als Gegenwelt zum wilhelminischen Alltag oder zu den später durch die Weimarer Republik verursachten Enttäuschungen wurde in der Forschung vielfach belegt und untersucht (vgl. u.a. Heimann 1962; Wodtke 1970; Kopp-Marx 2007; Hahn 2011; Kolb 2013). In einer Studie neueren Datums (vgl. Rădulescu 2023) habe ich versucht, diese ästhetische Auseinandersetzung Benns mit dem Süden in seiner Prosa, Lyrik, aber auch in den Dramen und Essays für die interkulturelle Germanistik fruchtbar zu machen. Es stellte sich bei meiner Untersuchung u.a. heraus, dass der dichterische Umgang mit dem Südkomplex in seinem Schaffen der Früh- und Mittelphase inter- und transkulturelle Bezüge erkennen ließ, anhand derer er auch auf die historischen, politischen und kulturellen Diskurse der Zeit kritisch-subvertierend reagierte. In der Tat sollen die von mir angeführten Beispiele bewiesen haben, dass man es über den von der Forschung bereits angesprochenen Chiffre-Charakter seiner Texte zum Thema ›Süden‹ hinaus (auch) mit kritischen Zeittexten (vgl. Mayer 2007: 193) zu tun hat und nicht nur mit Metaphern und Metaphernkomplexen. Das Südliche kommt an Grenzerfahrungen im räumlich-kulturellen sowie psychologischen und ästhetischen Sinne zum Ausdruck, verbindet Isotopien im Mittelmeerraum sowie auf der Weltkarte der Kolonisierung und affirmiert bzw. relativiert tradierte Klischees über Eigenes und Fremdes, Europa und Außereuropa.

Benns auch in der Fachliteratur viel beschworene Kernbegriffe ›Südwort‹, ›blau‹, ›thalassale Regression‹ sind tatsächlich Chiffren für den Mittelmeerraum, der als Fluchtort einer erstickenden mitteleuropäischen, zivilisationsmüden Welt entgegengesetzt wird. Jedoch sollte man die in der modernen Lyrik vehement geforderte Absage an die Tradition und die Entscheidung für das absolute Gedicht, so wie dies Benn programmatisch theoretisiert, nicht außer Acht lassen, denn sie beinhaltet in der Tat auch die Hinterfragung gängiger Diskurse, literarischer Verfahren, Vorurteile und kultureller Stereotype. Das Mittelmeer etablierte sich schon seit der Antike als Kulturlandschaft und kultureller Maßstab. Aber Benns Mittelmeerraum fungiert nicht nur als Kontrastfolie für die deutschsprachige bzw. mitteleuropäische Kultur, sondern stellenweise auch als ambivalenter Raum, der selbst zum Gegenstand einer Infragestellung und Kritik, sogar einer Parodie wird.

Aufgrund dieser Forschungsergebnisse setzt sich der Beitrag zum Ziel, anhand eines ausgewählten Gedichtskorpus die ambivalente Wahrnehmung und Darstellung des Südens (mit Schwerpunkt Mittelmeerraum) im Werk Gottfried Benns zu veranschaulichen, indem der Fokus auf dessen Parodie und kritischer Infragestellung als Idylle liegt, was in der Forschung bisher wenig belegt wurde. Gefragt wird nach den ästhetischen Ausdrucksmitteln, die das Spannungsverhältnis zwischen poetischer und kultureller Alterität literarisch inszenieren und die auf eine avantgardistische, antitraditionelle Programmatik der Dekonstruktion zurückgehen, die Benns Schaffen der Früh- und Mittelphase (aber mit Echos auch in der späteren Dichtung) charakterisiert. Es wird sich zeigen, dass Benns kritische Entlarvung gängiger Zeitdiskurse, Stereotype und Klischees von einer modernen Poetik parodischer Distanzierung untermauert wird, die oft auch postmoderne Züge aufweist.

Überlegungen zur Darstellung des Südens in der deutschen Kultur und Literatur

Mediterranismus, Kolonialismus, Ozeanismus

Der Mittelmeerraum wird als Produkt der Moderne angesehen, der im Schmelztiegel historischer und kultureller Erfahrungen entstanden ist, zu denen Grand Tour, militärische Expansion und koloniale Eroberungen beigetragen haben (vgl. Baumeister 2007: 31). Indem er als natur- und kulturräumliche Einheit gedacht wurde, wurde er im kolonialen Kontext europäisiert und als mare nostrum erfunden (vgl. Borutta/Lemmes 2013: 390), um politische Unternehmungen zu legitimieren. Es war diese relative kulturelle, historische, geographische, politische und klimatische Homogenität (vgl. Braudel 2001), die ihn als ergiebige Kontaktzone am Treffpunkt dreier Kontinente und monotheistischer Religionen empfahl und seine Konstruktion zur (positiven oder negativen) Vergleichsfolie zu anderen Räumen ermöglichte. Vor allem bei der Gleichsetzung des Mediterranen mit dem ›Süden‹, der seit Goethe als Fluchtort vor der verdorbenen ›nordischen‹ Zivilisation firmiert, wird ein Stereotypisierungsprozess deutlich, der den Süden bzw. den Mittelmeerraum als »diskursives Konstrukt« (Schenk/Winkler 2007: 14) entlarvt.

Anders als im Falle der maritimen europäischen Reiche entwickelt sich das Verhältnis Deutschlands zum Mittelmeerraum im Spannungsfeld zwischen emotional beladenen Wahrnehmungen, hedonistischen Erfüllungsphantasien und klischeehaften Vorstellungen und Projektionswünschen. Mit Recht behauptet Dieter Richter, dass die großen Kolonialreiche über alle Meere die Erde eroberten, während Deutschland der Sehnsucht des Mediterranen erlag, der zu einem Raum der Bildung, Erholung und des Vergnügens wurde (vgl. Richter 2014: 174). Neapel und seine Umgebung waren schon in den 1800er Jahren in Guaschen, Kupferstichen und Lithographien »massenmedial vermarktet« (ebd.: 176), ein Jahrhundert später entsteht der durch Schlager, Filme und Produktnamen mitproduzierte deutsche Capri-Mythos, bestätigt durch die Niederlassung von zahlreichen Künstlern und Schriftstellern (vgl. ebd.: 180). An der Produktion des Mythos Mittelmeer waren insgesamt nicht nur Reisebeschreibungen, Malerei, Architektur und Archäologie, sondern auch Literatur, Kunst und Musik beteiligt. Wenn Richter das Mittelmeer als »Meer der Deutschen« und »Sehnsuchtsmeer in der Ferne« (ebd.: 173) bezeichnet, dann ist damit hauptsächlich eine affektbeladene Beziehung gemeint, die auf die Wahrnehmung des im Unterschied zur Nord- und Ostsee warmen und ausländischen Meeres als Urlaubsmeer zurückgeht.

Nichtsdestotrotz kann man bei der Repräsentation dieses Raumes in der Geschichte sowie in der Literatur von dem Zeitgeschehen nicht absehen, vor allem wenn man an die nationalsozialistische Ideologie und den Mythos vom ›nordischen Blut‹ denkt, der auf ein gemeinsames Ahnenerbe hinweisen und somit die Expansionsansprüche Deutschlands auf Italien und Griechenland rechtfertigen sollte. So liegt es auf der Hand, dass der Mittelmeerraum auch in der deutschen Kultur nicht nur touristische und künstlerische Sehnsuchtsvorstellungen, sondern auch imperial-koloniale Phantasien genährt hat, zumal das Deutsche Kaiserreich in der Zeitspanne von 1884 bis 1918 Kolonien tatsächlich besaß und Kolonialismus zumindest seit Kolumbus ein gesamteuropäisches Phänomen war (vgl. Conrad 2008: 7).

Während im Frankreich der Zwischenkriegszeit ein »mediterraner Humanismus« durch Schriftsteller wie Camus oder Audisio gefördert wurde (Jansen 2007: 175), machen sich in der deutschen Literatur bereits ab dem expressionistischen Jahrzehnt relativierende bis kritische Tendenzen des Paradiestopos Mittelmeerraum bemerkbar, die entweder auf die traditionsfeindlichen Poetiken der frühen Avantgarde zurückgehen oder im Zeichen der Zeit- und Geschichtsskepsis stehen. Der Mythos vom verheißungsvollen, einladenden Italien, Land der Sonne und der Zitronen, entartet in manchen literarischen Texten der Jahrhundertwende bis in die 1930er Jahren etwa in stilisierte dystopische Schilderungen, die den Süden, wofür Italien meistens stellvertretend oder sinnbildhaft steht (vgl. Richter 2014: 181), zwar wieder stereotypisieren und ›mediterranisieren‹ (vgl. Herzfeld 1987; Heimböckel 2017), diesmal aber im negativen Sinne, indem auf schon ältere und nach Goethe vergessene oder verdrängte Vorstellungen von Rückständigkeit, Armut und Schmutz Bezug genommen wird.

Es sei in diesem Zusammenhang an Thomas Manns berühmte Novelle Der Tod in Venedig (1912) erinnert, wo sich der ursprünglich ersehnte italienische Fluchtort als Projektionsraum innerer Zerspaltung und Mortifikation des Ichs entpuppt. Dabei changiert die Darstellung der Lagunenstadt von utopischer Schwärmerei zu einer völligen Abwendung mit naturalistisch-expressionistischen Schattierungen, der Traum von Italien als erlösendem Paradies kippt in eine hoffnungslose Dystopie um:

Eine widerliche Schwüle lag in den Gassen, die Luft war so dick, dass die Gerüche, die aus Wohnungen, Läden, Garküchen quollen, Öldunst, Wolken von Parfüm und viele andere in Schwaden standen, ohne sich zu zerstreuen. Zigarettenrauch hing an seinem Orte und entwich nur langsam. Das Menschengeschiebe in der Enge belästigte den Spaziergänger, statt ihn zu unterhalten. Je länger er ging, desto quälender bemächtigte sich seiner der abscheuliche Zustand, den die Seeluft zusammen mit dem Scirocco hervorbringen kann, und der zugleich Erregung und Erschlaffung ist. Peinlicher Schweiß brach ihm aus. Die Augen versagten den Dienst, die Brust war beklommen, er fieberte, das Blut pochte im Kopf. Er floh aus den drangvollen Geschäftsgassen über Brücken in die Gänge der Armen: dort behelligten ihn Bettler, und die üblen Ausdünstungen der Kanäle verleideten das Atmen. Auf stillem Platz, einer jener vergessen und verwunschen anmutenden Örtlichkeiten, die sich im Innern Venedigs finden, am Rande eines Brunnens rastend, trocknete er die Stirn und sah ein, daß er reisen müsse. (Mann 1958: 480)

Auf diese Weise werden negative Klischees reaktiviert, jedoch nicht mit dem Zweck, Alterisierungs- und Nostrifizierungsdiskurse in Gang zu setzen, um etwa ›nationale‹ hegemoniale Interessen zu bedienen. Im Gegenteil wird die Verabschiedung des Idylle-Topos Italien zu einer subversiven literarischen Strategie, um gängige stereotype bürgerliche Zeitdiskurse kritisch zu entblößen. Zu ihnen gehören nicht nur die schwärmerischen touristischen Sehnsuchtsvorstellungen, sondern auch politische Haltungen und historische Ereignisse, von einem fingierten Kosmopolitismus zum militärischen Aktivismus, vom harmlosen Konsum von Kolonialwaren zur kolonialen Nostalgie nach Ende des Ersten Weltkriegs und den imperialen Phantasien des Dritten Reiches.

Demselben Modus Operandi bei der Wahrnehmung und Konstruktion der Alterität ist auch der Umgang mit den Kulturräumen des Orients, Afrikas oder der Übersee zu verdanken, der Begriffe wie Orientalismus, Afrikanismus oder Ozeanismus entstehen ließ. Schon die Definition des Letzteren im Handbuch Postkolonialismus und Literatur als Bezeichnung dessen,

dass sich in der deutschen Kultur und Literatur ein dauerhaftes System von Aussagen über Ozeanien rekonstruieren lässt, welches in hohem Maße durch Stereotype geprägt ist, die über lange Zeiträume hin reproduziert und im Lichte neuer, dissonanter Erfahrungen allenfalls re-organisiert, und re-arrangiert, aber nicht revidiert wurden (Dürbeck 2017: 205),

macht auf die Herstellung des Raums als Imagination aufmerksam, zu der die koloniale Dimension wesentlich beiträgt.

Der (post‑)moderne Benn

In der modernen europäischen bzw. (deutschen) expressionistischen Dichtung waren Verfahren der Zerlegung, Deformierung und Montage Teil des ästhetischen Programms, das Benn auch spät, in seiner Rede Probleme der Lyrik aus dem Jahre 1951, aktualisiert: »das absolute Gedicht, das Gedicht ohne Glauben, das Gedicht ohne Hoffnung, das Gedicht an niemanden gerichtet, das Gedicht aus Worten, die Sie faszinierend montieren.« (Benn 1989: 529) Diese Dichtung nimmt sich bewusst vor, die leere Transzendenz, die Ideale zu meiden, mögliche Empfänger auszuschließen und in Anlehnung an Mallarmés Begriff der ›poésie pure‹ durch sich selbst zu erleben. Selbstverständlich gehört die oft nicht konsequente Verfolgung der Postulate zu den Widersprüchlichkeiten des Expressionismus, und die von Benn vorgenommene, auf Nietzsche zurückgehende antihistorische Tendenz verliert doch ihren Verneinungscharakter, wenn sie als latent vorhandene Spannung und Voraussetzung unter stilistischem Gesichtspunkt für die »dichterische Manipulation« betrachtet wird (Allemann 1963: 53). Für die jetzige Untersuchung sind in dieser Hinsicht zwei Gedanken wesentlich: einmal die theoretisch zum Ausdruck gebrachte Absage an Ideale und idyllenhafte, idealisierende Darstellungsmöglichkeiten klassisch-romantischer Prägung, die sich durch besondere dichterische Verfahren realisieren lassen. Zweitens wurde Benns Ablehnung der Geschichte faktisch und dichterisch zumindest bis Mitte der 1930er Jahre nicht in die Praxis umgesetzt, paradoxerweise beschäftigte er sich aber desto intensiver und dauerhafter mit ihr (vgl. Sahlberg 1977: 71).

Wenn Linda Hutcheon die Parodie zu den subvertierenden Verfahren der postmodernen Poetik zählt, weist sie auf Merkmale hin, die sie allerdings mit der Moderne teilt. Die Parodie macht als autorisierte Transgression der Konvention auf eine ironische Differenz aufmerksam, die als ironische Diskontinuität entlarvt wird (vgl. Hutcheon 2004: x, 11). So inszeniert die Parodie einen oft intertextuellen, ironischen Dialog mit der Vergangenheit sowohl der Kunst als auch der Gesellschaft (vgl. ebd.: 4). Darüber hinaus sind im Werk Benns die Übernahme, Montage und Collage von disparaten Sprachmitteln zu vermerken, von Fach- und Fremdwörtern bis zu einem umgangssprachlich-obszönen Wortschatz, was manchmal für eine durchaus postmoderne street poetry spricht. Diese verwirrende Mischung von elitärem, wissenschaftlichem, hochspezialisiertem Begriffsrepertoire und dem herkömmlichen, derben Witz empfiehlt Benn als einen Vorgänger der Postmoderne, obwohl er in seinen späten Lebensjahren, 1951 in der berühmten Rede Probleme der Lyrik nach seiner Hinwendung zu einer milden Klassik ab den 1930er Jahren, doch für eine Poetik der Moderne argumentiert. »Das ist der alte Benn, und er verhält sich nicht anders als der junge in seiner expressionistischen Phase.« (Hillebrand 1982: 650)

Parodische Tendenzen

In einem 1915 in der Zeitschrift Die Aktion unter dem Titel Der Impertinentismus veröffentlichten Manifest hebt A. Undo den rebellierenden, spöttischen, antibürgerlichen Charakter der expressionistischen Kunst hervor:

[W]ir, die Unverschämten, Frechen, Würdelosen, Anstandslosen, Unbürgerlichen. […] Wir setzen aus Frechheit einen riesigen Schwindel in die Welt und züchten Snobs, die uns die Stiefel abschlecken, parce que cʼest notre plaisir! (Undo 1982: 63f.)

Bei der parodischen Darstellung des Mediterranen bzw. des Südseeraums sind bei Benn zwei parodische Tendenzen zu bemerken: einerseits die resignative, geschichtsskeptische, schwermütige De-Idyllisierung einer künstlerisch vermittelten, konstruierten idealisierten Wahrnehmung der südlichen Alterität, die den Schritt mit den Grausamkeiten der Realität nicht mehr hält. In der kritischen Auseinandersetzung mit tradierten antiken Mythen und ästhetisierten Erfahrungen, die sonst in seinem Werk weitläufig als Chiffren für einen metahistorischen Befreiungsversuch aus den Alltagszwängen dienen, drückt sich Benns Misstrauen der sonst programmatisch postulierten Übermacht der Kunst gegenüber aus, die im Umgang mit dem Zeitgeschehen an ihre Grenzen stößt.

Die zweite Tendenz geht mit einer satirischen, ins Groteske oder Burleske gleitenden Konfrontation und Abrechnung mit tradierten Klischees einher, die auf die literarisch, aber vor allem kulturell-politisch geformte Wahrnehmung des Südens zurückzuführen sind. Diese dezidiert kritische, oft sarkastische Haltung lässt wenig von der Schwermut erkennen, die den Süden mit dem Topos des verlorenen Paradieses in Verbindung bringt. Hingegen zeichnet sich eine sarkastische, spöttische Darstellungsweise ab, die den Süden (gemeint ist hier der Mediterran sowie die Südsee) als Gegenstand einer doppelten Klischeeisierung erkennen lässt, und zwar als Topos des Massentourismus bzw. des Kolonialismus.

Darstellerisch machen die zwei Ausrichtungen von Verfahren Gebrauch, die der Lyrik der Moderne eigen sind, die jedoch unterschiedlich gewichtet werden. Allgemein lassen sie sich mit Hugo Friedrichs Kategorien beschreiben: »neutrale Innerlichkeit statt Gemüt, Phantasie statt Wirklichkeit, Welttrümmer statt Welteinheit, Vermischung des Heterogenen, Chaos« (Friedrich 2006: 29). Bei dem die Moderne kennzeichnenden Traditionsbruch wird der Mythos, so wie Friedrich schon bei Rimbaud feststellt, durch »Verbindung mit Ordinärem« herabgezogen (ebd.: 65). Vor allem im Falle der politisch-historischen kritischen Tendenz kommt dem Grotesken, dem burlesk Spaßigen, dem Verzerrten und Absonderlichen, schließlich dem Hässlichen, dem Banalen und der Deformierung (vgl. ebd.: 33, 44) eine besondere Bedeutung zu.

Im Folgenden möchte ich an ausgewählten Beispielen aus seiner Lyrik zeigen, inwieweit der mediterrane (und ansatzweise Südsee-)Raum zur gleichen Zeit, als dieser von Benn als Idylle über den Süden aufgegriffen wurde, auch als Gegenstand einer Parodie fungiert. Diese ambivalente, dichotomische Wahrnehmung gehört zu den Widersprüchlichkeiten des Expressionismus (dem Benn den Anfang seiner dichterischen Laufbahn verdankt und dessen Gedankengut sein Werk auch weiterhin ausschlaggebend prägen wird) bzw. der unmittelbaren Nachkriegsjahre (vgl. Dechert 2007: 214) und letztendlich seiner ganzen Dichtung. Man kann sie in der Überschrift und in der Eingliederung der von Kurt Pinthus veröffentlichten Menschheitsdämmerung-Anthologie expressionistischer Dichtung wiederfinden, wo die einzelnen Abschnitte Sturz und Schrei, Erweckung des Herzens, Aufruf und Empörung, Liebe den Menschen Themen ankündigen, die mit dem Inhalt der Gedichte nicht immer übereinstimmen oder darüber hinausgehen. Oder sie gehört zu den Ambivalenzen eines durch Geschichte und Machtverhältnisse verformten Raumes, dessen Ausprägung durch die Zeitdiskurse dichterisch relativiert wird. Denn es wird von der heilen Welt des Südens tatsächlich Abschied genommen, einmal in der ironischen Distanzierung von Mythen, welche die Geschichte doch nicht mehr, wie behauptet (vgl. Hahn 2007: 233), ersetzen können, und in der satirischen Kontrafaktur idyllischer Topoi und Klischees. In einer älteren Studie bemerkt Elmar Haller, auch der Süden sei »eine tote Welt«, weil vorgestellt, erträumt und »von den Trümmern einer toten Geschichte übersät«. (Haller 1965: 132)

Der Mittelmeerraum bei Benn

Das erste Gedicht, das in die von Bruno Hillebrand herausgegebene Ausgabe in der Fassung der Erstdrucke aufgenommen wurde, erschien 1910 und war vermutlich eines der frühesten Gedichte Benns. Es leitet einen intertextuellen Dialog in die Wege, der für zahlreiche parodische Dichtungen symptomatisch wird, sei es in der Form einer Auseinandersetzung mit Kunst oder Literatur, sei es in der Übernahme und Montage von Fremdwörtern, Zitaten und Fachbegriffen aus vielseitigen, Benn manchmal unvertrauten Wissensbereichen. Gefilde der Unseligen ist mit großer Wahrscheinlichkeit sein erster Versuch, in ein (Streit-)Gespräch mit der Tradition, sprich hier, den romantischen Klängen des symbolistischen Malers Arnold Böcklin, zu treten. Verabschiedet werden in diesem Gedicht mit expressionistischem Pathos die morbiden Versöhnungsversuche einer »Sehnsucht nach dem Tode«, um mit Novalis zu sprechen, sowie die bukolisch-idyllischen Vorstellungen von Inseln (und gemeint sind in Anlehnung an Böcklin bekannterweise mögliche Inseln um Italien). So beginnt das Gedicht: »Satt bin ich meiner Inselsucht,/Des toten Grüns, der stummen Herden« (Benn 1982: 19).

Das in Benns Werk Schutz und Geborgenheit bietende Meer, Chiffre der thalassalen Regression und Rückkehr zu prälogischen Urexistenzen, ist, wie die Forschung eingehend bewiesen hat, entweder mit dem Mittelmeer oder mit der Südsee zu identifizieren. Der Südseeraum weckt Benns Interesse eher in seiner mittleren Schaffensphase nach 1925, bis dahin kann man das Meer grundsätzlich mit dem Mediterranen gleichsetzen.

Eben dieser in der Mehrheit seiner Texte idealisierte Raum wird beispielsweise in dem bekannten Gedicht Kur-Konzert zur Chiffre für die Orientierungslosigkeit des Ichs, das in einen stummen Dialog mit Storm und Hölderlin tritt und die Unmöglichkeit beklagt, am Meer den Fluchtort gefunden zu haben:

O Herbst und Heimkehr über diesem Meer!

Die Gärten sinken um. Machtloser grauer Strand.

Kein Boot, kein Segel geht.

Wer nimmt mich winters auf? (Ebd.: 56)

Zur gleichen Zeit entsteht 1913 – zum Vergleich – das genauso bekannte, in der Fassung der Erstdrucke auf der darauffolgenden Seite abgedruckte Gedicht Untergrundbahn, das mit den verheißungsvollen Versen endet:

Fernes Glück: ein Sterben

Hin in des Meeres erlösend tiefes Blau. (Ebd.: 57)

Der drei Jahre später erschienene vielzitierte Text Karyatide setzt die sonst beschworenen griechisch-römischen Mythen des Mediterrans gewalttätig außer Kraft:

Auf Astermeeren an die fernen

Baumbraunen Ufer treiben, tagen

Sieh’ diese letzte Glück-Lügenstunde

Unserer Südlichkeit,

Hochgewölbt. (Ebd.: 81)

Das nachahmungswerte Projekt der Antike scheint manchmal in Benns Gedichten hinterfragt zu werden, vor allem dort, wo es mit der einst ruhmreichen Geschichte der alten Kulturen und Imperien zusammenstößt, von denen »Trümmer von Göttern und Reichen« (ebd.: 195) übrigbleiben.

Dem Gedicht Mediterran aus dem Jahre 1927 liegt der gleiche resignative Ton zugrunde, der sich zusammen mit der Abwendung von expressionistischen Verfahren und der Aufnahme klassizistischer Mittel eigentlich ab den 1930er Jahren zu einer andauernden Haltung in Benns Lyrik durchsetzen wird. Diese Skepsis geht wahrscheinlich auf eine schon immer vorhandene Abwehrstimmung dem Zeitgeschehen und der Geschichte gegenüber zurück, die vor allem nach seiner Absage an das nationalsozialistische Gedankengut in eine Dystopie des Südlichen mündet. In Mediterran wird über das »sic transit gloria mundi« geklagt, wobei der angesprochene Raum zu einem Wahrzeichen und Zeugen der Vergänglichkeit von Geschichte, Macht und Mythen stilisiert wird:

mediterrane

Ahnung des Weltgeschehens,

Stopp dem Wahne

irdischen Weitergehns,

mediterrane

götternde Succubie:

Schutzdach, Platane,

verlor die Blätter nie. (Ebd.: 195)

Zugleich wird die Überdauer der Natur den menschlichen Unterfangen gegenübergestellt, was in der letzten Strophe durch die »trümmerentbrannte/Theophagie« (ebd.: 196) eines monströsen Weltendeszenarios durch die alles verschlingenden Götter in Frage gestellt wird. Der Mittelmeerraum wird somit zu einem Raum kulturell vermittelter vorgestellter, jedoch vergeblicher, weil konstruierter Versuche einer Versöhnung zwischen Individuum und Geschichte/Zeit anhand von Natur und Mythos, die sich schließlich als unnützlich erweisen. Dadurch, dass Benn in seinen Texten im Sinne der modernen Ästhetik eigenständige, der Dichtung eigene, autonome Räume konstruiert, lassen sich poetische Alteritäten gestalten, welche die kulturellen (d.h. die schon aus den Zeitdiskursen bekannten) stark in Frage stellen. So kommt es zu einer Umpolung gängiger Vorstellungen über das Mittelmeer, das in meinen Korpustexten als Raum von Klischees und schwärmerischen Utopien entlarvt wird, was Anlass zur Inszenierung weitgehender Dystopien bietet. Benn lässt z.B. in die zweite Strophe des erwähnten Gedichtes etliche Erwägungen zum Mediterranen einfließen, die man im Zusammenhang der Lektüre des gesamten Textes als beiläufig außer Acht lassen könnte. Sie sprechen plötzlich kitschige Gartenrequisiten an, deren einzige Logik auf der Verbindung mit Elementen römisch-griechischer Baukunst beruht, die dem üblichen Touristenblick als wiederholte, klischeehafte Wahrzeichen des Mittelmeerraumes bekannt vorkommen, jedoch in einem schroffen Gegensatz mit den anspruchsvoll formulierten Aussagen über subtile kulturelle Angelegenheiten stehen:

einen Zierfisch oder eine Wasserpflanze

willst du dies,

oder Zwerge mit Angel und Lanze

auf dem Gartenkies –?

das sind Stätten! (Ebd.: 195)

Hochwahrscheinlich ist, dass hier Benn das bereits 1911 erschienene Gedicht Italien seines expressionistischen Weggefährten Jakob van Hoddis kritisch rezipiert, in dem der fingierte Dialog mit einem Poeten, der zum Anlass einer italienischen Reise in die Dichtkunst eingeführt werden soll, in eine sarkastische Satire auf die Klassik und schließlich Goethe entartet2:

Hier spreizen sich die keck zum Dom verpraßten

Rundbogen, Mosaiken, Marmorquasten.

Venedigs Lüfte kitzeln deine Haut.

Auf Säulchen thronen hier Geflügelgreife.

Steinerne Löwen heben ihre Schweife. (Hoddis 2012)

Ähnlich wird auch in Georg Kaisers 1912 entstandenem Drama Von morgens bis mitternachts das schwärmerische Bild über das touristische und literarische Mittelmeer dekonstruiert und durch wirtschaftlich bedingte Stereotypien von scheinhaftem Luxus und Diebstahl ersetzt:

Das ist die große Aufmachung. Italien, das wirkt verblüffend – märchenhaft. Riviera – Mentone – Bordighera – Nizza – Monte Carlo! Ja, wo Orangen blühen, da blüht auch der Schwindel. Von Schwindel ist da unten kein Quadratmeter Erdboden frei. Dort wird der Raubzug arrangiert. Die Gesellschaft verstreut sich in alle Winde. Nach den kleineren Plätzen – abseits der großen Heerstraße – schlägt man sich am liebsten. Dann schäumend in Pelz und Seide. Weiber! Das sind die modernen Sirenen. Sing sang vom blauen Süden – o bella Napoli. Verfänglicher Augenaufschlag – und man ist geplündert bis auf das Netzhemd. (Kaiser 1930: 24)

Benn selbst setzt sich mit dem touristischen Traum eines Aufenthaltes am Mittelmeer in einem seiner letzten Gedichte auseinander. Betitelt Ideeles Weiterleben? und entstanden 1951, nimmt der Text von Benns üblichen komplizierten, gekünstelten Verfremdungsverfahren und den tiefsinnigen metaphysischen Erwägungen Abschied, geht jedoch geschickt intermedial mit der Tradition der veduta bzw. der Ansichtskarte um, um schließlich die ersehnte Idylle eines Durchschnittsbürgers (heute eines Massentouristen) auf der Côte d’Azur kritisch als überholt bloßzulegen:

Auf einer Karte aus Antibes,

die ich heute erhielt,

ragt eine Burg in die Méditerranée,

eine fanatische Sache:

südlich, meerisch, schneeig, am Rande hochgebirgig –

Jahrhunderte, dramatisiert,

[…]

nichts von alledem bei dir,

keine Ingredienzien zu einer Ansichtskarte –

Zehnpfennigstücke für die Tram,

Umsteiger,

und schnell die obenerwähnte Wortprägung:

überholt. (Benn 1982: 394)

Vom Mittelmeer zum Atlantik

Es wurde in Studien neueren Datums auf die Überlagerung von mehreren Räumen im Werk Benns hingewiesen, so z.B. von Herbert Uerlings, der Überschneidungen zwischen außer- und innereuropäischem Exotismus aufdeckt, wobei die Imagination fremder Kulturen für Benns Werk konstitutiv sein soll (vgl. Uerlings 2016). Anfang der 1920er Jahre, also in einer von Imperialismus und Kolonialismus geprägten Epoche, wurde das Bild Europas aus der Antithese zu Afrika, Ozeanien, Mittel- und Südamerika konstruiert, was den zeitgenössischen Europa-Diskurs nicht nur in der Politik, sondern auch in der Literatur und Kunst bestimmte (vgl. Korte 2010/11: 16).

Nach 1925 wird in Benns mittlerer Schaffensphase das Mittelmeer mit der Südsee ausgetauscht, wahrscheinlich auf den »deutschen Komplex verlorener Kolonien« (Baßler 2007: 82) zurückgehend. Das 1925 veröffentlichte, wenig erforschte Gedicht Banane stellt in diesem Zusammenhang einen Sonderfall dar: Einmal beschäftigt es sich nicht ausschließlich mit dem Südseeraum, sondern setzt ihn mit dem Mediterran in Verbindung; dann werden die beiden Räume, anders als in seinem Werk, kritisch als Orte des Verfalls und der Sinnlosigkeit zivilisatorischer und eroberungslüsterner Bestrebungen bloßgestellt. Geographische Unstimmigkeiten sind hier nicht fehl am Platz, denn im Text werden die realen kartographischen Koordinaten nur zum Ausgangspunkt eingesetzt, um dann für den Leser verwirrende poetische Topographien zu gestalten. Auch hier montiert Benn im Sinne avantgardistischer Kunstauffassungen Fremdwörter, Wortschöpfungen, geographische und historische Begriffe, die programmatisch angekündigte ›Zusammenhangsdurchstoßung‹ lässt Termini verschiedenster Bereiche aufeinanderprallen, die eine »›postmoderne‹ Pluralität und Beliebigkeit« (Karcher 2006: 131) zu erkennen geben. Bereits der Anfang des Gedichtes verknüpft das Bild einer tropischen Frucht mit dem mediterannen Raum, was möglicherweise die Suggestion des afrikanischen Mittelmeerraums hervorrufen könnte. Diese erste logische Erwartung wird jedoch im Laufe des Textes zunehmend enttäuscht, indem Bilder einer vorgestellten Reise zum Pol, dann zur Sargassosee im Atlantischen Ozean, dann in den arabischen Orient bis zum Nil kaleidoskopisch und auf den ersten Blick in der willkürlichen Logik einer Collage wechseln. Zunächst einmal werden die Klischees eines glücklichen Strandurlaubs am Mittelmeer (an der französischen Riviera bzw. in Italien, »Bagno«) dementiert, das Muster wird dann weiterhin auf mögliche ferne Reiseziele (Pol, Sargassosee) übertragen. Die in der unmittelbaren Nähe des Bermuda-Dreiecks liegende Sargassosee im Atlantik taucht nicht zufällig im Text auf, sie sollte zuerst von Kolumbus erwähnt werden, der sie bei seiner ersten Reise 1492 durchquerte.

Banane, yes, Banane,

vie méditerranée.

Bartwichse, Lappentrane,

vie Pol, Sargassosee:

Dreck, Hündinnen, Schakale

Geschlechtstrieb im Gesicht

Und Aasblau das Finale –

Der Bagno läßt uns nicht. (Benn 1982: 166)

Im nächsten Schritt erfolgt die in technischen Begriffen erklärte Demontage antiker Gottheiten und Mythen (»die großen Götter Panne,/defekt der Mythenflor«, ebd.), gekoppelt mit der Ad-absurdum-Führung berühmter Heldenfiguren in der Geschichte der Menschheit:

die Machmeds und Johanne

speicheln aus Eignem vor,

der alten Samenbarden

Begattungsclownerie,

das Sago der Milliarden,

der Nil von Hedonie. (ebd.)

Benn benutzt nicht explizit den Namen Mehmed, vermutlich ist hier Mehmed der Eroberer gemeint, die Bezeichnung Machmad geht auf das gleichnamige, in der Bibel überlieferte hebräische Wort machmad zurück, »desirable, desirable thing« bedeutend, »Begehren, ein zu begehrendes, wertvolles Ding«.3 Johanne geht entweder auf Johannes den Täufer oder auch auf Johanna von Orleans, Jeanne d’Arc, zurück, in beiden Fällen unschuldige christliche Märtyrer. Dass der Text weiter auf die Sagopalme Bezug nimmt, wahrscheinlich ein verkappter Hinweis auf die ganze Palmenrequisite tropischer Gebiete, die von den europäischen Kolonisten ausgebeutet wurden, unterstützt meine Vermutung, dass der Autor ausgehend von der Demontage der mediterranen Strandidylle (die sich eigentlich auf andere kolonial befrachtete Topographien mutatis mutandis übertragen lässt und somit stellvertretend für die koloniale Vergangenheit Europas steht) die Geschichte der Welt und des Mittelmeerraumes (hinzu kommt die Expansion des Osmanischen Reiches) als Geschichte gewalttätiger und schließlich obsoleter Eroberungen darstellt. Diese Tatsache führt das lyrische Ich zu den enttäuschten Invektiven, die bei Hoddis in dem Vers »Entdecke dir die Hässlichkeit der Welt« im Italien-Gedicht gipfelten. Hier heißt es ähnlich:

sinnlose Existenzen:

dreißig Millionen die Pest,

und die anderen Pestilenzen

lecken am Rest,

Hochdruck! unter die Brause!

in Pferdemist und Spelt

beerdige zu Hause –

das ist das Antlitz der Welt! (Benn 1982: 166)

Nicht von der Hand zu weisen wäre die Vermutung, dass Benn hier über die kolonialen Verschränkungen Europas hinaus auch auf die Verhältnisse des Deutschen Reiches zu seinen Kolonien in der Übersee (Ozeanien) anspielt, die sonst in um 1925 entstandenen Gedichten wie Palau, Osterinsel, Ostafrika, Meer- und Wandersagen explizit angesprochen und angeprangert werden.

Fazit

Die Lyrik Gottfried Benns lässt in der Tat in allen Schaffensphasen einen ambivalenten Umgang mit dem Mittelmeerraum erkennen, der von seiner grundsätzlichen und allgemeinen Chiffrierung als Gegenwelt zum deutschen und mitteleuropäischen Alltag zu seiner Infragestellung als Ort idealisierender Diskurse und Klischees reicht. Ergänzt wird jene Tendenz zu einer Dekonstruierung überlieferter Mythen und Vorstellungen ab Mitte der 1920er Jahre von einer antikolonialen bzw. antizivilisatorischen Haltung. Diese Widersprüchlichkeiten lassen sich auf die Ambivalenz eines durch verschiedene Machtverhältnisse und -diskurse geprägten Raums zurückführen, worauf der Dichter in seinem Werk kritisch-subvertierend aufmerksam macht.

Anmerkungen

1 Dieser Beitrag wurde mit der freundlichen Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung verfasst, bei der ich mich an dieser Stelle bedanke.

2 »Entschließe dich, auf Goethens Pfad zu schreiten/Mit Männertritt und würdig froh gelaunt!/Sein weißer Schlafrock glänzt durch die Gezeiten.« (Hoddis 2012)

3 Online unter: https://www.biblehub.com/hebrew/4261.htm; überliefert bei 1 Könige 20:6, Isaiah 64:11.

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»Das Meer glänzte in seinem tiefsten Blau«. Eine kleine Dialektik des Mittelmeeres in Hermann Grabs Erzählung Der Mörder (Malte Spitz)
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