Editorial
Die vorliegende Nummer der Zeitschrift für interkulturelle Germanistik bringt einerseits, ihrer Programmatik entsprechend, Beiträge aus den drei Teildisziplinen des Fachs zusammen; andererseits erschließt sie, aber auch das entspricht natürlich der Programmatik, Gebiete, die sie bisher nicht abdecken konnte. Aus mediävistischer Perspektive stellt Francisco Javier Muñoz-Acebes Studien zu einem ›interkulturellen Pferd‹ vor – genauer: zur realhistorischen Bedeutung des »kastellân« genannten kastilischen Pferdes im europäischen Mittelalter und zu seiner Behandlung in der mittelhochdeutschen Literatur. Die Linguistik ist mit Überlegungen von Diana Nacarlı zu der Frage vertreten, wie sich Rassismus anhand linguistischer Kategorien in sprachlichen Äußerungen identifizieren lässt – eine wichtige Vorstudie zu möglichen korpuslinguistischen Folgeprojekten. Die meisten der restlichen Abhandlungen widmen sich der mehr oder weniger (oder: auf unterschiedliche Weise) deutschsprachigen Literatur des 19. bis 21. Jahrhunderts.
Neuland für die ZiG betritt Christian Niedling mit seinem Aufsatz über die Turkuer Romantik, der die Romantik als gesamteuropäische Bewegung in den Blick nimmt und den Einfluss Herders und der Schwedischen Romantik auf die Kompilation der ersten Version des finnischen ›Nationalepos‹ Kalevala aufzeigt. Neu ist auch, und nicht nur für die ZiG, der Vorschlag von Amelie Bendheim, Thomas Emmrich und Dieter Heimböckel, systematisch dem Verhältnis von Interkultureller Literaturwissenschaft und Medizin nachzugehen, den wir in der Rubrik Aus Literatur und Theorie publizieren. Aber auch alle Abhandlungen zum 20. und 21. Jahrhundert behandeln Autor:innen, denen sich die ZiG – Irrtümer vorbehalten – bislang nicht gewidmet hat.
Rüdiger Mueller und Paola Mayer stellen mit Alexander Moritz Freys Der Mensch (1940) einen im Schweizer Exil entstandenen antirassistischen Text vor. Claudia Spiridon-Șerbu widmet sich in einer an Lotmans Kulturtheorie orientierten Lektüre Cătălin Dorian Florescus Der Nabel der Welt (2017) und stellt die Frage, inwiefern der Text der Versuchung einer Exotisierung ›des Osteuropäischen‹ entgehen kann. Csongor Lőrincz rekonstruiert die Rezeption der auf Deutsch erschienenen Werke von Péter Esterházy (1950-2016) im Kontrast zu ihrer Rezeption in Ungarn. Michael Navratil stellt die Frage, inwiefern Mithu Sanyals Identitti (2021) einen genuin literarischen Beitrag zur aktuellen Debatte um Identitätspolitik darstellt. Und Stefan Börnchen setzt sich anhand von Büke Schwarz’ Graphic Novel Jein (2020) mit Verwerfungen auseinander, die das Nachdenken über Identität und Zugehörigkeit im deutsch-türkischen Kontext erzeugt.
Abgerundet wird das Heft durch eine Rezension von Dominik Zink zu Moritz Baßlers Erfolgsbuch über Populären Realismus von 2022 sowie durch ein diesmal doppelt besetztes Forum: Sebastian Böhmer widmet sich dem Umgang der Literaturwissenschaft mit Fürst Pückler-Muskau. Seine Polemik gegen Formen des Gedenkens, die dessen zweifelhafte, so rassistische wie chauvinistische Einlassungen und Verwicklungen ignoriert, gipfelt in der Forderung nach einer systematischen Berücksichtigung des ›ganzen Fürsten‹. Anna Schwarzinger berichtet von einem Freiburger Workshop zu »Interkulturalität und Intersektionalität in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur«, der im Dezember 2022 stattgefunden hat. Die Rubrik GiG im Gespräch beschließt wie immer das Heft.
Das zweite Heft dieses Jahrgangs wird sich dem Schwerpunktthema Mediterrane Interkulturalität in der Moderne widmen – unter der Gastherausgeberschaft von Tomislav Zelić.
Bayreuth und Esch-sur-Alzette im Juni 2023
Amelie Bendheim, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer und Heinz Sieburg