Epistemische Exempel: Eine offene Sammlung von Fällen
Wir haben es bei der Kunst als Forscherin also nicht mit Verfahren zu tun, die verallgemeinerbar wären, sondern mit singulären Fallreihen, die der Vorstellungskraft über das Mögliche folgen. Die nachdenkliche Methodologie animiert eine Kasuistik, die einzelne Vorkommnisse künstlerischer Einsicht untersucht und als spezifische Einzelfälle ästhetischen Forschens in einem Katalog versammelt. Dieser Katalog ästhetischer Methoden abstrahiert nicht, sondern akkumuliert eine Geschichte der Kunst als Forscherin. Und diese Geschichte der Kunst als Forscherin reichert Faktizitäten ästhetischen Forschens an, auf die sich traditionsbildend berufen werden kann. Die nachdenkliche Methodologie begründet damit keine Systematik, sondern eine Tradition der Kunst als Forscherin und diese Traditionsbildung auf der Grundlage ästhetischer Imagination hat schon begonnen. Der Katalog künstlerischen Forschens wird kontinuierlich erweitert – immer dort, wo sich Fälle methodischer Einsichten bereits gezeigt haben und bedacht wurden. Diese trivial klingende Feststellung, dass das, was sich gezeigt hat, auch nachträglich als methodisch beurteilt werden kann, ist dabei so wenig belanglos, wie die methodologische Diagnose, dass die forschende Kunst immer wieder neu die Methoden des Forschens in den ästhetischen Praktiken erst entwickelt und im Nachhinein dieser Entfaltung die Methoden des ästhetischen Forschens auch epistemisch bedacht werden können. Den ästhetischen Praktiken wird methodisch hinterher gedacht.
Manche Verfahren ästhetischen Einsehens drängen sich für ein Handbuch epistemischer ästhetischer Praktiken geradezu auf, wie das Diagrammatisieren, über das schon viel geschrieben wurde, weil es die Visualisierung von Denkprozessen zu exemplifizieren scheint. Diagramme werden als »neues bildwissenschaftliches Paradigma«1 diskutiert. Sie zeichnen Verstehensprozesse als Zusammenhänge im Bilde auf. Sie sind Instrumente der Einsicht, Ordnungswerkzeuge des Denkens und experimentelle Tableaus, um das Verhältnis von begrifflichen, numerischen und ikonischen Symbolen auszutarieren. Andere Verfahren bieten sich dagegen durch ihre lange Geschichte für die methodische Reflexion an: wie das Zeichnen und sein Jahrhunderte alter Gebrauch in künstlerischen wie naturwissenschaftlichen Kontexten. Wieder andere ästhetische Verfahren sind als epistemische Praktiken weniger eingängig und harren einer Nachbearbeitung im Kontext der Methodologie künstlerischen Forschens. Vielleicht gehören dazu Fälle von Montageverfahren oder Vorkommnisse von seriellen Arbeiten. Zu der methodologisch notwendigen, weil traditionsbildenden Liste von Fällen in einem sich fortschreibenden Buch der künstlerischen Forschung sei also hier zum Abschluss der Anfang gemacht mit einer Rekonstruktion einzelner, epistemischer Fälle vom Zeichnen, Montieren und Reihen…:
Zeichnen – Denklinien bilden
Was ist das Zeichnen? Die Hand erweitert sich mit dem Stift zu einem Linien bildenden Instrument. Dieses Instrument ritzt, graviert, zeichnet Striche. Unter zwei Gesichtspunkten kann das Linien bildende, Hand erweiternde Zeichnen als epistemische Praxis diskutiert werden: Als Festhaltetechnik und als Denkbewegung. Das Zeichnen fixiert in der Linie die Umrisse des Flüchtigen und es artikuliert im Kritzeln unfertige Ideen. Es kann tastende Dokumentation und performative Denkfigur sein – so lässt es sich zumindest aus den dichten Betrachtungen zeichnender Verfahren ablesen: Leonardo da Vinci hält zeichnend die Ansichten und Schichten einer sich stetig verändernden Anatomie verwesenden Gewebes fest. Alexander von Humboldt fixiert die flüchtigen Eindrücke verderblicher Blätter und nervöser Tiere durch Skizzen im Logbuch. James D. Watson zeichnet biochemische Denkfiguren im ornamentalen Gekritzel seiner Notizen und Galileo Galilei skizziert beiläufig unvollendete Gedanken zur Mondkugel als Linieneruptionen auf Briefpapier – so haben Kunsthistoriker und Kunsthistorikerinnen sowie Theoretikerinnen und Theoretiker in detaillierten Analysen über zeichnende Forscher oder forschende Zeichner herausgearbeitet.
Am Anfang der Geschichte des Zeichnens erinnert aber zunächst Plinius der Älteren an die vorzeitliche Sage vom Mädchen Dibutates aus Korinth und damit an den möglichen Ursprung der Zeichenkunst aus dem Begehren: In der Erzählung des Plinius geht es auf den ersten Blick gar nicht um das Zeichen, sondern um die Geburt der Reliefkunst durch den Töpfer Butates. Das Kapitel 43 der Naturalis Historia von Plinius berichtet von »den Erfindern der plastischen Kunst«. Aber vor der Erfindung der plastischen Kunst durch den aufmerksamen Töpfermeister Butates liegt, der Sage nach, die zeichnende Geste seiner Tochter, die angesichts der bevorstehenden Trennung von ihrem Geliebten dessen nächtlichen Schattenwurf mit Strichen an einer Wand fixiert und damit sein Profil festzuhalten gedenkt. Später findet der Vater Butates diese Strichzeichnung an der Wand, erkennt ihr Potential als Werk, füllt die Umrisse mit Ton aus, brennt den Profilkopf und erfindet so die Reliefkunst. Das Mädchen Dibutates aber begann zu zeichnen, nicht um Kunst zu machen, sondern weil sie festhalten wollte. Sie dokumentierte mit den zeichnenden Fingern tastend das Profil des Jungen als Linienfigur an der Wand.
Die epistemische Qualität dieser linienbildenden Festhaltetechnik offenbart sich im Laufe der Geschichte des Zeichnens dann etwa bei Leonardo da Vinci und seinen verzeichnenden Dokumentationen des menschlichen Körpers oder bei Alexander von Humboldt und seinen Skizzen von Pflanzen und Tieren in den Reiseheften. Erinnern wir uns an den Forschungsreisenden Humboldt, wie wir ihn an anderer Stelle und unter anderer Fragestellung schon beschrieben haben2: Humboldt fertigt neben schriftlichen Notizen und numerischen Daten in seinen Tagebüchern auch skizzenhafte Zeichnungen von Tieren, Pflanzen und Gegenden an, die seiner Erforschung der tropischen Natur dienen. Diese Zeichnungen machen die Tropenwelt für Humboldt nicht nur begrifflich und numerisch durch Worte und Zahlen begreiflich, sondern auch bildlich durch Zeichnungen nachvollziehbar.3 Als folgten die Fingerkuppen den Umrissen und Adern der noch lebendigen Pflanzenblätter, so zeichnen die Linien des Stifts als tastende Dokumentationen in den Heften von Humboldt die tropischen Erkenntnisgegenstände nach. Demgegenüber sind die ausgestopften Affen oder gepressten Pflanzenblätter, die Humboldt ebenso als Beweise der Fauna und Flora tropischer Natur anfertigen lässt und nach Europa verfrachtet, zwar der echte Forschungsgegenstand selber und damit gleichsam für den Prozess der forschenden Analyse objektiver geeignet als die gezeichneten Skizzen derselben Sachen. Zugleich aber haben diese gepressten oder gestopften Forschungsbeutestücke ein wesentliches Merkmal ihres Daseins verloren: ihr Lebendig-Sein. Die Erscheinungsform des lebendigen Dings kann in einer Weise in der Zeichnung festgehalten werden, wie es in späteren Jahrhunderten auch die Fotoapparate oder Filmkameras auf den Feldforschungsreisen der Naturforscher und Anthropologen leisten werden. Zeichnungen, Fotos oder Filme können im ästhetischen Modus des Bildes die Lebenssäfte der Pflanzen oder die aufmerksamen Blicke und wendigen Bewegungen der kleinen Äffchen dokumentieren. Das Zeichnen vermag in der Linienbildung die Realität des Flüchtigen festzuhalten. Es kann das Ephemere veranschaulichen, wie ein Filmstill den schnellen Film zum kontemplativen Stillstand bringt ohne ihn zu zerstören. Solchermaßen zum Einsatz gebracht, wird das Zeichnen im Einzelfall zur forschenden Methode und bringt Ansichten hervor, die andernfalls verloren gingen.
Auch Leonardo da Vinci nutzt das Zeichnen als epistemische Praxis und Methode. In seinem Fall geht es um die Einsicht in die Wahrheit der Körper. Auch er wendet die Zeichnung als Festhaltetechnik flüchtiger Erscheinungen an, wenn er die verderblichen toten Körper zeichnend dokumentiert. Wobei nicht das vordergründige Abzeichnen von Erkenntnisgegenständen die epistemische Qualität seines Zeichenprozesses ausmacht, sondern ein synthetischer Prozess. In da Vincis zeichnender Einsichtspraxis geht es nicht um die frontale Dokumentation des offenbar Angesichtigen.4 Kein einfaches Abpausen ist das Ziel. Da Vinci versteht die Tätigkeit des Zeichnens als additives Geschäft sich verdichtender Einsicht. Eine dekonstruktive Imagination kommt hier zum Ausdruck, wenn sich das mehrfach und multiperspektivisch Gezeichnete und skizzenhaft Erprobte für den Künstler und Forscher erst nach und nach, Schicht für Schicht, Skizze für Skizze zu einem, in seiner Akkumulation erst wahren Gesamtbild verdichtet und damit eine kondensierte Erkenntnis anschaulich macht, die das einfache Abzeichnen gerade nicht hergibt. Der Kunsthistoriker Alessandro Nova erkennt in den anatomischen Zeichnungen da Vincis die Körpererkenntnis als Überlagerung unzähliger Studien aus unterschiedlichen Perspektiven. Die Visualisierung der Wahrheit des Körpers mittels des Zeichnens zeigt sich als kontinuierlicher epistemischer Vorgang, bei dem verzeichnet wird, was nicht einfach gesehen werden kann.5 Der Künstler da Vinci und der Naturforscher Humboldt zeichnen beide, um den Gegenstand der Erkenntnis auf eine Weise sichtbar zu machen, die dem flüchtigen und komplexen Dasein dieser Gegenstände gerecht wird. Die epistemischen Qualitäten des Zeichnens, die sich an diesen Fällen nachzeichnen lassen, entspringen der Linienbildung, die über das einfach Anwesende hinaus, das Vergängliche und Dichte tastend nachzuzeichnen und damit festzuhalten in der Lage ist.
Mit den zeichnerischen Skizzen des Molekularbiologen James Dewey Watson und den Kritzeleien des Gelehrten Galileo Galilei reihen sich zwei anders gelagerte Fälle epistemischen Zeichnens in das Methodenbuch der künstlerischen Forschung ein. Die beiden Zeichnenden vollführen performative Denkprozesse mittels der Figurenbildung ihrer Skizzen. Watson kritzelt Linien, die Ergebnisse von Laborarbeiten und Röntgenvisualisierungen vor Augen habend, nachdenkend über die Raumstruktur der DNS-Moleküle. Etwas windet und verdreht sich in dieser beiläufigen Skizze am unteren Rand des handschriftlichen Briefs an einen Kollegen. Etwas unbeholfen zeichnen sich aneinandergereihte, kantige Ringe oder verdrehte und verbundene Schnüre ab. Die Doppelhelixstruktur, die dann als Raummodell Wissenschaftsgeschichte machen wird, arbeitet sich hier gleichsam aus den Strichen erst heraus und ist nachträglich in ihrer Veranlagung zu ahnen. Watson scheint kritzelnd zu denken oder auch zeichnend zu antizipieren. Für Elke Bippus, die das Gekritzel des Biologen als epistemische Relation zwischen forschendem Denken und zeichnendem Handeln analysiert, bewahrt »das im Arbeitsprozess aufgezeichnete Diagramm in seiner skizzenhaften Erscheinung […] Spuren des Machens, anders gesagt, des Denkvorgangs und der Visualisierungsprozesse wissenschaftlicher Forschung.«6 Das Zeichnen artikuliert, initiiert und externalisiert in diesem Fall Verstehensprozesse und zeigt sich als epistemische Praxis. Das Denken agiert im Sichtbaren der Linienbildung. Und Ähnliches erkennt der Kunsthistoriker Horst Bredekamp bei Galileo Galilei. Bredekamp untersucht die »Spiralkritzel« des frühneuzeitlichen Gelehrten Galilei, der seinerzeit versuchte den Mond und dessen Topografie zu verstehen. Ausrutscher am Rande der Mondscheibe sind auf den Zeichnungen zu sehen. Unordentliche Linien, die nicht zum wissenschaftlichen Bilde vom Mond dazuzugehören scheinen. Bredekamp geht es am Beispiel Galileis um die besondere Qualität »unbewusster Zeichnungen, die gewöhnlich als Kritzeleien bezeichnet werden« und mit denen sich das Vorgewusste als »Abhub« artikuliert – wie er es in Anlehnung an Siegmund Freud und mit Blick auf die Kritzeleien Galileis nennt.7 Der »Abhub« aber zeigt in der Zeichnung die Spur einer Ahnung, die sich als offizielles Wissen noch nicht sedimentiert hat, im Denkprozess noch undenkbar ist und sich mittels der kritzelnden Hand den Weg ins Sichtbare bahnt: ein ästhetisch sich bildender Einsichtsprozess.
»Die Linie der Zeichnung kann zugleich unübertreffbar präzise und unermesslich imaginär sein«,8 so Bredekamp. Damit eignet sie sich zum Instrument der ästhetischen Imagination und dessen methodischer Fokussierung. Als tastende Dokumentation und performative Denkfigur taucht sie im Methodenbuch der künstlerischen Forschung in diesen unterschiedlichen Fällen auf und es werden sich bei genauerer Betrachtung der Kunstgeschichte und Forschungstradition mehr und mehr Fälle beschreiben lassen.
Montieren – Zusammenhänge herstellen
Mit Blick auf die Tätigkeit des Montierens lässt sich ein weiteres Kapitel künstlerischer Forschungsfälle beginnen. Das Montieren ist ein konstruktives Verfahren, bei dem aus Vorhandenem neue Gebilde geschaffen werden. Montierend bringen wir Dinge zusammen, die nicht beieinander waren: Bauteile verbinden sich zu einer Regalwand, Ausschnitte von Druckwerken bilden eine Collage, Fundstücke der Alltagskultur werden zu einer Assemblage oder Installation. Vielleicht wäre es angemessener bei der Betrachtung ästhetischer Verfahren, die sich zu epistemischen Praktiken eignen, von der Collage und nicht der Montage zu schreiben. Das Montieren bringt irgendwelche Einzelteile zusammen. Die Collage arrangiert Bilder und verweist auf die Künste. Sie ist ein Genre keine bloße Technik. Aber auch die Montage ist in bestimmten Sinnzusammenhängen nicht bloß Handwerkertechnik, sondern Kunstpraxis. In einem schon existierenden Handbuch für kunstbasierte Forschungspraktiken differenzieren die Autorinnen Victoria Scotti and Gioia Chilton die künstlerische Montage zunächst von der Collage: »Die Montage unterscheidet sich von der Collage dadurch, dass erstere auf die Bearbeitung oder Manipulation von Film oder Fotografien bezogen ist, während die Collage eine Technik ist, in der Fotografien oder Zeitschriftenbilder mit anderen Ausschnitten und kurzlebigen Erscheinungen kombiniert werden können.« Und in einem nächsten Schritt auch von der Assemblage: »Die Assemblage ist wiederum eine Technik, die ähnlich der Collage und Montage verschiedene Teile und Stücke verwendet, um ein neues Ganzes zu schaffen, dies aber dreidimensional skulptural.«9 Der Handbucheintrag, erkennt eine systematische Korrelationen zwischen der Montage, Collage und Assemblage und unterscheidet zugleich die künstlerischen Verfahren nach dem Ort oder Medium ihres Vorkommens: Die Collage ist das Verfahren, das Bilder sammelt, schneidet, anordnet und zu neuen Bildzusammenhängen verklebt. Entstanden parallel zum Aufkommen der visuellen Massenmedien wildert die Collage in den Bildbeständen der visuellen Kultur und generiert aus Vorgefundenem neue hybride Artefakte. Und die Autorinnen des Handbucheintrags zur Collage erkennen in dieser Kunsttechnik ein epistemisches Potential, wenn sie vorschlagen, »dass die Collage besonders für kunstbasierte Forschende geeignet ist, deren Ziel es ist, komplexe Bedeutungen und Perspektiven aufzudecken, einander zuzuordnen und zu transformieren…«10 Doch die wörtliche Herkunft der Collage verweist zugleich auf das Geklebte, nicht das Kompilierte – und um das Kleben geht es bei der Frage nach den epistemischen Qualitäten eines versammelnden nicht-begrifflichen Verfahrens nicht. Es geht um die Ästhetik zusammenhangsbildender Prozesse – in Collagen, Montagen, Assemblagen oder auch Installationen. Zusammenhangsbildende Prozesse finden beim Klebebild der Collage statt. Aber nicht nur das Klebebild montiert Verknüpfungen und Verknüpfungen entstehen nicht durch das Kleben, sondern die Praxis des Kombinierens und Zueinanderbringens von Gesondertem. Es handelt sich mithin bei der Collage um einen besonderen Fall des generellen Montierens. Ein Montieren, bei dem gedruckte Bildfragmente aus Zeitschriften, Magazinen, Modekatalogen oder Kunstbroschüren montiert und damit kombiniert werden. Ein Montieren, das aber auch in der Filmkunst stattfindet, wenn mittels Schnitt und digitalen Bilderbaus unterschiedliche gefundene oder gefilmte Sequenzen komponiert werden. Oder ein Montieren, das bei Installationen und Assemblagen zum Einsatz kommt, wenn Stücke der Objektwelt zu Raumzusammenhängen arrangiert werden. Allen diesen Verfahren des Artefakte erzeugenden Montierens ist die Zusammenhangsbildung von Einzelteilen gemeinsam. Zusammenhänge in Artefakten – ob ephemer gebaut, fotografisch belichtet, digital montiert oder fest geklebt – entfalten Bedeutung im Dazwischen ihrer Bezüge – wie auch Worte in zusammenhängenden Sätzen Bedeutung entfalten. Nur ist das ikonische Montieren in seinem symbolischen Resonanzraum gleitender und damit diffuser als die begriffliche Satzbildung.
Collagen, Montagen, Installationen bilden ikonische Zusammenhänge und erzeugen damit Sinn durch das Anordnen von Fundstücken, die zusammengebracht in Relation zueinander Bedeutung generieren. Sinn entsteht in der Differenz. Aber wann ist das ästhetische Montieren im Tafelbild, beim Film oder im Installationsraum ein Fall von forschender Kunst? In welchem Fall wird das sinnstiftende Verfahren der Montage zu einer forschenden Praxis? Wir erinnern uns an den Fall des Videokünstlers Johan Grimonprez11, der nach einer Begegnung mit Dorfbewohnern im Hochland von Papua Neuguinea begann, Filmmaterial zu sammeln: alte Aufnahmen aus den 1950er Jahren und neue Bildeindrücke von der Gegend, dem Dorf und seiner Geschichte. Die Inspiration zu dieser Materialsammlung war der kritische Verdacht, dass die Wahrheit der Gegend vielschichtig sein könnte und europäische Wissenschaftler in ihrer visuellen Kartierung des Dorfes einem monothematischen Mythos aufgesessen wären. Die resultierende Videoarbeit von Grimonprez ist eine Montage, die das gesammelte Material zu einer Abfolge und Schichtung von visuellen Positionen gegeneinander stellt. Grimonprez arrangiert die gefundenen Filmaufnahmen am Schnittplatz wie andere am Schreibtisch Zitate koordinieren. Er zitiert Innenräume, Urwaldpflanzen, dokumentarische Aufnahmen von Anthropologen Dorfbewohner zeigend, verschwommene Ansichten von Flugobjekten über Urwaldwipfeln, herabgleitende Fallschirme, abstürzende Flugzeuge. Grimonprez arbeitet mit eigenem und gefundenem Filmmaterial, arrangiert es, vergrößert und verkleinert Ausschnitte, verlangsamt Sequenzen, verundeutlicht Aufnahmen, fokussiert und überblendet, kombiniert den Kamerablick von unten nach oben oder von oben nach unten. Die Praxis des Montierens bildet aus den Filmfundstücken und Videofragmenten eine Komposition, die im Dazwischen der Sequenzen deren Verknüpfungen befragt. Sie fragt etwa: Was haben die Schwarzweißaufnahmen hockender Menschen mit digital verzeichneten Blattwedeln und deren Urwaldästhetik zu tun? In welcher Bilderreihe steckt die Realität der Gegend? Bei Grimonprez’ Untersuchung dieser Fragen werden in Nahaufnahmen und Totalen, in altem Zelluloid und neuem Digitalmaterial zwischen Pixeln, Schlieren, Scharfstellungen und Tiefenschärfe die Zusammenhänge der Aufnahmen von der fremden Gegend studiert, um die Authentizität der Dokumentationen zu ermessen. Die arrangierende Tätigkeit dieser Montagepraxis bemüht sich, aus dem versammelten Bildbestand heraus – gleichsam zwischen den Sequenzen hin und her laufend – Einsichten aus dem Medium der bewegten Bilder zu gewinnen. Mittels des filmischen Zusammenbaus argumentiert Grimonprez – was soviel heißt wie er veranschaulicht – indem er Wahrnehmungsweisen nebeneinander schichtet. Seine Videomontage sammelt und sucht nach Wahrnehmungsweisen, wie andere Forscher nach Quellen, um diese Dokumente zu drehen und zu wenden und gegeneinander zu stellen. Die filmischen Proben von der Realität der fernen Gegend werden in ein Verhältnis gesetzt und damit die Wahrheit der Wahrnehmung aus unterschiedlichen Perspektiven ausgelotet. Das künstlerische Montieren zeigt sich als eine veranschaulichende Verschränkung von filmischen Ansichten, die in Beziehung gesetzt abgewogen werden, wie Positionen in einer Debatte. Der Fall der Videoarbeit von Johan Grimonprez macht das Montieren unter dem Gesichtspunkt des Begründungszusammenhangs als epistemische Methode verständlich.
Ein anderer Fall exemplifiziert das Montieren als eine visuelle Denkpraxis: ›Beautiful Trash‹ ist eine Videokomposition, die sich im Zeitalter der digitalen Kultur des 21. Jahrhunderts auf eine elektronische Weise des Klebens der Collage aus dem frühen 20. Jahrhundert wieder annähert. Die Videoarbeit ›leimt‹ visuelle Fundstücke durch digitale Ebenen aneinander und übereinander. Mit Bildmaterial aus dem Internet beansprucht diese Montage den kollektiven Vorstellungsraum ihrer Gegenwart zu verstehen. Die massenmediale visuelle Kultur der Gegenwart umgibt das Weltverstehen der Einzelnen mit Ansichten. Aus diesen Ansichten – so die Imagination der Videoarbeit – kompilieren wir im Alltag immer schon mental ein collagenförmiges, pikturales Verstehen. Der Arbeit ›Beautiful Trash‹ geht es um dieses pikturale Verstehen. Ihr Inhalt ist dabei exemplarisch der Müll. Im Fall des Mülls finden wir im Internet Bilder von Wertstoffsuchenden, welche vor dramatischem Himmel und dampfender Kulisse auf Deponien drapiert sind. In anderen ikonischen Mülldokumenten durchbrechen Bagger den Horizont wie faszinierende Monster, umkreist von Möwen. Wieder andere Foto-Posts zeigen Strände, die von angereichertem Plastikabfall disneylandbunt erscheinen. Schnappschüsse auf Netzportalen zeigen Kinder, die am Fuße tiefgrüner Platinenhügel hocken und nach dem Gold des Elektroschrotts schürfen. In anderen Dokumenten warten im Niemandsland vor den Deponien Leute – mit schwarzen Balken vor den Augen – um seltene Erden auf ihre Kleinlaster umzuleiten. Das Netz ist vollgemüllt mit ästhetisch wertvollen Bilddokumenten zum Müll. Müll zeigt sich im digitalen Bilderraum unheimlich üppig und als florierende Ökonomie. Die Videomontage ›Beautiful Trash‹ verarbeitet diese Szenen und Ästhetiken zu Bildzusammenhängen und verdichtet montierend eine kollektive Vorstellung über die visuell verarbeitete Wahrheit des Mülls in Zeiten digitaler visueller Kultur. Die montierte Anordnung der ikonischen Fundstücke bildet dabei keine realen Landschaften oder konsistente Müllvorstellung nach, sondern stellt unmögliche Kompositionen dar. Die Montagen sind surreale Arrangements und erscheinen gerade darin als einsichtig. Sie dokumentieren den pikturalen, gedanklichen Zusammenhangsbildungsprozess, der nicht maßstabsgetreu und folgerichtig entsteht, sondern – den mittelalterlichen Ikonen ähnlich – Raum und Zeitverhältnisse den Bedeutsamkeiten anpasst: So dreht sich in einer montierten Sequenz die dunkelgrünglänzende Nahaufnahme einer Rundplatine bedrohlich wie eine gewaltige Fräse hinter dem Rücken eines arbeitenden asiatischen Kindes durch den Berg von Elektroschrott. In einer anderen Sequenz erscheint auf dem bunten Plastikmüllstrand zu feurigem Sonnenuntergang eine plastikschmelzende, rauchende Feuertonne aus einem zentralafrikanischen Slum. An anderer Stelle schleudert vor einer Deponiekulisse emphatisch ein schwarzer Junge dutzende, im Müll gefundene Hundertmarkscheine in die Luft, die mit den drapierten Müllmöwen zusammen als falsches Versprechen um ihn herumflattern.
Wann beginnt ein solches Montieren von Bildeindrücken und Fundstücken epistemische Qualitäten zu entfalten? Ist jede montierte Komposition eine Einsicht? Der Künstler und Kurator James Gallagher diagnostiziert über die Bildercollage, sie sei »das wahre Spiegelbild der Welt«, in der wir heute leben. »Von den bodenlosen Archiven auf Internetseiten wie Flickr bis hin zu den bedruckten Materialien, die sich um uns herum aufstapeln, die Collage ist das Recycling, die Neuinterpretation und die Wiederaufbereitung unserer kollektiven Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.«12 Bildideen wandeln und entwickeln sich beim Machen von Collagen. Betrachten, Assoziieren, Sortieren, Ausschneiden, Ansammeln von Fragmenten findet als Spiel der Variation und Komposition statt und dieser Vorgang kann als ein ästhetisches Denken verstanden werden, das sich im Machen und Sehen vollzieht.
Für das Methodenbuch der künstlerischen Forschung lässt sich diese These vom ästhetischen Denken mittels der Bildmontage konkretisieren: Die methodische Versuchsanordnung der Müllcollage zielt darauf ab, zu zeigen, inwiefern das Verstehen (von Phänomenen wie dem Müll) selber einer ikonischen Collage gleichkommt. Das Montieren und Rekombinieren von massenmedial Gesehenem zeigt sich als Externalisierung und Materialisierung mentaler, visueller Verstehensmontageprozesse. Die digitale Collage aus Internetbildern und Videos wirkt methodisch einsichtig, wenn sie in der Lage ist, zu demonstrieren, wie ikonisches Wahrnehmen in einer massenmedialen Kultur der Gegenwart funktioniert. Sie exemplifiziert dann eine ikonische Denkpraxis der visuellen Kultur des 21. Jahrhunderts.
Reihen und Serien – Ansichten drehen und wenden
Wie das Montieren und die Collage, so zeigt auch die künstlerische Serie oder Reihe Zusammenhänge durch Differenzen auf. Eine Reihe oder Serie ist bestimmt durch Einzelfälle in Kette. Während die Montage flächig oder mehrdimensional ist, ist eine Serie linear. Doch was genau lässt das Arbeiten in Reihen und Serien zur epistemischen Praxis werden? Serialität ist ein künstlerisches aber auch ökonomisches oder wissenschaftliches Phänomen. Serien sind Wiederholung und Variation. Sie lassen das einzelne Ding oder die besondere Handlung als Teil eines Gefüges in Erscheinung treten. Wir kennen Produktserien, Publikationsreihen oder auch Fernsehfolgen. Sie alle bilden sich als Reihe, Serie, Folge durch besondere Bezüge zwischen ihren Einzelerzeugnissen. Das Reihen in Serien wird bestimmt durch das Verhältnis der Einzelteile zu einem folgigen Ganzen. Das Ganze der Folgen ist verkettet durch gemeinsame Komponenten oder Regeln. Serien im Fernsehen entfalten sich als Fortsetzungsgeschichten, deren Protagonisten immer wieder auftauchen und die Serien als Reihe zusammenschnüren. Publikationsreihen verbinden sich zu Serien durch ein gemeinsames Thema, zu dem die Einzelerscheinungen Variationen bilden. Sie alle sind Ketten, deren Verbindungsglieder stabile Verknüpfungen bilden. Es kann bei diesen Verbindungsgliedern um Familienzusammenhänge, Materialwiederholungen oder Themenvarianten gehen. Immer aber charakterisiert ein stabiles Bindeglied die Reihe als Serie und mittels dieses Bindeglieds werden die Elemente einer Serie positional – sie werden zu Variationen, die sich um das Kettenglied ihrer Sache herum positionieren. Dieser positionale Variantencharakter des Seriellen etabliert eine ästhetische Syntax der Reihe – ein bezügliches ›in der Folge von‹ oder ›auch‹: ›Es folgt‹ durch Verschiebung und Modifikation des gemeinsamen Themas eins auf das andere – oder – es könnte das Thema ›auch‹ anders zu verstehen und darzustellen sein. Bei Serien handelt es sich mithin um Prozesse der Variation von Behauptungen und damit Erwägungen. Das in ihnen liegende positionale ›auch‹ ebenso wie das narrative ›in der Folge von‹ lässt die Serie potentiell zum künstlerischen Forschungsverfahren werden. Das Arbeiten in Reihen oder Serien ist dabei weder vorbildlich für methodische Praktiken in der Kunst noch ausschließlich. Doch können für das Methodenbuch der künstlerischen Forschung Fälle methodischer Reihen namhaft gemacht werden, die den Charakter epistemischer Praktiken haben.
Claude Monet ist ein frühes Beispiel künstlerischen Forschens mittels seriellen Arbeitens. Auch die schon betrachteten seriellen Arbeiten von Cindy Shermans können jetzt noch einmal – vom Anfang ans Ende geholt – unter methodologischen Gesichtspunkten nachvollzogen werden. Wir können die Sammlung serieller Verfahren als Methoden der künstlerischen Forschung hier mit dem Nachvollzug der Arbeiten Monets beginnen. Monet hat lange vor der Diskussion über die künstlerische Forschung Bilder gemalt. Doch lassen sich an seiner Arbeitsweise – ihm nachdenkend – wesentliche Charakteristika seriellen Forschens nachzeichnen und für ein gegenwärtiges Verständnis methodisch konsequenten, künstlerischen Arbeitens fruchtbar machen. Und Claude Monet ist so bekannt, dass seine Arbeit als vorzüglicher Beitrag zur Traditionsbildung der Kunst als Forscherin für das Methodenbuch herangezogen werden kann. Monet malte Ende des 19. Jahrhunderts Heuhaufen in Serie. Diese Gemäldeserie gilt als historischer Auftakt zu seriellem Arbeiten in der Kunst. Betrachten wir also die Gemälde der ›Heuhaufen‹: Wir sehen Heuhaufen im Morgenlicht, Heuhaufen zur Mittagszeit, Heuhaufen am Ende des Sommers, Heuhaufen im Schnee mit Abendrot, Heuhaufen an einem bewölkten Tag oder auch Heuhaufen diesig im Sonnenschein. Betrachten wir diesen diesigen Heuhaufen genauer. Auf diesem Gemälde reflektiert die Luft die Sonnenstrahlen in alle Richtungen und der Heuhaufen steht wie in einem Feuerball von allen Seiten in funkelndem Licht. Kein Schattenwurf konturiert das Gemälde nur Strahlung. Demgegenüber wirft in einem anderen Gemälde der morgendliche Schneeeffekt des Lichtes lange violettfarbene Heuhaufenschatten auf ein magergelbes Schneefeld. Anders wiederum strahlt das Morgenlicht des späten Sommers in einem weiteren Gemälde satt und voll, so dass hier der Heuhaufen in seinem massiven Körper in kräftigen Orangerot gemischt mit leichtem Violett da steht, während das Sommergrün der Bäume im Hintergrund schimmert. Das Gemälde im Licht des spätsommerlichen Abends dagegen lässt den Heuhaufen lange grünliche Schatten werfen und vor einem türkisgelben Himmelsstreifen stehen. Die gesamte Serie der Heuhaufen durchläuft mannigfaltige Stadien von Lichtigkeit als Farbigkeit. Sie ist eine Studie über die Farbigkeit des Lichtes und jedes neue Gemälde positioniert sich als Variation gegenüber diesem Thema. Der Heuhaufen als Sujet steht dabei eher zufällig im Konzentrationspunkt der malenden Untersuchung, die sich über Jahre hinzieht, und bildet doch das Kettenglied der Gemäldereihe als Serie. Die Variable des Lichtes wird experimentell fokussiert durch die Konstante des Haufens. Monets Malprozess beruht »auf einer experimentellen Versuchsanordnung mit systematischem Charakter, denn Bildgröße und Motivausschnitt waren definiert. Dieses, den Mess- und Beobachtungsreihen der Naturwissenschaft analoge Vorgehen diente der Erforschung der farbigen Wirkung der Sonneneinstrahlung auf die Landschaft mit ihren statischen Objekten«13, stellt der Kunsthistoriker Joachim Penzel in seinem Text zur seriellen Malerei fest. Er resümiert, dass der künstlerischen Arbeit Monets damit kein Ausdrucksziel mehr zu Grunde lag, sondern vielmehr die Systematik eines Konzepts auf der Grundlage von Wiederholung und Variation. Monet erfindet das serielle Verfahren in der Kunst und er erfindet es, um methodisch untersuchen zu können. Er untersucht in den immer gleichen Malsituationen nicht das Sujet, sondern die Farbatmosphären des Lichtes. Am Gegenstand des Haufens geht es ihm darum, malend Einsichten in das Licht und seine Farben zu gewinnen. Die immer gleichen Heuhaufen entsprechen einer Laboranordnung mit reduzierten Variablen. Die Vergleichbarkeit einer Variablen – des Lichtes – wird gewährleistet durch den festen Wert – des Haufens. »Die im Ergebnis offenen Gemäldeserien«, so Penzel mit Blick auf die seriellen Arbeiten Monets aber auch Picassos, Braques, Mondrians oder Kandinsky, »glichen wissenschaftlichen Versuchsreihen […] und die Ateliers [von Frank Stellas oder Robert Rymans] wandelten sich zu Laboren, in denen die hier aufgebauten Gemäldeserien und Werkgruppen wissenschaftlichen Messreihen glichen, mit denen am konkreten Material einzelne Bildprobleme experimentell untersucht wurden.«14 Das künstlerische Arbeiten in Reihen zeigt sich als epistemische Praxis, insofern die seriellen Artefakte Variationen auf das Gleiche darstellen und damit Vergleichbarkeiten erzeugen. Die einzelnen Artefakte, ob Gemälde oder andere Erzeugnisse der Kunst, sind wie zirkulierende Antworten auf die immer gleiche Frage. Sie umkreisen ihr Thema, indem sie es in Perspektivverschiebungen immer wieder neu bearbeiten.
Und als eine solche akkumulative Neubearbeitung des immer gleichen Themas, nämlich der Inszenierung und Situierung des weiblichen Subjekts im Filmset reiht sich auch die Serie der ›Complete Untitled Film Stills‹ von Cindy Sherman in den Katalog künstlerischer Forschungsverfahren ein.15 Sherman arbeitet mittels der Fotografie. Ihr ›Heuhaufen‹ ist gleichsam sie selber, die sich in immer neuen weiblichen Subjektpositionen in wechselnden Szenerien arrangiert und ›belichtet‹: als femme fatale, als unbedarftes Opfer, als verlassene Geliebte. Immer fixiert als Objekt eines externen Blicks. Bei dieser seriellen fotografischen Arbeit macht Sherman das Thema Weiblichkeit als multiple cinematorgrafische Inszenierung wahrnehmbar und das ›Wahrnehmen‹ meint hier buchstäblich die ›Wahrheit‹ der medial konstituierten Subjektpositionen in Augenschein zu ›nehmen‹. Sherman setzt jede Subjektposition als Aufführung in Szene, indem das identische, wenn auch wandelbare Künstlerindividuum als Ausgangsmaterial der Inszenierung sichtbar bleibt und zugleich fundamental variiert wird. Sie untersucht und zeigt durch die variierende Bildproduktion und serielle Re-Inszenierung von Filmstandards die Figuren des weiblichen Selbst im Vergleich. Diese vergleichende Untersuchung mit Bildern in Serie setzt den Bewegungsfluss der Subjektinszenierung in einzelnen Belichtungen fest und offenbart auf diese Weise die jeweilige Pose als Positionierung. Sherman sucht im Medium ihrer künstlerischen Produktion durch die Form ihrer methodisch seriellen Artikulationsweise nach visuellen Antworten auf ihre Fragen nach dem Verhältnis von Filmkultur und weiblicher Subjektposition. Die serielle Arbeit erlaubt es ihr, in Anlehnung an Filmserien, die Positionierung des Subjekts im Film in seinen Variationen durchzuspielen und vergleichend nebeneinander zu stellen. »Innerhalb des Produktionsprozesses besitzt das serielle Durcharbeiten eines Bildproblems […] eine Plausibilisierungsfunktion im Sinne eines Experimentalbeweises«16, so Penzel. Die Fotoserie ›Complete Untitled Film Stills‹ exemplifiziert mithin die Serialität als epistemische Praxis visueller Forschung. Die formale Konsequenz des Seriellen als Methode bei Sherman zeigt sich dabei nicht als vorgedachte Setzung, sondern entwickelt sich aus dem thematischen Schwerpunkt der künstlerischen Arbeit und Fragestellung. Die serielle Praxis erlaubt es Sherman, ihren Gegenstand systematisch bildproduzierend, also schaffend zu analysieren. Sie entfaltet darin einen ästhetisch nachvollziehbaren und methodischen Beitrag zum Verständnis der visuellen Kultur der Gegenwart.
Mit dem Fall der seriellen Arbeit von Cindy Sherman kehrt das Buch am Ende an seinen Anfang zurück und es könnte deutlich geworden sein, dass die gesamte vorliegende epistemologische Ästhetik, welche die Kunst als Forscherin nachvollziehbar machen will, den Charakter einer nachträglichen Methodologie hat. Fall für Fall werden von Anfang an einzelne künstlerische Arbeiten analysiert, die einer epistemischen Praxis verdächtig sind, motiviert von der theoretischen Imagination, dass einsichtsbringende Praktiken in der Kunst vorkommen und als Einzelfallbeweise in Serie zur Begründung einer epistemologischen Ästhetik des künstlerischen Forschens herangezogen werden können. Fall für Fall wird die künstlerische Forschung als epistemische Tatsache rekonstruiert, um sie als Einsichtspraxis verständlich zu machen und als wissenspolitisches Projekt traditionsbildend durchzusetzen.
1Umfassend widmet sich die Publikation von Astrit Schmidt-Burkhardt: Die Kunst der Diagrammatik. Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas, Bielefeld: 2012 diesem diagrammatischen Paradigma.
2Vgl. das Kapitel zum Detail der Daten und dem Ganzen der Gemälde.
3Vgl. Lubrich: Humboldts Bilder: Naturwissenschaft, Anthropologie, Kunst, in: von Humboldt. Das graphische Gesamtwerk, 2014, S. 10.
4Vgl. das Kapitel über schöne Akademien und ermittelnde Einrichtungen.
5Nova: La Dolce Morte, in Nortmann, Wagner (Hg.): In Bildern denken, 2010, S. 165.
6Bippus: Skizzen und Gekritzel. Relationen zwischen Denken und Handeln in Kunst und Wissenschaft, in: Heßler, Mersch (Hg.): Logik des Bildlichen, 2009, S. 84.
7Vgl. Bredekamp: Spiralkritzel von Galilei, Campanelle und Fludd, in: Lutz-Sternbach, Kirschenmann (Hg.): Zeichnen als Erkenntnis, 2014, S. 23ff.
8Bredekamp: Spiralkritzel von Galilei, Campanelle und Fludd, in: Lutz-Sternbach, Kirschenmann (Hg.): Zeichnen als Erkenntnis, 2014, S. 23.
9Scotti, Chilton: Collage as Art-Based Research, in: Leavy (Hg.): Handbook of Arts-Based Research, 2017, S 356. Im englischen Original heißt es: »Montage differs from collage in that the former relies on editing or manipulation of film or photographs, whereas collage is a technique in which photographs or magazine images may be combined with other cutouts and ephemera… Assemblage is a technique that, similar to collage and montage, uses different pieces and parts to create a new whole, but it does so in three-dimensions, creating a sculpture.« (Übersetzung von A.H.).
10Scotti, Chilton: Collage as Art-Based Research, in: Leavy (Hg.): Handbook of Arts-Based Research, 2017. S. 366, im englischen Original steht: »… we suggest that collage is particularly suited to art-based researchers who seek to uncover, juxtapose, and transform multiple meanings and perspectives …« (Übersetzung von A.H.).
11Vgl. das Kapitel zur Relativität.
12Gallagher: Preface, in: Gestalten, James Gallagher (Hg.): Cutting Edges, 2011, Übersetzung von A.H. im Original lautet die Passage: »…collage […] is a true reflection of the world we live in today. On our streets, in our stores and across our glowing computer and TV screens, images and information swirl around us at a faster pace than ever before - and the sheer magnitude of these images and information is relentless. From the bottomless archives of sites like Flickr to the printed material piling up around us, collage is all about the recycling, reinterpretation and reprocessing of our collective past, present and future.«
13Penzel: Serielle Malerei, 2006, http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/974/1/Penzel_Serielle_Malerei_2010.pdf, S. 3 (Aufruf Sept. 2018).
14Penzel: Serielle Malerei, 2006, S. 6 bzw. S. 9 (Anmerkungen von A.H.).
15Vgl. das Kapitel zur Eingangsfrage: Was ist künstlerisches Forschen.
16Ebd.