»(Anhalter Bahnhof)«
Topographie als Arbeit am kollektiven Gedächtnis in Emine Sevgi Özdamars Die Brücke vom Goldenen Horn
AbstractIn Emine Sevgi Özdamar’s novel The Bridge of the Golden Horn, the ruins of the Anhalter Bahnhof appear as the major landmark of Berlin. Nevertheless, Özdamar’s engagement with the site’s history has received little attention. Starting from the linguistic gesture with which Özdamar introduces the name of the destroyed railway station, this article follows her topographical work on collective memory, a work which inscribes, both in the image and the name of the place, the knowledge of an event associated with it in the past. Particular attention is paid to the procedures that make Özdamar’s narration of places and spaces the means of a minoritarian historiography: first, the alienating staging of these places through the narrative (re)presentation of performative practices, and second, their positioning in a complex field of spatial correspondences produced by the narration of a story of migration. In Özdamar’s novel, it turns out, the German as well as the Turkish history of the 1960s and 1970s enter into a constellation with that of National Socialism and the Shoah.
Title»(Anhalter Bahnhof)«. Topography as Work on Collective Memory in Emine Sevgi Özdamar’s Die Brücke vom Goldenen Horn
KeywordsEmine Sevgi Özdamar (* 1946); Berlin; topography; history; staging
Die Frage nach Özdamars Topographie Berlins kann ansetzen bei einer Parenthese: »(Anhalter Bahnhof)« (28).1 Das in Klammern gesetzte Toponym tritt im Mittelteil der Istanbul-Berlin-Trilogie,2 dem auch selbst zwischen diesen beiden Schauplätzen ausgespannten Roman Die Brücke vom Goldenen Horn, hinter die Rede von »unserem beleidigten Bahnhof« (28). Damit ergänzt es eine bereits wenige Seiten zuvor mit dem Gebäudenamen verknüpfte Formulierung, mit der die Ich-Erzählerin auf ihren früheren Sprachgebrauch als türkische ›Gastarbeiterin‹ in Westberlin zurückgreift – oder zurückzugreifen behauptet: »[…] aus dem linken Busfenster sah ich den Anhalter Bahnhof […]. Wir nannten ihn den zerbrochenen Bahnhof. Das türkische Wort für ›zerbrochen‹ bedeutete gleichzeitig auch beleidigt. So hieß er auch ›der beleidigte Bahnhof‹.« (25) Bemerkenswert ist die erneute Nennung des Gebäudenamens nicht nur aufgrund ihrer Redundanz und der ins Auge fallenden Klammerkonstruktion; als toponymische Ergänzung durchbricht sie auch die den Roman dominierende Wiedergabe des Geschehens aus der Perspektive des erlebenden Ichs. Gerade in seinem parenthetischen Gebrauch weist der auf einen konkreten Berliner Ort referierende, das deutsch-türkische Wortspiel ein zweites Mal an diesen Ort koppelnde Eigenname über den fiktionalen Raum des Romans hinaus auf einen ›wirklichen‹, in der außerliterarischen Realität Berlins verorteten Ort: »[…] wir [gingen] zu unserem beleidigten Bahnhof (Anhalter Bahnhof)« (28).
Was durch das eingeschobene Toponym auf diese nicht nur architektonische, sondern auch und vor allem diskursive und imaginäre ›Realität‹ bezogen wird, ist keine bloß beiläufige Erwähnung des ehemals bedeutenden Berliner Bahnhofs. Vielmehr folgt der Nennung seines Namens eine anspruchsvolle narrative Inszenierung des Ortes in Form der erzählerischen Wiedergabe einer Szene, die eine semantisch komplexe, atmosphärisch dichte und affektiv aufgeladene Vorstellung der als Angelpunkt von Özdamars Darstellung zumindest Westberlins fungierenden Bahnhofsruine etabliert. Ihren Stellenwert und ihre volle Bedeutung gewinnt diese allerdings erst in einem nicht minder komplexen Feld räumlicher Korrespondenzen, Parallelen und Oppositionen, die den Roman und die gesamte Trilogie strukturieren. Beides, die Passage als solche und diese Korrespondenzen, werden im Folgenden zu untersuchen sein. Dabei gehen die Auseinandersetzung mit dem politischen Gehalt des Texts und seinen literarischen Verfahrensweisen Hand in Hand: Indem der vorliegende Beitrag Özdamars Arbeit an einem konkreten Berliner Topos und ihrer literarischen Intervention in den Diskurs über den Westteil der geteilten Stadt wie auch über die wiedervereinigte deutsche Hauptstadt nachgeht (I.), führt er zugleich exemplarisch die beiden zentralen Verfahren vor Augen, die Özdamars erzählerische Gestaltung von Orten und Räumen zu einer entscheidenden Dimension ihrer minoritären Geschichtsschreibung machen: die verfremdende Inszenierung einzelner Orte durch die narrative Wiedergabe performativer Praktiken (II.) und die Relationierung dieser Orte im Rahmen einer genau kalkulierten, durch die Erzählung einer Migrationsgeschichte ermöglichten Romanstruktur (III.).3
I.
Die Ruine des monumentalen, von 1874 bis 1880 am Askanischen Platz neuerrichteten Bahnhofsgebäudes, von dem nach seiner Bombardierung durch alliierte Flieger 1945, der Sprengung des Dachs 1948 und derjenigen der Wände 1959 zum Zeitpunkt der Romanhandlung im Winter 1965/66 nur mehr der Portikus stehen geblieben war, fungiert in Die Brücke vom Goldenen Horn in mehr als einer Hinsicht als eine Art Aushängeschild Berlins. Nicht umsonst wird »Der beleidigte Bahnhof« zum Titel des ersten, überwiegend in Westberlin spielenden Teils des Buchs. Gerade in seiner Eigenschaft als ›beleidigter‹ steht der Anhalter Bahnhof in einem besonderen, paradigmatischen oder doch zumindest bezeichnenden Verhältnis zu (West-)Berlin als einer gleichfalls »beleidigte[n]« (101), durch Übellaunigkeit, Neid und Missgunst der Bewohner:innen, aber auch durch Einschusslöcher an den Hauswänden, stehengebliebene Ruinen und (besonders bei Nacht bedrohlich erscheinende) Lücken in den Häuserreihen gekennzeichneten Stadt.4
Dabei geht die Wahrnehmung des zerstörten Bahnhofs derjenigen der Stadt voraus. Die etwa achtzehnjährige Protagonistin und Ich-Figur, die aus Istanbul nach Berlin gekommen ist, um sich durch die Arbeit in einer Fabrik Geld für den Besuch einer Schauspielschule zu verdienen, stößt auf die Bahnhofsruine, weil sich diese in unmittelbarer Nachbarschaft des Wohnheims befindet, in dem sie mit ihren Kolleginnen untergebracht ist. Während die anderen Frauen abends vor dem Fernseher sitzen, gehen die drei jüngsten zur Imbissbude gegenüber des Wohnheims:
Der Mann machte Bouletten aus Pferden – wir wußten es nicht, weil wir kein Deutsch konnten. Bouletten waren das Lieblingsessen unserer Mütter. Die Pferdebouletten in der Hand, gingen wir zu unserem beleidigten Bahnhof (Anhalter Bahnhof), aßen die Pferde und schauten auf die schwach beleuchteten türkischen Frauenwonaymfenster. Der beleidigte Bahnhof war nicht mehr als eine kaputte Wand und ein Vorbau mit drei Eingangstoren. Wenn wir mit den Imbißboulettentüten in der Nacht ein Geräusch machten, hielten wir den Atem an und wußten nicht, ob wir es waren oder jemand anderes. Dort auf dem Boden des beleidigten Bahnhofs verloren wir die Zeit. Jeden Morgen war dieser tote Bahnhof wachgeworden, Menschen sind da gelaufen, die jetzt nicht mehr da waren. Wenn wir drei Mädchen da liefen, kam mir mein Leben schon durchlebt vor. Wir gingen durch ein Loch hinein, gingen bis zum Ende des Grundstücks, ohne zu sprechen. Dann liefen wir, ohne es uns zu sagen, rückwärts zurück bis zum Loch, das vielleicht einmal die Tür vom beleidigten Bahnhof gewesen war. Und beim Rückwärtslaufen pusteten wir unseren Atem laut heraus. Es war kalt, die Nacht und die Kälte nahmen unseren lauten Atem und machten ihn zu dichtem Rauch. Dann gingen wir wieder zur Straße, ich schaute hinter mich, um unsere Atemreste von vorhin hinter dem Türloch in der Luft noch zu sehen. Es sah so aus, als ob der Bahnhof in einer ganz anderen Zeit stand. (29)
Das Unheimliche, nicht recht Geheure der Szene erklärt sich zunächst einfach aus der Nacht, der Kälte und der Verlassenheit der Bahnhofsruine. Natürlich ist es auch bereits vorbereitet durch die wenig appetitlichen Pferdebouletten, die die jungen Türkinnen essen, ohne zu wissen, womit sie es eigentlich zu tun haben. Aber es erklärt sich daraus nicht zureichend. Was der Szene ihren beklemmenden Charakter verleiht, ist etwas anderes: die Präsenz einer Abwesenheit, die bis zu einem gewissen Grad bereits für die jungen Frauen wahrnehmbar wird, als genuin sprachlich artikulierte jedoch vor allem für die Leser:innen Bedeutung gewinnt.
Lässt sich die Ungewissheit, »ob wir es waren oder jemand anderes«, zunächst noch plausibel auf das Ängstigende der nächtlichen Situation beziehen, so kommt mit dem Verlieren und Verlorengehen der Zeit etwas anderes ins Spiel. Dabei handelt es sich zunächst einfach um eine historisierende Perspektive, wie sie der Ruinencharakter des Gebäudes nahelegt: »Jeden Morgen war dieser tote Bahnhof wachgeworden, Menschen sind da gelaufen, die jetzt nicht mehr da waren.« Das ist das Schicksal der meisten Ruinen, betrifft hier jedoch einen Bahnhof als Ort der Begegnung und der Verbindung mit anderen Orten, was innerhalb der von Özdamar erzählten Migrationsgeschichte von besonderer Bedeutung ist. Betont freilich wird weniger der Ort selbst als die Menschen, die »jetzt nicht mehr da« sind. Dieser Hinweis verbindet sich mit einer Semantik des Todes und einer Bedrücktheit der Ich-Figur, die auf mehr zu verweisen scheinen als nur ein allgemeines ›nevermore‹. Nicht bloß der Bahnhof selbst wird als ›toter‹ bezeichnet; auch die Ich-Figur erfährt ihr Leben als »schon durchlebt«. Dazu passt die Umkehrung der Bewegungsrichtung bei der Erkundung des Bahnhofsgeländes, die mit einer an Filme erinnernden Formulierung als »Rückwärtslaufen« beschrieben wird. Als seien sie an eine Grenze gestoßen, an der sich ein Weitergehen auf besonders eindringliche Weise verbietet, gehen die drei jungen Frauen nicht einfach zurück, sondern »rückwärts zurück«.
Das für die gesamte Passage entscheidende Moment aber ist der zunächst angehaltene und dann ausgestoßene Atem, dessen Visualisierung auch andere zentrale Szenen der Trilogie bestimmt.5 Denn »die Nacht und die Kälte« verwandeln diesen »Atem« in »Rauch«, machen ihn sichtbar, indem sie ihn gefrieren lassen, sodass er, sprachlich und visuell nochmals verwandelt, in Form von »Atemresten« noch von der Straße aus wahrnehmbar ist. Diese »Atemreste«, sichtbare Überbleibsel und Spuren der grundlegendsten menschlichen Vitalfunktion, bestimmen als für die beteiligten Figuren visuelle, für die Leser:innen aber auch sprachliche Eintragungen und Einschreibungen fortan die Vorstellung der Portalruine und den in der zitierten Passage viermal so bezeichneten »beleidigten Bahnhof« als einen fiktionalen Ort und romanimmanenten, im Textverlauf mehrfach wieder aufgerufenen Topos – eben jenen Ort also, dessen andere, in Klammern gesetzte Benennung so insistierend auf eine Wirklichkeit außerhalb des Romans deutet: »(Anhalter Bahnhof)«.
Wenn sich die türkischen »Mädchen« zunächst gefragt hatten, »ob wir es waren oder jemand anderes«, und am Ende der Szene davon die Rede ist, dass der Bahnhof »in einer ganz anderen Zeit stand«, stellt sich die Frage, auf welche andere An- und nun Abwesenheit die den Ort markierenden »Atemreste« verweisen. Die Rede von »Menschen […], die jetzt nicht mehr da waren«, scheint für sich genommen ganz offen; sie lässt sich auf alle beziehen, die den Ort bevölkerten, und, folgt man der Bewegung der jungen Frauen, vielleicht besonders auf jene, die als Fahrgäste von dort in die Welt fuhren – zumal, wenn sie keinen Rückfahrschein hatten.6 Aber sie steht eben nicht für sich, sondern bereits im unmittelbaren Satzzusammenhang im Zeichen des Adjektivs ›tot‹, das sein düsteres Licht auf die gesamte Szene, vor allem aber die mehrfach wiederkehrende Erwähnung des Atems als eines Inbegriffs menschlichen Lebens wirft, ein Adjektiv, das auch nochmals akzentuiert wird durch die Rede vom ›durchlebten Leben‹. Angesichts dieser Semantik des Todes, der düsteren Atmosphäre der Szene und der Erwähnung einer »anderen Zeit« liegt es nahe, die Verwandlung von »Atem« in »Rauch«, die Özdamar diesem Ort und dem Namen dieses Ortes einschreibt, mit der Shoah zu verbinden, mit jenem »Grab in den Lüften«, von dem Paul Celan (1952: 37) gesprochen hat, und dann auch die Deportationen zu assoziieren, die von Bahnhöfen wie diesem in die Vernichtungslager führten.
Ein Blick auf die Geschichte des Ortes stützt diese Assoziation. Wer heute die Ruine des Bahnhofsportals aufsucht, kann der Aufschrift einer im Januar 2008 errichteten Gedenkstele entnehmen, dass zwischen 1942 und 1945 vom Anhalter Bahnhof aus fast 10.000 Berliner Jüdinnen und Juden im Rahmen der sogenannten ›Alterstransporte‹ in Lager in Mittel- und Osteuropa deportiert wurden – in Sonderwaggons dritter Klasse, die an einen gewöhnlichen, frühmorgens nach Fahrplan verkehrenden Personenzug angehängt waren.7 Zur Zeit der Publikation des Romans Ende der 1990er-Jahre und erst recht zur Zeit der Handlung im Winter 1965/66 dagegen gab es keine derartige, die Bahnhofsruine als einen Gedenkort kennzeichnende und über das Geschehen informierende Stele – und zumindest zur Zeit der Handlung auch kein allgemein verbreitetes, öffentlich präsentes Wissen um diese Deportationen, wie es sich seit Mitte der 1980er-Jahre allmählich durchzusetzen begann und nach einer Reihe erinnerungspolitischer Diskussionen auch um die Nutzung des Geländes am Askanischen Platz mittlerweile vorausgesetzt werden kann.8 Özdamars Eintragung des »Rauch[s]« und der »Atemreste« in das Bild der Portalruine und die Verknüpfung dieses Bilds mit dem Toponym ›Anhalter Bahnhof‹ sind daher auch als Arbeit am kollektiven Gedächtnis zu begreifen, als eine buchstäblich topographische Arbeit, die der Vorstellung und dem Namen des Ortes das Wissen um ein mit ihm sich verbindendes spezifischeres (die von dort ausgehenden Deportationen) wie allgemeineres (die Shoah) Geschehen einschreibt9 – ein Wissen, das zum damaligen Zeitpunkt noch immer aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt oder zumindest nicht ›offiziell‹ und vor Ort sichtbar mit dem Anhalter Bahnhof verbunden wurde und das trotz aller Stelen, aller Diskussionen und allen Gedenkens auch nach wie vor verdrängt wird.10
Wissentlich oder nicht knüpft diese Arbeit an diejenige Paul Celans an, der eine einschneidende biographische Erfahrung mit dem Berliner Bahnhof verbindet.11 Auf dem Weg von Czernowitz nach Frankreich, wo er in Tours das Medizinstudium aufnehmen wollte, traf der knapp Achtzehnjährige vermutlich am Morgen des 10. November 1938, just dem Morgen nach der Pogromnacht also, in Berlin ein, von wo er schnellstmöglich weiterreiste nach Paris. Das 25 Jahre später in Die Niemandsrose erschienene Gedicht La Contrescarpe (Celan 1963: 80f.) verknüpft die Erinnerung an dieses lebensgeschichtliche, aber eben nicht nur individuell gegebene ›Datum‹ mit dem Anhalter Bahnhof und dem Wissen um den weiteren Verlauf der Geschichte:
Über Krakau
bist du gekommen, am Anhalter
Bahnhof
floß deinen Blicken ein Rauch zu,
der war schon von morgen. […] (vv 29-33)
Anders als Özdamars Roman setzen Celans Verse den Anhalter Bahnhof in Bezug zur Shoah, ohne ihn als Ort der Deportationen zu markieren.12 Die Verbindung ergibt sich aus dem spezifischen und exakt nur in Kenntnis des biographischen Zusammenhangs erschließbaren Zeitpunkt, zu dem Celan dort eintraf, nicht durch die Züge, mit denen Berliner Jüdinnen und Juden wenige Jahre später nach Theresienstadt verschleppt wurden. Dabei geht der Bruch, den dieser Zeitpunkt im Leben Celans wie in der Geschichte der europäischen Juden markiert, mitten durch die Rede vom »Anhalter / Bahnhof« hindurch. Der Verssprung, selbst auch ein Anhalten wie das des Atems bei Özdamar, lässt die Bewegung des Satzes stocken und trennt den Eigennamen, der »de[n] ›Anhalter‹« in Walter Benjamins Berliner Kindheit um Neunzehnhundert noch zur »Mutterhöhle der Eisenbahnen« gemacht hatte, »wo die Lokomotiven zu Hause sein und die Züge halten mußten« (Benjamin 1972: 246), in einer Weise von der funktionsbezogenen Bezeichnung, die diese radikal vereinzelt und der Befragung anheimstellt.
Die Verbindung des Anhalter Bahnhofs mit dem besagten Datum im November 1938 bestimmt auch ein zweiter die Bahnhofsruine evozierender Text, mit dem Celan auf eine spätere Erfahrung Bezug nimmt. Während seines einzigen längeren Aufenthalts in Berlin im Dezember 1967 entstanden drei Gedichte, die später den posthum erschienenen Band Schneepart eröffneten (vgl. Kelletat 1984: 18). Das letzte der drei, Lila Luft, erwähnt noch einmal den Anhalter Bahnhof, dessen »gespensterhaft stehengelassene Fassade« (Szondi 1973: 119) Celan in der Nacht vom 19. zum 20. Dezember nach einem Gespräch über seine frühere Durchreise besucht hatte13:
LILA LUFT mit gelben Fensterflecken,
der Jakobsstab überm
Anhalter Trumm,
Kokelstunde, noch nichts
Interkurrierendes,
von der
Stehkneipe zur
Schneekneipe. (Celan 1971: 9)
Auch hier verknüpft Celan den Ort mit den Novemberpogromen und der Shoah, auf die schon La Contrescarpe verwiesen hatte. Dass sich die »gelben Fensterflecken« unmittelbar in der dunklen Luft abzeichnen, verbindet sie mit den Sternen des als »Jakobsstab« bezeichneten Oriongürtels und ruft so die gelben Sterne in Erinnerung, die jene sich anheften mussten, die in der auf ein größeres Feuer vorausdeutenden »Kokelstunde« von 1938 zum Opfer organisierter Gewalt geworden waren.14 Vom Bahnhof selbst aber ist nur ein »Trumm« geblieben, dem in seiner sperrigen Singularität nicht nur sprachlich etwas Monströses, im Changieren zwischen Monstrum und Trümmerhaufen aber auch schwer Einzuschätzendes anhaftet. In welchem Verhältnis die in der Gegenwart des Gedichts offenbar spätabendliche »Kokelstunde« zu jener früheren steht – »noch« ist nichts »Interkurrierendes« zu verzeichnen –, bleibt dabei fraglich.
Zweifellos wirft Celan mit der Rede vom »Anhalter Trumm« auch die Frage auf, was hier eigentlich steht inmitten der Stadt, und wie es hier steht. Aber das Gedicht markiert mit der »Kokelstunde« doch vor allem ein Datum und die Koinzidenz eines lebensgeschichtlichen Ereignisses mit einem historischen, das zugleich als Auftakt und Weichenstellung für die Shoah erscheint. Wenn Özdamar demgegenüber etwas an der Geschichte des Ortes selbst wahrnehmbar werden lässt, das ihn mit diesem Geschehen verbindet, so lohnt es, ihre Verfahrensweise noch einmal genauer zu betrachten und auf ihre romanimmanenten Voraussetzungen hin zu befragen.
II.
Özdamars Inszenierung von Orten, Räumen und auch Bewegungen ist Teil einer Poetik der Migration, die nicht als Poetik der Interkulturalität missverstanden und auf den Umgang mit kultureller Differenz reduziert werden darf. Ihre Spezifik gewinnt sie im Kontext der in die Trilogie eingeschriebenen Erfahrungen der Diktatur, der politischen Gewalt und der Dislozierung auf der einen und einer Programmatik der Offenheit und des Unterwegsseins auf der anderen Seite. Wenn sich Özdamars Evokation konkreter Orte und Räume als Verfremdung im Sinn Sklovskijs wie auch und vor allem Brechts begreifen lässt, als eine Verfremdung, die Orte neu zu sehen und zu verstehen gibt, so hängt dies unmittelbar mit der Fremdheit der Ich-Figur und deren minoritärer Perspektive als, je nach Roman, Kind, Arbeitsmigrantin oder Exilantin zusammen. Anders als in der Forschung oft angenommen, erschöpft sich Özdamars Erzählweise aber gerade nicht in der bloßen Wiedergabe einer minoritären Figurenperspektive, sondern nutzt diese als Ausgangspunkt und Lizenz für komplexe, am Surrealismus und mehr noch am Brechtschen Theater geschulte Erzählverfahren.15
Das gilt auch für die Szene am Anhalter Bahnhof. Voraussetzung ist hier wie für die Darstellung Berlins in Die Brücke vom Goldenen Horn überhaupt die Perspektive der erlebenden Ich-Figur als einer jungen Türkin, die sich als ›Gastarbeiterin‹ Geld für den Besuch der Theaterschule verdient, das heißt ihre soziale Unzugehörigkeit und auch Unbehaustheit sowie ihre fehlende Vertrautheit mit den lokalen Verhältnissen, für die ihr keine selbstverständlichen Wahrnehmungs- und Erklärungsmuster zur Verfügung stehen. Die verfremdende Darstellung des Bahnhofsgeländes lässt sich jedoch nicht allein der Wahrnehmung der Protagonistin zurechnen. Der bis zu diesem Punkt der Trilogie ausgesprochen szenische Charakter von Özdamars Erzählweise darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Perspektive des erlebenden Ichs überlagert wird durch diejenige des erzählenden, das aus zeitlicher Ferne auf die Geschehnisse zurückblickt. Wurde diese Distanz im ersten Teil der Trilogie nur in punktuellen Vorgriffen auf spätere Ereignisse deutlich, so markiert sie in Die Brücke vom Goldenen Horn bereits den ersten Satz des Romans: »In der Stresemannstraße gab es damals, es war das Jahr 1966 [...]« (11). Wie schon in Das Leben ist eine Karawanserei handelt es sich auch hier um einen ›verrückten‹, in sich verschobenen Blick, in dem sich die Wahrnehmung der erlebenden Ich-Figur und das Wissen – hier konkret etwa um die wahre Beschaffenheit der ›Pferdebouletten‹ –, bisweilen aber auch Staunen der zurückblickenden Ich-Erzählerin überlagern (vgl. Bay 1999: 40).
Auch dies aber beschreibt die Darstellung des zerstörten Bahnhofs nicht zureichend. Özdamars Schreibweise ist hier wie auch sonst in der Trilogie durch Verfremdungsverfahren geprägt, die auf der translatorischen und transformativen Arbeit mit verschiedenen Sprachen, Medien und Darstellungsweisen beruhen, eine Arbeit, der die Differenz zwischen erlebendem und erzählendem Ich allenfalls Raum gibt. Im unmittelbaren Kontext der Szene zeigt dies zunächst das Spiel mit dem Wort ›Wohnheim‹, dessen Schreibweise eben nicht nur einen mündlichen Akzent wiedergibt. Entgegen der Beteuerung der Ich-Erzählerin – »Wonaym sagten wir« (16) – wurde »Wonaym« ja gerade nicht gesagt. Die Buchstabenfolge erscheint vielmehr erst hier, an dieser Stelle im Text, und erst auf der Ebene der Schrift tritt auch die Pointe des bilingualen Sprachspiels deutlich hervor. Hätte die der Standardsprache orthographisch näherliegende Buchstabenfolge ›Woneim‹ zur Wiedergabe der Aussprache völlig ausgereicht, so überträgt die weitreichendere Abweichung »Wonaym« den türkischen Akzent durch die im Deutschen ungewöhnliche, im Türkischen aber umso häufigere Buchstabenkombination ›ay‹ auch ins Schriftbild und macht zugleich deutlich, dass dieses »Wonaym« kein Ort ist, an dem die jungen Frauen wirklich wohnen oder daheim sein könnten.
Ähnliches gilt für die wiederkehrende Rede vom »beleidigten Bahnhof«, die in der Literatur zu Özdamar regelmäßig als authentische Wiedergabe von Figurenrede begriffen wird. Denn wenn die gerade erst nach Deutschland gekommene Ich-Figur mit ihren türkischen Kolleginnen vom »zerbrochene[n] Bahnhof« (25) spricht, kann dies auf der Ebene der histoire nur auf Türkisch geschehen. Obwohl an der betreffenden Stelle ausdrücklich gesagt wird, dass das türkische Wort für ›zerbrochen‹ auch ›beleidigt‹ »bedeutete« (25), ist die Übersetzung aus dem Türkischen, der sich die Bezeichnung ›beleidigter Bahnhof‹ verdankt, wie schon die Erklärung des türkischen Homonyms eine Leistung der Erzählinstanz. Wenn an dieser Bezeichnung dann den ganzen Text hindurch festgehalten wird, so akzentuiert dies diejenige Bedeutung des Homonyms, die für die erlebende Ich-Figur gerade nicht im Vordergrund steht, dafür aber etwas aussagt über den Ort selbst und ihr Erleben. Dass der zerstörte Bahnhof, und später in etwas anderer Weise auch die Stadt Berlin, als ›beleidigt‹ beschrieben werden, macht dabei ein Unbehagen deutlich, das sie bei den jungen Frauen hervorrufen, und eben diese affektive Reaktion der Figuren trägt zur Semantisierung der Orte bei.16
Wie die Erwähnung der »Pferdebouletten« so rückt auch die Rede vom »beleidigten Bahnhof« das Geschehen an der Portalruine von vornherein in ein spezifisches Licht, markiert eine in sich gebrochene Perspektive, einen erheblichen affektiven Gehalt und den Bruch mit einem rein mimetischen Anspruch, der es der Passage erlaubt, umso pointierter auf eine toponymisch aufgerufene Wirklichkeit außerhalb des Romans zu verweisen. Entscheidend für die semantische Bestimmtheit der Bahnhofsruine ist jedoch die Art und Weise, in der sie performativ und narrativ in Szene gesetzt wird. Wenn es sich dabei tatsächlich um eine Inszenierung handelt, so stehen Raum und Geschehen in einem gegenüber dem gewöhnlichen Begriffsgebrauch umgekehrten Verhältnis zueinander. Das erzählte Geschehen findet hier nicht, oder zumindest nicht primär, seinen Ort im Sinn eines bloßen Schauplatzes. Vielmehr wird der Ort, an dem es sich abspielt, im Zuge dieses Geschehens, das nichts anderem gilt als der Auseinandersetzung mit diesem Ort, als konkreter Raum wenn nicht allererst hervorgebracht, so doch entfaltet und konturiert.
Auf der Ebene des Erzählten geschieht das durch körperliche Praktiken, die in ihrem pantomimisch anmutenden Charakter nicht zufällig an das Geschehen auf einer Bühne erinnern. Indem sie den Atem anhalten oder vom Ende des Grundstücks »rückwärts zurück« gehen zur Portalruine, reagieren die jungen Frauen körperlich auf die Erfahrung des Bahnhofsgeländes beziehungsweise auf etwas, das diesem anhaftet. Der hohe Affektgehalt der Passage hängt damit unmittelbar zusammen. So wenig sie aber wissen, womit sie es genau zu tun haben – »wir wußten es nicht, weil wir kein Deutsch konnten«; »wir […] wußten nicht, ob wir es waren oder jemand anderes« –, so wenig bringen die erlebenden Figuren ihre Erfahrung zur Sprache. Sie bewegen sich, »ohne zu sprechen« und »ohne es [sich] zu sagen«; ihre einzige ›Äußerung‹ ist das laute und betont körperliche ›Herauspusten‹ ihres Atems – eine hochgradig affektive Äußerung, die dank der Kälte in einem konkret materiellen Sinn Eingang findet in den Bahnhofsraum, auf den die Protagonistin abschließend noch einmal zurückblickt.
Da die Figuren nicht miteinander kommunizieren, kommt ihre Auseinandersetzung mit dem erlebten Raum jenseits des stummen Agierens nur durch die narrative Wiedergabe ihrer Empfindungen und Gedanken zur Geltung, auch das aber nur ansatzweise und im Modus des ›als ob‹ (»kam mir mein Leben schon durchlebt vor«; »als ob der Bahnhof in einer ganz anderen Zeit stand«). Bestimmtere Züge gewinnt die Reflexion allein dort, wo sich nicht nur die Stimme, sondern auch die Perspektive der rückblickenden Ich-Erzählerin mit derjenigen der erlebenden Ich-Figur überlagert, und das heißt just an der Stelle, an der nach einem räumlich distanzierenden ›dort‹ vom ›Verlieren‹ der Zeit die Rede ist: »Dort auf dem Boden des beleidigten Bahnhofs verloren wir die Zeit. Jeden Morgen war dieser tote Bahnhof wach geworden, Menschen sind da gelaufen, die jetzt nicht mehr da waren.« Das semantisch uneindeutige, zwischen Vertrödeln, Verlorenheit und einem Driften durch die Geschichte changierende ›Verlieren‹ der Zeit findet hier ein grammatikalisches Pendant im Übergang von Imperfekt zu Plusquamperfekt und Perfekt und ein narratives in demjenigen von der vorausliegenden Innensicht der erlebenden Ich-Figur zur Außensicht durch die rückblickende Ich-Erzählerin und zum Blick auf die historischen Ereignisse. Mit der festen Ordnung der Zeit verschwimmen auch die Identitäten;17 erst die Intervention des rückblickend erzählenden Ichs aber eröffnet jene historische Perspektive, in der sich dann mit der Verwandlung von »Atem« in »Rauch« eine spezifischere .
Wenn Özdamars narrative Wiedergabe der Szene an der Bahnhofsruine etwas von dem lesbar werden lässt, was zur Zeit der Handlung und noch des Erscheinens des Romans auf keiner Stele oder Gedenktafel zu lesen war, so verdankt sich diese Arbeit am kollektiven Gedächtnis also nicht bloß der besonderen Perspektive ihrer Protagonistin, sondern einer komplexen Verschränkung theatraler und narrativer Verfahren in Form der erzählerischen Wiedergabe eines körperlichen Agierens im Raum. Dabei handelt es sich um ein Agieren, bei dem sich die Figuren affektiv an die Geschichte eben des Raums herantasten, in dem sie sich bewegen, das aber den Raum auch verändert und zur Kenntlichkeit entstellt, indem es jene »Atemreste« produziert, die dann in der narrativen Wiedergabe, und das heißt auf sprachlicher Ebene, ihre spezifischeren historischen Konnotationen erhalten.
III.
Ist schon die Art und Weise, in der die Ruine des Anhalter Bahnhofs unmittelbar in Szene gesetzt wird, nicht davon zu trennen, dass und wie hier eine Migrationsgeschichte erzählt wird, so gilt dies erst recht im Hinblick auf ihr Verhältnis zu anderen im Verlauf des Romans und der ganzen Trilogie evozierten Orten. Wichtiger noch als die im Bewusstsein und vielleicht auch im Unbewussten der Ich-Figur verankerten Bezüge sind dabei solche, die sich aus der Romanarchitektur, sprachlich-motivischen Korrespondenzen oder der Wiederkehr abstrakter Raummodelle ergeben.18
Wenn der Mittelteil der Istanbul-Berlin-Trilogie unter den Titeln »Der beleidigte Bahnhof« und »Die Brücke vom Goldenen Horn« zwei Teile einander gegenüberstellt, deren erster in Berlin und deren zweiter in Istanbul spielt, ist die raumbezogene Strukturierung ja gar nicht zu übersehen. In umgekehrter Anordnung spiegelt sich in ihr die Opposition zwischen dem ersten, in der Türkei spielenden, und dem dritten, im geteilten Berlin verorteten Teil der Trilogie. Dabei werden die beiden titelgebenden Bauwerke nicht nur in besonderer Weise auf ›ihre‹ Städte bezogen, sondern auch in ein Verhältnis zueinander gesetzt. Im Verlauf des Romans konkretisiert sich dieses Verhältnis zunächst als Gegensatz. Dem düsteren Bild der Berliner Bahnhofsruine steht im zweiten Teil nicht nur das des belebten Istanbuler Bahnhofs gegenüber (vgl. 106), sondern auch und vor allem dasjenige der besagten Brücke:
Ich lief in Richtung der Brücke vom Goldenen Horn, die die beiden europäischen Teile Istanbuls verbindet. Die vielen Schiffe neben der Brücke leuchteten in der Sonne. Die langen Schatten der Menschen, die über die Brücke vom Goldenen Horn liefen, fielen von beiden Seiten der Brücke auf die Schiffe und liefen an deren weißen Körpern entlang. Manchmal fiel auch der Schatten eines Straßenhundes oder eines Esels dorthin, schwarz auf weiß. Nach dem letzten Schiff fielen die Schatten der Menschen und Tiere ins Meer und liefen dort weiter. Über diese Schatten flogen die Möwen mit ihren weißen Flügeln, auch ihre Schatten fielen aufs Wasser, und ihre Schreie mischten sich mit den Sirenen der Schiffe und dem Schreien der Straßenverkäufer. […] Alles bewegte sich sehr langsam, wie in einem zu stark belichteten, alten Slow-motion-Film. Kleine Kinder oder alte Männer trugen auf ihren Rücken aus der ottomanischen Zeit übriggebliebene Wasserkanister und verkauften das Wasser an die Menschen. (187)
In deutlichem Kontrast zu der in einer kalten Winternacht erkundeten Ruine des Berliner Bahnhofs leuchtet die hier erstmals erwähnte Istanbuler Brücke im Glanz ihres Namens,19 ist nicht nur sonnenüberflutet, sondern wirklich auch Brücke, ein verbindender Übergang, über den Menschen und Tiere gehen (oder gar fliegen). Im Rahmen des narrativen Schattenspiels, das hier implizit die kulturelle Vielfalt des im Verlauf der Trilogie mehrfach erwähnten Karagöztheaters aufruft,20 fungiert sie sogar als eine Art Hafen, von dem aus die Passantinnen und Passanten im Meer ›weiterlaufen‹ können – ganz im Unterschied zum ›Rückwärtslaufen‹ der jungen Frauen auf dem Gelände des Berliner Bahnhofs. Zugleich erweist sich das Istanbuler Wahrzeichen aber auch als ein Ort der Vielfalt, der Begegnung und der Vermischung der Stimmen – kurz als all das, was ein öffentlicher Transitraum und konkret auch ein Bahnhof sein kann und, folgt man dem Roman, sein sollte.
Was auf den ersten Blick als einfache und vielleicht allzu plakative Entgegensetzung der beiden titelgebenden Bauwerke, und in der Folge, der ihnen zugeordneten Städte erscheint, erweist sich bei näherem Hinsehen jedoch als weitaus komplexeres Verhältnis. Die binäre Struktur des Romans wird von einer chiastischen Bewegung durchkreuzt. Führt der erste Teil die Protagonistin von der Ruine des Anhalter Bahnhofs zu den Straßen, Cafés, Kinos und Theatern Berlins, so der zweite umgekehrt von den Istanbuler Straßen, Kinos und Restaurants nicht zu der Brücke vom Goldenen Horn, sondern zu deren Demontage, die die Protagonistin am Ende vom Zug nach Berlin aus beobachtet. Ähnlich wie an den Straßen Istanbuls, zu denen sie ja in vielerlei Hinsicht gehört, wird an diesem Wahrzeichen der Stadt die allmähliche Veränderung der politischen Situation in der Türkei der 1970er-Jahre ablesbar – eine Veränderung im Zeichen staatlicher Repression und zunehmend brutaler werdender politischer Gewalt, vor der die Protagonistin schließlich nach Deutschland flieht.21
Damit kommt ein weiterer Ort oder auch Raum in den Blick, der beide Städte miteinander verbindet: die ›Straße‹. Erlebt die als ›Gastarbeiterin‹ dorthin gekommene Protagonistin Westberlin zunächst nur als Abfolge geschlossener Räume (vgl. 18), so erschließt sie sich im Verlauf des Romans allmählich die Stadt. Dabei sind es nicht nur einzelne Orte, sondern vor allem die »Straßen« (169; vgl. 193) als solche, deren Eroberung zugleich als individuelle Befreiung der Ich-Figur und politischer Aufbruch im Zuge der Studentenbewegung erscheint. Ihre »Verlängerung« (238) finden sie in Treffpunkten der politischen, intellektuellen und künstlerischen Szene wie einer griechischen Kneipe oder der als »Herz der Studentenbewegung« (152) bezeichneten Filmbühne am Steinplatz – durch ihre Offenheit und auch Internationalität ausgezeichnete Orte, die für die junge Protagonistin zu Orten der Begegnung und des Aufbruchs werden. In Istanbul setzt sich diese Bewegung ins Offene zunächst fort; auch hier drängt es die Protagonistin »auf die Straße« (193) und zu deren ›Verlängerungen‹. Während sie tagsüber die Schauspielschule besucht, verkehrt sie abends an Orten wie der Cinemathek und dem Restaurant Kapitän, die mit entsprechenden Orten Berlins verglichen und bei aller Aufmerksamkeit für Unterschiede auch parallelisiert werden. Aber wie sich in Berlin der Raum für die Protagonistin geöffnet hatte, so schließt er sich in Istanbul. Mit der Zunahme faschistischen Terrors und politischer Repression, die unmittelbar ablesbar wird an Blutflecken in Hauseingängen und der Schließung von Orten wie der Cinemathek, verschließen sich auch die »Straßen«, die mit der Verhängung des Kriegsrechts nach dem Militärputsch im Jahr 1971 genauso »verboten« werden wie ein Großteil der »Filme und Theaterstücke« (311).
Wenn Die Brücke vom Goldenen Horn von den gesellschaftlichen Aufbrüchen der späten 1960er-Jahre und den ihr korrespondierenden individuellen, künstlerischen, politischen und sexuellen Aufbrüchen der Ich-Figur erzählt, darf darüber also nicht vergessen werden, dass am Ende des Romans etwas ganz anderes steht. Der allmählichen Öffnung, Heterogenisierung und ›Glättung‹ des Raums im Zeichen der 68er Bewegung, die der Protagonistin in Westberlin neue Spielräume und Entwicklungsmöglichkeiten erschließt und die sich in Istanbul zunächst fortsetzt, antwortet im letzten Viertel des Romans ein Prozess der Schließung, Homogenisierung und ›Kerbung‹22 im Zeichen politischer Gewalt, der ihr diese Spielräume entzieht und den erneuten Wechsel nach Deutschland maßgeblich mit motiviert. Von diesem für die Ich-Erzählerin traumatischen Prozess wird nur mehr sprunghaft und stark gerafft berichtet. Die Demontage der titelgebenden Brücke jedoch, die kurz zuvor noch zum Ort der lautlos klagenden »Stimmen der Mütter« (292, vgl. 325) geworden war und deren Abbau am Ende des Romans mit der Abreise der Ich-Figur zusammenfällt,23 lässt sich nicht nur auf den Bruch in deren Lebensgeschichte beziehen, sondern auch als symbolischer Kulminationspunkt der politischen Entwicklung begreifen. Als Zerstörung eines Ortes der Bewegung, Begegnung und Heterogenität sowie auch der Verbindung zur multilingualen, -ethnischen und -religiösen Vergangenheit der Türkei24 besiegelt der Abbau der Brücke jene gewaltsame Unterbindung gesellschaftlicher Bewegung und kultureller Aktivität, die die Protagonistin ihr Land verlassen lässt.
Von hier aus gesehen gewinnt Özdamars Darstellung des Anhalter Bahnhofs eine zusätzliche, über die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte hinausgehende Bedeutung, die noch deutlicher hervortritt, wenn man den Vorgängerroman und den Kontext der gesamten Trilogie berücksichtigt. Der Gegensatz zwischen Orten der Offenheit, Heterogenität und Bewegung auf der einen und der Schließung, Homogenisierung und Stillstellung auf der anderen Seite bestimmt schon Das Leben ist eine Karawanserei, gewinnt dort bereits eine politische Dimension und korrespondiert auch schon einer Programmatik des Aufbrechens und der Bewegung. In diesem lebensgeschichtlichen, aber eben weit mehr als nur lebensgeschichtlichen Zusammenhang zeugt die gespenstische Portalruine zunächst von der Unterbindung und Pervertierung der Zugreise als eben jener Art der Fortbewegung, die Özdamars Ich-Figur am Ende aller drei Romane den Übergang in ein anderes Land ermöglicht. Vor allem aber zeugt sie von einer extremen Form politischer Gewalt, einer Gewalt, die der zweite, titelgebende Teil des Romans anhand der Türkei in anderer Gestalt in den Blick rücken wird. Nicht im Bewusstsein der Ich-Figur, wohl aber im Text tritt die Geschichte der Türkei in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre damit in eine Konstellation zu derjenigen des Nationalsozialismus und der Shoah. Damit wird kein historischer Zusammenhang unterstellt oder gar eine Gleichsetzung vorgenommen. Die historischen Ereignisse treten vielmehr so nebeneinander, dass ihr Verhältnis dem Nachdenken der Lesenden aufgegeben bleibt.
Dass Özdamars Auseinandersetzung mit der Ruine des Anhalter Bahnhofs erst von hier aus gesehen ihre volle Bedeutung gewinnt, bedeutet jedoch nicht, dass sie nur funktional auf die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Türkei zugeschnitten wäre. Eher umgekehrt erklären die Migrationsgeschichte und die Erfahrungen politischer Gewalt, von denen die Trilogie erzählt, die Aufmerksamkeit für die Geschichte des Ortes, die die türkischen ›Gastarbeiterinnen‹ performativ in Erfahrung bringen und die in der narrativen Wiedergabe der Szene an der Portalruine sprachlich zur Darstellung kommt. Dabei ist es nicht zufällig die Perspektive der jungen Arbeitsmigrantinnen, in der etwas an diesem Ort und der ganzen Stadt in den Blick gerät, das die Berliner und allgemeiner die deutsche Mehrheitsgesellschaft zum Zeitpunkt der Handlung nicht wahrhaben möchten und das sie zum Zeitpunkt der Abfassung des Romans erst breiter zu diskutieren beginnen. Wirklich lesbar jedoch wird die Gewaltgeschichte des Ortes und bis zu einem gewissen Grad auch der ganzen Stadt erst, indem die narrative Präsentation dem performativen Agieren und affektiven Reagieren der Protagonistinnen zusätzliche semantische Dimensionen und historische Bezugsmöglichkeiten verleiht. Nicht die simple Wiedergabe der unmittelbaren Wahrnehmung der Figuren ist es, die den »(Anhalter Bahnhof)« als »beleidigten Bahnhof« zu erkennen gibt, sondern das in sich gedoppelte und gebrochene, am Brecht’schen Theater geschulte Verfahren einer narrativen Inszenierung von Räumen, das Özdamar hier wie an anderen entscheidenden Stellen der Trilogie verwendet, um ein historisches Geschehen – und vielleicht mehr noch das Fortwirken dieses Geschehens – in den Blick zu rücken, das sich der lebensgeschichtlichen Erfahrung der Ich-Erzählerin entzieht und das auch von anderen Figuren nicht ohne weiteres erzählt werden kann. Im Fall des Anhalter Bahnhofs ist dies die erzwungene Emigration jüdischer und nichtjüdischer Bürger:innen, vor allem aber die Deportation und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden.
Topographie ist diese Rauminszenierung nicht nur im Sinn der Beschreibung oder sprachlichen Repräsentation eines Ortes, sondern auch in dem der Einschreibung und Sichtbarmachung von etwas, mit dem dieser Ort zu tun hat, ohne dass es dort unmittelbar anwesend wäre. Das aber hat zwei Dimensionen. Insofern die geschilderte Zeit, und das heißt hier das Berlin der 1960er-Jahre, im Zeichen des Verdrängten und des Verdrängens steht, stellt diese Topographie ein Bild der Vergangenheit. Im Maß hingegen, in dem es sich bei dem, was der Vorstellung und dem Namen des Ortes eingeschrieben wird, um etwas auch zum Zeitpunkt der Abfassung des Romans Verleugnetes oder Verdrängtes handelt, ist sie zugleich Arbeit am kollektiven Gedächtnis.
Anmerkungen
1 Seitenzahlen ohne zusätzliche Angaben beziehen sich hier und im Folgenden auf den Roman Die Brücke vom Goldenen Horn (Özdamar 1998).
2 Die Trilogie erschien 2006 unter dem Titel Sonne auf halbem Weg. Die Istanbul-Berlin-Trilogie (Özdamar 2006). Die drei Teile Das Leben ist eine Karawanserei (1992), Die Brücke vom Goldenen Horn (1998) und Seltsame Sterne starren zur Erde (2003) waren zunächst als eigenständige Bücher publiziert worden.
3 Dazu grundsätzlicher Bay 2023. Der vorliegende Beitrag vertieft und erweitert die dort in einem größeren Zusammenhang stehenden Überlegungen zum Anhalter Bahnhof, ohne den Begriff der minoritären Geschichtsschreibung noch einmal ausführlich zu exponieren.
4 Während sich Die Brücke vom Goldenen Horn fast ausschließlich mit Westberlin beschäftigt, nimmt der Folgeroman Seltsame Sterne auch den Ostteil der Stadt genauer in den Blick. Vgl. zu deren Darstellung u.a. Ette 2005; Bonner 2009; Prinz 2010; Schade 2010; Gezen 2015; Thiemann 2017: 93-116.
5 So vor allem diejenige auf dem Istanbuler Friedhof zu Beginn des Karawanserei-Romans und die Beschreibung der West-Berliner Wohngemeinschaft am Anfang von Seltsame Sterne. Dazu ausführlich Bay 2023.
6 Der Anhalter Bahnhof war nicht nur Ausgangspunkt des ersten Kindertransports Anfang Dezember 1938, sondern auch ein Ort, von dem aus in den 1930er-Jahren zahllose andere Flüchtende, unter ihnen Bertolt Brecht, ins Exil aufbrachen. Das Gelände hinter der Portalruine ist daher auch der Wunschstandort des seit 2018 von einer Initiative um Herta Müller und Bernd Schultz geplanten Exilmuseums.
7 Ein Foto der Stele ist einsehbar unter: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Anhalter-Bahnhof_Gedenkstele.jpg [Stand: 1.9.2022]. Für ausführlichere Informationen zur Deportationsgeschichte des Anhalter Bahnhofs vgl. Peters 2011.
8 Die in den 1980er-Jahren erschienenen Monographien zur Geschichte des Anhalter Bahnhofs (vgl. Kliem/Noack 1984; Maier 1984; Knothe 1987) lassen die Deportationen allesamt unerwähnt. Ein breiteres öffentliches Gedenken in Form von Erinnerungstafeln und Mahnmalen setzte in der ganzen Stadt erst seit Mitte der 1980er-Jahre ein, u.a. im Zuge des 1987 ins Leben gerufenen Programms Berliner Gedenktafel (vgl. Endlich 2000: 34). 1987 und 1988 entstanden die Mahnmale Pulitzbrücke und Levetzowstraße; am Bahnhof Grunewald wurden ebenfalls 1987 eine Bronzetafel und ein erstes Mahnmal eingeweiht, dem 1991 ein weiteres und im Januar 1998 das größer angelegte Mahnmal Gleis 17 folgten. Am Anhalter Bahnhof hingegen gab es bis ins 21. Jahrhundert hinein weder eine Gedenktafel noch ein Mahnmal (vgl. ebd.: 84). Allerdings wurde das Bahnhofsgelände »immer wieder zum Ort künstlerischer Installationen, die sich mit den Themen ›Vertreibung, Deportation, Vernichtung‹ auseinandersetzten«. So platzierte der englische Bildhauer Stuart Wolfe 1995 »sechzehn weiße, expressiv gestaltete Gipsfiguren rund um das Bahnhofsportal […] und gab der [aufgrund von Zerstörungen dann frühzeitig abgebrochenen; H.B.] Installation den Titel ›Holocaust-Denkmal‹« (ebd.).
9 Der historiographische Gehalt von Özdamars Trilogie wurde bisher vor allem im Blick auf den Karawanserei-Roman (vgl. insbes. Seyhan 2001) sowie, angeregt u.a. durch Andreas Huyssens (vgl. 2003) Überlegungen zu einer ›Einwanderung in die deutsche Geschichte‹ und Leslie Adelsons (vgl. 2005) Konzept der ›touching tales‹, sehr viel breiter im Hinblick auf Seltsame Sterne diskutiert. Entsprechende Arbeiten zu Die Brücke vom Goldenen Horn fokussierten vor allem die Ereignisse der 1968er Zeit in beiden Ländern und die Geschichte der Türkei in den 1970er-Jahren, vgl. insbes. Prinz 2010; Schonfield 2015; Schubert 2019. Die hier untersuchte Dimension des Topographischen blieb dabei weitgehend außen vor.
10 Bis zu einem gewissen Grad belegt dies auch die Rezeption von Özdamars Roman, in der kaum ein Beitrag den ›beleidigten Bahnhof‹ unerwähnt lässt, die skizzierte Auseinandersetzung mit der Deportationsgeschichte jedoch nirgendwo registriert wird. Eine Ausnahme bildet Katja Schuberts Beitrag zu Özdamar als ›politischer Dichterin‹, der die unmittelbar topographische Bezugnahme zwar ebenfalls übergeht, die Deportationsgeschichte des Bahnhofs aber im Kontext der Faschismus- und Migrationserfahrungen der Protagonistin aufgerufen sieht; vgl. Schubert 2018: 91-93. Andeutungen außerdem bei Konuk 2017: 167.
11 Zum Folgenden vgl. Kelletat 1984. Die Frage, wann genau und an welchem Bahnhof Celan in Berlin eintraf, diskutiert Emmerich 2020: 21-23.
12 Ausschlaggebend ist dafür neben dem »Rauch« auch der Hinweis auf Krakau. Celan ruft damit keine beliebige Station auf dem Weg von Czernowitz nach Berlin auf, sondern die größte Stadt in der Umgebung des späteren, nicht weitab dieses Weges gelegenen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau.
13 Marlies Janz (1976: Anm. 214) berichtet davon als Augenzeugin.
14 Ein gelber Fleck an der Kleidung diente bereits im Mittelalter zur zwangsweisen Kennzeichnung von Jüdinnen und Juden. Wenn in der zitierten Passage bei Özdamar erzählt wird, wie die jungen Frauen von der Portalruine aus die »schwach beleuchteten türkischen Frauenwonaymfenster« (29) betrachten, mag man darin eine Reminiszenz an Celans »Fensterflecken« sehen.
15 Auf die Nähe von Özdamars Erzählweise zu Brechts Theaterästhetik haben u.a. Withold Bonner (vgl. 2009: 122f.) und, im Blick auf Seltsame Sterne, Claudia Breger (vgl. 2012: 93-102) aufmerksam gemacht. Özdamars biographischen Bezug zum ›Brechttheater‹ referiert die gut informierte Darstellung von Ela Gezen (vgl. 2018: hier 77-103), die im Blick auf Özdamars poetische Praxis vor allem das Prinzip der Montage betont.
16 Die Bedeutung des Adjektivs ›beleidigt‹ changiert im Übergang vom Bahnhof zur Stadt. Lässt es sich auf einer ersten Ebene auf die Zerstörung und im Fall des Bahnhofs auch den Missbrauch des Gebäudes beziehen, so charakterisiert es in Bezug auf die Bevölkerung eine emotionale Beschädigung, die eben durch den Gebrauch derselben Bezeichnung mit der Zeit des Kriegs und des Nationalsozialismus in Verbindung gebracht wird.
17 Die Art und Weise, in der die jungen Frauen am Ende des Bahnhofsgeländes ihre Bewegungsrichtung umkehren, wahrt dabei die Grenze zwischen affektivem Herantasten an die Vergangenheit und identifizierender Gleichsetzung mit den Deportierten.
18 Auf die Korrespondenz unterschiedlicher Orte und auch Bewegungen in Özdamars Trilogie hat in Bezug vor allem auf Seltsame Sterne Ottmar Ette (vgl. 2005) aufmerksam gemacht. Sein Begriff der »Vektorisierung« (ebd.: 11) konzeptualisiert, wie beim Erzählen von Orten und Bewegungen andere, lebensgeschichtlich gespeicherte Orte und Bewegungen mit aufgerufen werden. Gerade für Özdamars dritten Roman, in dem die erlebende Ich-Figur bereits auf eine umfangreichere Lebensgeschichte zurückblickt, erweist sich das als produktiv (vgl. ebd.: 181-203). Trotz des autofiktionalen Charakters der Trilogie reicht eine an der Psyche der Protagonistin und Ich-Erzählerin orientierte Betrachtungsweise jedoch auch hier nicht aus.
19 Anders als im Fall des Anhalter Bahnhofs entspricht dieser Name nicht der gängigen Benennung der in Istanbul wie in Deutschland als Galatabrücke (Galata köprüsü) bezeichneten Verbindung zwischen dem historischen Zentrum der Stadt und dem neueren, ›europäisch‹ geprägten Stadtteil Beyoğlu im Norden des Goldenen Horns. Wie Benoît Ellerbach (2019: 130f.) hervorhebt, lässt sich das titelgebende Toponym auch nicht als Übersetzung einer im Türkischen gängigen Bezeichnung begreifen. Vielmehr übernimmt Özdamar mit der Rede vom ›Goldenen Horn‹ den historischen, aus dem Altgriechischen abgeleiteten Namen des hier ins Marmarameer mündenden Meeresarms. Das hat einen exotisierenden Effekt, stellt aber auch einen impliziten Bezug auf die multikulturelle Geschichte Istanbuls her.
20 In einem unmittelbar politischen Kontext zunächst im Karawanserei-Roman (vgl. Özdamar 1992: 157), erneut aber auch unmittelbar vor der Szene am Anhalter Bahnhof, wo das bunte Geschehen in der Küche des Frauenwohnheims mit dem im »traditionellen türkischen Theater« (28) verglichen wird.
21 Die gesellschaftlichen und politischen Konflikte der Nach-68er-Zeit wurden in der Türkei sehr viel gewaltsamer ausgetragen als in Deutschland. Bereits die von Süleyman Demirel seit 1965 geführte Regierung unterdrückte linke Bewegungen, tolerierte aber die Entstehung faschistischer Gruppierungen einschließlich der paramilitärischen Grauen Wölfe. In der Folge kam es zu terroristischen Aktivitäten von links und rechts. Nach dem erzwungenen Rücktritt Demirels im März 1971 regierte die neue, auf Druck des Militärs gebildete Führung repressiv unter Einsatz von Kriegsrecht, Verhaftungen und Folter. Der Terror gegen die linke Opposition setzte sich auch nach den Neuwahlen von 1973 fort; die Macht der Grauen Wölfe nahm weiter zu. Vgl. Anderson 2009: 66-70.
22 Zu den Begriffen des ›glatten‹ und ›gekerbten‹ Raums vgl. Deleuze/Guattari 1992: 657-669 et passim.
23 Özdamar datiert das Ereignis offenbar um siebzehn Jahre vor. Endgültig zumindest wurde die vierte, 1912 auf Pontons errichtete Version der Galatabrücke erst 1992 abgebaut, kurz vor Eröffnung einer neuen Pfeilerbrücke und nachdem sie bei einem Brand teilweise zerstört worden war. Vgl. Moser/Weithmann 2010: 141.
24 Neben der Bezeichnung als ›Brücke vom Goldenen Horn‹ (vgl. Anm. 19) und dem erwähnten Bezug auf das Karagöztheater belegen diese Verbindung die Wasserverkäufer mit ihren Kanistern aus der »ottomanischen Zeit« und die »große Moschee« (187) am Ende der Brücke.
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