Konzeptualisierung: Aus Zweifel wird Forschung
Kunst nach dem Ende der Kunst
Lange bevor in Europa ein hochschulpolitischer Prozess namens ›Bologna‹ im Übergang vom 20. ins 21. Jahrhundert den Begriff der ›künstlerischen Forschung‹ erfand, bereitete die Konzeptkunst das zur künstlerischen Forschung gehörige, fragende Selbstverständnis im Feld der Kunst schon vor. Die sich selbst befragende und bezweifelnde Konzeptkunst etablierte eine Reflexivität im Feld ästhetischer Praktiken, welche das künstlerische Forschen geradezu provozierte. Was hat diese konzeptuell genannte Kunst im Laufe des 20. Jahrhunderts gemacht und warum konnte sie zur Entfaltung der künstlerischen Forschung im 21. Jahrhundert wesentlich beitragen? Der nordamerikanische Kunstkritiker und Philosoph Arthur Danto hatte dazu eine vorwegnehmende Einsicht, die sich beim Schlendern durch eine Ausstellung von Andy Warhol in der Staple Gallery in New York im Jahre 1964 einstellte.1 Es soll eng gewesen sein in dieser Ausstellung und das Publikum drängte sich durch die schmalen Gassen, die das warholsche Aufbauteam zwischen aufgetürmten Verpackungsschachteln frei gelassen hatte. Dem Künstler Warhol, dem angesichts von westlicher Wunderwarenwelt, Fließbandökonomie und Kulturindustrie nur noch die Wiederholung dieser Warenwelt und Produktionsmethode als angemessener künstlerischer Antwort einfiel, hatte ›Brillo Boxes‹ nachgebaut und in der Galerie stapeln lassen. Im gewöhnlichen Supermarkt waren diese Verpackungskisten der Marke ›Brillo‹ gefüllt mit Scheuerschwämmen. Das Sichtbare der Hülle versprach den Inhalt als Ware. In der Galerie und als Produkt aus der Warhol-Factory wurden die Verpackungskisten zum reinen Inhalt ihrer selbst – sie waren leer. Leer wie die Kunst, so schloss der Philosoph Danto. »Nichts braucht äußerlich einen Unterschied zwischen Andy Warhols Brillo Box und den Brillo-Kartons im Supermarkt zu markieren.«2 Die Kunst ist nichts Besonderes in ihrer Materialität, Figuration oder sinnlichen Erscheinung. Sie sieht aus wie ein Gebrauchsgegenstand, sie fühlt sich an wie ein Gebrauchsgegenstand und sie riecht wie ein Gebrauchsgegenstand. Das sei, so Danto provokativ, das »Ende der Kunst«. Einleuchtend wird diese Annahme dann, wenn man bei diesem »Ende« an eine sinnlich wahrnehmbare Werkkunst denkt und deren kunsthistorischen Abgang mit dem Anfang einer neuen, reflexiven Konzeptkunst verbindet.
Wir stellen also mit Danto und mit Blick auf die Genealogie der Kunst als Forscherin fest: Die Kunst im 20. Jahrhundert ist tatsächlich kein besonderes Ding mehr. Sie ist von der Verpackungsschachtel im Supermarkt durch keine sinnliche Differenz unterschieden. Nur der Erscheinungsort in der Galerie markiert die Abweichung der Kunst von der profanen Ware. Der Philosoph Danto macht uns daher in seinen Texten deutlich, was der Künstler Warhol objekthaft und installativ in seiner Ausstellung dargestellt hatte, dass nämlich bunte Kisten entweder Kunst oder Ware sein können. Dass auch rote, gelbe und blaue Quadrate im Linienmuster Werke von Piet Mondrian oder Bettwäschemuster sind, dass Flaschentrockner und Pinkelbecken als objet trouvé oder als Gebrauchsgegenstände gelten können, wie Marcel Duchamp schon Anfang des 20. Jahrhunderts demonstrativ vorgeführt hatte. Das bekannte Urinal aus glänzend weißem Porzellan, das Marcel Duchamp inkognito im April 1916 in New York mit der Signatur R. Mutt bei der von ihm selbst mitbegründeten »Society of Independent Artists« eingereicht hatte und das nicht abgelehnt, wohl aber peinlich hinter einem Vorhang verdeckt wurde – dieses Urinal stellt schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Frage nach dem Wesen der Kunst als Werkding und es stellt die Frage nach den Instanzen, welche die Kunst als solche definieren. Das Urinal bereitete damit die Überwindung der Objektfixierung und das Reflexivwerden im Selbstverständnis der Kunst vor. Duchamp war ein enttäuschter Künstler in dieser Phase seines Schaffens. Vier Jahre zuvor war 1912 in Paris sein später ebenso berühmt gewordenes Gemälde ›Nu descendant un escalier‹ (Akt, eine Treppe hinabsteigend) vom ›Salon des Indépendants‹ zurückgewiesen worden. Duchamp war ernüchtert von den Ausschlussmechanismen des damaligen Kunstbetriebs und wandte sich mit seinen ready mades von der Malerei ab. In einer mutwilligen Geste erklärte er die Auswahl von profanen Gebrauchsgegenständen zu Kunst und forderte damit die Kategorien heraus, die das künstlerisch Wertvolle vom Nichtkünstlerischen unterschieden. Im Dada-Magazin Blind Man »wollten wir vor allem das Springbrunnen-Pissoir rechtfertigen«3, merkt er dann später im Gespräch mit dem Kunstkritiker Pierre Cabanne an. Das kleine, selbst gemachte Dada-Heft, das 1917 in New York erschien, druckte unter dem Namen ›Louise Norton‹ eine programmatische Stellungnahme zum Kunstcharakter des »Springbrunnens« und zur Ignoranz der angeblich unabhängigen Künstlergesellschaft ab.
Die Künstlergesellschaft hatte den ›Springbrunnen‹ nicht offen ausstellen wollen, weil er als Pissoir bloß das profane Produkt von Klempnerhandwerk sei. »Ob Herr Mutt den Springbrunnen mit seinen eigenen Händen gemacht hat, ist nicht von Bedeutung«, vermerkt dagegen der Artikel im Blind Man. »Er WÄHLTE ihn aus. Er nahm einen gewöhnlichen Artikel des Lebens und platzierte ihn so, dass dessen nützliche Bedeutung unter dem neuen Titel und Standpunkt verschwand – ein neuer Gedanke für das Objekt entstand.«4 Das entscheidende Kriterium, welches das Objekt in den Kunststatus erhebe, sei nämlich, so behauptet der Text im Dada-Magazin, nicht seine Machart (pluming), sondern die Kraft der Imagination (a force of an imagination). Duchamp macht mit seinen ready mades konzeptuell auf das Phänomen der Werdung eines Objekts als einem Kunstwerk in der Geste der künstlerischen Setzung und imaginativen Aufladung aufmerksam.5
Nun löste nachweislich Duchamp mit der provokativen Rechtfertigung des ›Springbrunnens‹ die Kunst nicht auf, ebenso wenig wie mit Warhols ›Brillo Boxes‹ die Kunst an ihr Ende kam. Duchamp rief eine neue Kunst ins Leben. Es ging ihm um die Überwindung einer antiquierten Kunstgattung zugunsten eines neuen, zeitgemäßen, reflexiven, künstlerischen Selbstverständnisses. Der Artikel zu Mr. Mutts Springbrunnen im Blind Man Magazine merkt dazu an, dass wir, die wir Fortschritt, Geschwindigkeit und Effizienz verehren, die verborgenen Schätze zeitgenössischer Kunst übersehen, wenn wir in bloßer Verehrung unserer Vorfahren gleichsam unserem Hinterteil hinterher jagen, wie ein junger Hund seinem Schwanz.6 Duchamp ging es um die Überwindung des Unzeitgemäßen und damit um die bewusste Kontextualisierung der Kunst in ihrer damaligen Zeit des Fortschritts, der Geschwindigkeit und Effizienz. Diese Forderung nach Kontextualisierung trägt eine unhintergehbare Ebene der Reflexivität in die Kunstpraxis ein, die sich nicht blind machen will gegenüber den gesellschaftlichen, ästhetischen und wissenschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen sie sich platziert, sondern diese sich zuallererst erschließt. Es heißt, Duchamp hätte 1912 in Paris mit Constantin Brâncusi und Fernand Léger schon beim Besuch der Luftfahrtschau und angesichts der Eleganz und Aura der technischen Artefakte bemerkt, dass die Malerei am Ende sei, denn wer könne schon etwas Besseres machen als jene dort ausgestellten Propeller?7 Angeblich wählte er daraufhin sein erstes objet trouvé, Brâncusi polierte Skulpturen bis sie der Industrienorm entsprachen und Léger befasste sich mit der Frage, wie die Kunst in den Stand versetzt werden könne, die Schönheit der Maschinen zu erreichen. Diese Episode – ob wahr oder nicht8 – möchte uns darauf aufmerksam machen, dass Künstlerinnen und Künstler gut daran tun, die Zeichen ihrer Zeit und damit den historischen Zustand der Kunst ernst zu nehmen und sich nicht in Anachronismen zu verlieren, nur um ein Medium zu retten – hier die Malerei. Duchamp läutete das Ende der Malerei als zeitgemäßer künstlerischer Artikulation mit der Feststellung darüber ein, dass die Gemälde ausgedient hätten, weil sie nicht länger zur Dekoration der Speisezimmer oder des Salons dienen. »Man dekoriert heute auf andere Weise. Die Kunst aber wird zu einer Art Zeichen, wenn man das sagen kann…«9 Die Kunst als malerisches Objekt und als Gegenstand der ästhetischen Erfahrung ist also seit Duchamp tot – sie wurde zu einer Welt von Zeichen.
Während bei Duchamp die Kategorie der Schönheit noch als ästhetische Erfahrung eine entscheidende Rolle spielt und das Ende der (Malerei-)Kunst durch das Aufkommen des wohlgeformten Industriedesigns besiegelt wurde, geht es bei Warhol angesichts von Massenkonsum und Warenwelt um die Form als Form, ums Objekt als Objekt, um das Werkartige als Artefakt. Nichts an wertartigen Artefakten gewährleistet das Außergewöhnliche der Kunst. Warhol, der konzeptuell weiter ging als Duchamp, weil der die Schönheit als künstlerische Kategorie ignorierte, fiel aber zugleich hinter die, in ihrer schlichten Eleganz beeindruckende Geste der Auswahl von ready mades bei Marcel Duchamp zurück, weil er die Brillo Schachteln noch mal neu, in seiner Künstlerfabrik aus Spanplatten gestalten ließ und nach dem Vorbild der Verpackungskisten für Scheuerschwämme bemalte. Duchamp hätte die Mitarbeiter der Warhol-Factory arbeitslos gemacht und Kisten aus der Kaufhalle in die Galerie transferiert. Neuere Variationen auf dieses Thema würden vielleicht den Supermarkt zum Kunstraum erklären und damit schlicht die Ausstellungsbesucher, tatsächlich allerdings die Betrachtungsweisen umleiten. Für die epistemologische Ästhetik und Vorgeschichte der Kunst als einer Forschenden ist hierbei weniger der Tod des ästhetischen Objekts von Bedeutung, als vielmehr die Entdeckung des Zeichencharakters der ästhetischen Dinge. Denn die Deklaration eines Ortes als Galerie oder eines Objekts als Kunst deutet schließlich darauf hin, dass eine Brillo Box doch nicht einfach eine Brillo Box und ein Pinkelbecken nicht ein Pinkelbecken und ein Quadratmuster nicht ein Quadratmuster ist. Der Ort der Präsentation und die Setzung als Kunst inaugurieren einen Verweisungszusammenhang von Bedeutungen. Schachteln in Kunsträumen bedeuten etwas. Schachteln in Kaufhallen sind vor allem Objekte. Alles an Schachteln in Kunsträumen ist dagegen in einem Modus zeichenhaft, den der Philosoph Nelson Goodman »dicht« oder »voll« genannt hat.10 Wir werden noch auf diese Modi und Weisen des dichten künstlerischen Bedeutens eingehen. Denn wir benötigen eine Symboltheorie künstlerischen Kommunizierens, um die These vom Zeichencharakter und der Bedeutungsfülle der Kunst zu fundieren. Einstweilen aber können wir mit Danto und den konzeptuellen Arbeiten der Kunst des 20. Jahrhunderts festhalten, dass die Wahrnehmung eines symbolischen Geflechts das »Gewöhnliche« als ein Künstlerisches generiert und die Schachtel zu einem Aussagenkosmos über das Ende der Kunst »verklärt«. Arthur Dantos Kunsttheorie nennt sich im (deutschen) Titel entsprechend die »Verklärung des Gewöhnlichen«.11 Diese Verklärung entspricht einer Symbolwerdung und bereitet damit den Boden für ein ästhetisches Verständnis, das die Kunst als Medium begreift.
Die Werkkunst ist also mit den Arbeiten von Duchamp und Warhol gestorben – und es lebt die Kunst als Idee, Konzept und Zeichen. Unzeitgemäß ist sinnliche Erfahrungskunst geworden, weil nach den konzeptuellen Infragestellungen der Kunst nichts mehr einfach als »Kunst« erfahrbar ist, sondern diese erst zu dieser in einem konstitutiven Aushandlungsprozess wird. Verpackungen – wie aus dem Supermarkt – und Sanitärprodukte – wie aus dem Baumarkt – erweitern den Kunstbegriff, nicht weil sie als Dinge anders sind und sich objekthaft als Kunst beweisen, sondern weil sich die ästhetische Bedeutung in der Kunst weg vom Erfahrungswert hin zum Verweisungszusammenhang verschoben hat. Die Kunst hat sich damit im Selbstverständnis verschoben – nicht die künstlerischen Dinge sind andere geworden. Walter Benjamin hat in den 1930er Jahren zu diesem Disput, ob etwas als Kunst oder Gebrauchsmedium gelten solle, in seinem Aufsatz über »das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« schon befunden, dass eben viel vergeblicher Scharfsinn auf die Frage verwandt wurde, »ob die Photographie eine Kunst sei – ohne die Vorfrage sich gestellt zu haben: ob nicht durch die Einführung der Photographie der Gesamtcharakter der Kunst sich verändert habe…«.12 Die Geschichte der Kunst hat Benjamin in dieser Einschätzung recht gegeben und bei Warhols Verpackungsschachteln und Duchamps Flaschentrockner, Fahrradrad oder Urinal verhält es sich ebenso: Aus der Kunstgeschichte sind diese Positionen nicht mehr wegzudenken oder – um es mit Duchamp zu sagen: Der Künstler »macht etwas, wird durch die Mitwirkung des Publikums, des Betrachters bekannt und geht deshalb in die Nachwelt ein.«13 Es handelt sich also bei der Kunstwerdung der ready mades oder Warhol-Waren und damit beim Reflexivwerden der Kunst nicht alleine um künstlerische Setzungen und Selbsterkenntnisse, sondern um Effekte im Kunstfeld, die den Gesamtcharakter dessen verändert haben, was als Kunst verstanden wird. Auf der Basis dieser Diagnose kann man festhalten, dass die Kunst im 20. Jahrhundert eine Zweifelnde geworden ist und dieser Zweifel der Kunst an sich selbst motiviert sie als Forschung.
Kunst am Anfang der Forschung
Wir haben mit Warhol und Duchamp zwei altbekannte Provokateure und Erneuerer vor Augen, von denen behauptet werden kann, sie hätten den Kunstbegriff transformiert. Während Duchamp den Prozess der Werdung eines Kunstwerks in der Geste der Setzung seiner Fundstücke sichtbar machte und damit die Aufmerksamkeit der Betrachter vom Werk auf die künstlerischen Verfahren lenkte, unterminierte Warhol das Wesen des künstlerischen Erscheinungsbildes und behauptete die Kunst als Denkungsart. Beide legen das Fundament für ein »posthistorisches« Kunstverständnis – wie Danto es nennt. Positionen wie Warhol und Duchamp können ›posthistorisch‹ genannt werden, weil sie keine Gegenstände für reine ästhetische Erfahrung sind, sondern als einsichtsvolle Beiträge zur Reflexion über die Kunst auftreten. Es sind künstlerische Artikulationen, die sich in ihrer Setzung und in dem, was sie darstellen, selber befragen. Diesen künstlerischen Positionen geht es um die Idee, die sie ausdrücken und weniger um die Materialität, die es sinnlich zu erleben gilt. Duchamp und Warhol arbeiten konzeptuell in dem Sinne, wie der Ausdruck »concept« die Idee einer Sache meint. Weil sich konzeptuell arbeitende Künstler symbolisch ausdrücken und nicht länger auf die sinnliche Erfahrung am Dargestellten verlassen, nennt der Philosoph Danto diese Konzeptkunst auch »philosophisch«. Er schreibt: Man müsse »von der sinnlichen Erfahrung auf das Denken umschalten«, um herauszufinden, was etwas zu Kunst macht.14 So gesehen, philosophiert Warhol mittels künstlerischer Darstellung über das Sein von Kunst im Zeitalter ihrer materiellen Beliebigkeit und technischen Reproduzierbarkeit. Danto geht es mit dem Begriff des »Philosophischen in der Kunst« um die Reflexivität, mit der Künstler und Künstlerinnen sich und ihre Arbeiten in der künstlerischen Artikulation bedenken. Allerdings philosophiert der Künstler Warhol nicht in dem gleichen Sinne wie Philosophinnen und Philosophen, wenn man unter Philosophie ein Arbeiten mit Begriffen versteht. Konzeptuelle Kunst setzt sich mit ihrem Gegenstand künstlerisch auseinander und das bedeutet mit anderen Mitteln zu arbeiten als nur mit Begriffen. In ihrer material-symbolischen Beschäftigung mit Themen forscht die Kunst bestenfalls wie die Philosophie, ohne es ihr jedoch begrifflich gleichzutun. Mit dem Topos einer philosophierenden Kunst markiert Danto jedoch eine historische Zäsur: Die Kunst sei mit ihrer Konzeptualisierung eine andere geworden und das Andere ihres Seins läge im reflexiven Philosophischen. Mit diesem anderen Sein setze sich die posthistorische Kunst ab von der Selbstgewissheit ihrer vorherigen Daseinsform.
Für die Weiterentwicklung der künstlerischen Forschung aus dem Selbstzweifel in der konzeptuellen Kunst ist jedoch weniger die kunsthistorische Zäsur relevant als vielmehr die epistemische Frage, inwiefern konzeptuelle Kunst mit und nach Warhol und Duchamp tatsächlich als nicht-begrifflich-philosophisch und in diesem Sinne als nicht-begrifflich-forschend angesehen werden kann oder inwiefern ein forschendes Kunsten im konzeptuellen Zweifel zumindest angelegt ist. In welcher Hinsicht kann in Folge der konzeptuellen Kunst von einer gleichsam-philosophierenden und welterschließenden oder quasi-forschenden Kunst gesprochen werden? Bringt ein Warhol, wenn er Symbole der Warenwelt reproduziert, Einsichten auf den nachvollziehbaren Weg oder lanciert er zumindest ein solches forschendes Selbstverständnis der Kunst? Ohne diese epistemologische Frage hier schon klären zu können, kann zumindest kunsthistorisch festgehalten werden, dass mit dem Auftreten der konzeptuellen Positionen seit dem 20. Jahrhundert eine paradigmatische Verschiebung im Selbstverständnis künstlerischer Artikulation vonstatten gegangen ist. Etwas ist passiert durch den Einzug der industriellen Fundstücke und nachgebauten Konsumobjekte im Reich der Künste. Die sich selbst in Zweifel ziehende und als Zeichen begreifende Kunst hat begonnen, sich selber hinsichtlich der Fundamente ihres Erscheinens zu denken und den Kontext sowie Produktionsprozess der künstlerischen Arbeit hervorzuheben. Mit der Sichtbarmachung des Kontextuellen und des Zweifels etablieren sich in der künstlerischen Artikulation neue Bedeutungshorizonte, Verweisungszusammenhänge und Recherchepraktiken. Seit der Kontextualisierung und Selbstbefragung ihres Tuns ›schaffen‹ auch viele Künstlerinnen und Künstler nicht mehr. Duchamp spricht von »Sachen«, die er »gemacht« habe. Ihre Produkte gelten den konzeptuell arbeitenden Künstlerinnen und Künstlern nicht mehr als ›Werke‹, sondern als ›Positionen‹. Den ›Positionen‹ geht ein Prozess künstlerischen Reflektierens und Handelns voran, aus dem sich die »Sachen« als künstlerische Sichtweisen ergeben. Eine Phase des Bewusstseins der Artikulationskontexte bricht in der Kunst mit der systematischen Konzeptualisierung an und hat zu dem Anspruch geführt, die Rahmenbedingungen und Bezüge der künstlerischen Arbeit – einer Argumentationslinie gleich – mit zu bedenken und anzuzeigen. Dieses Zeigen von Kontexten und Bezügen ist das eigentlich relevante Verhalten für ein forschendes Vorgehen, das sich als Nachvollziehbarkeit der künstlerischen Aussage verstehen lässt. Von Wahrnehmungsgebilden in einer rein sinnlichen Bedeutung lässt sich bei diesem kontextuellen Zeigen nicht sprechen. Gar nicht so sehr, weil diese »Sachen« unsinnlich geworden wären. Prozessuale und kontextuelle Kunst kann sinnliche Erfahrungen oder opulente Sinneseindrücke hervorrufen. Aber diese sinnlich wahrnehmbaren Sachen und Vollzüge haben einen Zeichencharakter und ein symbolisch verweisendes Umfeld, worin sich ihre visuellen Sinnbezüge und Einsichten positionieren. Das ist der Grund, warum manche künstlerischen Arbeiten hinsichtlich des Zeigens von Sinnbezügen und bezüglich des Darstellens von Positionsgenesen mit der konzeptuellen Selbstreflexion der Kunst zu Forschungsgebilden geworden sind – gar nicht anders konnten, als zu Forschungsgebilden zu werden, weil die Reflexivität des Selbstzweifels einfache ästhetische Setzungen als nicht mehr sinnvoll erscheinen lässt.
Der Kampf um Deutungshoheit
Duchamp, so das Künstlerkollektiv Critical Art Ensemble, »Marcel Duchamp ist der Avatar der digitalen Ästhetik. Mit seinen ready made Serien hat er dem Wertesystem des Analogen einen gewaltigen Schlag versetzt.«15 Doch ist die künstlerische Praxis im Ausgang aus der konzeptuellen Provokation eines Duchamp oder Warhol tatsächlich flächendeckend zu einer forschenden Tätigkeit geworden, deren Wert in der ephemeren Idee und nicht mehr dem fasslichen Werk besteht? Verdrängen die posthistorischen Künste die sinnlich wahrnehmbaren Künste und das »Wertesystem des Analogen«? Hat eine generelle Transformation in der Kunst vom Werk zur Forschung stattgefunden? In Hinblick auf die große Menge dessen, was im Feld der Kunst im 21. Jahrhundert hergestellt wird, ist diese Diagnose nicht haltbar. Massenweise wird Werkkunst erzeugt und auch der warenförmige Kunstmarkt und dessen Wertesystem, welche das Critical Art Ensemble kritisch im Blick haben, sind nach wie vor präsent. Genealogisch relevant ist also einerseits, dass mit der Infragestellung der Werkkunst spätestens seit Duchamp immer wieder ästhetische Praktiken auf der Suche nach einer anderen Realität und einem anderen Selbstverständnis sowie neuen Rollen der Künste zu beobachten sind. Künstlerisches Forschen ist zu einer der möglichen Antworten auf die Infragestellung der Werkkunst und eine mögliche Neupositionierung ästhetischer Praktiken geworden. Zugleich haben wir es andererseits bei diesen Verschiebungen und Neupositionierungen im Feld der Künste mit einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu tun. Es haben sich die Kategorien dessen verschoben, was die Seinsweisen und Selbstverständnisse des Künstlerischen ausmachen können, gleichzeitig präsent sind aber nach wie vor die traditionellen Verständnisse von Kunst als sinnlich originalem und handelbarem Artefakt.
Hier artikuliert sich neben der epistemischen auch die politische und ökonomische Dimension einer möglichen Entfaltung von Kunst als Forschung aus dem Geist des Zweifels in der Konzeptkunst gegen die traditionsreiche Präsenz der Originale und des Marktes. Der Betrieb der Galerien und Messen existiert, ohne die posthistorische Kunst in ihrer reflexiven Dimension bemerken zu können, weil diese Kunst mit ihrer Abwesenheit des Originals, ihrer Zeichenhaftigkeit und ihrem Mangel an Handschrift nicht mit dem zu vereinbaren ist, was im Kontext der Werkschauen und Betriebsamkeit gewertschätzt und gehandelt werden kann. »Die Spitzenklasse der Werte findet sich immer noch im Analogen. Hier reproduziert sich die anachronistische Ökonomie des Kunsthandwerks als Luxusökonomie« fasst das Critical Art Ensembles die Logik des warenförmigen Kunstbetriebs (kritisch) zusammen.16 Wer dagegen konzeptuelle Kunst wertschätzt, knüpft auf der Ebene ihrer Aussagen an sie an, wie Philosophen sich auf die Gedanken ihre Vordenker beziehen. Die posthistorische Kunst im Zeitalter ihrer materiellen Beliebigkeit zirkuliert jenseits werkhafter und ökonomischer Maßstäbe, nicht weil sie kein Werk oder nichts wert ist, sondern weil ihr Werkwert in der Praxis kultureller Selbstbefragung liegt. Der Konzeptkünstler Lawrence Weiner hat dazu anmerkte, dass die Leute seine Arbeiten nicht kaufen müssten, um die zu besitzen, sie könnten sie besitzen, indem sie sie kennen. In der Antizipation dieser ökonomischen Nutzlosigkeit verkauften sich schon die Brillo-Schachteln von Warhol angeblich schlecht und dass, obwohl sie noch mit der sinnlichen Qualität gebauter Originalobjekte und eigenhändig bemalter Flächen kokettierten. Die ›Brillo Boxes‹ verfügten über diese vermeintlich originale und sinnliche Dimension, denn Warhol war, trotz des konzeptuellen Wesens seiner Kunst, ein versierter Parasit im Kunstmarktbetrieb. Während die Kunst zum Code, zum dichten Zeichen und damit potentiell zur Forscherin wird, setzt die Ökonomie des Kunstmarkts mit Höchstgeboten nach wie vor auf die analogen, die originalen, die einzigartigen Werte von Werken. Es ist 100 Jahre her, seitdem Marcel, Fernand und Constantin über die Luftfahrschau in Paris schlenderten und das Ende der Malerei konstatieren mussten, oder seitdem Duchamp mit dem ›Großen Glas‹ eine – vielleicht gescheiterte – aber mehrjährige Forschungsarbeit über die Darstellbarkeit der vierten Dimension begann.17 Schon diese Arbeit aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts war nicht auf Ausstellungspräsentation oder Verkauf, sondern auf das Verstehen durch den Prozess des Darstellens gerichtet. Wir müssen aber konstatieren, dass auch im 21. Jahrhundert für diese gar nicht mehr so neue Kunst als Forschungspraxis immer noch nicht die institutionellen Strukturen in dem Maße zu finden sind, dass diese forschende Kunst als eigene Disziplin arbeitsfähig geworden wäre.
Manche Kunst beginnt zu forschen – worüber?
Wenn eine der Herkunftslinien der forschenden Kunst im 21. Jahrhundert auf die Zweifel der Konzeptkunst im 20. Jahrhundert zurückzuführen ist, wie fand die Kunst dann vom Zweifel zur Forschung? Konzeptuell wurde die Kunst reflexiv – aber widmet sie sich forschend weiter sich selbst – wie Duchamps und Warhol – und was wäre da noch zu erkennen? Befragt die Kunst ihre Darstellungsprobleme und den Status, den sie im kulturellen Ganzen hat? Was ist das Untersuchungsfeld einer Kunst, die beginnt, sich zu bedenken und aus diesem Zweifel heraus ein forschendes Selbstverständnis entwickelt. Die künstlerische Forschung beginnt sich genealogisch aus dem reflexiven Geist der konzeptuellen Kunst abzuzeichnen aber es zeichnet sich auch ab, dass es notwendig wird, systematisch zu fragen, ob es vor dem Hintergrund dieser Genese zur Kunst passende Untersuchungsangelegenheiten gibt?
Warum ist es sinnvoll, sich diese epistemologische Frage nach einem möglicherweise originären Gegenstand künstlerischen Forschens gerade an dieser Stelle der Genealogie zu fragen? Wir erinnern uns: Die politische Kunst hatte die Kunst zur Forschung animiert, indem sie die herrschende Wissensproduktion anfocht; die europäische Hochschulpolitik lancierte die künstlerische Forschung, weil sie deren Aktivitäten institutionell benötigte; die Konzeptkunst aber treibt die Kunst in die Forschung, nicht nur, weil sie inhaltlich an der Kunst zu zweifeln beginnt, sondern auch, weil mit der Konzeptkunst die Kunst ontologisch zu einem Symbolsystem wird, das auf Inhalte verweist, und aufhörte, ein sinnlich wahrnehmbares Ding zu sein. Mit dem konzeptuellen Selbstzweifel begann die Kunst potentiell Forschungsobjekte zu haben, weil sie Verweisungscharakter bekam – eine »Art Zeichen« wurde, wie Duchamp es formulierte. Daher drängt sich die Frage nach den Gegenständen der künstlerischen Forschung insbesondere im Ausgang der forschenden Kunst aus der konzeptuellen Selbstbefragung und Zeichenwerdung auf.
»In ontologischer Hinsicht« – stellt der für das Verständnis künstlerischer Forschung maßgebliche Kunsttheoretiker Henk Borgdorff fest – »befassen sich verschiedene Arten von Wissenschaft mit unterschiedlichen Arten von Fakten: Naturwissenschaftliche Fakten unterscheiden sich von sozialen Fakten, und beide unterscheiden sich wiederum von geschichtlichen Fakten.«18 Borgdorff schlägt in der Verlängerung dieser Diagnose vor, davon auszugehen, dass auch die Künste ihre eigenen künstlerischen Fakten entwickelt hätten, deren spezifischer Status in der »Immaterialität« bestünde. Entgegen der verbreiteten Annahme, dass sich insbesondere die Künste durch die Materialität ihrer Artefakte und den haptisch tätigen Umgang mit Stofflichem auszeichneten, unterstreicht Borgdorff die letztlich konzeptuelle These von der Immaterialität der künstlerischen Fakten, gestützt auf das hegelsche Diktum, dass sich in der Kunst »das sinnliche Scheinen der Idee« manifestiere. Borgdorff betont mit Hegel und der Konzeptkunst, dass Artefakte, die aus künstlerischen Praktiken entstanden sind, vor allem auf einer symbolischen Ebene bedeuten, die das Materielle »transzendiert«, wie er es nennt. Die Kunst habe mithin immaterielle Ideen als ihren Gegenstand – Ideen, die sich in Artefakten materialisieren. Die Ästhetik des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, auf die sich Borgdorff bezieht, zeichnet sich aber noch durch eine weiter, wegweisende, wenn auch bei Hegel geschichtsphilosophisch verengte These aus: Hegel erkennt eine Form-Inhalt-Relation an der Kunst, innerhalb derer Darstellungsform, Erkenntnismodus und Auszudrückendes in einem Äquivalenzverhältnis stehen. Für Hegel vollendete sich diese Form-Inhalt-Relation in der Antike. Die griechisch antike Kunstform vermochte für Hegel das Höchste dessen zu erreichen, was Kunst als sinnlicher Schein der Ideen zu leisten in der Lage war, weil in ihr – der antiken Kunst – entsprechend dem Selbstverständnis der Antike, das geistige und sinnliche Dasein in der Gestalt der menschlichen Skulptur als ein Verschmolzenes zur Darstellung kam. Darin war der antike Geist in der Darstellung der antiken Kunst für Hegel absolut ausgedrückt. Mit Hegel hätte daher einerseits die Kunst keinen aktuellen Gegenstand, weil die Antike, der Moment war, wo die Kunst Erkenntnismedium sein konnte, in einer Welt, wo das Selbstverstehen der Menschheit ebenso war, wie die – von Hegel so verstandene – Kunst: sinnlich, figürlich. Andererseits – und jenseits des sinnlich, figürlich konnotierten, hegelschen Kunstbegriffs – inspiriert aber gerade die hegelsche letztlich konzeptuelle Bestimmung der Kunst als einer Form-Inhalt-Relation das Verständnis eines originären Gegenstandbereichs künstlerischer Forschung im 21. Jahrhundert. Wir können vor dem Hintergrund dieser Form-Inhalt-Relation die Frage nach den spezifischen »Fakten« der forschenden Kunst noch einmal aufwerfen, nämlich genauer: Zu welchen Weltfacetten vermag die forschende Kunst mittels ihrer aktuellen Formen die passenden Inhalte beizutragen? Was sind die originären Analysefelder des ästhetischen Forschens der Gegenwart vor dem Hintergrund formaler Artikulationsweisen des Künstlerischen? Motiviert durch Hegels Vorstellung von einer Verschränkung zwischen Idee und Darstellung scheint es plausibel, dass im 21. Jahrhundert die bilderzeugende bildende Kunst ihre hervorragenden Fakten – zumindest auch – in der visuellen Kultur hat.
Wo es, wie von Borgdorff diagnostiziert, um ein Verständnis paralleler naturwissenschaftlicher, soziologischer, philosophischer oder künstlerischer »Fakten« als Fluchtpunkte der forschenden Betrachtungen in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts geht, also um Seiendes, was dem Forschenden als pluraler Bestand von Welt heterogen entgegensteht, kann von Hegels Kunstverständnis die Vorstellung von der Kunst als immaterieller Idee und das Prinzip der Form-Inhalt-Relation aufgegriffen werden, um dann jene Anteile von Welt zu identifizieren, die zur Kunst und ihren Analysewerkzeugen passen. Künstlerisches Forschen wird in diesem Verständnis nicht verstanden als die umfassende Antwort auf das menschliche Welt- und Selbstverstehen, sondern als ein – partiell passender – Beitrag zum bestehenden Weltverstehen. Ein formal korrespondierendes Additiv.
Wie ist aber dieses Korrespondenzverhältnis von Form und Inhalt tatsächlich auch als epistemisches Verhältnis zu denken? In welcher Beziehung stehen methodische und formale Verfahren zu »Fakten«? Ein Blick in die erkenntnistheoretische Gedankenwelt Martin Heideggers legt Hinweise frei, die zur Beantwortung dieser Frage einen Beitrag leisten können, weil auch Heidegger Form und Gehalt der Forschung als Korrelationsverhältnis denkt, indem er Heuristik und Weltbild als miteinander verzahnt begreift. In der Diagnose Heideggers19 sind das Wesen der Forschung und der Erkenntnis durch den heuristischen Zusammenhang charakterisiert, den die Untersuchungsmethoden mit dem zu beforschenden Seienden bilden. So antizipiere die mathematisch geprägte Physik naturwissenschaftliche Fakten als wesentlich gesetzesförmig und würde diesen von daher mit Rechenarbeit habhaft. Die Auffindetechniken für Erkenntnisse antizipieren gleichsam deren Gestalt, wie kleine Mäusefallen mit Käse die Vorlieben und Dimensionen der Maus. In den Worten Heideggers: »Wenn nun die Physik sich ausdrücklich zu einer mathematischen gestaltet, dann heißt das: Durch sie und für sie wird in einer betonten Weise etwas als das Schon-Bekannte im vornhinein ausgemacht. Dieses Ausmachen betrifft nichts Geringeres als den Entwurf dessen, was für das gesuchte Erkennen der Natur künftig Natur sein soll: der in sich geschlossene Bewegungszusammenhang raum-zeitlich bezogener Massenpunkte.«20
Als tätige Praxis ist das Forschen für Heidegger der Effekt einer Vorannahme über das Seiende als einem, was im Verfahren ausgekundschaftet werden kann. »Worin besteht das Wesen der Forschung?« fragt er, um diese Antwort zu geben: »Darin, dass das Erkennen sich selbst als Vorgehen in einem Bereich des Seienden, der Natur oder der Geschichte, einrichtet.«21 Der analytisch forschende Zugriff auf Seiendes und die Antizipation des Seienden im mathematischen Vorgehen ist zwar für Heidegger wesentlich neuzeitlich geprägt und unterscheidet sich vom Modus der gelehrigen Erkenntnis im Mittelalter als einem rechten Verstehen der maßgeblichen Worte und der sie verkündenden Autorität sowie vom eingebetteten Angeschautsein des Menschen in der Antike. Ob diese groben Charakteristika einer numerischen Forschung in der Neuzeit, einem gelehrigen Verstehen im Mittelalter und einer humanen Seinsimmanenz in der Antike der Komplexität der epistemischen Fakten angemessen sind, ist hier nicht Thema. Aber mit der von Heidegger systematisch beschriebenen ›Form-Inhalt-Relation‹ – der neuzeitlichen Forschung, des mittelalterlichen Verstehens oder der antiken Seinsimmanenz – lässt sich eine epistemische Zupassendheit diagnostizieren, die auf den Möglichkeitsraum heuristischer Variationen im Verhältnis zu Weltansichten verweist und es lässt sich eine aktive, auf den Forschungsgegenstand eingerichtete und diesen zurichtende Tätigkeit als Erkenntnispraxis ausmachen. Für Heidegger bestünde entsprechend die Aufgabe in der Bestimmung der Kunst als Erkenntnismedium darin, das Bild von Welt herauszuschälen, das ein Äquivalenzverhältnis mit dem Prozess ästhetischen Erforschens bildet und beide zusammen – künstlerischer Forschungsmodus22 und Seinsmodus von Welt – bildeten ein ästhetisches Weltbild. Kunst erwartet gestaltend tätig als Erkenntnispraxis antizipierend einen Erkenntnisgegenstand, der entsprechend ihrer selber verfährt und in dem sie sich »einrichtet«. Was mit der Überlegung zum Verhältnis von Erkenntnismethode und Erkenntnisgegenstand bei Martin Heidegger herausgearbeitet wird, ist die Form-Inhalt-Relation zwischen dem Weg des Wissens und dem, was dieser Weg zu Ansicht bringen kann, denn »die mathematische Naturforschung ist nicht deshalb exakt, weil sie genau rechnet, sondern sie muss so rechnen, weil die Bildung an ihren Gegenstandsbezirk den Charakter der Exaktheit hat.«23 Jenseits der großen heideggerschen Frage, wer eigentlich wen anschaut, das Sein als sein Seinsmodus den Menschen oder der Mensch das Seiende als ein Verfahren, stellt sich noch innerhalb dieser jeweiligen Gerichtetheit die Frage nach dem Modus des Ausrichtens. Anders formuliert: Wir berechnen mit den Mitteln der Mathematik formelhafte Fakten, denen wir Gesetzesförmigkeit zutrauen, und mit den Mitteln der Begriffe begreifen wir Konzepte, von denen wir eine Grammatik der Bezüge erwarten. Begrifflich also untersuchen die Geisteswissenschaften im Verfahren ihres Erforschens die kulturelle Welt der Konzepte und Ideen, indem sie deren Relationen in satzförmige Strukturen gießen. Rechnerisch analysiert die Physik die Naturgesetze und experimentell verschafft sie sich die Daten, die zur Grundlage der Rechnerei dienen. Die Naturwissenschaften gehen dabei von einer Beständigkeit der Natur aus, die sich in der Wiederholbarkeit der Experimente und der Gültigkeit der Beweise spiegelt. Die Geisteswissenschaften lassen eine Veränderlichkeit der Kultur zu, die sie in immer neuen Kommentaren begrifflich zu begreifen versuchen. Bildlich verhielte sich entsprechend die bildende Kunst als forschendes Verfahren zur visuellen Welt, indem sie piktural, skulptural, installativ oder performativ handelte.
Erforscht also die bildende Kunst mit den Mitteln der Bilder die Bildlichkeit? Umfassender formuliert: Erforschen Kunst und Gestaltung mittels ihrer material-semiotischen Werkzeuge der Bilder, Töne, taktilen Objekte und raumzeitlichen Installationen die ästhetische Signatur der Kultur der Gegenwart? Kann man aus den künstlerischen Medien die adäquaten Fakten ableiten? Die richtig gestellte Frage ist also nicht jene nach der wahren Verfasstheit des Seienden und ob die Kunst als Forschung das angemessene Mittel zu deren Erkenntnis darstellt. Die angemessene Frage lautet: Welche der Weltfacetten lässt sich im äquivalenten Verfahren durch künstlerische Mittel untersuchen? Was passt sich an Seiendem in die künstlerische Aneignungsform von Welt ein? Wenn wir noch einmal an Warhols Verpackungsschachteln in der Staple Gallery denken, schält sich die Einsicht heraus, dass die Visualität und Skulpturalität der Konsumgüter oder die Bildlichkeit der Werbung ebenso wie die Performativität des kulturellen Handels in der bildenden, visuellen, performativen Kunst dargestellt und gespiegelt werden. Visuelle, bildende, performative Künste korrespondieren formal mit der Performativität und Bildlichkeit der visuellen Kultur und Konsumgesellschaft und antworten heuristisch korrekt auf deren Seinsweise. Die Allgegenwart der Konsumgesellschaft und die Präsenz der visuellen Kultur als prägnanter Umwelt des Menschen im 20. und 21. Jahrhundert provoziert mithin den Gedanken, dass eine Erforschung dieser Weltfacette aus dem Bereich der visuellen Künste heraus und mit den Mitteln ikonischer Reflexion geradezu dringlich wäre, um diese humane Realität angemessen verstehen zu können.
1Vgl. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen, 1984 bzw. Das Fortleben der Kunst, 2000 bzw. The Artworld, in: Journal of Philosophy 61, 1964, S. 571-584.
2Danto: Das Fortleben der Kunst, 2000, S. 35.
3Cabanne, Gespräch mit Marcel Duchamp, 1972, S. 81.
4Norton: The Richard Mutt Case, in: Duchamp, Roché, Wood, (Hg.): The Blind Man, 1917. Deutsch von A.H, im englischen Original lautet der Text: »Whether Mr. Mutt with his own hands made the fountain or not has no importance. He CHOSE it. He took an ordinary article of life, placed it so that its useful significance disappeared under the new title and point of view – created a new thought for that object.«
5»It was a sad surprise to learn of a Board of Censors sitting upon the ambiguous question, What is ART?«, notiert das Pseudonym Louise Norton.
6Vgl. Norton, The Richard Mutt Case, in: Duchamp, Roché, Wood, (Hg.): The Blind Man, 1917.
7Vgl. Schneede: Die Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert, 2010, S. 52.
8Duchamp wird einige Jahre später unter dem Pseudonym Louise Newton im Dada-Magazin »Blind Man« feststellen »The only works of art America has given are her pluming and her bridges.« Norton, The Richard Mutt Case, in: Duchamp, Roché, Wood, (Hg.): The Blind Man, 1917.
9Cabanne, Gespräch mit Marcel Duchamp, 1972, S. 143.
10Vgl. Goodman: Sprachen der Kunst, Entwurf einer Symboltheorie, 1997.
11Im englischen Original heißt das Buch nicht ganz so poetisch »The Transfiguration of the Commonplace«.
12Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 1963, S. 22.
13Cabanne, Gespräch mit Marcel Duchamp, 1972, S. 105.
14Danto: Das Fortleben der Kunst, 2000, S. 35.
15Critical Art Ensemble: Recombinant Theatre and Digital Resistance, 2000, S. 155/156. Die Übersetzung aus dem Englischen ist von A.H. Im Original heißt die Passage: »Marcel Duchamp, is the avatar of digital aesthetics. With his readymade series, Duchamp struck a mighty blow against the value system of the analogic. Duchamp took manufactured objects, signed and dated them, and placed them in a high culture context. Duchamp’s argument was that any given object has no essential value and that the semiotic network in which an object is placed defines its meaning, and hence, its value. If a bottle rack is in a hardware store or next to a sink in a kitchen, its value is defined by its function and its appearance is mundane; however, when it is placed on a pedestal in the legitimizing space of a gallery or museum (where the ready mades reside to this day), and when it carries the signature of a legitimized artist, each object becomes a nonfunctional object d’art, and therefore an object of high value.«
16Critical Art Ensemble: Recombinant Theatre and Digital Resistance, 2000, S. 153. Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von A.H. im Original heißt es: »While it is dominant in appearance in the form of the mass media ‒ now literally the domain of the digital ‒ the high end of value is still found in the analogic. Here the anachronistic economy of artisans reproduces itself as luxury economy.«
17Vgl. zu Duchamps Ansatz eines visuellen Experimentierens auch Moldering: Kunst als Experiment, 2006.
18Vgl. Borgdorff: Die Debatte über Forschung in der Kunst, in: Rey, Schöbi (Hg.): Künstlerische Forschung: Positionen und Perspektiven, 2009.
19Vgl. Heidegger: Zeit des Weltbildes, in: Holzwege, 1980.
20Heidegger: Zeit des Weltbildes, in: Holzwege, 1980, S. 76.
21Heidegger: Zeit des Weltbildes, in: Holzwege, 1980, S. 75.
22… Heidegger würde es nicht Forschung nennen …
23Heidegger: Zeit des Weltbildes, in: Holzwege, 1980, S. 77.