7. Vorschläge für die nächsten Schritte
Wir sind gefordert, das gesamte Spektrum geistes- und sozialwissenschaftlichen Wissens für die Lösung der drängenden Fragen unserer Zeit in einem institutionellen Kontext groß angelegter Zusammenarbeit nutzbar zu machen. Dies kann jedoch nur »[i]m Geiste des Vertrauens« gelingen, den Robert B. Brandom (2021) in seinem gleichnamigen Buch heraufbeschwört und der es uns ermöglicht, die globalen sozialen Formationen zu überdenken, in denen sich das menschliche Werden im 21. Jahrhundert vollzieht.
Der Ansatz des Projekts der ›Neuen Aufklärung‹ verkoppelt gleichsam die Berücksichtigung von Wertperspektiven mit einer umfassenden Kooperation zwischen verschiedenen Bereichen der Gesellschaft und kann so die Verbindung zwischen Theorie und Praxis wiederherstellen. Er möchte mithin zu einer ganzen Reihe von kontext- und sektorübergreifenden Forschungsanstrengungen einladen, die im Folgenden kurz skizziert werden sollen:
Komplexität bewältigen
Soziale Komplexität schließt die Perspektive der ersten Person ein. Subjektive Erfahrung ist eine unverzichtbare Dimension sozialer Formationen. Systemisches Denken setzt die Berücksichtigung der sozioökonomischen, historischen Situiertheit des menschlichen Handelns im jeweiligen Kontext voraus. Die Geistes- und Sozialwissenschaften sind daher besonders gut geeignet, (1) die Entwicklung sozialer Komplexität zu beschreiben und (2) das gesellschaftliche Schema, innerhalb dessen die Sinngebung erfolgt, neu zu gestalten. Dadurch steuern sie normative Leitlinien für wünschenswerte Veränderungen bei, indem sie die komplexe Verflechtung verschiedener normativer Sphären (von der individuellen zur kollektiven Ebene und umgekehrt) untersuchen. Soziale Komplexität hat eine zirkuläre Struktur, die einer Rückkopplungsschleife. Im Zentrum dieser Struktur steht das menschliche Werden, das in natürliche und soziale Gegebenheiten eingebunden ist, auf die es einerseits Einfluss nimmt und von denen es andererseits beeinflusst wird.
Die Geistes- und Sozialwissenschaften können Instrumente zur Bewältigung von Komplexität entwickeln. Sie können zukunftsorientiert sein, indem sie realistische Utopien und Modelle für einen sozialen Wandel zum Positiven hin entwerfen, die die nicht-reduzierbare Komplexität und Kontingenz unserer individuellen und kollektiven Wertorientierung respektieren. Deshalb ist es gerade nicht ihre Aufgabe, Komplexität zu reduzieren, um schnelle, aber nicht-nachhaltige Lösungen zu entwickeln. Die Verlagerung des Lösungsraums hin zu nachhaltigen Formen der ethischen Transformation besteht darin, eine Kultur der Kreativität zu schaffen, die die Notwendigkeit erkennt, sich mit den vielen Facetten komplexer Phänomene auseinanderzusetzen.
Die Anerkennung der Komplexität untergräbt die Entscheidungsfindung also nicht, sondern ist vielmehr die Voraussetzung für deren erfolgreiche Umsetzung. Dieses wesentliche Moment der conditio humana bringen die verschiedenen Disziplinen der Geistes- und Sozialwissenschaften zum Vorschein, die es uns erlauben, zunächst gesellschaftlich wünschenswerte Ziele für die Zukunft zu identifizieren, um dann geeignete Mittel zu ihrer Verwirklichung zu finden.
Die interdisziplinäre Integration der Geistes- und Sozialwissenschaften strebt zugleich eine transsektorale Zusammenarbeit an. Echte Multiperspektivität überschreitet die Grenzen akademischer Wissensaneignung, sollte die Geistes- und Sozialwissenschaften aber integrieren und ihr Wissen in einen zukunftsorientierten Transformationsmodus einbeziehen. Indem die Geisteswissenschaften mit ihrem kritischen Instrumentarium das Wissen um Wertvorstellungen und strenge Werturteile einbringen, leisten sie einen Beitrag zum groß angelegten Projekt der Neuen Aufklärung, angesichts der globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts neue Visionen des Guten zu entwickeln.
Andersartigkeit willkommen heißen
Ein falsch verstandener Universalismus, der Differenz und Andersartigkeit ablehnt, unterdrückt entscheidende Wissensquellen all jener Individuen und Kollektive, die nicht in seine hegemonialen Konzepte passen. Die Universalität der Neuen Aufklärung hingegen ist nicht statisch, sondern geht mit einer kontinuierlichen Dekolonisierung und dynamischen Universalisierung einher. Gemeinsames Menschsein ist ein Prozess der ständigen Gestaltung und Umgestaltung, eine Aufgabe, die sowohl Vertrauen als auch Kreativität erfordert. Dazu müssen wir das Anderssein willkommen heißen, Mitgefühl und Empathie zeigen und einander zuhören. Das bedeutet, dass wir nicht im Voraus wissen, was die anderen mitbringen werden, dass wir radikal herausgefordert und möglicherweise entwurzelt werden und dass wir uns im Interesse der Förderung von Miteinander und Zusammenhalt eine Haltung der Offenheit bewahren. Auch wenn es nicht ohne Spannungen und Schwierigkeiten vonstattengeht, das Anderssein willkommen zu heißen, bedeutet dies nicht, dass es keine wahren Gemeinsamkeiten gibt, die wir aufgrund unserer Eigenschaft als Menschen teilen. Das ›Wir‹ wird immer und immer wieder konstruiert und verleugnet, in einem fortwährenden Prozess gemeinsamer Sinnfindung auf der Grundlage unseres gemeinsamen Menschseins und unserer unterschiedlichen Wissensperspektiven. Dies setzt eine sektorübergreifende Zusammenarbeit zwischen Politik, Wirtschaft, Kunst, Medien und öffentlichem Diskurs voraus, in der das Selbstverständnis einer bestimmten gesellschaftlichen Formation ausgehandelt wird.
Die Neue Aufklärung bringt ganz unterschiedliche Kenntnisse zusammen, und zwar über Sektoren, Kulturen und Problembereiche hinweg. Aus der Entwicklung kulturübergreifender Perspektiven zu einem breiten Spektrum von Themen lässt sich viel lernen. Welche unterschiedlichen Vorstellungen haben die Menschen von der Beziehung zwischen Mensch und Natur? Transkulturelle, wertorientierte Perspektiven auf Boden, Wasser, Landschaften und Tiere helfen dabei, alternative Governance- und Eigentumsstrukturen zu konzipieren, die dem Wohlergehen der Menschen ebenso zuträglich sind wie dem des Planeten. Eine Verschiebung der mentalen Landkarten in Richtung eines größeren sozialen Zusammenhalts aufgrund gemeinsamer Ziele und Bestrebungen kann durch die Untersuchung verschiedener Konstruktionen und Narrative angestoßen werden, durch die Kulturen die Machtansprüche des Individuums mit denen der Gesellschaft austarieren.
Systematisch ökologisieren
Angesichts des Klimawandels und der Umweltzerstörung – Krisen, die von einer Rationalität angetrieben werden, die technischen Fortschritt und Ethik entkoppelt – müssen Gesellschaft, Politik und Wirtschaft ökologisiert werden. Das Projekt der Ökologisierung muss systematisch sein, viele Bereiche der Gesellschaft umfassen und verschiedene Akteure zusammenbringen. Damit dies gelingt, muss grundlegend eine ökologische Perspektive eingenommen werden, die den Menschen als einen Akteur sieht, der neben anderen Lebewesen in interdependenten Ökosystemen Nischen bildet. Nur mit einer solchen Perspektive wird der sozioökonomische und politische Wandel hin zu einer nachhaltigen Lebensweise seinem Namen gerecht werden.
Eine der größten Herausforderungen liegt heute darin, die Lücke zwischen Theorie und Praxis zu schließen; viele wissen, was getan werden muss, und doch wird Jahr für Jahr nichts unternommen. Dies verlangt nach einer wertorientierten soziologischen Untersuchung erfolgreicher Strategien zur Veränderung von Produktions- und Konsummustern auf individueller wie institutioneller Ebene. Erforscht werden müssen die Praktiken und Denkweisen, die den Einzelnen motivieren und in die Lage versetzen, individuell und kollektiv nicht-nachhaltige Produktions- und Konsummuster zu überwinden. Die Untersuchung bereits bestehender alternativer Praktiken für ein umweltbewusstes Leben, etwa Transition Towns und Genossenschaften, kann neue Ansätze inspirieren. Welche Werte liegen diesen Praktiken zugrunde? Was bindet die Menschen an diese Werte und aneinander? Was sind die Bedingungen für Erfolg und Misserfolg? Wie sieht es mit der Skalierbarkeit aus, und welche Ressourcen könnten in diesem Zusammenhang hilfreich sein? Da neue Praktiken und Denkschemata neue Wertvorstellungen erfordern, tragen Kunst und Literatur entscheidend dazu bei, Geschichten, Narrative, Lieder und Kosmologien zu erschaffen, die den Menschen in die Natur eingebettet sehen.
Gesundheitswesen neu gestalten
In den vergangenen Jahrzehnten haben die Privatisierung des Gesundheitswesens, die Anzahl an verschiedensten Vermittlern zwischen Ärzten und Patienten sowie die Beteiligung multinationaler Unternehmen dramatisch zugenommen. Die Gesundheitsfürsorge wurde immer mehr bürokratisiert, politisiert und privatisiert, und die Zugangsmöglichkeiten variieren je nach Klasse, Rasse und Nationalität. Im Zuge der Covid-19-Pandemie ist deutlich geworden, wie fragil und wechselseitig abhängig unsere lokalen, nationalen und globalen Gesundheitssysteme sind. Die Pandemie erfordert neue Sichtweisen auf das, was im öffentlichen Interesse liegt. Die Kommerzialisierung der Gesundheit muss analysiert und korrigiert werden. Um welche Art von Gut handelt es sich bei der Gesundheit? Was bedeutet es, gesund zu sein? Welche Konsequenzen hätte es für die Gesellschaft, wenn Gesundheit als öffentliches Gut oder gar als Menschenrecht betrachtet würde? Und wie viel sollte die Gesellschaft für den Gesundheitssektor aufwenden?
Ein neuer wertorientierter Ansatz verlangt, dass wir die Ziele des Gesundheitssystems überdenken; nach einer langen Phase des Neoliberalismus, der ganze Bereiche der öffentlichen Gesundheit kapitalisiert hat, müssen wir die Gesundheit als öffentliches Gut wiederentdecken. Ein Gesundheitssystem, das auf den Menschen eingeht, beginnt mit der Erkenntnis, dass wir endliche, verletzliche Wesen und auf gegenseitige Fürsorge angewiesen sind. Welche nationalen Gesundheitssysteme und welche globale Gesundheitsarchitektur verbessern den Zugang und bieten den Menschen mehr qualitativ hochwertige Optionen? Wie müssen die lokalen und globalen Gesundheitsinstitutionen der Zukunft strukturiert sein, um das notwendige Maß an kollektivem Handeln und schneller Reaktion auf künftige Gesundheitskrisen zu gewährleisten?
Technologie und Kultur in Einklang bringen
Das enorme Wachstum technischen Wissens hat in den Bereichen kritische Infrastruktur, Bildung, Kommunikation, Handel, Verkehr, Nahrungsmittelproduktion und Gesundheit zu großen Fortschritten geführt und in der ganzen Welt den Lebensstandard erhöht. Die Künstliche Intelligenz hat dramatische Umbrüche im Bildungswesen bewirkt, insbesondere während der Covid-19-Pandemie, in der das personalisierte Lernen noch stärker in den Vordergrund getreten ist. Gleichzeitig ist die technologisch unterstützte Beherrschung und Ausbeutung der Natur eine der Hauptursachen für den Klimawandel und hat zur Entstehung von Echokammern, politischer Polarisierung und sozialer Fragmentierung in unseren Mediennetzwerken beigetragen. Die KI geht mit den Risiken autoritärer Überwachung und Kontrolle einher, gefährdet die Werte der individuellen Freiheit und Menschenrechte und verschärft durch wachsende Datenmonopole die Ungleichheit sowohl innerhalb der einzelnen Länder als auch zwischen ihnen.
Technologien können Freiheit und Entfaltung nur dann fördern, wenn sie vor dem Hintergrund ethischer Überlegungen zu den zentralen Werten und Resultaten entwickelt und eingesetzt werden. Es bedarf der Forschung, um die Werte und normativen Fundamente zu erarbeiten, die den globalen Standards für Nachhaltigkeit sowie verantwortungsvolle Entwicklung und Nutzung der KI-Infrastruktur zugrunde liegen. Die erfolgreiche Einführung der KI wird die Wirtschaft antreiben, die Gesellschaft umgestalten und zudem darüber bestimmen, welche Länder die Regeln für das kommende Jahrhundert vorgeben.