6. Auf dem Weg zu einer Neuen Aufklärung
Im Rahmen ihrer Beiträge zur Gestaltung einer nachhaltigen Zukunft sollten sich die Geistes- und Sozialwissenschaften nicht darauf beschränken, die Unzulänglichkeiten und sozialen Pathologien des derzeitigen Entwicklungsmodells zu kritisieren. Sie können Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verbinden, indem sie ihre verschiedenen Methoden auf Fragen von globaler sozialer Bedeutung anwenden. So können sie moderne Gesellschaftsformationen nicht nur beschreiben oder analysieren, sondern auch aktiv und kreativ gestalten. Dabei können sie sich an der Vorstellung einer wünschenswerten Zukunft orientieren – einer Vorstellung, die darauf abzielt, jene apokalyptische Sackgasse zu überwinden, die derzeit unsere gesellschaftlichen Visionen einer offenen und besseren Zukunft einschränkt.
In der heutigen kritischen Situation wird der Ruf nach einer Neuen Aufklärung laut, die es nicht mehr bei einer Fortsetzung der Projekte der europäischen Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts belässt. Eine Neue Aufklärung zeichnet sich vielmehr dadurch aus, dass sie berechtigte Kritik an den falschen Universalien und der Dialektik der alten europäischen Aufklärung übt, die zur modernen Entkopplung von technisch-wissenschaftlichem Fortschritt und den Vorstellungen von menschlichem Wohlergehen und moralischem Fortschritt geführt haben.
Charakteristisch für das aufklärerische Ethos ist die ständige Erneuerung der Verbindung zwischen Theorie und Praxis dank einer kritischen Reflexion, die aufzeigt, welche Wertvorstellungen, Denkweisen und sozialen Praktiken abgelehnt und überwunden werden sollten.64 Daraus erklärt sich auch, dass Aufklärung immer mit einem Projekt der individuellen und kollektiven Emanzipation und einer kritischen Nutzung unserer Vorstellungskraft einhergeht.65
Grundlegende Prinzipien
Vier Grundprinzipien sind für die Aufklärung kennzeichnend: Die Verteidigung der Autonomie, eine auf Freiheit und Gleichheit basierende Gesellschaft, die Gleichheit der Menschen und die Verteidigung der philosophisch-wissenschaftlichen Rationalität.
Der zentrale Gedanke hinter der Verteidigung der Autonomie liegt darin, dass die Zukunft ungewiss ist und dass die Menschheit ihr Schicksal durch reflexives, kritisches Handeln selbst in die Hand nehmen kann. Statt die Gesellschaft auf Heteronomie zu gründen, insbesondere auf Religion und essenzialistische Weltanschauungen, die die Versklavung eines Teils der Menschheit und die Aufrechterhaltung von Hierarchien rechtfertigen, propagiert die Aufklärung ein Ideal der individuellen und kollektiven Emanzipation.
Diese Art, die Autonomie zum Schlüssel der Emanzipation zu machen, erklärt auch den Wunsch, eine Gesellschaft zu errichten, die auf Freiheit und Gleichheit und nicht auf einer heteronomen und hierarchischen Ordnung beruht. Das ist der zweite Grundsatz, der die Aufklärung charakterisiert und beweist, dass sie immer auch mit einem politischen Projekt verbunden ist.
Dieses Projekt, das die Form der Demokratie oder des Republikanismus annimmt, geht Hand in Hand mit der Bekräftigung der Gleichheit aller Menschen. Dies ist das dritte Prinzip der Aufklärung. Es findet seine Konkretisierung in der Verteidigung der Menschenrechte. Der Inhalt dieser Grundsätze wird jedoch im Laufe der Zeit immer wieder neu definiert. Ihre Verteidigung erfordert vielfach eine kritische Auseinandersetzung mit den Grundlagen der vergangenen Aufklärung.
Während sich beispielsweise die erste Generation der Menschenrechte auf den politischen Bereich bezieht, konzentriert sich die zweite Generation eher auf die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen. Wenn die integrative Dynamik der heutigen liberalen Demokratien dem Grundsatz der Gleichheit treu bleiben soll, müssen Minderheiten den hegemonialen Universalismus und Eurozentrismus der vergangenen Aufklärung infrage stellen, um als vollwertige Bürger anerkannt zu werden. In gleicher Weise ergänzt die Allgemeine Erklärung der Rechte der Menschheit von 2015 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, indem sie den Schutz des natürlichen und kulturellen Erbes der Menschheit sowie die Sorge, die Lebensbedingungen künftiger Generationen nicht zu belasten, zu neuen Imperativen macht, die die Rechte des Einzelnen begrenzen.
Freiheit, Würde und Frieden zwischen den Völkern hängen nicht nur von der Erhaltung der Lebensbedingungen auf der Erde ab; es ist zudem notwendig, über das atomistische und abstrakte Fundament der vergangenen Aufklärung hinauszugehen, um die Materialität unserer Existenz und unsere Abhängigkeit von der Natur und von anderen menschlichen und nicht-menschlichen Wesen zu berücksichtigen.66
Das vierte Hauptprinzip der Aufklärung verteidigt die philosophisch-wissenschaftliche Rationalität, um Aberglauben und Mythen zu bekämpfen. Die Vernunft ist das privilegierte Instrument der Emanzipation. Sie überwindet Vorurteile und rechtfertigt die Abschaffung überholter, ungerechter und gewalttätiger Praktiken.
Zentrale Herausforderungen
Diese vier Prinzipien werden von einer Gegenaufklärung abgelehnt, deren Verachtung der Menschenrechte und Hass auf die Vernunft dem Projekt der Errichtung einer hierarchischen und heteronomen Gesellschaft dient.67 Die Gegenaufklärung stellt den Nationalismus gegen die Menschenrechte und lehnt die Idee der Einheit des Menschengeschlechts und des Kosmopolitismus ab, indem sie verkündet, dass bestimmte Gemeinschaften, die auf Tradition oder sogar Ethnizität beruhen, damit inkompatibel sind. Auf diese Weise rechtfertigt sie auch die Unterwerfung einer Nation durch eine andere sowie die Unterdrückung der einen Menschen durch die anderen.
Dieser Konflikt zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung ist besonders relevant in einer Zeit, in der wir das Erwachen von Nationalismen und die Rückkehr von Fanatismus und theokratischen Ansprüchen erleben – und in der es nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine erneut einen Krieg in Europa gibt. Auch das Misstrauen gegenüber den Wissenskanälen, also den Wissenschaften, und die Diskreditierung der demokratischen Institutionen, denen vorgeworfen wird, sie seien nicht in der Lage, die Deregulierung der Märkte zu beheben und die Ungleichheiten zu verringern, unterstreicht die Notwendigkeit, sich auf die Aufklärung zu beziehen. Es reicht jedoch nicht aus, deren Prinzipien einfach auf die aktuelle Situation anzuwenden. Vielmehr bedarf es einer Ergänzung, wie sie oben im Zusammenhang mit den Menschenrechten skizziert wurde.
Die Anthropologie der früheren Aufklärung muss ganz generell durch die Berücksichtigung des Zustandes der Erde und unserer Verwundbarkeit ergänzt werden. Dies führt zu einer Neubestimmung der Autonomie im Lichte unserer Abhängigkeit von der Natur und anderen Wesen. Neu ist diese Aufklärung schon wegen der erkenntnistheoretischen und technologischen Brüche zwischen dem 18. Jahrhundert und der heutigen Zeit, aber vor allem, weil sie erst nach der Verfinsterung der klassischen Aufklärung durch die Tragödien des 20. Jahrhunderts und der postmodernen Kritik an ihr entstanden ist.
Wer es heute wagt, von Aufklärung zu sprechen, muss sich der blinden Flecken und Fehler der vergangenen Aufklärung bewusst sein.68 Allerdings darf man die Postmoderne nicht mit der Gegenaufklärung verwechseln: Feministinnen und Postkolonialisten sind weit davon entfernt, das aufklärerische Projekt der Emanzipation und sein Gerechtigkeitsideal abzulehnen, aber sie verweisen zu Recht darauf, dass es sein Versprechen einer stärker inklusiven Gesellschaft nicht einhalten konnte. Ihre Kritik sollte ernst genommen werden: Die vergangene Aufklärung hat einen falschen Universalismus verfochten, indem sie sogenannte universelle Prinzipien dazu benutzte, um das Bestreben zu kaschieren, anderen Kulturen einen hegemonialen Lebensstil aufzuzwingen.
Nicht nur die Umkehrung der Rationalität in Irrationalität und Barbarei muss erklärt werden, sondern wir müssen uns auch der Tendenz aller Universalismen bewusst sein, hegemonial und blind für Unterschiede zu werden. Es ist dringend notwendig, die Voraussetzungen für einen echten Dialog mit anderen Kulturen zu schaffen. Und schließlich muss die Neue Aufklärung darauf abzielen, Antworten auf die aktuellen ökologischen und ökonomischen Herausforderungen zu geben, die größtenteils die Folge eines Entwicklungsmodells sind, das auf der unbegrenzten Ausbeutung der Natur, anderer Lebewesen und vieler Menschen durch die anderen beruht. Die Neue Aufklärung muss Wege aufzeigen, wie ein gerechteres und ökologisch nachhaltiges Entwicklungsmodell vorangebracht werden kann, und gleichzeitig Möglichkeiten erkunden und ausarbeiten, wie wirtschaftlicher Wohlstand und humanistische Ziele wieder miteinander gekoppelt werden können – vielleicht sogar, wie der Kapitalismus überwunden werden kann.
Das sind also die drei wichtigsten Herausforderungen der Neuen Aufklärung. Ob sie in der Lage ist, diese zu bewältigen, entscheidet über ihre weitere Bedeutung. Damit wird auch die Besonderheit und Unersetzlichkeit der Geisteswissenschaften in der heutigen Gesellschaft unterstrichen. Wenn die Geisteswissenschaften dieses Projekt einer Neuen Aufklärung voranbringen und insofern zukunftsorientiert sein können, als sie Auswege aus der gegenwärtigen Sackgasse aufzeigen, dann deshalb, weil sie versuchen, die Zusammenhänge zwischen den oben genannten politischen, ökologischen, technologischen und geopolitischen Herausforderungen zu erklären. Trotz oder gerade wegen der Vielfalt der Ansätze und Perspektiven ist es durchaus möglich, sich auf ein gemeinsames Projekt zu verständigen, das einen Horizont der Hoffnung eröffnen könnte. Um diese Einschätzung zu begründen, müssen wir zunächst einige Fragen beantworten.
Offene Fragen
Die erste Frage betrifft die Diagnose oder die Genealogie des Nihilismus. Welche ›Amputation der Vernunft‹ kann die Abwendung vom Rationalismus und jene Umkehrung des Fortschritts in Rückschritt erklären, die Phänomene wie Totalitarismus, Nazismus, Kapitalismus und die Zerstörung unseres Planeten hervorgebracht hat? Haben all diese Phänomene eine gemeinsame Wurzel? Und warum hat uns die frühere Aufklärung nicht vor einer solch destruktiven Dialektik bewahrt?
Die zweite Frage betrifft unsere Fähigkeit, einen nicht-hegemonialen Rationalismus voranzubringen. Dies impliziert eine Rückkehr zum Begriff des lateralen Universalismus, was nicht nur bedeutet, Verantwortung für den Kolonialismus der vergangenen Aufklärung zu übernehmen, sondern auch eine Kultur der Differenz im Sinne Derridas erfordert, also ein Nachdenken darüber, wie andere Kulturen uns herausfordern und neu verorten.69 Wie ist es möglich, dieses Ziel zu erreichen?
Um die erste Frage zu beantworten, ist es notwendig, den modernen und zeitgenössischen Rationalismus kritisch zu beleuchten. Eine Untersuchung der Rationalität, die darauf abzielt, die Umkehrung des Fortschritts in Rückschritt zu erklären, führt dazu, die instrumentelle Vernunft anzuprangern, die sich dadurch auszeichnet, dass sie auf reines Kalkül reduziert ist und uns nicht in die Lage versetzt, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden. Doch diese Diagnose, die wir bei Adorno und Horkheimer finden, reicht allein nicht aus. Wir müssen auch den Dualismus von Natur und Kultur hinterfragen, der den gesamten Westen durchdringt. Mit seiner radikalen Trennung zwischen Menschen und anderen Geschöpfen bringt er einen gewalttätigen Humanismus hervor, der auf der Verkennung unseres Daseins als Lebewesen beruht. Wie Claude Lévi-Strauss sagt, ist er nahezu für alle Diskriminierungen und Tragödien des 20. Jahrhunderts verantwortlich.70
Ein solcher Dualismus ist charakteristisch für unsere Zivilisation. Deshalb geht die Neue Aufklärung auch zwangsläufig mit einer anthropologischen Revolution einher, die ganze Bereiche unserer Erziehung infrage stellt. Sie fordert die Versöhnung mit unserer Endlichkeit sowie unserer leiblichen und irdischen Beschaffenheit. Neben dieser existentiellen und anthropologischen Dimension, die sich auf die Art und Weise bezieht, wie der Mensch seinen Platz in der Natur wahrnimmt, ist auch die Bedeutung der sozialen und wirtschaftlichen Strukturen hervorzuheben, die unsere Psyche formen und unser Verhalten gegenüber menschlichen und nicht-menschlichen Anderen erklären. Hierbei ist es hilfreich, mit dem Begriff des ›Schemas‹, insbesondere dem des ›Herrschaftsschemas‹ zu arbeiten (Pelluchon, 2021a: 98 f.): Ein Schema ist ein Set von bewussten und unbewussten Repräsentationen, die unsere sozialen, wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen bestimmen – eine Matrix oder ein dynamischer Apparat, der Produktionsweisen organisiert, bestimmten Aktivitäten und Objekten einen Wert zuschreibt und in die Köpfe der Menschen eindringt. Wer von einem Gesellschaftsschema spricht, meint damit, dass wir es mit einer mentalen Landkarte zu tun haben, die ein Entwicklungsmodell vorgibt. Unsere Gesellschaft unterliegt dem Schema der Herrschaft, und zwar einer dreifachen Herrschaft, wie Adorno und Horkheimer sagten: über die anderen, über die äußere Natur und über unsere innere Natur. Das Schema der Herrschaft impliziert eine räuberische Beziehung zur Natur, die Kommodifizierung von Lebewesen (einschließlich der eigenen Person), ständigen Wettbewerb und das Besessensein von Beherrschung und äußerer Kontrolle. Es verwandelt Landwirtschaft, Arbeit, Politik und sogar menschliche Beziehungen in eine Art kriegerischer Auseinandersetzung.
Heutzutage nimmt das Schema der Herrschaft die sozioökonomische Form des neoliberalen Kapitalismus an, bei dem es sich um eine Organisationsform handelt, die auf der Herrschaft des Profits und der Unterordnung aller Aktivitäten unter die Wirtschaft im engeren Sinne beruht. Doch wenn wir von einem Schema sprechen, können wir uns nicht darauf beschränken, den Kapitalismus anzuprangern, ohne zu verstehen, warum er immer noch erfolgreich ist – trotz all seiner negativen Auswirkungen in ökologischer, gesundheitlicher, sozialer und politischer Hinsicht. Obwohl der Kapitalismus uns entfremdet, haben wir ihn schließlich selbst eingeführt. Und über das, was wir selbst eingeführt haben, können wir auch verfügen.
Viele Forscher würden ihre geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse gerne in den öffentlichen Diskurs über die Gestaltung des Wirtschaftslebens einbringen.71 Doch ohne einen tiefgreifenden Mentalitätswandel wird dies wohl reines Wunschdenken bleiben. Wenn Ökologie hingegen als die Rationalität (logos) unserer Bewohnung der Erde (oikos) definiert und in ihrer ökologischen, sozialen und anthropologischen oder existenziellen Dimension verstanden wird, hat sie eine emanzipatorische Kraft: Sie kann auf das Schema der Herrschaft verzichten, weil sie voraussetzt, dass wir den engen Anthropozentrismus überwinden und den Dualismus zwischen Natur und Kultur infrage stellen. Diese existenzielle Transformation führt zur Anerkennung des Wertes eines jeden Wesens und zur Schaffung von Raum für andere Wesen. Ökologie bedeutet also die Versöhnung von Natur und Zivilisation sowohl auf der individuellen Ebene der Vorstellungen und Lebensstile als auch auf der kollektiven Ebene der strukturellen Transformationen, die mit der Neuausrichtung der Wirtschaft und der Veränderung der Produktionsweisen einhergehen.
Da die Ökologie unsere gegenseitige Abhängigkeit und die alle Lebewesen umfassende Gemeinschaft der Verwundbarkeit berücksichtigt, verändert sie unsere Denkweise und unsere mentalen Landkarten von Grund auf. Sie erzeugt auch starke Affekte wie Staunen, Mitgefühl, Dankbarkeit und den Wunsch nach Zusammenarbeit. Diese emanzipatorische Kraft erklärt, warum die Ökologie auf sozialer, wirtschaftlicher und politischer Ebene die Übersetzung des Schemas der Wertschätzung ist, das den Wert eines jeden Lebewesens und die Erhaltung der gemeinsamen Welt zu den beiden Zielen macht, an denen sich wirtschaftliche, technologische und politische Entscheidungen zu orientieren haben. Die neue Aufklärung ist daher untrennbar mit einem neuen Bild vom Menschen verbunden, das dessen Freiheit und Abhängigkeit von anderen und der Natur gleichermaßen anerkennt. Kann man diesen Humanismus verdächtigen, andere Kulturen auszugrenzen und die Herrschaft von bestimmten Nationen über andere, von Männern über Frauen, von Menschen über Tiere wieder zu festigen? Wie können wir ein gemeinsames Projekt denken, das sich auf universalisierbare Grundlagen stützt und gleichzeitig die Unterschiedlichkeit willkommen heißt, ohne die Anerkennung der Vielfalt zu einem bloßen Wort oder Alibi werden zu lassen?
Um diesen zweiten Fragenkomplex beantworten zu können, müssen wir einräumen, dass der frühere Humanismus auf elitären Kriterien beruhte, die unter Bezugnahme auf ein als Norm aufgestelltes Modell ausgewählt wurden. Im Gegensatz dazu ist der für die Neue Aufklärung charakteristische Humanismus mit seinem Beharren auf der relationalen Dimension des menschlichen Wesens und auf unserer Körperlichkeit inklusiv: Obwohl Gesellschaft und Kultur große Teile unserer Identität konstituieren, haben wir alle einen Körper und brauchen Luft, Wasser und Nahrung. Die Zerstörung der Natur stellt eine globale und universelle Bedrohung dar.
Die Wirklichkeit entsteht nicht durch eine Wahrnehmung von oben, die von einer übergeordneten Vernunft vorgegeben wird, welche den Anspruch erhebt, über eine umfassende Sicht der Dinge zu verfügen. Gleichwohl ist es möglich, Phänomene objektiv zu beschreiben, wenngleich oft nur partiell, wie die phänomenologische Methode zeigt. Die Pluralität der Ansätze ist für die Neue Aufklärung wesentlich. Sie ist ein unabgeschlossener Prozess und perspektivisch ausgerichtet. Darüber hinaus muss das Bewusstsein der Partialität ihres Ansatzes und der blinden Flecken, die ihre Perspektive bestimmen, sowie das Wissen um die Fehler, die im Namen eines arroganten Rationalismus begangen wurden, einen echten Dialog zwischen den Kulturen ermöglichen. Es geht nicht darum, andere Kulturen einfach willkommen zu heißen, um dem Vorwurf des Eurozentrismus zu entgehen. Wie Derrida in Bezug auf Europa betont, geht es darum zu verstehen, dass die Aufklärung durch ihre Differenz lebt. Sie lebt tatsächlich durch diese Differenz mit sich selbst, durch diese Kluft und ihre Selbstkritik. Das ist nicht zu verwechseln mit der Aussage, dass eine Kultur keine Identität hat. Es bedeutet, dass ihr Charakteristikum – insbesondere wenn sie ein Emanzipationsideal verteidigt – darin besteht, »›ich‹ oder ›wir‹ sagen zu können; nur in der Nicht-Identität mit sich selbst … in der Differenz mit sich selbst [avec soi] die Form eines Subjekts annehmen zu können« (Derrida, 1992, 9 f., Hervorhebung im Original).
Unter diesen Bedingungen ist es möglich, ein Gleichgewicht zwischen Universalismus und Historizität zu erreichen, das die Voraussetzung für einen interkulturellen Dialog bildet, der uns gleich zwei Sackgassen zu vermeiden hilft: den kulturellen Partikularismus und die Unmöglichkeit der Kommunikation zwischen den Völkern auf der einen Seite sowie den Eurozentrismus und kulturellen Kolonialismus auf der anderen.72 Es steht viel auf dem Spiel: Zwar versuchen die Verfechter eines jeden hegemonialen Universalismus, eine bestimmte Lebensweise zum Nachteil der anderen durchzusetzen, doch auch die Anhänger des Relativismus und des kulturellen Partikularismus, die jeden gemeinsamen Horizont leugnen, führen uns in eine Sackgasse, da sie Feindseligkeit zwischen den Völkern schüren können. Zudem bereiten sie der Gegenaufklärung und all jenen den Weg, die den Status quo und das ›business as usual‹ verteidigen statt die ökologische Wende vollziehen zu wollen.
Das Paradigma dieser interkulturellen Hermeneutik oder dieses Gleichgewichts zwischen Universalismus und Historizität ist die Übersetzung.73 So wie die Menschheit sowohl eine Einheit als auch eine Vielzahl von Menschen ist, können die Dinge auf verschiedene Weise gesagt werden und somit jedes Mal etwas anderes bedeuten. Beim Übersetzen ist man gezwungen, in der eigenen Sprache eine Entsprechung für das zu finden, was in einem anderen Idiom gesagt wird. Auf diese Weise denkt der Übersetzer gleichsam zwischen den Sprachen, öffnet sich für eine andere Art der Abbildung der Wirklichkeit und entdeckt gleichzeitig seine eigene Sprache neu. Die Dinge können immer auch anders ausgedrückt werden, sei es in einer anderen oder sogar durch eine Umformulierung in der eigenen Sprache. So kann uns ein echter Dialog mit anderen Kulturen bereichern und erhellen, insbesondere in Fragen, die unsere Beziehung zu Tod, Natur und anderen Lebewesen betreffen.