Ästhetisierung: Im Zeitalter des massenmedialen Dispositivs
Wunderwelten
»Wie Wasser, Gas und elektrischer Strom von weit her auf einen fast unmerklichen Handgriff hin in unsere Wohnungen kommen, um uns zu bedienen, so werden wir mit Bildern und mit Tonfolgen versehen werden, die sich, auf einen kleinen Griff, fast ein Zeichen einstellen und uns ebenso wieder verlassen.«1 Walter Benjamin zitierte im Jahre 1936 den Dichter Paul Valéry, um die Welt im Zustand ihrer umfassenden ästhetischen Kultur zu charakterisieren. Was Benjamin als Zukunftsvision absah, stellt sich für die Bewohner des 21. Jahrhunderts als Realität ein. Umgeben von Smartphones, Zeitschriften, Kinofilmen, Radios, Werbetafeln, Jingles, Internetbildern, Videoclips oder Fernsehreportagen – in der Hand, auf Bahnhöfen, in Einkaufszentren, an Straßenrändern, Zuhause, in Wartehallen, Filmtheatern oder Netzräumen bewegen wir uns durch ein Umfeld, das von bewegten, vertonten oder stillen Bildern, von artifiziellen Klangräumen und inszenierten Szenen modelliert wird. Vor diesen Bildnissen und Szenen stehen wir nun nicht kontemplativ wie vor Gemälden oder Installationen in Galerieräumen. Die ikonischen und akustischen Artefakte, die wie Wasser und Strom unseren Alltag umfließen, haben eine andere Qualität. Die künstlichen Bilder und Töne des Alltags scheinen in ihrer Gemengelage eine Landschaft zu formen, in der wir uns tagtäglich aufhalten. Sie bilden ein Habitat, vergleichbar in seiner Prägnanz mit anderen lebensweltlichen Aufenthaltsforen wie sozialen und politischen Interaktionsräumen, sprachlichen Diskursfeldern oder ökologischen Nischen. Innerhalb dieses audio-visuellen Habitats, so die Beobachtung, nehmen wir die ästhetischen Objekte im alltäglichen Gang der Dinge nicht wirklich einzeln wahr, sondern finden uns eingebettet in die Bilderwelten und Klangräume wie in quasi-natürliche Landschaften. Die Frage nach der Bedeutung der massenmedialen Kultur als einer Landschaft richtet sich offenbar weniger an den Modus des fokussierenden Wahrnehmens von Einzelbildnissen und Tonstücken, als vielmehr an das subtile Sein im massenmedialen Dispositiv. Wie aber positionieren wir uns in diesem Dispositiv? Welche Bedeutung haben die Bilderwelten für unsere Existenz? Beiläufig nehmen wir die öffentlichen Bilder und allgegenwärtigen Klangräume als Welt zur Kenntnis. Subtil wirken die ästhetischen Codes auf unser Selbstverständnis. Beweglich manövrieren wir in den medialen Gewässern. Die öffentlichen Bilderlandschaften und Klangräume scheinen auf nonchalante Weise als Bedeutungsträger zu wirken, Wissenskulturen zu beinhalten und Normen zu vermitteln.
Diese angenommene Präsenz und Bedeutung der massenmedialen Kultur für das humane Sein spiegelt sich in der Tendenz wider, mit der die meisten wissenschaftlichen Disziplinen den gegenwärtigen Bilderräumen und Klangwelten eine zunehmende Aufmerksamkeit schenken. Man spricht angesichts der Mächtigkeit der audio-visuellen Massenkultur insgesamt von einem medialen Dispositiv, weil artifizielle Szenen die Welt so sehr zu prägen begonnen haben, dass sie in das Zentrum des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses rücken müssen. Ob diese Diagnose angemessen ist und ob die mediale Kultur das humane Sein der Gegenwart tatsächlich so umfassend prägt, ist an dieser Stelle nicht der entscheidende Aspekt der Argumentation. Dies mag so umstritten bleiben, wie die ältere Diagnose zur diskursiven Prägung der Kultur im Zuge des ›linguistic turn‹. Entscheidend für eine epistemologische Ästhetik und die Genealogie des künstlerischen Forschens ist vielmehr der Sachverhalt, dass die kulturtheoretische Einschätzung zur Bedeutung der medialen Kultur einen Einfluss auf das Selbstverstehen der Wissenschaften hat und zu Verschiebungen in der Formation des Wissens in dem Maße beiträgt, wie sich die Künste als Erforscherinnen des diagnostizierten medialen Dispositivs in Stellung bringen.
Zwei Parameter der kulturgeschichtlichen Einschätzung zur Rolle der medialen Kultur kommen hier zusammen: die Bedeutung der Massenmedien für das kulturelle Sein und die zum Verständnis dieser Bedeutung nötigen Vehikel der Untersuchung. Kurz gesagt: Weil die Welt artifiziell ästhetisch geworden ist, bedürfen die Werkzeuge der Welterkenntnis einer thematischen und heuristischen Neujustierung – und diese Neujustierung bildet den vierten genealogischen Strang, der zum Aufkommen der künstlerischen Forschung beiträgt. Aus dem medialen Dispositiv heraus konsolidiert sich eine Kraft, welche die Kompassnadel der Wissenschaften neu ausrichtet und die künstlerische Forschung als angemessenes Untersuchungsvehikel plausibel werden lässt. Eine Fülle von ikonologischen, popkulturellen oder medialen Forschungsthemen hat sich einerseits in den bestehen Wissenschaften durchgesetzt und die medial vermittelten Bilder und Töne des Alltags sind Gegenstand fast aller Fachrichtungen – von den empirischen Wissenschaften, über die Informatik oder die Philosophie bis hin zur Kunstgeschichte, die sich traditionell schon mit den Bildern der Kunst beschäftigte, nun aber begonnen hat, auch die massenmedialen Bilderwelten zu interpretieren. Andererseits aber drängt das mediale Dispositiv die Frage auf, welche wissenschaftliche Disziplin, welche Untersuchungsmethode, welche Begegnungsart mit Welt tatsächlich angemessen auf die mediale Kultur in ihrer Eigenschaft als Umwelt humanen Seins zu antworten in der Lage ist? Welche Heuristik – verstanden als Auffindetechnik – ist geeignet, sich auf die Signatur des medialen Dispositivs einzulassen? Welche Haltung, Form und Praxis im Erkennen findet zur audio-visuellen Medienkultur?
Ausgehend von der Analyse Benjamins zur Kunst im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit aus den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts legt das mediale Dispositiv und seine Verfasstheit im 21. Jahrhundert die Vorstellung nahe, dass insbesondere die Künste in der Lage sind, angemessen reflexiv auf die mediale Kultur zu antworten, weil ihre Ausdrucksmedien nicht nur jenen der medialen Kultur entsprechen, sondern sich auch korrelativ zum Aufkommen der modernen Medien der Gegenwart entwickelt haben. Die Fotografie, der Film, virtuelle Räume oder die Installation wurden künstlerisches Mittel in dem Maße, wie sich diese Reproduktionstechniken und Darstellungsformen als visuelle Kultur durchsetzten. Betrachtet man die Herkunftsgeschichte der künstlerischen Forschung im Kontext des Aufkommens der medialen Kultur, wird deutlich, dass wir es mit einem Äquivalenzverhältnis zwischen reflexivem Einsichtsmedium und produktivem Weltmedium zu tun haben, bei dem sich nachforschende Künste und fortentwickelnde Kultur aneinander ausbilden. Ebenso wie sich die Begrifflichkeit der Geisteswissenschaften parallel zur Schriftkultur im Ritual des Kommentars entfaltet hat, ist in der künstlerischen Praxis die reflexive Bildlichkeit des ästhetischen Denkens dabei, sich zu entwickeln. Die bildenden Künste beginnen, sich ihren visuellen Forschungsgegenständen so ikonisch und produktiv anzunehmen, wie die visuelle Kultur selber ist.
Zur Rolle der Kunst als einem reflexiven Erkenntnismedium vermerkt Lambert Wiesing in seiner Bildtheorie, dass ihm die Kunst wie ein »Paralleluniversum« zur Theorie erscheine, »nämlich als der Versuch im Medium des Bildes die kategorialen Möglichkeiten eines [bildlichen] Mediums zu erforschen«.2 Wiesing geht es bei dieser Feststellung um eine künstlerische Erkenntnistheorie des Bildes: Die Bilder der Kunst erforschen die Bildlichkeit und »artifizielle Präsenz« als Phänomen, so seine Vermutung. Doch über diese Erforschung des Phänomens der Bildlichkeit hinaus, kann einem die bildende Kunst auch vorkommen, wie der Versuch im Medium der Bildlichkeit die visuelle Kultur zu erforschen. Die genealogisch relevante These ist also, dass die bildende Kunst nicht nur die kategorialen Möglichkeiten ihres eigenen Mediums zu untersuchen in der Lage ist, sondern auch die kategorialen Wirkungen, welche die Bildlichkeit auf die kulturelle Selbstwahrnehmung entfaltet und diese Fähigkeit in Korrelation zur Entwicklung der medialen Bildlichkeit entwickelt hat. Verstanden als »Paralleluniversum« zur Theorie in der Erforschung der visuellen Kultur, würde sich die Kunst dann nicht nur als eine Produzentin von Bildern erster, darstellender Ordnung im Rahmen der öffentlichen Bilderwelt entfalten, sondern auch und als eine Produzentin von Bildern zweiter, reflektierender Ordnung. Die bildende Kunst beginnt parallel zur Ausbildung der medialen Kultur bildlich über die öffentlichen Bilder nachzudenken, so die genealogische Beobachtung, und vermag zunehmend über die visuelle Kultur aufzuklären. Sie kann als Produzentin von Bildern und Initiatorin von ästhetischen Situationen ansetzen und die Bedeutung visueller Kultur in der künstlerischen Recherche prüfen, weil die Kunst sich selber korrelativ zur visuellen Kultur und wie diese medial entwickelt hat. Wie die Kunst durch das Zeitalter der visuellen Kultur zur Forscherin werden kann, zeigt eine Arbeit des Künstlerduos Fischli/Weiss – nicht ohne dabei auch spezifische Forschungsmethoden des Künstlerischen zu exemplifizieren:
Kunst im Zeitalter der visuellen Kultur
Mit der enzyklopädischen Arbeit ›Sonne Mond und Sterne‹ von 2007 untersucht das Schweizer Künstlerduo Peter Fischli und David Weiss archivarisch genau das Verhältnis von Wahrnehmung und Wirklichkeit in der visuellen Kultur ihrer Gegenwart. Die künstlerische Argumentation des Duos scheint nachzuzeichnen, inwiefern das mediale Bilderarrangement der uns allgegenwärtigen Werbung, eine Wechselwirkung eingeht, mit dem menschlichen Selbst- und Lebensverständnis – so könnte man es zusammenfassen. Die Künstler artikulieren eine anthropologische These in Hinblick auf das visuelle environment, in dem sich zumindest der westliche und urbane Teil der Menschheit vornehmlich aufhält, umzingelt von Werbung und Film, Internet und Zeitschriften, Plakaten und Broschüren.
Im Konkreten sehen wir bei ›Sonne Mond und Sterne‹ eine Installation aus bürokratisch wirkenden Bildertableaus. Ordentlich, auf langen Tischen aneinander gereiht, liegen gleichformatige Farbausdrucke. Fischli/Weiss haben über einen definierten Zeitraum systematisch Werbeanzeigen aus Zeitschriften und Magazinen gesammelt und in Kapiteln geordnet. Das Ordnende der künstlerischen Praxis als Forschung an der Bilderwelt der Werbung stellt sich bei ›Sonne Mond und Sterne‹ dabei selber aus. Die kleinformatigen A4 Bilder auf den Tischen aneinander platziert sind als Reihe präsent und erzwingen optisch das Nahetreten und damit die Geste der Betrachtung im Detail. Herunter gebeugten Hauptes gleiten die Betrachter über die Blätterserien und bewegen sich Bild für Bild durch die Kapitel medial aufbereiteter Lebensbereiche wie Familie, Konsum Freizeit und Essen. Dabei durchschreiten die Betrachter physisch den Prozess der systematischen Kategorisierung, den die künstlerische Praxis bedeutet hat. Mehr noch als die Installation fordert uns die Arbeit in Buchform auf, die Bilder Seite für Seite gleichsam als Abfolge in ihrer Darlegungsgenese zu ›lesen‹ und nicht, wie von Bildern gewohnt, positional wahrzunehmen. Die achthundertvierzig Seiten starke Publikation, die es dafür zu durchzublättern gilt, war die ursprüngliche Darreichungsform von ›Sonne Mond und Sterne‹. Die nachfolgende Installation kann auch als eine Anpassung der Künstler an die Erwartungshorizonte im Kunstbetrieb verstanden werden. Ein Kunstbetrieb, der immer noch wenig gewillt ist, die Kunst als Forschung zu akzeptieren und stattdessen das Werk als Rauminstallation fordert.3
Die künstlerische Arbeit in Buchform ist dagegen ganz bei den gesammelten Werbebildern, die es der Form nach wiederholt, in dem die in Zeitschriften gebundenen Werbeseiten neu gebunden in Buchform wieder auftreten. In diesem Künstlerbuch reihen sich ganzseitig, kommentarlos und farbenprächtig die Sammelstücke aus den Zeitschriften aneinander. Ein dickes Bilderbuch, im dem jede Doppelseite eine eigene Komposition bildet und sich im Verlauf der vielen Doppelseiten zugleich eine Themendramaturgie aufblättert: In der türkisfarbenen Themenwelt der sportlichen Körperpflegeprodukte etwa, folgt auf eine kokett-dynamisch im freien Raum laufende Brünette ein asketisches Gesicht mit katzengrünen Mandelaugen, das mit asiatischen Handbewegungen die herbstlichen Blätter von sich hält. Die Körper sind konzentriert, die Haut ist gestrafft, die Haare dicht und dunkel. Es geht um Etwas in dieser gestaltbaren Sphäre der silhouettenhaften Leiber; es geht um die richtige Form der menschlichen Figur und die Straffheit der Jugend. Diverse Doppelseiten später, im Reich der Herausforderungen an das handelnde Subjekt, ist der Grundton feurig orange. Hier wird die Glut sich türmender Anspannung in der Form des Matterhorngipfels vor apokalyptischem Brandhimmel auf der einen Buchseite geometrisch gespiegelt durch das zum Berg erhobene Stück Rindfleisch, das für Steakpfeffer wirbt, auf der anderen Seite. Rosafarben ist dagegen diverse Seiten davor der Lebensbereich der Paarung: Die kaskadierende Seide eines Hochzeitskleides linksseitig und ein zum Kuss in konkav-konvexer Passform sich näherndes Paar rechtsseitig repräsentieren hier die zupassende Geschmeidigkeit heterosexueller Vergesellschaftungsformen. Die Gesichter gleiten so schmiegsam zueinander, wie das Hochzeitskleid sich von den freiliegenden Schulterblättern zum Fußboden wallt. Während die Werbung für Köstlichkeiten, Kleidungen oder Kosmetika normalerweise als vermeintliches Extra zwischen den als eigentlich geltenden Inhalten in die Medienprodukte eingestreut ist, untersuchen Fischli/Weiss durch ihre künstlerischen Praktiken des planmäßigen Sammelns, Sortierens, Kondensierens und Darstellens dieses Extra der visuellen Kultur auf dessen eigentlichen Charakter hin.
Die genealogische Betrachtung der künstlerischen Arbeit von Fischli/Weiss, die sich vor dem Hintergrund des medialen Dispositivs als Forschung entwickelt, wird an dieser Stelle methodologisch, die Verfahren des künstlerischen Tuns analysierend, um den genealogisch relevanten Übergang von präsentativen zu reflexiven Praktiken nachzeichnen zu können. Das serielle Reihen und Ausbreiten der Bildartefakte in dieser künstlerischen Arbeit macht diese tatsächlich zu einem forschenden Beitrag und ist von methodischer Relevanz. Denn das Reihen und Ausbreiten trägt eine bezugschaffenden Ebene in die ansonsten kontextlos gestreuten Werbebilder ein. In der additiven Ausbreitung der Bildartefakte wird die Ebene der Bezüge visuelllesbar und optisch nachvollziehbar gemacht. Die Bilder von ›Sonne Mond und Sterne‹ sind keine sinnlichen Einzelereignisse oder ästhetischen Behauptungen. Sie legen – im wahrsten Sinne des Wortes – dar – im seriellen nacheinander ihrer Präsenz. Die methodische Relevanz dieses Darlegens wird deutlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass wir Bilder der Kunst ansonsten häufig als singuläre Artefakte betrachten. Paradigmatisch eingerahmt – also abgeschlossen – sind sie an die Wand gebracht. Wir stellen uns diesen Einrahmungen meist positional gegenüber. Diese Einzelbilder an der Wand sind wie Thesen ohne Argumentation. ›Sonne Mond und Sterne‹ fordert uns dagegen durch den seriellen Charakter der Bilder als einer Abfolge auf, Bezüge zwischen den Bildern herzustellen und damit die visuelle Veränderung von Bild zu Bild als eine bezogene, gleichsam narrative Struktur wahrzunehmen. Das ›Lesen‹ dieser optischen Argumentationsreihe – die Weise wie das ein sich auf das andere bezieht, indem es sich von ihm unterscheidet und doch pikturale Wiederholungen aufweist – dieses Vermögen vergleichend und identifizierend zu mustern, muss vielleicht gelernt werden, wie in anderen Disziplinen auch. »Es geht dabei nämlich« aus der Sicht des Symboltheoretikers Nelson Goodmans »um das Treffen feiner Unterschiede und das Entdecken subtiler Beziehungen, das Identifizieren von Symbolsystemen und von Charakteren innerhalb dieser Systeme und das Identifizieren dessen, was diese Charaktere denotieren und exemplifizieren.«4 Die methodische und zeichenhafte Beschaffenheit lässt sich an der Präsentationsform von ›Sonne, Mond und Sterne‹, seiner Selbstdarstellung als Genese und Abfolge besonders eindrücklich nachzeichnen: Während an den Tischen der Installation die narrative Struktur der Bilderfolge und die ordnende Praxis der Künstler durch die Bewegung des Betrachters im Abschreiten auch physisch wahrnehmbar wird, legt das Buch dem lesegewohnten Betrachter gleichsam selbstverständlich den Abfolgecharakter der Bilddokumente nahe. Diese Bilder zeigen – als Bilder in Folge – dass sie als Serie betrachtet werden wollen, dass sie als Reihe komponiert sind und dass aus ihrer Abfolge visuell komplexer Differenzen ein bezüglicher Sinn – eine Darlegung – entstehen soll.
Inhaltlich – im Sinne einer Reflexion im Kontext des medialen Zeitalters – stellen Fischli/Weiss einen enzyklopädischen Bezugskontext zwischen Werbebildern dar, der mit Anzeigen für Hochzeitskleider beginnt, dann Werbung mit Kinderbildern zeigt, gefolgt von Anzeigen für Konsumartikel, um schließlich bei den Grundbedürfnissen menschlichen Lebens, den Nahrungsmitteln zu enden.5 Es geht den Künstlern um eine Enzyklopädie menschlicher Existenz in Zeiten visueller Kultur und es geht um die Bedeutung der visuellen Kultur in der Selbstwahrnehmung des Menschen. Das ist der Erkenntnisgegenstand des künstlerischen Forschens, der im Modus der Bilderserie Bilder untersucht. Die künstlerische Forschung nimmt dabei klassische Grundkategorien humanen Lebens wie eine hypothetische Bestandsaufnahme in Gebrauch und wiederentdeckt diese in der Werbewelt – eine Welt, die eigentlich als mediale Dekoration der menschlichen Existenz gilt. Mit dieser Zusammenführung durchleuchten Fischli/Weiss die visuelle Kultur als konstitutiv, mindestens aber als korrelativ stabilisierend für das menschliche Leben.
Methodisch – im Sinne einer künstlerischen Forschung an den Inhalten – schlagen die Künstler vor, die Bilder zu sammeln, zu katalogisieren und als Serien wie Argumentationsreihen zu setzen, um den singulär behauptenden Charakter des Einzelbildes zu überwinden und visuelle, optische, bildliche Bezüge anzuzeigen. Fischli/Weiss erweisen sich mit dieser spezifischen Arbeit nicht nur als interessant, weil sie – animiert von der Bilderlandschaft im medialen Dispositiv – künstlerisch zu forschen beginnen und damit für die genealogische Herleitung der künstlerischen Forschung zeigen, wie die mediale Lebenswelt die Forschung mittels der künstlerischen medialen Praxis zu provozieren in der Lage ist. Ihre Arbeit erweist sich auch als interessant für die Suche nach methodischen Verfahren im Rahmen der künstlerischen Forschung, weil sie eine spezifisch künstlerisch-piktural-ausbreitend-darstellenden Herangehensweise in ihrer Frage an die visuelle Kultur der Gegenwart praktizieren. Der prozessorale und serielle Charakter der künstlerischen Arbeit und der sammelnde, kategorisierende, kondensierende Charakter der künstlerischen Praxis macht diese künstlerische Arbeit tatsächlich als Forschung im Sinne eines methodischen Durchschreitens von Standpunkten beschreibbar. Diese Kunst schließt sich nicht als Bild ab, sondern durchläuft ikonisch und performativ einen Prozess, der als pikturaler Einsichtsprozess beschreibbar wird. Die Bilderreihen der Künstler Fischli/Weiss im Fall von »Sonne Mond und Sterne« verlangen von den Betrachtern das physische Nachvollziehen im Abschreiten der Installation oder aber das visuelle Nachvollziehen im Durchblättern des Buchs. Es handelt sich mithin nicht um ein Werk, sondern um Praktiken sowohl der Künstler wie der Betrachter. Nicht poiesis, sondern praxis bestimmt hier das Geschehen. Die künstlerische Forschung ist eine Praxis, der es um das pikturale Reflektieren geht. Die Rede von der künstlerischen Forschung markiert nicht nur einen Aufmerksamkeitswechsel von der Werkästhetik zur Produktionsästhetik – genauer zur Praxisästhetik – sondern auch einen Paradigmenwechsel von der poiesis zur praxis, vom Werk zur Handlung – Handlungen, die auf Seiten der künstlerischen Produzenten wie der Konsumenten prozessualen Charakter haben – Produzenten und Konsumenten, die tatsächlich ebenbürtige peers als künstlerisch Forschende und betrachtend Forschende werden.
Ikonische Forschungsprogramme im Zeitalter der visuellen Kultur
Was bedeutet es, von peers im Kontext der Kunst zu sprechen? Was sind die Ebenbürtigen in der Sache des künstlerischen Forschens? Peers sind gleichwertig in Hinblick auf eine parallel zu bewältigende Aufgabe und dabei verschieden in ihrer Position. Sie können sich gegenseitig beurteilen, weil sie eine ähnliche Expertise oder Sprache haben, und befinden sich in einem geteilten Netz an Fragestellungen. Von peers im Kontext der forschenden Kunst zu sprechen, kann bedeuten, sich eine Vielzahl von künstlerischen Positionen vorzustellen, die sich gegenseitig zu kommentieren in der Lage sind, weil jede für sich und doch an einer vergleichbaren Sache arbeitet – einem Forschungsprogramm gleich, zu dem unterschiedliche Wissenschaftler aus ihrer je spezifischen Perspektive beitragen.
Die achthundertvierzig Seiten starke, telefonbuchartige Publikation ›Sonne, Mond und Sterne‹ von Fischli/Weiss war eine Auftragsarbeit des Künstlerduos für das Schweizer Medienunternehmen Ringier. Dieses Unternehmen pflegt seine jährlichen Geschäftsberichte mit wechselnder, konzeptueller Kunst zu bestücken, die sich mit dem Medienunternehmen, visueller Kultur oder Medienproduktion auseinandersetzen. Ringier schafft damit einen kontinuierlichen Rahmen für Kunst im Kontext der Medienindustrie. Der jährliche Geschäftsbericht erzeugt damit gleichsam eine Themenausstellung in der Zeit und die Kunst im jährlichen Geschäftsbericht verweist auf einen programmatischen Möglichkeitsraum künstlerischen Forschens: Die Dimension des thematisch angelegten, längerfristigen, ästhetischen Forschungsprogramms. Künstlerische Forschung verdichtet ihre Qualität in Programmen, die sich wie in den Wissenschaften aus verschiedenen künstlerischen Perspektiven und mit unterschiedlichen künstlerischen Strategien einem Themenbereich widmen. Einem Graduiertenkolleg gleich, werden seit 1997 die Ringier Jahresberichte von international aktiven Künstlerinnen und Künstlern gestaltet. Von Jahr zu Jahr können sich die Betrachtenden je anderen künstlerischen Auseinandersetzungen zu dem für Ringier zentralen Themenfeld der visuellen Medienkultur widmen. Aleksandra Mir hat 2002 eine andere Fragestellung an die Medienkultur mittels einer anderen Bildtechnik thematisiert und den Zusammenhang von Verlag und Medienwelt im Geschäftsbericht mit der Arbeit ›Hello Ringier‹ analysiert.6 Ausgehend und endend bei der Person Hans Ringier, dem Vater des derzeitigen Firmeninhabers, durchläuft den Geschäftsbericht von 2001 ein Bilderreigen mit Fotos und Zeitungsausschnitten aus dem Bildarchiv des Verlags: »Das interne Fotoarchiv mit über 10 Millionen Bildern«, schreibt Mir in dem Geschäftsbericht von 2001, »ist eine rätselhafte und faszinierende, aber auch eine unberechenbare Welt, die sich in ständiger Auseinandersetzung mit sich selbst und mit der Außenwelt befindet. Etwas pragmatischer ausgedrückt, handelt es sich um eine beharrlich wachsende Sammlung von vergangenen Nachrichten und Berichten, die oftmals in Vergessenheit geraten. Aber sobald wir die Dinge der Vergangenheit entlocken, damit sie uns helfen, die Gegenwart zu deuten, geschieht Wunderbares.«7
Das Wunderbare, von dem Mir schreibt, ist hier die Neuformation von Mediengeschichte durch die Recherchearbeit der Künstlerin am Material. Man sieht auf der Titelseite des Geschäftsberichts von 2001 Hans Ringier, den Firmenvater, als Familienvater mit seiner Tochter Annette Ringier als Mädchen auf dem Schoß. Es folgen auf der nächsten Seite zunächst ein Bild mit Annette Ringier mit ihrem Bruder Michael Ringier im Gruppenfoto, dann ein Foto von Michael Ringier und dem Steinbockdenkmal von St. Moritz, gefolgt von einem Archivbild mit dem Steinbockdenkmal von St. Moritz und Alfred Hitchcock. Auf der folgenden Seite schließen sich Alfred Hitchcock und Ingrid Bergman, Ingrid Bergman und Gregory Peck, Gregory Peck und Audrey Hepburn an. Die visuelle Aneinanderreihung von Personen schließt am Ende des Heftes wieder mit Hans Ringier. Mediengeschichte wird hier nicht nach historischen Zeitläufen geschrieben, nicht nach einer hierarchischen Ordnung der Personen geordnet, nicht nach ästhetischen Gesichtspunkten der Darstellung arrangiert und nicht nach thematischen Clustern organisiert. Die Logik der pikturalen Erzählung von Mir folgt einem metonymischen Prinzip der Nähe, nach dem Personen durch die Zufälligkeit von Ort, Zeit und fotografischem Willen aneinander gebracht und miteinander verbunden werden. Diese Geschichtsschreibung ist nicht kausal, sie ist nicht temporal, sie ist personal, weil die abgelichteten Personen sich über den Bilderrand hinweg die Hände reichen. Die künstlerische Methode der Erforschung der visuellen Medienkultur unterminiert dabei klassische Strategien der Zusammenhangsbildung und Sinnproduktion und erprobt in der Ausübung den anderen Sinnzusammenhang, der entsteht, wenn die historischen Fundstücke nach additiven Gesichtspunkten arrangiert werden. Aus der Logik der begrifflichen Geschichtsschreibung heraus, denken wir normalerweise nicht in fotografisch arrangierten Menschbezügen, wenn wir die Geschichte der visuellen Kultur zu begreifen versuchen. Wir unterteilen in private und öffentliche Bilder, wir unterscheiden nach zeitlichen Abfolgen und wir erkennen diese Kategorien auch an der Ästhetik der Fotos. Einem Schuhkasten voller Bilder gleich ist aber die visuelle Kultur tatsächlich zunächst vor uns zusammen geschoben und nichts spricht dagegen, über die Zusammenhangsraster neu zu verhandeln, nach denen Bildartefakte miteinander in Beziehung gebracht werden, um Geschichte zu erzählen – eine Geschichte über den Charakter der Medienlandschaft, in der wir leben. Im Kontext des Geschäftsberichts von Ringier artikuliert sich so der Vorschlag zu einer neuen visuellen Mediengeschichte. Mirs Methode der Systematisierung des vorfindlichen Materials erweist sich als ähnlich zur Methode von Fischli/Weiss: Sammeln, Ordnen, Reihen und in den Reihen Sinn darlegen. Wie das Künstlerduo, so erprobt auch Mir atypische Zusammenhangsbildungen. Fischli/Weiss greifen klassische Grundkategorien menschlichen Lebens auf, wie das Heiraten, Kinder-bekommen oder Essen-müssen und wiederentdecken diese Grundkategorien in der Werbewelt. Mit dieser Zusammenführung machen sie die visuelle Kultur als konstitutiv für das menschliche Leben sichtbar. Mir kehrt diese Logik um, indem sie die flüchtigen Schnappschüsse der visuellen Kultur aufgreift und daraus eine umfassende Kulturgeschichte knüpft. In beiden Fällen aber wird mit unterschiedlichen Strategien am Bedeutungsraum der visuellen Kultur geforscht und dabei formal konsequent und ikonisch relational eine je spezifische, künstlerische Forschungsmethodik vorgeschlagen und vorgelegt. Die künstlerischen Untersuchungen lassen sich als Serie oder Variation über verwandte Fragestellungen hinsichtlich der Medienlandschaft verstehen und verbinden sich (peer to peer) in einem ästhetischen Forschungsprogramm.
Wie bedeutet visuelle Forschung?
Mit ›Hello Ringier‹, der künstlerischen Arbeit von Aleksandra Mir, wird ein neues Verständnis der Mediengeschichte vorgeschlagen und in pikturaler Zusammenhangsbildung dargelegt. Mit ›Sonne, Mond und Sterne‹, der künstlerischen Arbeit von Fischli/Weiss, durchblättern wir eine Bilderserie, die eine anthropologische Behauptung über das Verhältnis von medialer Bilderwelt und menschlichem Selbstverständnis und eine medienpolitische Positionierung der Werbewelt nicht nur vorzulegen, sondern auch zu untersuchen scheint. Beide Arbeiten widmen sich thematisch dem medialen Dispositiv der Gegenwart. Beide Arbeiten exemplifizieren methodisch eine künstlerische Praxis des Sammelns und Sortierens. Hinsichtlich ihrer Darstellungsformen aber wird an ihnen eine Reihe von epistemologischen Problemfeldern offenbar: Das Problem etwa, wie genau die dargelegten, sortierten, gesammelten, kategorisierten oder geordneten visuellen Dinge hinsichtlich der untersuchten visuellen Kultur und medialen Bilderlandschaft tatsächlich auch Bedeutung generieren – inwiefern also Bilderserien lesbar sind, eine Semantik aufweisen und mithin als Symbolsystem fungiert? Oder das Problem, wie aus den Bedeutungen des Dargelegten so etwas wie Zusammenhänge oder gar Begründungen verständlich werden können – also das Problem, inwiefern bei ikonischen Auslegeordnungen von Bedeutungsbeziehungen und damit gegebenenfalls von syntaktischen Einheiten gesprochen werden kann. Wodurch entsteht im Dazwischen der Darlegung von Bildern Sinn? Nur wenn innerhalb der Bedeutungsweisen von ikonischen Symbolsystemen auch Bedeutungsbeziehungen einsichtig werden, wird man nämlich von Forschung in der Kunst sprechen mögen – eine Forschung, die sich im Rahmen eines künstlerischen Symbolsystems mitzuteilen und auch nachvollziehbar zu machen vermag, indem sie in den Beziehungsstrukturen ihrer ästhetischen Teile ikonische Bedeutung kontextualisiert.
Von der Kunst als Symbolsystem zu sprechen, bei dem es um so etwas wie ›Begründungen‹ gehen könnte oder ›Nachvollziehbarkeit‹, macht klar, dass hier eine adäquate Terminologie noch fehlt, die der künstlerischen Forschung angemessen wäre. Die Rede vom ›Argumentieren‹ in der Kunst, vom ›Lesen‹ der Artefakte, vom ›Nachweis‹ durch ikonische Äußerungen, vom ›Sätze-bilden mit Bildern‹, entspricht einer figurativen Übertragung, mittels derer aus den Sphären des begrifflichen Argumentierens und des numerischen Beweisens Worte für die Sphäre ikonischer Relationen entliehen werden. Dieser Zustand des Entlehnens epistemischer Begriffe aus den Geistes- und Naturwissenschaften wird der Eigenständigkeit künstlerischer Forschungsverfahren tatsächlich nicht gerecht und entspringt der historisch gewachsenen Ordnung des Wissens, die uns gelehrt hat, welche Vokabeln einer ernst zu nehmenden Forschung angemessen sind: beweisen, erklären, begründen, argumentieren – nicht aber ›bildern‹ oder formieren. Bei einer genaueren Betrachtung des etablierten epistemischen Vokabulars könnten wir aber tatsächlich umgekehrt die optischen und haptischen Metaphern des Erkennens und Forschens für die Epistemologie der Kunst als Wissenschaft zurückgewinnen. Ästhetische Verfahren benennende Worte wurden nämlich ihrerseits einmal metaphorisch auf die Begriffswelt und Ziffernsphäre sowie deren Weisen des Argumentierens und Beweisens übertragen: Das ›Einsehen‹ ist tatsächlich eine visuelle Angelegenheit. Doch auch die ›Aufklärung‹ verlangt eine freie Sicht. Das ›Reflektieren‹ spiegelt den Blick. Das ›Darlegen‹ wird als handgreifliche Tätigkeit des Auslegens von bedeutungshaltigen Objekten kenntlich. Das ›Diskutieren‹ meint seiner alten Bedeutung nach ein performatives Hin-und-herlaufen und ›beleuchtet‹ werden schließlich Objekte aus unterschiedlichen Perspektiven als ›Gesichtspunkte‹, weil man sich ihrer Erkenntnishaltigkeit eigentlich visuell versichern will. Durch eine provokative Verschiebung ihres »Resonanzraums«, wie die Theoretiker Gille Deleuze und Felix Guattari den beweglichen Bedeutungshorizont philosophischer Begriffe nennen, können diese epistemischen Vokabeln in die Sphäre des Bildhaften reimportiert werden, um den Aussagenkosmos der Kunst und die Symbolwelt des künstlerischen Bedeutens und Begründens formieren zu helfen. Das Desiderat der Termini ist möglicherweise weniger ernst, als es auf den ersten epistemologischen Blick scheint. Doch die Begriffe alleine sind nicht der neuralgische Punkt forschender Kunstpraxis. Nicht nur die Wahl der Worte ist zu klären, um die Begründungspraxis der Forschung benennen zu können, sondern auch die Begründungspraxis selber zu beleuchten, also die Wirkungsweisen der zusammenhangsbildenden und sinngenerierenden Verfahren ästhetischen Darlegens. Wie funktionieren die Regeln oder besser die Figuren ästhetischen Begründens? Wie werden Bedeutungszusammenhänge geschaffen, aus denen heraus ikonischer Sinn nicht nur entsteht, sondern auch dessen Genese so nachvollziehbar wird, wie eine gezeichnete Linie, auf der das Auge den Weg des Wissens nachträglich zurückverfolgen kann?8 Dieses nachvollziehende, vielleicht krakelige, aber Zusammenhänge bildende Verstehen findet in anderen Forschungsdisziplinen in Verfahren statt, die wir als diskursives Argumentieren, wiederholendes Experimentieren, regelgeleitetes Berechnen oder parametrisiertes Simulieren kennen. Die epistemischen Begriffe für diese Verfahren nachvollziehbarer Tätigkeiten sind die des Schließens, Erklärens, Beweisens oder Zeigens. Für das Forschen in der Kunst wären diese Begründungsverfahren als Einsichtsprozesse noch zu klären. Forschend einsichtige Kunst, die sich von bloßen Bekenntnissen unterscheiden will, entfaltet aus der künstlerischen Artikulation heraus den Status ihrer Behauptung. Sie will für sich beanspruchen – in Inhalt und Form – nach der Systematik ihrer eignen künstlerischen Arbeitsweise und auf dem Boden ihrer eignen künstlerischen Expertise nachvollziehbar im Sinne der krakeligen Linie zu sein. Forschende Kunst kann und will sich in diesem figurativen Sinne legitimieren – von der Herleitung ihrer Artikulationen bis zur Infragestellung ihrer Methoden des Darlegens und den Weisen ihrer symbolischen Zusammenhangsbildung. Wie also entsteht nachvollziehbarer Sinn, wenn Bilder beispielsweise seriell angeordnet sind, wie in den Fällen von ›Sonne, Mond und Sterne‹ oder ›Hello Ringier‹? Wie beziehen sich die ikonischen Einzelelemente dieser künstlerischen Arbeiten aufeinander? Wie verstehen wir künstlerische Darlegungen? Wie wird die Linie des Nachvollzugs gezogen? In welchem Maße kann die symbolische Ordnung künstlerischer Artikulationen als eine Zusammenhänge bildende Figur wirken? Wir haben es hier mit Fragen der Methodologie und Fragen einer ›Ikontik‹ zu tun – mit den ästhetischen Verfahren und Taktiken des Untersuchens und den ikonischen Weisen der Vermittlung.
Bei Aleksandra Mir und Fischli/Weiss wird durch das Serielle ihrer Bildgruppen ein methodischer Prozesscharakter der künstlerischen Praxis ablesbar. Die serielle Kunst ist einer Kette von Argumenten ähnlich, die das Thema der Forschung durch Bildperspektivwechsel verschieden wahrnehmbar in Szene setzt. Fischli/Weiss wie auch Mir wählen für diese künstlerische Darlegung in Serien ein additives Verfahren. Sie fügen Bild an Bild. Durch die Positionierung der Bilder in der Auslegeordnung oder Aneinanderreihung wird ein spezifischer, verortbarer bildnerischer Sinn zwischen den positionierten Elementen der Bilderserien geformt. Dieser Sinn entfaltet sich im Nacheinander der Einzelbilder vergleichbar einer Narration. Diese Narration ist nicht zwingend oder kausal aber sie ist relational. Dabei verweist die Angesichtigkeit der gesamten ikonischen Geschichte als einem Tableau oder einem Buch auf die Folgigkeit der ikonischen Erzählung. Die Reihung der Bilder auf den Tischen der Installation oder auf den Seiten eines Buches entspricht in ihrem geordneten Nacheinander einem ›dann‹ in Sätzen. Die Gesamtansicht der Installation wie die Folgigkeit der Seiten in Büchern kommuniziert jeweils die Kombinatorik der Grundelemente. Dieser Gesamteindruck teilt mit, dass die zur Darstellung gebrachten Bilder nicht flächig arrangiert sind und verbunden wie ein beifügendes ›und‹ in Sätzen, sondern in Reihen angeordnet, so dass sie nacheinander gemustert werden sollen. Eine bedeutungstheoretische und argumentationslogische Interpretation der Arbeit von Mir und Fischli/Weiss könnte sich auf diese Weise der Struktur des künstlerischen Artikulierens annähern. Die künstlerische Darlegung durch ›Sonne, Mond und Sterne‹ oder ›Hello Ringier‹ würde als eine ästhetische Aussage begriffen, die einen figurativ nachvollziehbaren Ausdruck artikuliert. Die künstlerischen Arbeiten würden als Verständigungsangebot ersichtlich. Doch inwiefern ähneln die Artikulationen in dieser Bilder-Ordnung-Sprache tatsächlich den Artikulationen der begrifflichen Sprache, so dass von einem addierendem ›und‹ oder einem narrativem ›dann‹ auch bei der Kunst gesprochen werden kann? Gibt es eine Semantik des Bedeutens und eine Syntaktik des Verknüpfens in der ästhetischen Aussagenbildung oder gar eine Taktik ikonischen Schlussfolgerns?9 Wie können wir uns mit Bildergebilden verständigen – etwa über Einsichten zur visuellen Kultur der Gegenwart? In dieser Frage nach der Figuration des Bildlichen als einer Kommunikationsleistung von ikonischen Artefakten zeichnet sich die Suche nach einer Bedeutungstheorie und Argumentationsstrategie für diejenige Kunst ab, die sich als Forschung behaupten will.
Wird man also von einer Ikontik sprechen müssen – einer Grammatik künstlerischer Artikulation – im Rahmen einer allgemeinen Semiologie, als Lehre von den Symbolen aller Art? Wenn die Semiologie im 20. Jahrhundert den ersten Schritt gemacht hat, außersprachliche Dinge als Symbole zu verhandeln, dann wäre in Analogie zur Lehre der sprachlichen Symbole über eine Lehre der ikonischen Symbole nachzudenken, innerhalb derer eine Grammatik als Ikontik auszuformulieren wäre, um die Folgerichtigkeit des Bedeutens für die ikonischen Zeichen ebenso diskutierbar zu machen, wie sie es für die Schriftzeichen schon ist.
1Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 1963, S. 11, Paul Valéry zitierend aus Pièces sur l’art. Paris [o.J.], S. 105 (»La conquête de l’ubiquité«).
2Vgl. Wiesing, Artifizielle Präsenz. 2005, S. 117.
3Vgl. Punta della Dogana: www.palazzograssi.it/en/exhibitions/mapping-the-studio/dogana-map/fischli-weiss-6.html (Aufruf September 2018)
4Goodman, Sprachen der Kunst, 1997 S. 223.
5The story opens with advertisements for wedding gowns (first table on the left), a metaphor of marriage as the beginning of a new life. Then come images of children, followed by the main objects of consumer desire (cars, jewels, travel, clothes, weapons etc.), ending in ads for food. The epic of human life, therefore, comes to a happy ending, with the point of arrival being food ‒ the one essential requirement for human existence and also a product that is immediately recognizable within the jungle of advertising slogans. (Ausstellungstext, Punta della Dogana: www.palazzograssi.it/en/exhibitions/mapping-the-studio/dogana-map/fischli-weiss-6.html Aufruf September 2018).
6Vgl. https://www.aleksandramir.info/projects/hello-ringier/(Aufruf September 2018).
7Mir: Hello Ringier, in: Ringier Jahresbericht 2002, 2003, S. 12.
8Auch das ›Nachvollziehen‹ ist ein praktisches künstlerisches Verfahren, dessen Begriff auf die Idee des Verstehens übertragen scheint.
9Der Begriff der ›Syntaktik‹, in den nicht ohne Brisanz die ›Taktik‹ eingebettet ist, wird hier verstanden als das Verfahren der sinngenerierenden Zusammenhangsbildung zwischen bedeutsamen Zeichen – in Abgrenzung zur Syntax, die nicht die (taktische) Kunst des Verbindens benennt, sondern die Struktur der Beziehung selber. Syntax ist das Gebilde in seiner Formiertheit. Syntaktik will dieses Gebilde als Ergebnis der Operation des Bildens von Zusammenhängen hervorkehren.