Versuch einer ikonischen Semantik
Symbolkunde – wie entsteht Bedeutung?
»Mit Bildern arbeiten«, schreibt der Kunsttheoretiker Jörg Huber mit Blick auf die forschenden Bilder der Kunst, »heißt, diese ihre spezifische Bild-Logik ins Spiel zu bringen und ihre epistemischen Funktionen ernst zu nehmen, die über die üblichen Verwendungen des Bildes als Illustration oder Quellenmaterial hinausreicht.«1 Diesem geforderten Verständnis einer epistemischen »Bild-Logik« können wir uns auf verschiedene Art und Weise nähern: komparativ, indem wir unsere Erfahrungen mit der begrifflichen Sprache nutzen und in der Differenz fruchtbar machen für ein Verständnis der ikonischen Sprache, generativ, indem wir uns versuchen klar zu machen, wie Dinge im Laufe der Menschheitsgeschichte zu Zeichen werden konnten, oder hermeneutisch, indem wir einzelne künstlerische Arbeiten hinsichtlich ihrer Weisen des Bedeutens auslegen. Diese Wege der Annäherung an die spezifische Bild-Logik bergen ihre jeweiligen Gefahren: Wenn historisch die Menschheitsgeschichte antizipiert wird, ist es wahrscheinlich, dass eine Imagination dabei herauskommt. Wenn einzelne künstlerische Arbeiten das Verständnis von ikonischer Semantik speisen sollen, droht dieses exemplarisch zu bleiben. Wir können aber damit beginnen die ›Logik der Bilder‹ zu verstehen, indem wir komparativ die Bilderwelt im Vergleich zur Begriffswelt als symbolische Ordnung untersuchen. Was verspricht dieser Ansatz, der die ikonische ›Sprache‹ (vorläufig) in Korrelation zur verbalen verstehen will? Der Vorteil des grammaphilen Analyseansatzes ist es, die lange Tradition der Analyse des begrifflichen Symbolsystem nutzen zu können und aus dem kritischen Vergleich zum bildlichen Symbolsystem, die spezifischen Unterschiede herauszuarbeiten. Es fällt uns leicht in dieser vergleichenden Prüfung der Symbolsysteme die bestimmenden Differenzen zu erkennen, denn wir sind es gewohnt, im linguistischen Vorstellungshorizont zu operieren und haben in der Geschichte des Denkens schon einen umfänglichen Kanon an Begriffen für die Beschreibung von textlichen Verfahren der Sinnbildung erstellt. Man kann diesen bestehenden Begriffskanon und die Nuancierungen nutzen, die durch lange Diskussion in ihn eingebettet sind. Wir arbeiten dann an der Bestimmung der ikonischen Semantik etwa so wie jene Wüstenbewohner, die eine umfängliche Erfahrung mit den Nuancen der Farbe Gelb angesammelt haben und diese nutzen, um etwas anderes – etwa die Farbigkeit holländischer Tulpenfelder zu verstehen. Wir nutzen bestehendes Wissen und durchgearbeitete Denkhorizonte. Doch auch der Vergleich mit dem linguistischen System beim Verständnis von Bilderbedeutung droht letztlich in die Irre zu führen, weil das Spezifische der ikonischen Sinnbildung möglicherweise im grammaphilen Vorstellungshorizont nicht in den Blick gerät. Weil gleichsam der Farbenreichtum des Tulpenfeldes nicht als Nuancenkatalog einer Farbe erklärt werden kann. Der Kulturwissenschaftler W.J.T. Mitchell macht uns darauf aufmerksam, dass das Verständnis einer »visual literacy«2 nur begrenzt durch Rückgriffe auf das Schriftverstehen erreicht werden kann. Bildergebilde mögen wie Wortgebilde als Symbolsysteme fungieren, unser Verständnis derselben ist aber von unterschiedlichen Erfahrungen geprägt. Wir müssen einerseits Objekte visuell differenzieren können, um überhaupt imstande zu sein, Worte als Schrift zu erkennen – das Bildersehen ist dem Schriftverstehen vorgelagert. Andererseits liegen den Bildergebilden keine Sprachkompetenzen zugrunde, wie den Wortgebilden. Wir sprechen, bevor wir anfangen das Gesprochene in Schrift zu meißeln und damit der Flüchtigkeit des oralen Ausdrucks zu entziehen – aber wir ›bildern‹ nicht, bevor wir anfangen ikonische Produkte als Kommunikationsmedien zu erzeugen.3 Das ikonische Symbolsystem ist eine ›Schrift‹ ohne ›Sprache‹. Das Sehen geht ihm nicht als Artikulationsvermögen voraus, wie das Sprechen der Schrift. Aber das Sehen ist ein Werkzeug, das die Wahrnehmung von Schrift ebenso ermöglicht, wie die von Bildern. Linguistische wie ikonische Symbolsysteme bedürfen beide der Sicht als Mittel des Erkennens von Sinn, doch das, was an ihnen jeweils als sinnstiftend erkannt wird, ist kategorial anderes und diese Andersheit gilt es zu erkunden. Ist es die Differenz zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten? Ist es, dass Worte formale Abstraktionen eines verabredeten Sinns repräsentieren, während ikonische Zeichen das Konkrete, das an ihnen erkennbar ist, exemplifizieren? Stellt möglicherweise das Wort einen abstrakten Tauschwert für Bedeutung dar? Sind dagegen Bilder konkrete Bedeutung, wie das Gold, das im Verhältnis zum Geld realer Wert ist? Bilder wären das Gold der Worte – in ihrer Materialität nahe am Echten aber schwer handhabbar als Tauschsystem von Bedeutung. Wir werden sehen, dass die Trennungslinie zwischen den Worten und den Bildern nicht entlang der Grenzziehung zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten verläuft, sondern die abstrahierende Kraft der begrifflichen Identifikation mit der ikonischen Exemplifikation korreliert, während beide – Worte wie Bilder – eine semantische Entwicklung von der Konkretion zur Abstraktion zu durchlaufen scheinen.
Wenn Bildnisse semantisch abstrakten Tauschwert beinhalten könnten, dann ist es vielleicht tatsächlich hilfreich, sich zur Klärung einer möglichen ›Bild-Logik‹ zunächst doch bei den Begriffen zu informieren und über die Weisen des Bedeutens nachzudenken, die diesen zugestanden werden. Bei der Antwort auf die Frage, wie sprachliche Begriffe bedeuten, hat sich Ludwig Wittgensteins Vorschlag als sehr einflussreich erwiesen, dass die Bedeutung von sprachlichen Äußerungen abhängig zu denken sei von den Regeln des Gebrauchs. Wittgenstein legt in seinen »Philosophischen Untersuchungen«4 nahe, dass ein Ensemble von Gewohnheiten die Verwendung von Worten im Regelwerk der Sätze organisiert. Bedeutung wird durch eine kulturhistorisch gewachsene, kontextabhängige soziale Verabredung generiert, die uns dazu veranlasst, die phonetische Modulation etwa von ›Pferd‹ mit einer gewissen Vorstellung in Verbindung zu bringen, bei der wir durch entsprechende Erfahrungen jenen Gemeinsinn entwickelt haben, er uns davon ausgehen lässt, dass andere auch diese Vorstellung aufrufen. Bedeutung liegt nicht im Wesen der Phoneme oder Buchstaben und ist nicht die Natur der gesprochenen Worte, sondern wird diesen verabredungsgemäß zugeordnet wie die Mütze dem Koch im Kontext der gewerblichen Küche, der durch diese seinen Charakter als Maitre des Cuisine ausdrückt. Diese gebrauchstheoretische Aufschlüsselung der verbalen Sprachspiele erklärt die Genese von Bedeutung als kulturhistorisches und kontextuelles Phänomen. Der Gehalt von Worten entsteht und wandelt sie sich in konkreten Zusammenhängen des Sprechens und Schreibens über historische Zeitläufe hinweg und wir können der Vermutung Raum geben, dass es sich mit dem Bedeutungsgehalt ikonischer Zeichen ganz ähnlich verhält. Ein »Sprachspiel« auf der Seite der Worte korrespondierte dann mit einem ›Bildspiel‹ auf der Seite der ikonischen Zeichen, innerhalb dessen beispielsweise eine bestimmte Darstellung von ›Pferden‹ etwa die Vorstellung von Schnelligkeit durch kulturhistorisch gewachsene, kontextabhängige soziale Verabredungen exemplifizierte, während eine andere Darstellung von ›Pferd mit Reiter‹ ebenso konventionell geprägt den Vorstellungsraum souveräner Herrschaft aufrufen würde.
Die Bedeutungstheorie Wittgensteins kann die verbale Sprache als ein verabredungsgemäßes und erlerntes Spiel von Regeln und Sinn plausibel erklären. Die darin eingebettete Relativität des Verstehens von Sinn veranlasst den Philosophen Jean-François Lyotard von einer Inkommensurabilität zwischen radikal unterschiedlichen Sprachspielen auszugehen.5 Die Bedeutungsgeflechte in bestimmten Sprachkontexten seien so unterschiedlich geknüpft, dass sie nicht auf andere Sprachkontexte übertragbar sind. Die Sprecher verstehen sich im Zweifelsfalle nicht über die Grenzen der Sprachspiele hinweg. Im Falle der ikonischen Zeichen würde eine postulierte Inkommensurabilität zwischen den ›Spielen‹ erklären, warum bestimmte künstlerische Arbeiten einfach nicht verstanden werden wollen, weil nämlich Ihre Sinnhaftigkeit keinen Wert im Erwartungshorizont der sie ›Lesenden‹ besitzt. Mit der gebrauchstheoretischen Erklärung der Frage, wie Worte und Sätze einerseits Bedeutung generieren und andererseits an die Grenzen der Verständigung stoßen, wird allerdings ein anderes Phänomen verbaler Semantik nicht verständlich. Inwiefern nämlich mit dem Begriff vom ›Pferd‹ nicht spezifisch das eine vor uns stehende Einzelwesen verabredungsgemäß ›begriffen‹ ist, sondern dasselbe als Vertretung einer Gattung. Der Gebrauch von Begriffen operiert mit verallgemeinerbaren Vorstellungen nicht aber mit dem ›spezifischen Käfer in der Schachtel‹ vor uns.6 Der individuell gesehene Käfer in der Schachtel oder das einzelne Pferd haben keinen Begriff. Sie haben vielleicht einen Namen. Der Name markiert die beiden in ihrer Besonderheit. Aber er artikuliert nicht den Sachverhalt. Namen sind semantisch leer. Begriffliche Bedeutung dagegen ist gehaltvoll, indem sie vom Einzelfall dessen, was benannt werden soll, abstrahiert und generalisiert. Das Spiel der Bedeutungen im verbalen Sprachsystem ist generalisierend.
Begriffe identifizieren die Dinge im Gattungshaften und sehen von deren Eigenlogik ab, so diagnostiziert es entsprechend Theodor W. Adorno in seiner kritischen Erkenntnistheorie. Adorno vertritt die These, dass die Generalisierung nicht von den Begriffen komme, sondern am Denken liege, denn »Denken heißt identifizieren«.7 Mit dieser Tendenz zur Generalisierung im Denken und Benennen thematisiert Adorno etwas, was für ihn einem epistemologischen Grundsatzproblem gleichkommt, denn »dringlich wird, für den Begriff, woran er nicht heranreicht, was sein Abstraktionsmechanismus ausscheidet…«8 Die kritische Erkenntnistheorie Adornos nimmt das Abstrahierende der Begriffe in den Blick, um darauf aufmerksam zu machen, dass diese Abstraktion notwendig von der Mannigfaltigkeit und Einzigartigkeit dessen absehen muss, was begrifflich gefasst werden kann – und vielleicht auch gefasst werden sollte. Adorno hält diese Absehung für einen Verlust. Dem Begriff entgeht das »Begriffslose«, welches sich in der Identifikation entzieht. Der Begriff übersieht das »Nicht-Identische« – er kann den Käfer in der Schachtel nicht fassen. Sich mit Adorno dem Problem verbaler und nonverbaler Verfahren der Bedeutungsproduktion zu nähern, hat den Vorteil, einen Philosophen an der Hand zu haben, der sich nicht nur mit den Begriffen und deren Verfahren der Produktion von generalisierender Identifikation beschäftigt hat, sondern darüber hinaus begriffliche Philosophie erkenntnistheoretisch ins Verhältnis zur nicht-begrifflichen Kunst setzte. Adorno widmet sich der Frage nach den Begriffen und ihren Weisen des Bedeutens im Vergleich zur Kunst und deren Weise des Zugangs zur Erkenntnis. Kunst ist für Adorno ein alternatives Verfahren der Erkenntnis und anhand der Unterschiede beider kann er sich sowohl den abstrahierenden Charakter des begrifflichen Bedeutens wie den besonderen Charakter des ästhetischen Erkennens verständlich machen. Kunst verhilft, so die Diagnose Adornos, dem Besonderen im Konkreten zum Ausdruck. Begriffe gehen dagegen notwendig am Besonderen der zu erkennenden Sachen durch den verallgemeinernden Charakter der begrifflichen Sprache vorbei. Adornos Theorie beinhaltet drei gedankliche Bewegungen: die Bestimmung der Begriffe als Werkzeuge der Erkenntnis, eine Kritik an deren identifizierender Generalisierung und die Bestimmung der Kunst als alternativer Gestalt der Erkenntnis durch mimetische Anverwandlung.9 In den Begriffen erkennt er eine Sorte von Symbolen, die das Einzelne zu Allgemeinheiten zusammenfassen und durch diese Generalisierung identifizieren und damit benennbar machen. Diese Bestimmung macht uns darauf aufmerksam, dass es schon in der Struktur des begrifflichen Ausdrucks liegt, aufs Allgemeine zu gehen. Denn Begriffe dienen der Kommunikation und sind damit einer überzeitlichen, interpersonellen Gültigkeit verpflichtet.10 Wäre der semantische Gehalt eines Wortes auf den Moment einer besonderen Angelegenheit spezialisiert – den einem Käfer in der Schachtel – wäre seine kommunikative Reichweite mit dem nächsten Augenblick und über die konkrete Situation hinaus erschöpft. Die aus Worten zusammengesetzte Sprache gibt die Welt nicht im Einzelnen wieder, sondern die sprachliche Verallgemeinerung in Begriffen ermöglicht es, ein konkretes Objekt als Exemplar einer Gattung anzusprechen und damit in dieser Qualität zu kommunizieren. Diese sprachliche Verallgemeinerung im Begriff verhindert es allerdings, das Konkrete in der spezifischen Fülle seines singulären Daseins auszudrücken. Durch Worte und deren gebrauchsmäßig vereinbarten Gehalt werden Objekte verglichen und mit anderen Dingen zu einer Familie im Begriff verbunden. Für Adorno ergibt sich daraus die Frage, was ein Begriff – und damit auch die begrifflich arbeitende Philosophie – angesichts der Fülle und Mannigfaltigkeit des Daseins überhaupt aussagen kann? Das mittels der Begriffe erkennende Subjekt bleibt durch das Verfahren der verbalen Generalisierung in der Distanz zum Objekt und übersieht darin notwendig das Besondere des einzelnen Objekts. Die Bestimmung der begrifflichen Sprache als einem Artikulationswerkzeug, das verallgemeinert, führt für Adorno notwendig in die Erkenntniskritik. Denn was sagen Worte über Objekte, Sachverhalte, Tatsachen, Denkweisen tatsächlich aus, deren Spezifisches sie gerade nicht zu benennen in der Lage sind? Man kann den Vorbehalt noch radikaler formulieren, denn es besteht der Verdacht, dass nicht nur die Begriffe am Besonderen der Objekte vorbeigehen, sondern auch deren Mannigfaltigkeit und Nicht-Begriffliches geradezu verschleiern. Begriffe, mit denen wir uns über die Welt verständigen, strukturieren unsere Wahrnehmung derselben. Erkennen wir also am Menschen in seiner Benennung immer nur dasjenige, was wir in seinem Gattungshaften schon bestimmt haben? Der identifizierende Zugriff der Begriffe geht nicht nur an der Wahrheit vorbei, die, so Adorno, im Besonderen der Objekte läge, er richtet die Objekte auch entsprechend der Norm des Allgemeinen zu.
Gegenüber diesem normierenden Zugriff der Begriffe erkennt Adorno in den ästhetischen Artikulationen der Kunst einen komplett anderen Zugang zur Welt. Kunst erkennt die Objekte nicht besser als die Begriffe und Kunst identifiziert auch nicht das Einzelne in seiner Besonderheit, sondern in Kunst scheint die Wahrheit des Besonderen durch die andere Weise des Artikulierens von Welt auf. Was soll das heißen? Und inwiefern hilft uns diese Vorstellung Adornos vom Wahrheitsgehalt der Kunst, für ein Verständnis von Kunst als Ausdruck der Forschung?
Mit Adorno wird plausibel, dass Begriffe etwas als wesentlich Angenommenes aus dem Mannigfaltigen herausgreifen und terminologisch im Gattungshaften festzuhalten suchen. Kunstwerke sind in der Beschreibung Adornos dagegen gleichsam wie das Besondere selber, wenn auch bewusst komponiert, und sie gehen damit im Mannigfaltigen auf, das in ihnen gebrochen zurückstrahlt – Kunst scheint bei Adorno mit einer epistemischen Spiegelkabinetttaktik zu operieren. Das Taktische daran, als einem raffiniert-rationalen Verfahren, wäre Adorno insofern wichtig, als Kunst bewusste Konstruktion ist und nicht einfach eine Wiederholung des Mannigfaltigen und damit gleichsam Wahrnehmung zweiter Ordnung. Das Spiegelkabinett, um im Bilde zu bleiben, ist der bloß verdoppelten Wahrnehmung gegenüber als Gebilde gebaut und reflektiert planmäßig das Mannigfaltige und Ephemere, um es in die Sphäre der Erfahrung zu versetzen. Ein Kunstwerk sei – so Adorno – eine planmäßig komponierte Konstellation von Material, um die Besonderheit des Einzelnen »als imago« – als Idee zu reflektieren und damit der Erfahrung zugänglich zu machen. Das Nichtbegriffliche der Kunst wird zum Garanten einer Erkenntnis, die nicht der generalisierenden Geste anheimfällt. Ihr Materielles weist in seiner Besonderheit auf das Nichtidentische, das dem identifizierenden Zugriff der Begriffe entgeht. Gleichzeitig spiegelt das Geschaffene der Kunst das Gewordene der Welt und anverwandelt sich darin eher an das zu Erkennende, als dass es dieses aus der Distanz fixiert. Adorno begreift Kunst nicht als alternative Sprache gegenüber der begrifflichen Kommunikation. Kunst ist nicht eine Sprache über Welt, sondern eine Begegnungsart mit Welt. Kunst spricht bei Adorno nicht, sie symbolisiert nicht, sie bedeutet nicht – sie ›mimetisiert‹. Der kritische Theoretiker bringt den Begriff der Mimesis ins Spiel, um die spezifische Form der Anverwandlung zu markieren, die er in der Weise erkennt, wie sich Kunst und Welt zueinander verhalten. Die mimetische Begegnungsart der Kunst mit Welt gilt ihm als wahrheitshaltiger als die begriffliche Kommunikation über Welt, weil Mimesis affirmiert aber nicht fixiert. Mimetische Kunst geht in diesem Prozess der Näherung an Welt nicht in der Symbiose auf, weil sie als Konstruktion wahrnehmbar bleibt. Sie ist Gestalt und damit von Anderem differenziert und in dieser Differenz eine Erkenntnis ›von‹ und keine Auflösung ›in‹. In Adornos Worten: »Fortlebende Mimesis, die nichtbegriffliche Affinität des subjektiv Hervorgebrachten zu seinem Anderen, nicht Gesetzten, bestimmt Kunst als eine Gestalt der Erkenntnis, und insofern ihrerseits als ›rational‹.«11 Die Mimesis jedoch, die bei Adorno den besonderen Zugang der Kunst zur Erkenntnis benennt, ist eben keine Bedeutungsweise, sondern eine Begegnungsart – eine Praxis, mit der sich Menschen gestaltend der Welt nähern. Sie ist eine Form des Verstehens, die sich produktiv einschmiegt, wie geknetete Tonmasse an den Vulkanstein, um das Wesen des Porösen zu affirmieren.
Adorno erkennt den Wahrheitsgehalt der Kunst in ihrer Ähnlichkeit mit dem, was er für gute Erkenntnis veranschlagt. Die wäre ein dialektisches Spiel von Identität als begreifend festhaltender Verallgemeinerung und Nichtidentität als einer Utopie des affirmierten Besonderen: »Indem Kunst den Bann der Realität wiederholt, ihn zur imago sublimiert, befreit sie zugleich tendenziell sich von ihm.«12 Das Oszillieren zwischen diesen beiden Polen eines manifestierenden Zugriffs bei gleichzeitiger Nichtfestlegbarkeit dessen, worauf zugegriffen wird, macht aber auch den Rätselcharakter der Kunst für Adorno aus. Die im Kunstwerk vermutete Wahrheit ist die eigentliche, weil sie dem Nichtidentischen keine begriffliche Identifikation antut. Gleichzeitig hat sie in erkenntnistheoretischer Hinsicht das Problem aufgrund dieser Nichtbegrifflichkeit im Rätselhaften zu verbleiben. »Die Werke sprechen wie Feen in Märchen: du willst das Unbedingte, es soll dir werden, doch unkenntlich. Unverhüllt ist das Wahre der diskursiven Erkenntnis, aber dafür hat sie es nicht; die Erkenntnis, welche die Kunst ist, hat es aber als ein ihr Inkommensurables.«13 Deswegen braucht die Kunst für Adorno die Begriffsbildung der Philosophie und die Philosophie braucht umgekehrt die Wahrheit der Kunst. Dass aber gerade in der nicht-kommunikativen Kommunikation der Kunstwerke ihre Wahrheit liegt, hängt vor allem mit der adonitischen Bestimmung von Wahrheit zusammen. Jede Identifikation des sinnstiftenden Begriffs geht an der Wahrheit vorbei, weil Wahrheit immer mehr ist, als die Grenze des Begriffs umreißen kann. Es gibt für Adorno diese gleichsam utopische Wahrheit jenseits der Erkenntnis als ein Absolutes. Die Begegnungsart der Kunstwerke kommt dieser Wahrheit nahe, weil sie das zu Erkennende in materiellen Konstellationen umkreist. Je weniger diese Konstellation als Bedeutung festzulegen ist, desto wahrer ihr Erkenntniszugriff, weswegen aus der Perspektive des Komponisten Adorno die Musik die wahrhaftigste aller Begegnungsarten mit der Welt als Erkenntnis ist.
Inwiefern hilft uns diese erkenntniskritische Bestimmung der Begriffe und der Kunstwerke durch Adorno für ein Verständnis der Weisen ikonischen Bedeutens? Wir erkennen die Begriffe als identifizierende Sprache auf der einen Seite und davon getrennt die Kunst als mimetische Begegnungsart auf der anderen. Für Adorno bedeutet Kunst gerade nichts und erweist sich darin als bessere Erkenntnis. Mit Adornos Theorie können wir eine symbolische Ordnung auf der Seite der Sprache erkennen und eine gestaltende Praxis auf der Seite der Kunst. In der Folge der von Adorno vorgenommenen dialektischen Zuweisung von begrifflich Allgemeinem gegenüber ästhetisch Besonderem, künstlerischem Werk gegenüber philosophischer Sprache wird jedoch übersehen, das es sich bei der begrifflichen Sprache und ästhetischen Begegnungsart um zwei unterschiedliche Kategorien handelt – Sinn und Praxis. Die von Adorno beschrieben Phänomene stehen sich nicht als unterschiedliche Weisen der Erkenntnis gegenüber – begrifflich zugreifend die eine und mimetisch annähernd die andere, sondern es nähert sich die Kunst in ihrer gestaltenden Praxis der zu erkennenden Welt auf ihre mimetische Weise an und es vermittelt die begriffliche Sprache diese Erkenntnis über die momenthafte Erfahrung hinaus. Wir haben es mit einer (ästhetischen) Erkenntnispraxis und (verbalen) Erkenntnisvermittlung zu tun. In der Tat kann die mimetisch konstruktive Gestaltungsarbeit mit Materiellem in der Kunst in der Annäherung an Welt als eine Praxis des Forschens verstanden werden. Das schließt aber nicht aus, dass die Erkenntnisse aus diesen ästhetischen Forschungspraktiken nicht auch in den künstlerischen Artikulationen symbolisch kommunizierbar und in ihrer Bedeutung lesbar würden. Adorno hätte dann mit seiner Theorie zur Kunst einen Beitrag zum Verständnis ästhetischer Forschungspraxis geleistet. Und mit seiner Kritik an der identitätsstiftenden Struktur der Begriffe verschafft er uns Einblicke in das Funktionieren von Symbolen als Bedeutungsträgern. An anderer Stelle könnte nun darüber nachgedacht werden, inwiefern nicht auch auf der Seite der Begriffe mimetische Erkenntnisverfahren etwa im Philosophieren als eine Praxis des Denkens ausfindig gemacht werden können. Auf der Seite der Kunst steht aber die Suche nach einer möglichen identitätsstiftenden Struktur der ästhetischen Artikulation für die epistemologische Ästhetik an. Für diese epistemologische Ästhetik müsste es eine ästhetische Ausdruckweise – verstanden als Artikulationsmedium künstlerischer Einsicht – den Begriffen gerade in deren verweisender und generalisierender Weise der Bedeutungserzeugung ähnlich tun, um Einsichten und Mitvollzug über das singuläre Erschauern hinaus zu vermitteln. Die Kunst braucht nicht die begriffliche Philosophie zur Artikulation dessen, was sie meint. Sie bedarf der Aufmerksamkeit auf ihre eigene symbolische Ordnung. Und sie braucht eine ›Lesekompetenz‹ der Betrachtenden, die in der Lage sein sollten, das ikonische Bedeuten im Kunstwerk mit ebensolcher Bravour zu entziffern, wie Mathematiker der Kombinatorik ihrer Zahlen in Formeln Sinn abgewinnen. Adorno diskutiert an der Kunst gerade nicht diesen lesbaren Symbolcharakter, sondern das Erschauern im Einsehen – die Praxis des Verstehens: »Am Ende wäre das ästhetische Verhalten zu definieren als die Fähigkeit, irgend zu erschauern, so als wäre die Gänsehaut das erste ästhetische Bild.«14 Der Erkenntnistheoretiker Nelson Goodman vertritt demgegenüber die Auffassung, dass jede Vorstellung von ästhetischer Erfahrung als einer Art kognitionsfreiem »emotionalem Bad« einfach »hirnverbrannt« sei. »Der Mondrian oder das Quartett von Webern sind offensichtlich nicht emotionaler als Newtons oder Einsteins Gesetze; und wahrscheinlich wird weniger das Ästhetische säuberlich vom Wissenschaftlichen durch eine Linie zwischen dem Emotionalen und dem Kognitiven getrennt als vielmehr einige ästhetische Objekte und Erfahrungen von anderen.«15
Nun würde auch Adorno das Erschauern als Zeichen von Kunstgehalt nicht zum emotionalen Bad erklären. Doch das psychosomatische Leidmoment ist ihm das gleichsam körperliche Indiz für ein Aufscheinen der Wahrheit im Werk. Wenn aber aus Goodmans Perspektive die Trennungslinie zwischen dem kognitiv Identifizierenden und dem emotional Erschauerten nicht zwischen der Kunst und der Wissenschaft oder Philosophie verläuft, sondern quer durch diese beiden hindurch zwischen unterschiedlich kognitiv oder emotional operierenden Objekten und Theorien, dann fielen zumindest manche künstlerische Äußerungen unter das adornitische Diktum vom identifizierenden Zugriff, wie umgekehrt mache wissenschaftliche und philosophische Artikulationen vor allem psychosomatisch erschauern ließen. Dann wäre nicht das Mimetische die Signatur der materiellen Kunst und das Identifizierende das Kennzeichen der begrifflichen Theorie, sondern eine wissenschaftliche Kunst ließe sich von einer nichtidentischen unterscheiden, wie auch eine ästhetische Theorie von einer identifizierenden.
Man ermisst an dieser Stelle die philosophische Perspektivverschiebung von einem Adorno, der mit den Objekten und der Kunst mitleidet, weil denen die Gewalt der begrifflichen Identifikation angetan wird und deren besondere Wahrheit in der philosophischen Terminologie unerkannt bleibt, zu einem Goodman, der – wie schon Ernst Cassirer wie wir noch sehen werden – verbale wie nonverbale Äußerungen gleichermaßen als Symbolsysteme analysiert und in ihnen eine Weise der Welterzeugung vermutet. Aus dem »Rätselcharakter« der Kunst bei Adorno wird eine »Exemplifikation« bei Goodman und die Forderung nach dem »Vorrang des Objekts« von Adorno wendet sich in den Befund bei Goodman, dass Objekte ein »Produkt aus Kunst und Diskurs« seien. Der Gedankengang Goodmans vor dem Hintergrund der Theorie Adornos lässt sich dorthin gehend zusammenfassen, dass Goodman den identifizierenden Zugriff der Begriffe auch im Symbolsystem Kunst insofern erkennt, als dass der Zugriff das Einsichtige zwar nicht begrifflich zurichtet, aber ästhetisch entfaltet. »Der Gegenstand sitzt nicht da, wie ein sanftmütiges Modell, das seine Attribute säuberlich sortiert darbietet, damit wir sie bewundern und porträtieren können«, so Goodman. »Er ist einer von unzähligen Gegenständen und lässt sich mit einer beliebigen Auswahl aus ihnen zusammenstellen; für jede dieser Zusammenstellungen gibt es Attribute für den Gegenstand.« Alle Klassifikationen gleichberechtigt zuzulassen liefe für Goodman darauf hinaus, überhaupt keine Klassifikation vorzunehmen. »Klassifikation beinhaltet Präferenz; und die Anwendung eines (pikturalen, verbalen usw.) Etiketts bringt ebenso häufig eine Klassifikation hervor, wie sie sie festhält.«16 Grundlage beider Erkenntnistheorien, sowohl der Adornos wie der Goodmans, ist eine Symboltheorie, die vom produktiven Eigensinn der Bezeichnung als »Etikettierungen« (Goodman) oder »Identifikationen« (Adorno) ausgeht. Nur werden unterschiedliche Schlüsse daraus gezogen: Missachtete Objekte aus der Perspektive Adornos oder erzeugte Welten aus der Perspektive Goodmans. Für Adorno liegt die »Bild-Logik« im Inkommensurablen und ihr besonderer Sinn bedarf der Begriffe, um dechiffriert zu werden. Für Goodman sind künstlerische Äußerungen Teil eines nonverbalen Symbolsystems und konstituieren ebenso wie Begriffe Sinn und Welt. Diese philosophische Perspektivverschiebung folgt nicht einer bloßen Einstellungsänderung zwischen zwei Denkern, sondern zeugt auch von einem historischen Wandel in der epistemischen Grundstimmung. Wir beginnen (im Verlauf der Philosophiegeschichte) den produktiven und sprachlichen Charakter der Kunst zu erkennen, weil wir ihn von dieser erwarten.
Wir können also davon ausgehen, dass zumindest im gegenwärtigen epistemischen Erwartungshorizont einzelne künstlerische Äußerungen zu erwarten sind, die als nonverbales Symbolsystem Aussagen bedeuten und als Artikulationen verstanden werden können. Aber wir behalten die Bestimmungen Adornos über die generelle Struktur des Bedeutens – bei Begriffen – als einem Abstrahieren im Kopf, um nun der Frage nachzugehen, wie also das abstrakte Bedeuten an die ästhetischen Dinge kommt. Wie werden künstlerische Artikulationen zu einem Symbolsystem? Wie bedeuten ästhetische Dinge so, dass sie als epistemische Dinge Einsichten kommunizieren? Mit der Gebrauchstheorie der verbalen Sprache von Ludwig Wittgenstein wurde klar, dass die Bedeutung an die Worte kommt, wie der Lorbeerzweig zur Ehre – die Sprachgemeinschaft weist den Symbolen seine Semantik durch den Gebrauch entsprechend der Bedeutung zu. Als Schwarm von Sprechenden und Schreibenden ist diese Gemeinschaft in ihrer Bedeutungszuweisung graduell diffus. Sie schafft semantische Orbitale um Worte herum, wie Aufenthaltswahrscheinlichkeiten von Elektronenteilchen um Atomkerne. Mit relativ großer Wahrscheinlichkeit hält sich die Bedeutung von vierbeinigen Huftieren am Begriff des Pferdes auf, weil die meisten, die ihn sprechend ins Spiel bringen, ihn in diesem Sinne gebrauchen. Gibt es entsprechend einen Schwarm von Schaffenden und Wahrnehmenden, die den ästhetischen Dingen und ihren Anordnungen im Verlauf der Kulturgeschichte durch entsprechenden Gebrauch einen Verweisungscharakter zugewiesen haben, so dass diese ästhetischen Dinge als ein System von Bedeutungen lesbar geworden sind? Und woran erkennt die ästhetische Sprachgemeinschaft die symbolhaft zu verstehenden Dinge in einer Welt voller Gegenstände, von denen möglicherweise manche aber nicht alle mit uns ›sprechen‹ wollen?
Vom Konkreten zum Abstrakten
Obwohl das Verständnis von Kunst als einem Symbolsystem vielleicht erst mit dem Aufkommen der künstlerischen Forschung brisant geworden ist und keinerlei Notwendigkeit besteht, eine historische Genealogie der ikonischen Zeichen zu behaupten, so ist es doch erhellend – im Sinne eines Gedankenexperiments – die Kulturgeschichte als imaginäre Rekonstruktionen zu durchlaufen, um nachzuschauen, ob sie Anregungen bereithält, in welchen Zusammenhängen Bilder als epistemische Symbole zum Tragen kamen oder wie es kam, dass ästhetische Dinge als Zeichen behandelt wurden. Können wir uns vorstellen, wie sich eine verweisende Funktion ästhetischer Dinge entwickelt hat? Wo haben sich ikonische Symbole als Werkzeug der Erkenntnis im Verlauf der Kunstgeschichte herausgebildet? Wie unterscheidet sich ein epistemisches Verständnis von Kunst von anderen Rezeptionsformen?
Betrachten wir die alten Jagdszenen und Tierdarstellungen in Höhlenmalereien aus dem Jungpaläolithikum.17 Bei diesen skizzenhaften Höhlenbildnissen scheint es sich um kulturelle Artikulationen der frühen Menschheit zu handeln. Doch was und wie bedeuten sie? Bilden die Höhlenmalereien eine erfolgreiche Hatz ab und müssen insofern als dokumentarisches Abbild verstanden werden? Oder sollen sie als ästhetische Figurationen die Gefühle ansprechen und bei den Betrachtenden eine Stimmung erzeugen? Oder reflektieren diese Bilder das Jagen als kulturelle Praxis und müssen als erkenntnistheoretisch relevantes Symbolsystem gedeutet werden? Vielleicht aber besteht ihre Bedeutung tatsächlich darin, eine magische Wirkung auf das Wild oder den Jäger zu entfalten? An dieser Liste möglichen Sinns ist nun weniger relevant, wie die Bilder ›wirklich‹ bedeuten. Relevant ist vielmehr die Klärung der Unterschiede, die den verschiedenen Sinnproduktionen innewohnen. Als Dokumentationen zeichnen die Bilder an der Höhlenwand Ereignisse visuell auf. Als ästhetische Figurationen rühren sie im Modus des Hineinversetzens und Mitvollziehens die Betrachter sinnlich an. Als erkenntnistheoretisch relevantes Symbolsystem verweisen die Bildelemente auf einen abstrakten Sinn, der ihnen von einer Betrachtergemeinde zugewiesen wird. Als magische Artefakte bilden Höhlenzeichnungen mit dem Dargestellten eine wirkungsvolle Einheit. Die Magie der Darstellung bestünde in der effektiven Verbundenheit, welche das Bild mit der Realität herstellt und mit der es als Teil von Wirklichkeit auf diese einwirkt.
Wir können nun im Gedankenexperiment eine historische Entwicklungslinie imaginieren, im Laufe derer die Bedeutung der Bilder vom Konkreten zum Abstrakten verlief – von einem magischen, über ein sinnliches, hin zu einem dokumentierenden und schließlich zeichenhaften Bildverständnis. Das Verständnis der ästhetischen Artefakte hätten sich in dieser rekonstruktiv-imaginären Lesart kulturhistorisch von einer Materialität, die mit dem Realen verbunden ist, hin entwickelt zu einer Materialität, die auf Ideelles verweist. Für Hans-Georg Gadamer haftet allerdings auch seiner zeitgenössischen Bilderwelt des 20. Jahrhunderts noch der alte magische Bildzauber an. Bilder – insbesondere Portraits – stehen mit ihrem Dargestellten in wirksamem Bezug. In Bildern zeichnet sich nicht nur die dargestellte Welt ab. Bilder schaffen eine konkrete Wirklichkeit, die eine Beziehung zum Realen hat. Jedes Bild fügt, aus Gadamers Sicht, dem Dargestellten im doppelten Sinne des Wortes etwas zu: Es addiert eine Seinskomponente zum Bestehenden und verletzt die vormalige Integrität des Dargestellten, indem es dessen Sein durch die eigene Anwesenheit erweitert und verwandelt. Und tatsächlich scheint es so, als fügten auch die inflationären Veröffentlichungen von Personenbildern in den sozialen Netzwerken des 21. Jahrhunderts den Dargestellten einiges an Identität hinzu. Die ›Magie‹ von Instagram knüpft ein effektives, die Integrität der dargestellten Personen beeinflussendes Band, zwischen dem Bildnis und dem Porträtierten. Mittels seiner überall positionierten Portraits ist der Souverän oder das Staatsoberhaupt – so das Beispiel Gadamers – durch die Darstellung von ihm erweitert. Die öffentlichen Bilder der Dargestellten gehören zur Realität der Darstellung. Das ikonische Zeichen bleibt dem Denotat nicht äußerlich. In diesem magischen Verständnis von Bildern ist die Darstellung nicht passiv, sondern sie bewirkt etwas in der Welt und an dem Dargestellten. »Durch die Darstellung erfährt das Sein einen Zuwachs an Sein.«18 Für Gadamer hat die Bilderwelt keine abstrakte oder symbolische Qualität, sondern eine konkrete Realität. Er betont damit weniger den Zeichencharakter der Bilder als vielmehr ihre Wirksamkeit. Eine Wirksamkeit, mit der Bilder eine eigene »magische« Wirklichkeit schaffen. Die Frage, was Bilder sind – Dokumente, Kommunikationsmittel, Magie oder sinnliche Dinge – lässt sich von daher eher als Sache des Blickwinkels und des kulturellen Klimas verhandeln, in dem sie betrachtet werden, und weniger als historische Entwicklungslinie von Bildverständnissen. Uns interessiert aber letztlich im Rahmen dieser epistemologischen Ästhetik die philosophische Perspektive auf Bilder als kommunikative Symbolsysteme in einem kulturellen Klima, das künstlerische Artefakte als epistemische Dinge verhandelt. Wenn also ikonische Wirkung und ikonischer Symbolgehalt nicht geschichtlich aufeinander folgen, sondern Paralleluniversen der visuellen Kultur bilden, bleibt es dennoch erhellend auf der Suche nach Kriterien verschiedener Bedeutungssysteme weiterhin eine historisch-rekonstruktive Perspektive einzunehmen. Es geht dabei letztlich um ein systematisches Verständnis von ästhetischen Dingen als epistemischen Bedeutungsträgern und Kommunikationsmitteln.
Wie aber wurden – gedanklich oder geschichtlich – aus schlichten Gegenständen ästhetische Kommunikationsmedien mit Verweisungscharakter? Auch die sprachlichen Begriffe haben im Laufe der Kulturgeschichte eine Entwicklung vom Konkreten oder Magischen zum Abstrakten durchlaufen, um schließlich Ideen zu kommunizieren – so die Annahme des Kulturphilosophen Ernst Cassirer aber auch die These des Altphilologen Bruno Snell. Diesen Entwicklungsprozess als Gedankenexperiment vom konkreten Zeigen und magischen Verbinden zum abstrakten Verweisen anhand des verbalen Symbolsystems zu rekapitulieren, hilft die Kategorien vom Abstrakten und Konkreten auch für das ikonische Symbolsystem zu differenzieren. Die konkret-magische Pragmatik der Sprache steht für Ernst Cassirer am Anfang der frühen Menschheit und des kindlichen Lebens.19 Das Kind verlangt »mit mehr oder weniger artikulierten Lauten« nach dem Kindermädchen und bemerkt, dass es mit der Anrufung »die gewünschte Wirkung erzielt«. Die frühe Menschheit, so schließt Cassirer, überträgt diese soziale Grunderfahrung, dass Worte Wirkung zeitigen, auf die Gesamtheit der Natur. »Der Glaube an die Magie beruht auf dem tief verwurzelten Glauben an die Solidarität des Lebens.« Solidarisch mit den Menschen, sollen im natürlichen Umfeld dann auch der Regen oder die Beutetiere wie das Kindermädchen durch Anrufung kommen. Nachdem allerdings – menschheitsgeschichtlich oder auch lebensweltlich – diese Erwartung enttäuscht wurde, wird die magische Funktion des Wortes durch seine semantische ersetzt. Die Sprache – in dieser frühgeschichtlichen Imagination – war zunächst Handlung und gewann dann Bedeutung. Die Entdeckung der Semantik als Bedeutungsfunktion des Ausdrucks, so Cassirer in seinem »Versuch über den Menschen«, verbleibt zunächst auf der Ebene des Konkreten. »Die menschliche Sprache entwickelte sich von einem ersten vergleichsweise konkreten zu einem abstrakten Stadium.«20 In der historischen Retrospektive Cassirers, wird die Geschichte erzählt, dass die Namen für Dinge vorerst konkret gewesen seien, weil auch die Lebensweise konkrete Kenntnisse der Einzelsachverhalte erforderte. »Ein Interesse an bloßen ›Allgemeinbegriffen‹ ist einem Indianerstamm weder möglich noch notwendig; es genügt und ist viel wichtiger, Gegenstände anhand sichtbarer und greifbarer Merkmale voneinander zu unterscheiden.« Studien zu indigenen Sprachen in Nordamerika oder Analysen zu arabischen Begriffen werden von Cassirer herangezogen, um die Ausprägung und Mannigfaltigkeit konkreter Sprachverwendung nahezulegen. Es gab im Arabischen fünf- bis sechstausend Bezeichnungen für Kamele, variiert nach konkreten Einzelheiten wie Gangart, Gestalt oder Größe, aber keinen Gattungsbegriff für das Tier. Es konnten unter den indigenen Sprachen Amerikas unterschiedliche Ausdrücke für das Schlagen mit der Faust, mit der Handfläche oder einer Waffe gefunden werden, ohne dass ein übergeordneter Begriff das Schlagen abstrakt zu benennen in der Lage war. Diese flache Hierarchie der Ausdrücke ohne Metabegriff ist allerdings auch aus heutiger Perspektive nicht so verwunderlich. Sie existiert in modernen Sprachen. Das Deutsch des 21. Jahrhunderts kennt die Konkretion in der Namensgebung für die Ansammlung von Tieren: Bei Affen wird von einer Gruppe gesprochen, bei Rindern von einer Herde, Wölfe bilden ein Rudel, Fische und Vögel einen Schwarm und Schweine finden sich zu einer Rotte zusammen. Das Versammelnde der Tiere hat einen anderen Namen je nach ihrer Art als Huftiere oder Primaten, Raubtiere oder durchs Wasser und die Lüfte gleitende. Der Überbegriff für lebendige Ansammlungen aller Arten fehlt oder wird in der Praxis des Sprechens nicht genutzt, weil er als unzureichend gilt. Was mit Cassirers Thesen zum konkreten Gebrauch der Worte ins Blickfeld der Symboltheorie rückt ist vor allem die Sensibilisierung für den Zusammenhang von Denkweise und Ausdrucksweise. Der Unterschied zwischen Abstraktion und Konkretion im Symbolsystem ist ein epistemischer. Konkrete Begriffe werden gebraucht und differenziert, wenn das Denken und Leben einen Nutzen aus ihnen ziehen, wie umgekehrt das Denken und Leben von konkreten Namensgebungen in seiner Logik und Seinsweise infiziert wird.
Ohne auf vermeintlich primitive, fremde, arabische oder amerikanische Sprachkulturen zurück greifen zu müssen, hat der Altphilologe Bruno Snell die Ausbildung der Abstraktion im begrifflichen System für die abendländische Kulturgeschichte nachvollzogen und im Detail in ihre antiken Ursprünge zurückverfolgt. Snell untersucht Texte von Homer bis in die griechische Philosophie hinein.21 Auch ihm geht es um die Korrelation zwischen Denkweise und Ausdrucksweise als einer Geburt des abstrakten Denkens aus der Erfindung der Allgemeinbegriffe. In den Homerischen Epen findet Snell noch keinen Gebrauch von abstrakten Begriffen wie ›Geist‹ oder ›Körper‹. Die Sprache im Zeitalter Homers weist diesen beiden Angelegenheiten nicht einmal unterschiedliche Seinssphären zu. Elemente des Körperlichen und Aspekte des Geistigen wurden insgesamt als anwesend und konkret verstanden und sprachlich gefasst. Es gab dabei weder den Körper noch den Geist als Sammelbegriff für zusammengefasste Phänomene. Vielmehr existierten ›bewegliche Glieder‹ oder ›kraftvolle Muskeln‹. Das Ganze als Abstraktum, so Snell, wurde nicht begriffen, sondern die Menge seiner Einzelheiten benannt. Zu dieser Vielfalt der einzelnen Elemente des Menschen gehörten die physischen wie die psychischen Realitäten als konkrete Erscheinungen. Als geistige Realitäten wurden etwa die ›kraftvollen Sinne‹ benannt, die als Emotionen, Vorstellungen, göttliche Eingebungen oder Witterungen auftraten. Die Worte für diese geistigen Wirklichkeiten meinten dabei so konkrete Phänomene, wie auch Muskeln und Glieder konkret waren. Geistige Angelegenheiten waren »Organe des Lebens«, wie Snell es formuliert. Emotionen und Vorstellungen wurden als Aspekte der organischen Natur auf einer Ebene mit Haut und Gliedern verstanden und terminologisch gefasst. Das Konkrete des Begrifflichen ist hier zweifach zu verstehen: Als organische Natur der geistigen Kräfte aber auch als Mannigfaltigkeit von Einzelphänomenen, denen ein übergeordneter Gattungsbegriff abgeht. Gedanken und Leidenschaften sind in den Homerischen Epen von gleicher Art, wie Muskelfasern oder Haarsträhnen und sie versammeln sich nicht in übergeordneten Topoi von Geist oder Körper. Begriffliche Zeichen sind bei den Homerischen Schriften in dem Sinne konkret, dass sie eine konkrete Bedeutung tragen, nicht eine abstrakt generalisierende.
Die Herausbildung der generalisierenden Begriffe und des abstrakten Denkens setzt für den Altphilologen Snell mit Heraklit ein. Als erster formulierte dieser eine neue Auffassung von der Wirklichkeit des Seelischen und trennte diese von der Welt des Körperlichen kategorisch ab. Heraklit benutze die Worte soma und psyche als Sammelbegriffe für alles Körperliche einerseits und alles Seelische andererseits. Er identifiziert eine sachliche Differenz zwischen ihnen und entdeckte am Seelischen eine Daseinsqualität, die bis dahin unbekannt war: das Unkonkrete. Die Psyche und damit die seelisch-geistige Realität wurde mit einer Idee in Verbindung gebracht, die dem Körperlichen und allem bisher Dagewesenem wesensfremd war: Tiefe. Diese Idee von Tiefe umschrieb in den Anfängen des abstrakten Denkens das Wesen einer unkörperlichen Wirklichkeit. Die heraklitische Epoche vollzieht im Gebrauch des verbalen Symbolsystems zwei Verschiebungen: Sie beginnt, nicht mehr die mannigfaltigen Details der körperlichen Realität in Form von beweglichen Gliedern, umhüllender Haut oder kraftvollen Muskeln im Einzelnen zu artikulieren, sondern identifiziert Zusammenfassungen: den Körper als Gesamtheit seiner mannigfaltigen Details. Die Griechen in der Zeit Heraklits finden Einheit, wo Vielfalt war. Sie etablieren die generalisierende Abstraktion im Wortgebrauch. Neben dieser generalisierenden Abstraktion etablieren sie darüber hinaus noch etwas anderes: Die transzendente Abstraktion. Diese Transzendenz in der Abstraktion fasst nicht die Vielheit des Konkreten zu einem Gattungsbegriff zusammen, sondern gesellt dem Konkreten ein kategorial Anderes hinzu. Die neue Welt des ideellen, geistigen, nichtfasslichen, die bei Heraklit mit dem räumlich topografischen Begriff der ›Tiefe‹ umschrieben wird, ist bis heute im Bereich der Psyche mit dieser Qualität des »Tiefsinns« ausgestattet. Philosophiegeschichtlich gesehen, verfestigte der Idealist Platon diesen neuen transzendenten Sprachgebrauch durch seine Rede von den »Ideen«, die den eigentlichen Gehalt der Wirklichkeit ausmachen würden und die über den konkreten Erscheinungen stünden oder aber – so muss man vielleicht sagen – Platon ist überhaupt nur in der Lage auf die Vorstellung von ›Ideen‹ zu kommen, weil seine Zeit die Abstraktion begrifflich kultivierte. Nicht alle Zeitgenossen Platons waren gewillt, diese kulturgeschichtliche Modifikation im Denken und Begreifen zu akzeptieren und eine abstrakte Welt als unsichtbare allem zu Grunde liegende Wirklichkeit anzuerkennen. »Was mich anbelangt,« entgegnet Diogenes dem Platon schnippisch, »so sehe ich wohl einen Tisch und einen Becher, aber eine Tischheit und Becherheit nun und nimmermehr«.22 Mit dem Gebrauch der Worte in dem zweifach abstrakten Sinne – als generalisierende Sammelbegriffe und als transzendente Geistvokabeln – ist es aber möglich geworden, Allgemeines zu vermitteln und den Ideen von Einheit und Transzendenz eine begriffliche Wirklichkeit zu verleihen. Die philologische Detailanalyse Bruno Snells am antiken Textkorpus macht uns darauf aufmerksam, dass Zeichen unterschiedliche Grade der Abstraktion kommunizieren können und ihre Semantik sich im wechselvollen Verlaufe der Kulturgeschichte gemeinsam mit den Denkweisen ändert. Solchermaßen sensibilisiert, können die ikonischen Zeichen nun neu hinsichtlich ihrer Bedeutungsebenen befragt werden:
Können ästhetische Gebilde, ebenso wie die Begriffe seit dem Beginn der abendländischen Philosophie Allgemeines oder Abstraktes bedeuten? Mit dem Abstrakt-werden der begrifflichen Semantik wurde auf zweifache Weise das Denken epistemologisch erweitert: Von der Mannigfaltigkeit konnte auf Einheiten geschlossen werden und das Transzendente trat als Kategorie in die Vorstellungswelt. Wie lässt sich, davon inspiriert, ein Epistemisch-werden der ikonischen Artefakte denken? Wo wird ästhetischen Dingen solchermaßen generalisierende und abstrakte Bedeutung beigemessen, dass die zur Wissenskultur beitragen? Der Kulturwissenschaftler und Historiker Carlo Ginzburg geht diesen Fragen nach, indem auch er sich auf die Frühgeschichte der Menschheit einlässt. Mit dieser neuerlichen historischen Imagination können wir uns experimentell klar machen, wie auch ästhetische Zeichen anfangen könnten, als Symbolsysteme zu funktionieren. Ginzburg macht sich auf die Suche nach den Wurzeln nonverbaler Symbolsysteme in der Zeit vor der Erfindung der Schrift. Er forscht über Epochen, in denen Menschen die Fertigkeit entwickelten, nichtschriftliche Zeichen zu erkennen und zu deuten. Hinweise zu diesen Epochen findet er in kirgisischen, tatarischen, türkischen und hebräischen Märchen. Die Zeichen, die diese jagenden Kulturen zu lesen lernten, waren ›Bilder‹ in der Natur. Diese Bilder tauchten aus der existentiellen Notwendigkeit auf, die Natur ›lesen‹ zu müssen. Denn, um beim Jagen erfolgreich das Wild aufzuspüren, mussten die Menschen aus der Mannigfaltigkeit der sinnlichen Eindrücke um sie herum bedeutsame Bildsignaturen herausfiltern und als deutbar behandeln können. Sie mussten erkennen: dies ist eine Spur, dies ist ein Zeichen! Eine pikturale Spur im Schlamm erzählte von der Art und Größe des Tieres, von der Richtung, die es genommen hatte und möglicherweise von dem Zeitraum, der vergangen war, seitdem es vorbeikam. Für den Historiker Ginzburg fängt beim Jagen nach Beute das Lesen an und die Jagenden lasen nicht Worte, sondern Bilder. Seine Rekonstruktionen der Jägerszenen sind historische Imaginationen, die dazu beitragen im Umweg über die archetypischen Schauplätze zu verstehen, wie aus gewöhnlichen Dingen ästhetische Zeichen als lesbare Bedeutungsträger werden können.
Ausgehend von dem, was Ginzburg »Jägerwissen« nennt, skizziert er ein vorschriftliches Paradigma der ikonischen Indizienkunde, das auf einer Auslegekompetenz bildlicher Zeichen beruht. Die Spur als Zeichen zu sehen bedeutet, die intellektuelle Leistung zu vollbringen, einen Verweisungszusammenhang zwischen dem, was ist – eine Formation im Matsch – und dem, was nicht ist – ein flüchtiges Beutetier – zu verstehen. Die Jägergemeinde erkennt: Dieses Bild im feuchten Sand verweist auf etwas, was es selber nicht ist: den Hasen, der hier vorbeilief. In diesen ersten ikonischen Verweisungszusammenhang ist sogleich der epistemologische Bruch zwischen Zeichen und Bezeichnetem eingetragen. Denn meint diese Spur wirklich einen Hasen oder war es ein Rebhuhn oder sind diese Zeichen nur der zufällige Abdruck von herab gefallenen Eicheln? Bildliches Zeichen und Bezeichnetes bilden keine verlässliche Einheit, sondern ihr Zusammenhang ist Gegenstand der Auslegekunst. Glauben wir Ginzburg und seiner Geschichte vom Anfang der menschlichen Leseerfahrung, dann ist dieser Anfang ikonisch und in diesen Anfang ist die Erfahrung der Interpretation eingebettet, weil die Bilder, welche die Natur zu verstehen gibt, vieldeutig sein können und das, worauf sie verweisen, nicht anwesend war. Wäre der Hase da, würde die Spur nicht interessieren und das Lesen würde nicht stattfinden. Das abwesende Signifikat verfolgend aber mustert der Jäger im Buch der Natur die Signifikanten, die als Zeichen konkret vorliegen. »Der Betrachter«, so Ginzburg, »organisiert diese Daten so, daß Anlaß für eine erzählende Sequenz entsteht, deren einfachste Formulierung sein könnte: ›Jemand ist dort vorbeigekommen.‹ Vielleicht entsteht die Idee der Erzählung selbst (im Unterschied zu Zaubersprüchen, Beschwörungen und Anrufungen) zuerst in einer Gesellschaft von Jägern aus der Erfahrung des Spurenlesens.«23
Folgt man Ginzburgs Theorie, verknüpfen die Jäger die Bilder der Natur zu Geschichten. Begriffe wären dann nur als andere Mittel diese Erzählung hinzugekommen. So wie die Spurenbilder von vorbeigekommenen Hasen erzählen, so können später auch Worte – das anfängliche Spurenlesen aufgreifend – von vorbeigekommenen Hasen erzählen. Ginzburg kommt zu der Schlussfolgerung, dass das Denken in Bildern dem begrifflichen Denken zugrunde liegt und nicht etwa umgekehrt. »Tierspuren ›entziffern‹ oder ›lesen‹ – das sind metaphorische Ausdrücke. Man ist aber versucht, sie wörtlich zu nehmen – als verbale Kondensation eines historischen Prozesses, der in einem sehr langen Zeitraum zur Erfindung der Schrift führte.«24 Das »Jägerwissen« steht für Ginzburg zu Beginn einer Traditionslinie, die vom Dechiffrieren konkreter bildlicher Dinge zum Erfinden der Schrift und einer Begrifflichkeit als Erkenntnismittel führte. Neben dem alten Jägerwissen identifiziert Ginzburg noch eine Reihe weiterer, ikonischer Lesetraditionen. Eine davon ist die Wahrsagerei. Auch die Wahrsagerei weiß konkrete Dinge von ästhetischer Qualität als sinnhaltige Zeichen zu verstehen. Es gibt ausdifferenzierte Regelsysteme und Vorschriften, die das Verständnis von Gegenständen in der Wahrsagerei organisieren. Wie die Jagd, so Ginzburg, arbeitet auch die Wahrsagerei mit der Entzifferung der ikonografischen Materialität der Welt, um auf Wirkliches zu schließen. Auch die Mantik – die Kunst der Vorhersage – untersucht also Hasenspuren oder aber Eingeweide, Wolkenformationen, Handlinien, die Flugbahn von Vögeln, Aschereste und manches andere mit großer Aufmerksamkeit und etabliert jene Meisterschaft, mit der die bedeutsamen Elemente der Dinge von den unbedeutenden geschieden werden. Der Unterschied des Wahrsagewissens gegenüber dem Jägerwissen ist dabei von perspektivischer Art. Das Spurenbild, das in die Vergangenheit verweist, erzählt dem Jäger vom Beutetier, das bereits abwesend ist. Das Bild in der Asche bedeutet dem Seher Ereignisse, die noch in der Zukunft liegen. Ginzburg führt neben dem Jäger und dem Seher zwei weitere Figuren des begriffslosen Zeichenlesens und Spurendenkens an: Die Detektive oder Juristen, welche die Hinweise auf Verbrechenshergänge und Täter in vorgefundenen Sachlagen suchen – Sherlock Holmes ist ihr großer Meister – und die Mediziner, welche anhand von Symptomen der Patienten auf deren gesundheitlichen Zustand schließen. Das kognitive Verhalten bei Medizinern, Juristen, Wahrsagern und Jägern ist ähnlich – ein Identifizieren, Analysieren, Differenzieren und Klassifizieren von konkreten Einzelfällen, anhand konkreter Daten, die als zeichenartige Gegebenheiten gewertet werden. Materielle Gegebenheiten und deren Formationen verweisen über sich selber hinaus auf ein Anderes hin – auf Krankheiten, die Zukunft, den Verbrecher oder flüchtige Rebhühner. Ihnen gemeinsam ist die Analyse des Einzelfalls – eine Kasuistik, welche durch Interpretation der Symptome, der Spuren oder Indizien eine situative Wahrheit rekonstruieren will. Ginzburg beschreibt eine bestimmte Form der Wissensgenese, die an eine spezifische Weise des Lesens von besonderen nämlich ästhetisch materiellen Zeichen geknüpft ist – ein Indizien- oder Wahrsageparadigma. Hinter diesem Indizienparadigma hat er den vielleicht ältesten Gestus der Erkenntnis in der Geschichte des menschlichen Intellekts ausgemacht: der Gestus »des Jägers, der im Schlamm hockend die Spuren der Beute untersucht«25 und mit ihm die Urform des Lesens in ästhetischen Zeichen.
Ginzburg bringt uns diese Indizienwissenschaft der ästhetischen Zeichenkunde nahe, weil er sie als Wissenskultur fast verloren glaubt im begrifflichen Logozentrismus der Gegenwart. Er zeichnet eine Kulturgeschichte nach, die von den konkreten Dingzeichen und den ausdifferenzierten Lesekompetenzen der frühen Kasuistiker über ikonische Piktogramme zu phonetischen Schriftzeichen und schließlich zu abstrakten Begriffen und Zahlen führt. Die Lesbarkeit der ästhetisch anwesenden Welt wird in dieser Genealogie, die von der Hasenspur zum reinen Logos führt, sukzessive von der Mannigfaltigkeit der bildhaften Gegebenheiten gereinigt. Der Schlamm wird abgeputzt vom Kanon der Symbole. Die vom Konkreten abstrahierten und gereinigten Symbole gelten im Zuge der Entwicklung der Wissenschaften, so Ginzburg, bald als die wahre Sprache des Universums, dessen ideellem Wesen man dann durch Abstraktion auf der Spur ist. Ginzburg macht uns auf jenen, aus seiner Sicht tragischen Verlauf der menschlichen Kulturgeschichte des Wissens aufmerksam, in dem sogar die Naturwissenschaften trotz ihrer empirischen Heuristik nicht mehr zu den konkreten Sachen – zur schlammigen Spurensuche – zurück finden, sondern der Abstraktion verfallen. Denn trotz der gleichsam nachspürenden Taktik laborhafter Versuchsanordnungen, trotz des Hantierens im leiblichen Gekröse oder dem Mustern von konkreten Lichtspuren im beweglichen Nachthimmel werden die Naturwissenschaften nicht zu Vertretern eines situativen Indizienparadigmas, wie ehemals die Jäger, sondern zu Vorreitern einer begrifflich und numerisch verallgemeinerbaren Wahrheit. Naturwissenschaftliche Empirie will keine Kasuistik sein. Sie jagt Gesetze, nicht Fakten. Ginzburg führt zum Nachweis dieser kulturgeschichtlichen Diagnose Galileo Galilei an, der vermerkte, dass man das Buch des Universums nicht verstünde, »bevor man nicht die Sprache verstehen lernt und die Buchstaben kennt, mit denen es geschrieben ist«. Die Buchstaben dieses Buchs aber sind für den berühmten Naturwissenschaftler ganz selbstverständlich »Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren«26, nicht aber konkrete Dinge. Die Welt wird durch abstrakte Begriffe, Zeichen und Zahlen verständlich, weil die Welt im Innern von abstrakten Ideen zusammengehalten wird, so die Annahme der modernen Menschheit. Was Ginzburg uns plausibel macht, ist, dass es kulturgeschichtlich vor den abstrakten Kreisen und generalisierenden Begriffen einen alten und vielschichtigen Verweisungscharakter ästhetischer Dinge als Symbole gab und mit ihm ein anderes Verständnis von Welt und von Wissen. Stoffliche Objekte waren in ihrer konkreten ikonischen Dichte vielschichtige Zeichen und konnten Geschichten von der Vergangenheit, der Zukunft oder von verborgenen Wahrheiten erzählen. Materielle Erscheinungen galten als Grundlage einer Wissenskultur, der es um Einzelfälle ging. Verdrängt wurde diese Wissenskultur der ästhetisch komplexen Indizienforschung für Ginzburg durch die Kulturgeschichte der Verschriftlichung und Abstraktion. Aber kommen wir im Verständnis gegenwärtiger Wissenskulturen weiter, wenn wir eine eindimensionale Entwicklungslinie als Verfallsgeschichte des ästhetischen Denkens rekonstruieren? Wäre es nicht fruchtbarer, die Aufmerksamkeit, die Ginzburg auf die ikonische Dichte und situative Komplexität alter ästhetischer Zeichen lenkt, zu nutzen, um quer zu den dichotomischen Kategorien verbal-nonverbal oder konkret-abstrakt ein ästhetisches und schriftliches Bedeuten auf allen Abstraktions- und Konkretionsstufen zu untersuchen? Begriffe bekämen die Chance ihre konkreten Qualitäten wieder zu entdecken und ikonische Zeichen offenbarten ihre auch generalisierende oder transzendente Dimension.
Schon bei den märchenhaften Jägern der frühen Menschheit kann man sich vorstellen, wie ikonische Zeichen generalisierende Bedeutung erhalten haben und über den konkreten Fall einer Hasenspur hinauszuweisen begannen. Dann nämlich, wenn die Jäger mit der Spur nicht nur den Hasen ermitteln wollten, sondern ihre Gefährten über die mögliche Beute informierten. Der einfach erzählende Satz »Jemand ist dort vorbeigekommen.« erweist sich als mehrdimensional. Er fasst die Interpretation des Zeichens von Welt einerseits zusammen und er kommuniziert diese Interpretation als Zeichen über Welt andererseits. Dem Zeichen interpretierenden Jäger gesellt sich der Zeichen kommunizierende Jäger hinzu und diesem geht es schließlich nicht mehr nur um die Authentizität des gefundenen Zeichens alleine, sondern auch dessen kommunikative Leistung als Figuration. Er zeichnet die Spur im Sand als Zeichen nach, um mittels dieses Bildes etwas zu vermitteln – den Hasen etwa, der dort vorbeikam. Die Kopie ist geboren und ihr geht es nicht um die Wahrheit des materiellen Falls, sondern die Wahrheit dessen, worauf das Materielle verweist. Es ist also tatsächlich dieser Gestus der Jäger, die im Schlamm hockend die Spuren der Beute nachzeichnen, der in der Geschichte des menschlichen Intellekts die Abstraktion einführt. Mit dem ›Machen‹ der Zeichen wird aus der auslegenden Rückverfolgung eine symbolische Handlung. Die konkrete Fährte wird durch die Kunst des Nachzeichnens ein generalisierendes Zeichen. Das Vorgefundene wird eine Darlegung – ein in den Sand gezeichnetes Da-liegendes. Gefundene Spuren wie dargelegte Zeichen weisen auf Anderes, bedürfen der Auslegung und des Verständnisses, sowie des Lesens. Zwischen dem Finden und dem Machen aber tritt die Kunst als Technik des Schaffens von Zeichen ins Lager der Jäger und Jägerinnen und mit dieser Kunst tritt das Zeichen als ikonisches Verständigungsmittel über die Welt auf den Plan. Ginzburg hat in seiner Kulturgeschichte des Verfalls der ästhetischen Zeichen diese Entwicklung übersehen, die von der Wildtierspur über die nachgezeichnete Spur bis zum gezeichneten Bild in der Kunst führt. Vermutlich auch deswegen, weil die Kunst bis in die Gegenwart hinein eine untergeordnete Rolle in der Wissenskultur spielte. Ginzburgs Fokus liegt nicht auf der Ästhetik, sondern der Epistemologie. Im Rahmen einer ästhetischen Kultur der Kunst allerdings, die nicht nur vorgefundene Bilder wie Hasenspuren interpretiert, sondern gemachte ästhetische Artefakte als künstlerische Aussagen produziert, wird vorstellbar, dass die Geschichte der ästhetischen Zeichen bis in die Gegenwart hineinreicht, und dass sich diese Zeichen ausdifferenziert haben in verschiedene Abstraktionsstufen und Generalisierungen. Man wird mithin, um die ästhetischen Symbole in ihrer Bedeutungsvielfalt und die Kunst als Aussagenkosmos zu verstehen, die simple Dichotomie zwischen dem Aufspüren von konkreten materiellen Zeichen einerseits und dem Verstehen von wissenschaftlich begrifflichen Erkenntnissen andererseits aufgeben müssen. Vom Jägerwissen und von der Wahrsagerei aus Dingen aller Art taucht parallel zur Sprach- bzw. Schriftentwicklung eine weitere Entwicklungslinie auf, die ins konzeptuelle Zentrum der Kunst und ihrer ästhetischen Zeichen führt. Mit der bildenden Kunst ist ein Machen von konkreten Zeichen entstanden, das sich über die Jahrhunderte ausdifferenziert, verfeinert und zu einer Symbolwelt entwickelt hat, der es um das Ausdrücken von Gedanken in Form von Dingzeichen, konkreten Bildern oder pikturalen Artefakten geht. In dieser Genealogie der aussagenden Kunst aus dem Zeichencharakter der Spuren stehen wir an dem Punkt, wo sich das Denken darauf konzentriert, herauszufinden, was es heißt, aus den ästhetischen Dingen der uns umgebenden Wirklichkeit eine Einsicht zu lesen.
Das Deuten aus Eingeweiden oder vom Zeichencharakter der Physis
Auch Alexander Gottlieb Baumgarten hat sich intensiv mit der Frage beschäftigt, wie ästhetische Dinge als Zeichen Bedeutung vermitteln. Der erste abendländische Ästhetiker erkannte schon im 18. Jahrhundert, dass Kunst, Erkenntnis, Mantik und der symbolische Gehalt ästhetischer Dinge zusammenhängen. Baumgarten wollte die Kunst als ästhetisches Erkenntnismedium verstehen und hat dazu die Wahrsagekunst untersucht, um – wie auch der Historiker Carlo Ginzburg – den symbolischen Gehalt ästhetischer Sachverhalte zu verstehen. Auch ihn beschäftigte die Frage: Wie kommen kulturelle Gehalte in die Verkettung mit den physischen Sachen? Welche Befestigungstechnik erzeugt zwischen dem materiellen Signifikanten und dem kulturellen Signifikat eine semantische Verbindung? Wie bedeutet die wahrnehmbare Physis der sinnlichen Erscheinungen? Der Philosoph Baumgarten ist dafür bekannt, dass er die Geschichte der philosophischen Ästhetik in der Mitte des 18. Jahrhunderts mit seiner »Aesthetica« als erkenntnistheoretisches Gegenprogramm zum seinerzeit herrschenden Rationalismus eingeläutet hat. Im Hintergrund seines Entwurfs einer »Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis« und »Kunst des schönen Denkens« sowie »Theorie der freien Künste« steht aber auch eine bisher kaum beachtete Typologie der symbolischen Ordnung der Dinge. Diese Typologie und Baumgartens Versuch, das Erkennen von Bedeutung in der sinnlichen Welt zu systematisieren, wurde in der Rezeptionsgeschichte peinlich übersehen oder als merkwürdige Randerscheinung seiner Schriften abgetan. Denn in der »organischen Philosophie«, wie Baumgarten den ästhetischen Teilbereich der Philosophie auch nennt, beginnt er – neben der poetischen Konstitution der Worte – auch die symbolische Ordnung der ästhetischen Dinge unter dem skandalösen Stichwort der ›Mantik‹ zu systematisieren. Die Mantik – die Kunst der Wahrsagerei – besteht in der Kenntnis der Bedeutungstiefe sinnlich erfahrbarer Dinge – Dinge, die wie auch im Fall der Kunst physisch anwesend und zugleich symbolisch verweisend sind. Diese peinlich ignorierte Geburt der modernen Ästhetik aus dem Geist der Mantik macht unter formalen Gesichtspunkten absolut Sinn: Sinnlich wahrnehmbare Dinge hier wie dort, verstanden als symbolisch gehaltvoll in der Kunst wie in der Wahrsagerei, und interpretationsbedürftig in beiden Fällen. Seher und Ästhetiker bedürfen besonderer »Seelenvermögen«, wie Baumgarten es nennt, die es erlauben, gegenständliche Zeichen zu mustern und zu verstehen. Trotz dieser einsichtigen Nähe zwischen Mantik und Ästhetik hielten es Herausgeber und Leser der Baumgartenschriften für unzeitgemäß, dass ein Philosoph der Neuzeit ein professionelles Interesse an jenem, für Aberglauben gehaltenen Geschäft der Mantik habe, auch wenn er sich doch eigentlich gerade gegen den seinerzeit herrschenden Rationalismus mit einer Aufwertung sinnlicher Erkenntnisvermögen wendete.27 Jedoch, aus seiner großer Neigung zu den Dingen und zum Detail listet Baumgarten in seiner »Philosophia Generalis«28 unter dem Stichwort der organischen Philosophie die verschiedenen Gegenstandsbereiche eben dieser mantischen »Kunst der Voraussicht und der Vorahnung« auf. Bemerkenswert ist hier nicht alleine die Fülle dessen, was an Zeichen in Frage kommt und mithin für die »unteren Erkenntnisvermögen« relevant und im wahrsten Sinne des Wortes bezeichnend ist, sondern auch die Engführung von vorausschauenden, bildenden und erkennenden Fähigkeiten, die Baumgarten vornimmt und auf die noch zurückzukommen sein wird. Denn ein systematischer Übergang vom musternden Lesen zum konstruktiven Erdichten von Zeichen wird hier durch die erkenntnistheoretische Ästhetik Baumgartens vorgedacht, der es erlaubt, die besondere Funktion der Kunst als gemachtem Dingzeichen in Konstellation mit der Funktion der natürlichen Dinge als gefundener Symbole zu denken. Baumgartens Ästhetik will als »Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis« und als »Theorie der freien Künste« das sinnliche Erkennen aus dem künstlerischen, produktiven, konstituitiven Erdichten heraus versteht.
Wie sieht dies aus? Die »organische Philosophie« beschäftigt sich mit der sinnlichen Erkenntnis als Ästhetik zunächst A »indem sie diese selbst zur Vollendung bringt und dann B als Kunst der Bezeichnung«, so systematisiert Baumgarten. Die letztere, die »Ästhetik als Kunst der Bezeichnung« widmet sich eher literarisch ausgerichtet den sinnlich zu verstehenden Wortzeichen, die poetisch gebildet, verstanden, ausgelegt und koordiniert werden müssen. Es handelt sich hierbei um eine Frage der Sprache als allgemeiner Philologie, wo es um »lexicographia«, »flexionis et connexionis« bis hin zu Fragen der wohlklingenden Aussprache und schönen Schreibweise geht. Schon in dieser allgemeinen Philologie überbrückt Baumgarten die Grenze zwischen wörtlichen Begriffen und anderen nonverbalen Symbolgebilden wie Träumen oder Sinnbildern. Ihm geht es dabei um die wahrnehmende Fähigkeit etwa beim Auslegen von mystischen Wendungen, um die Kunst, die Zeichen der Ehre zu deuten oder die Fähigkeit, aus Farben das Wesen der Dinge zu erschließen, wie auch um das besondere Geschick, aus den Erscheinungsformen der Körper oder des Lachens auf Charaktereigenschaften zu schließen. Die flache Hierarchie zwischen den unterschiedlichen Symbolsystemen bei Baumgarten ist denkwürdig, ebenso wie der fließende Übergang zwischen verbalen und nonverbalen Bedeutungsräumen. Charakterkunde ist ebenso relevant wie sinnlich ausgedrückte Naturerkenntnis im System der unteren Erkenntnisvermögen.29 Bevor diese verbalen und quasiverbalen Symbolsysteme aber überhaupt Thema der »Philosophia Generalis« werden, bearbeitet Baumgarten unter dem ersten Punkt A das Feld der »Ästhetik, die sich selbst zur Vollendung bringt«. Hier erscheint unter Ordnungspunkt zehn die »Kunst der Voraussicht und der Vorahnung als Mantik«, die als einzige in volle sechs Unterpunkte umfänglich ausdifferenziert ist. Im Fall der Mantik werden bei Baumgarten in der Philosophie der sinnlichen Erkenntnis nicht nur die generellen Wahrnehmungskompetenzen gelistet – als Kunst der Wahrsagerei – sondern im Einzelnen auch die Dinge registriert, die zur Seherkunst als deren Auslegungsmaterial herangezogen werden. Dieses ›Wörterbuch‹ der Wahrsagerei erfasst unterschiedliche Sachen und Substanzen, wie den Bauch oder die Brust, aus denen man Erkenntnisse ableiten kann, Sterne und Träume, daneben Geschosse, Fingerringe, Hähne, epische Gedichte, dann die Bibel, außerdem Erde, Feuer, Rauch und Weihrauch, Asche oder mit Wasser gefüllte Schalen, Wunderzeichen von Opfertieren, Tiere überhaupt, Vierfüßler, die Flugbahn der Vögel, die Stellung diverser Körperteile von Lebenden, sowie Zeichen auf der Stirn, an den Händen und Nägeln, dann auch Zeichen von den Schattengeistern der Toten und von Fossilien, ferner Zeichen von Kräutern, Feigen oder Zahlen. Was den Lesern aus dem 21. Jahrhundert wie eine wahllose Menge an sinnlicher Mannigfaltigkeit und imaginierter Vielfalt anmutet, ist bei Baumgarten nach sechs Ordnungssphären katalogisiert: Orakel sind etwas anderes als Traumdeutungen, Astrologie unterscheidet sich von Losweissagungen, Weissagungen aus Elementen von Wahrzeichen. Diese Kategorien, welche die vielfältigen Dinge der Wahrsagerei sortieren, berichten davon, dass man aus sehr unterschiedlichen aber sehr bestimmten Sachen tatsächlich lesen kann und dies darüber hinaus von sehr definierten Betrachterpositionen aus. Die Ordnung der symbolisch gehaltvollen Dinge richtet sich in der Mantik nicht nach deren Größe, Gattung, Form oder Farbe, nicht nach der cartesianischen Taxonomie der ausgedehnten Körper oder dem linnéschen Prinzip der Abstammungslinien, sondern nach jener raumzeitlichen Nähe, die sie zu Orakelpriestern aufweisen oder jener Formiertheit, in der sie dem sehenden Auge als Konstellation entgegentreten. Mantische Zeichen sind in Konstellation gebrachte Zeichen und darin wie ein Kunstwerk und sie treten in einem Milieu auf, das durch die Anwesenheit von Sehenden bestimmt ist. Sie erfahren dadurch eine geografische und temporäre Rahmung, wie ein museales Kunstwerk, und man bringt ihnen aus einer definierten Rezeptionsposition eine musternde, figurierende, in diesem Sinne ästhetische Haltung entgegen, wie eben auch einer künstlerischen Arbeit. Diejenigen, die Orakelpriester sind, haben eine besondere Sicht auf die Dinge. Einen gleichsam durchdringenden Blick, der nicht wohlfällig verweilt, sondern Figurationen liest und damit Schemen ›dingfest‹ macht. Die ästhetische Haltung der Orakelpriester ist die der Musterung des sinnlich wahrnehmbaren Objekts als einem Zeichen. Sehende konstituieren eine mantische Symbolwelt um sich herum und diejenigen Dinge, die als Symbole in dieser Welt auftreten, werden dabei als materielle Konstellationen sichtbar. Zeichen werden gemacht. Sie werden zu Zeichen durch die Haltung, die man ihnen gegenüber einnimmt, und durch ihre Figuration. Durch diese Situiertheit und Formiertheit werden Dinge bedeutungshaltig und weisen über sich selbst und ihr konkretes Anwesendsein hinaus auf anderes.
Im ersten Abschnitt seines Hauptwerks zur Ästhetik wird Baumgarten die Bestimmung zum figurativen Charakter der sinnlichen Zeichen konkretisieren, wenn er schreibt, dass es in der ästhetischen Erkenntnis wesentlich »Figuren« gäbe: Schemata in den Dingen, den Gedanken, in der Ordnung der schönen Erkenntnis und deren Bezeichnungswesen.30 Als Figuren, die in der Mantik durch den sehenden Blick gebildeten werden, sind die verschiedenen Dinge in den Ordnungsrastern positioniert und hinsichtlich ihres Bedeutungsraums gerahmt. Es bedarf, wie bei der künstlerischen Artikulation, dieser bestimmten Haltung gegenüber dem Dargebotenen, um an gewöhnlichen Objekten in alltäglichen Situationen eine konstellative Figuration innerhalb einer symbolischen Ordnung erkennen zu können. Wie in der Kunst kann damit in der Welt der mantischen Dinge prinzipiell alles zum Zeichen werden, vorausgesetzt es wird in die Nähe von kompetenten Interpretierenden gebracht und weist eine Formation auf, die aus der ästhetisch musternden Haltung der Sache gegenüber ersichtlich werden kann. Wahrsagende Mantik ist wie epistemologische Ästhetik eine Sache der Haltung.
Baumgarten positioniert seinen Fundus an zukunftshaltigen Bedeutungsträgern als ordentliches Register in der allgemeinen Systematik der »sinnlichen Erkenntnis als Ästhetik« und parallelisiert damit Schattengeister und Orthografie, den Vogelflug und die allgemeine Grammatik. In der »Philosophia Generalis« wird mit dieser Systematisierung das Fundament für eine Theorie der Ästhetik gelegt, in der es um die Anschauung ebenso geht wie um die Vorausschau. »Der anmutige Geist«, schreibt Baumgarten konsequenterweise in der »Ästhetik« über den Ästhetiker, also denjenigen, der zu sinnlicher Erkenntnis fähig ist und aus den Zeichen zu lesen vermag, »der anmutige Geist« sei natürlicherweise so veranlagt, dass er von seinen aktuellen Empfindungen und seinen Erinnerungen absehen und »seine Aufmerksamkeit auf irgendeinen erdichteten Zustand als auf einen zukünftigen richtet, denselben als guten oder schlechten mit feiner Einsicht anschauend erkennt und ihn mit angemessenen Zeichen vor Augen stellen kann«.31 Es handelt sich hier um einen Möglichkeitssinn, den Baumgarten im erkennenden Repertoire der Ästhetiker ausmacht. Dieser Möglichkeitssinn der Voraussicht, der Ahnung und des Erwartungsvermögens richte sich auf eine »heterokosmische Wahrheit«, wie der Philosoph im Abschnitt der Ästhetik über »die ästhetische Wahrheit« festhält.32 Die heterokosmische Wahrheit ist die Vorstellung von den Dingen als Möglichkeit einer anderen Welt, gesehen von den anmutigen Geistern, die ihre erkennenden Fähigkeiten auf zukünftige Zustände richten. Der Ästhetiker in Baumgartens Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis ist also auch ein Seher. Denn was unterscheidet unter Gesichtspunkten der ästhetischen Erkenntnis das Seiende von Zukünftigem, welches die anmutigen Geister und Wahrsager erkennen? Weder das Zukünftige noch das Seiende haben wir in der sinnlichen Erkenntnis in Klarheit zur Hand, sondern beiden ist jene komplexe Merkmalsfülle zueigen, der sich gerade der ästhetische Sinn zu widmen weiß. Nichts unterscheidet mithin den Vogelflug vom Satzverlauf. Beiden ist bei entsprechender Haltung und Lesekompetenz das Sein als Zeichen anzusehen und ein Sinn abzuringen. Mit der Aufmerksamkeit Baumgartens auf die Vielfalt der Dinge und ihre symbolische Dimension gewinnen wir eine Sensibilität für die Fülle reichhaltiger und komplexer Bedeutungsträger neben den gebräuchlichen Zeichen in der Zahlenarithmetik und Begriffskunst. Es war Baumgartens Anliegen mit der Ästhetik – als einer Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis – gegen den seinerzeit hegemonialen Rationalismus der unerschöpflichen Merkmalsfülle der Phänomene näher zu kommen. Schon in der »Metaphysik« notiert er wegweisend, dass eine Vorstellung desto stärker ist, je mehr Merkmale sie habe. »Vielsagende Vorstellungen sind also stärker. Daher haben Vorstellungen von Einzeldingen eine große Stärke«33 Die Annäherung an die Fülle der Erscheinungen zum Zwecke der starken Vorstellungen vollzieht sich mit jener se-mantischen Befestigungstechnik, mit der durch einen musternde Haltung Sinn in den Dingen verankert wird, so dass ein Aussagenkosmos aus ihnen zu sprechen beginnt – im Rahmen der Mantik und Semantik – als Kunst der Vorahnung und als Kunst des Bedeutens.
Ästhetische Symptomatik – mit Scharfsinn auf Spurensuche
Im 18. Jahrhundert parallelisiert also der Ästhetiker Alexander Gottlieb Baumgarten in seiner philosophischen Systematik die Ordnungsprinzipien der mantischen Dinge und die Orthographie der Schrift. Im 21. Jahrhundert wird sich für den Symboltheoretiker Nelson Goodman der Unterschied zwischen dem verbalen System der Schrift und dem nonverbalen System der Kunst als graduelle Differenz zwischen einem denotativen und einem exemplifizierenden34 Verweisungszusammenhang darstellen. Beide Theoretiker machen sich Schrift und Dingwelt als Symbolsysteme klar. Symbolsysteme, die von den Betrachtenden ›gelesen‹ werden müssen. Das Verstehen der Bedeutung in der dinglichen Symbolwelt hat dabei nicht den Charakter eines kompakten Erfassens von Wortsinn, wie beim Lesen von Begriffen, deren Bedeutung augenblicklich verstanden wird, so Goodmans Beobachtung. Sondern es bedarf eines tastenden Dechiffrierens von Verweisungszusammenhängen, des »Treffens feiner Unterschiede und des Entdeckens subtiler Beziehungen«35. Begriffe und bedeutsame Dinge sind ähnlich in ihrem Symbolcharakter aber verschiedenen in ihren Weisen des Bedeutens und den Verfahren des Begreifens. Wie ein mit vielen Fäden durchzogener Stoff beinhalten Dingzeichen gewebeartige Bezüge zum gemeinten Ganzen. Musternd hat der ästhetisch Lesende herauszuarbeiten, was an der Sache das Gemeinten exemplifiziert. Es handelt sich beim Lesen von Dingzeichen um eine detektivische Arbeit, die das gegebene Zeichen umkreist, differenziert, abtastet, prüft und auf dessen Fülle an potentiellen Referenzen hin untersucht. Neben der Frage, wie ästhetische Dinge als Zeichen Bedeutung kommunizieren können, verschärft sich die Frage, wie der Vorgang des Verstehens dieser ästhetischen Zeichen vonstattengeht und sich möglicherweise unterscheidet vom Lesen verbaler Symbole.
Carlo Ginzburgs hat über 200 Jahre nach Baumgarten und kurze Zeit nach Goodman die Tätigkeit des Lesens von sinnlich wahrnehmbaren Details eine »Spurensicherung« genannt. Wie Baumgarten und Goodman geht es Ginzburg mit diesem Topos um eine epistemologische Perspektive auf die ästhetischen Dinge. In ihnen lesend will er Verständnis gewinnen. Als Historiker ist er an einem spezifisch ästhetisch lancierten Erkenntnistyp angesichts der Komplexität historischer Quellen und der Mannigfaltigkeit der Welt interessiert. Für Ginzburg liegt »Gott im Detail«.36 Denn, so die These, die sinnlich wahrnehmbaren Details drücken als eigentümlich randständige Dinge Wesentliches aus. Ginzburg geht es um die Aufwertung jenes detektivischen Spürsinns, der es vermag im Gegenständlichen und Kleinen das Bedeutsame zu dechiffrieren. Der Spürsinn ist für Ginzburg jener ästhetische Erkenntnissinn, mit dem das musternde Lesen sinnlicher Zeichen vonstatten geht. Alexander Gottlieb Baumgarten hat dieses »untere Erkenntnisvermögen« in einer detaillierten Beschreibung auf eine uneinholbar vielschichtige Weise ausdifferenziert: als Sinn, Fantasie und durchdringende Einsicht, als das Vermögen der Voraussicht, Erwartung, Ahnung und des Urteils, als Gedächtnis, Bezeichnungsvermögen und Dichtungskraft.37 Diese Fülle an Befähigungen, die Baumgarten diagnostiziert, zusammenfassend als Spürsinn charakterisiert bei Ginzburg, vermögen das Bedeutsame zu entziffern, weil sie in sorgfältiger Musterung der Dinge, deren Zeichenhaftigkeit seherisch verstehen und erkennend begreifen. Als paradigmatische Beispiele für eine solche spürsinnliche Lesekompetenz dienen Ginzburg die kunstwissenschaftlichen Analysen eines Giovanni Morelli, der aus nebensächlichen Bilddetails wie Fingerstellungen oder Ohrenläppchenlängen die künstlerischen Urheber der jeweiligen Gemälde erfasst. Neben Morelli zieht Ginzburg als ein weiteres Beispiel für die Kunst der Spurensuche die Indizienkunde des Psychoanalytikers Sigmund Freud heran, der die randständigen Erzählfragmente seiner Patienten als Hinweise auf deren psychische Deformationen wertschätzte. Schließlich dient die schon erwähnte, rasante Kombinatorik der berühmten literarischen Detektivfigur Sherlock Holmes dem Historiker Ginzburg als Hinweis auf die spezifischen Vermögen eines gleichsam ästhetischen Lesens in den Dingen. In allen drei Fällen – bei Morellis Kunstwissenschaft, Freuds Psychoanalyse oder Holmes Tatortforschung – handele es sich um eine musternde Dinganalyse, die – wie in der Mantik – aus Körpern, Substanzen, Sachverhalten und Figurationen die »feinen Unterschiede und subtilen Zusammenhänge« des Bedeutsamen liest. Der Spürsinn oder das Einsichtsvermögen erkennt Hinweise auf eine verschlüsselte, in den Dingzeichen liegende Wahrheit. »In allen drei Fällen«, so Ginzburg, »erlauben es unendlich feine Spuren, eine tiefere, sonst nicht erreichbare Realität einzufangen. Spuren, genauer gesagt: Symptome (bei Freud), Indizien (bei Sherlock Holmes) und malerische Details (bei Morelli).«38 In allen drei Fällen erahnt Ginzburg im Hintergrund des an Dingen und Details interessierten Spürsinns das Modell der medizinischen Semiotik – einer Wissenschaft, die es erlaubt, jene durch direkte Beobachtung nicht erreichbaren Krankheiten anhand von Oberflächensymptomen zu diagnostizieren.«39 Der Kulturwissenschaftler Marquard Smith erinnert uns passender Weise daran, dass die symbolische Semiotik und medizinische Symptomatik etymologisch auf das gleiche griechische Wort semeion zurückgehen.40 Beide, die medizinische Symptomatik und die symbolische Semiotik, beziehen sich auf Zeichen und deren Deutung. Physische Anzeichen für Krankheiten, begriffliche Zeichen für Wortgehalte, physische Symbole für Sinngebilde. Es wäre also durchaus sinnvoll, in Anschluss an das medizinische Indizienparadigma von Ginzburg und in der Angelegenheit der dinglichen Spuren und ikonischen Ereignisse in der Sache der nonverbalen Semiotik von einer Symptomatik zu sprechen. Dinge artikulieren Symptome von Bedeutung, die ebenso dicht in der physischen Erscheinung und unverlässlich in der Auslegung sind, wie Krankheitssymptome.
Die Symptomatik als ästhetische Zeichenlehre arbeitet diese beiden Komponenten ästhetischen Bedeutens heraus: Die Komplexität dichter Zeichen und die Unverlässlichkeit ihrer Auslegung. »Symptome sind schließlich nur Hinweise« merkt dazu Goodman an, der auch von »Symptomen des Ästhetischen« spricht und damit jene Zeichen meint, die auf das Künstlerische der Kunst verweisen; »der Patient kann die Symptome ohne die Krankheit oder die Krankheit ohne die Symptome haben.«41 Die Symptomatik ästhetischer Dinge ist eine Glückssache in der Auslegung aber auch eine Sache der Expertise. Für Ginzburg zeichnet sich die medizinische Symptomatik – aber auch die spursinnliche »Indizienkunde« – daher weniger durch fundamentale Ungesichertheit aus, als vielmehr durch die besondere Qualität der Kennerschaft. Keine verlässliche allgemeine Regel sichert das Verhältnis zwischen Zeichen und Bezeichnetem ab. Aber die lange Erfahrung der Interpreten symptomatischer Symbole garantiert Leseerfolg. Kennerschaft basiert, so Ginzburg, auf konkreter Erfahrung, die sich weder allgemein definieren noch als bloßer Glückfall abtun ließe. Die Kunst der Kennerschaft besteht darin, mit der Aufmerksamkeit auf das Einzelne und dem Erfahrungsschatz gegenüber den vielen Fällen ein spezifisches Verständnis vom vorliegenden Symbol zu entwickeln.
Mantik und Medizin, Psychoanalyse und Kunstwissenschaft, Geschichtsschreibung und detektivische Spurensicherung – alle diese Disziplinen kümmern sich um den lesenden Nachvollzug oder verständigen Mitvollzug verborgener Einsichten aus dem Bedeutungsraum physischer Zeichen. Die Kenntnis von diesen Praktiken ästhetischer Auffassungsgabe sensibilisiert sowohl für den symbolischen Verweisungsgehalt der Dinge wie auch für die musternden Vermögen der Wahrnehmung. Für das Verständnis einer ästhetischen Symptomatik kommen wir mit diesen Reflexionen insofern voran, als wir ein Verständnis davon entwickeln, dass und wie die Dinge der Physis als Figurationen bedeuten. Wir haben, ausgehend von der Frage nach einer ikonischen Semantik, den Weg über die philosophische Begriffsanalyse und Schriftkritik, die Wortbedeutung antiker Texte, die kirgisischen Jäger und die wahrsagenden Seher genommen, um die alte Kunst des Zeichenlesens aus Dingen für das Verständnis einer nonverbalen Symboltheorie heranzuziehen. Wir sind dabei nicht alleine bei den zeichenhaften Dingen selber hängen geblieben, sondern haben mit den Detektiven, den Medizinern oder den Sehenden und ihren besonderen Wahrnehmungsfähigkeiten angefangen, das Lesen von ästhetischen Dingzeichen als kenntnisreiche, tastende, komplexe Spurensicherung zu verstehen. Baumgartens epistemologische Ästhetik prägt den Namen des »glücklichen Ästhetikers« für diejenigen Menschen, die sich besonders gut auf diese Spurensicherung verstehen. Diese feinsinnigen Gemüter zeichnen sich durch ihre verständig rekonstruktiven wie erfinderisch konstruktiven Vermögen aus und verknüpfen die Figur der Sehenden und des Künstlers in einer Person. Eine Person, die im musternden Erkennen zugleich erschafft und im künstlerischen Schaffen zugleich erkennt. Die »glücklichen Ästhetiker« sind die Bedingungen der Möglichkeit ästhetischer Einsicht. Sie sind feinsinnige Geister, die sich erfahrend, musternd und dichtend durch die Welt bewegen. Sie zollen den Dingen, denen sie sich zuwenden, neugierige Aufmerksamkeit, wie Füchse, die in der Luft eine Fährte langanhaltend und nasebebend untersuchen. Umsichtig mustern sie die vielgestaltigen Erscheinungen der sie umgebenden Welt, bilden Vorstellungen in der Fantasie und sondern fabulöse Gewebe aus diesen Einbildungen ab. Sie bilden und dichten in Korrespondenz zur ästhetisch erkannten Welt. Bei Baumgarten werden im Buch der »Ästhetik« unter dem Namen der »glücklichen Ästhetiker« die menschlichen Erkenntnisvermögen und damit die Grenzen und Reichweiten ästhetischen Verstehens gelistet, die auch schon in seiner »Metaphysik« unter dem Stichwort der »unteren Erkenntnisvermögen« ausführlich diskutiert sind. Drei Aspekte dieser neuzeitlichen ästhetischen »Erkenntnispsychologie« Baumgartens werden das gegenwärtige spätmoderne Verständnis von einer ästhetischen Symptomatik oder Ikontik inspirieren: die Bedeutung der Praxis als Übung für den gelingenden Vollzug der ästhetischen Erkenntnis am ikonischen Zeichen, die Verknüpfung rezeptiver und produktiver Fähigkeiten und das besondere Vermögen der »durchdringenden Einsicht« oder auch des »Scharfsinns« – perspicacia – als differenzierender Seelenkraft, mittels derer glückliche Ästhetiker in den sinnlich anwesenden Dingen zu ›lesen‹ vermögen. Durch den baumgartenschen Begriff vom »Scharfsinn« und mittels der ausdifferenzierten Liste über die »unteren Erkenntnisvermögen« lässt sich tatsächlich einiges über die ästhetischen Lesekompetenzen lernen. Auch die besondere Bedeutung der übenden Praxis im Rahmen einer lesenden Kennerschaft spielt für das Verständnis der Rezeption von ästhetischen Sachverhalten als Zeichen eine Rolle. Die von Baumgarten hervorgehobene Verknüpfung von rezeptiv musternden und produktiv schaffenden Fähigkeiten aber wird relevant an der Stelle, wo wir über das ›Schreiben‹ von ästhetischen Dingen als einem Erschaffen von künstlerischen Artikulationen und Bedeutungsnetzwerken nachzudenken beginnen. Für Baumgarten lässt sich diese Verknüpfung von sinnlicher Erkenntnis im Mustern und schaffender Erkenntnis durch ästhetische Praxis nicht trennen. Viele Jahrhunderte vor Goodman legt mithin schon Baumgarten für die epistemologische Ästhetik nahe, dass ästhetische Welterkenntnis und Welterzeugung zusammenspielen.
Um aber das begriffliche Instrumentarium zu schärfen, mit dem wir das ›Lesen‹ von ikonischen Artefakten oder ästhetischen Dingen insgesamt erfassen wollen, inspirieren insbesondere Baumgartens Erläuterungen zu einem vom ihm »Scharfsinn« genannten Rezeptionsvermögen. Dieser Scharfsinn – vergleichbar mit dem »Spürsinn« bei Ginsburg – nimmt ästhetische Differenzen wahr und eröffnet damit die Möglichkeit, im Dazwischen der Dinge Bezüge zu erkennen. Baumgartens Liste der »unteren Erkenntnisvermögen«42 eröffnet insgesamt einen reichhaltigen Horizont an erkenntnistheoretisch relevanten Begriffen über das Wahrnehmen, Mustern oder Einsehen von ästhetischer Welt. Er findet in der menschlichen Seele neben den Sinnesorganen als Wahrnehmungsvermögen auch die »Einfühlungskraft«, das »Vorstellungsvermögen«, vor dem Hintergrund der Mantik die »Vorhersehungsgabe«, darüber hinaus und schon erwähnt die »Fantasie«, die »Bezeichnungsfähigkeit« und »Dichtungskraft«, das »Gedächtnis«, die eben erwähnte »durchdringende Einsicht« perspicacia, welche Ähnliches und Verschiedenes mit Scharfsinn und Witz zu differenzieren in der Lage ist, dann die »Urteilskraft« und das »Vermögen widerzuerkennen«. Was hier in der »Ästhetik« zur Bestimmung gebracht wird, sind die humanen Voraussetzungen oder auch Trainingsergebnisse einer ästhetischen Lesekompetenz, die als Grundlage einer »ästhetikologischen Wahrheit«43 verstanden werden müssen, wie Baumgarten diesen besonderen Wissenstyp nennt, der dem Sachverstand der »glücklichen Ästhetiker« und deren sinnlicher Erkenntnisvermögen entspringt. Glückliche Ästhetiker sind die Experten ästhetischer Erkenntnis als einer ästhetikologischen Wahrheit, da sie jene Sensibilität entwickelt haben, mit der sie Differenzierungen und Zusammenhänge in der Welt der physischen Symbole wahrzunehmen in der Lage sind. »Gemeinsam ist den logischen und ästhetischen Überlegungen die Tugend«, so Baumgarten, »die im Durchschauen dessen besteht, was bei jedem Gegenstand wahr und unverfälscht, was jeweils übereinstimmend ist […]«44 Schon in der »Metaphysik« im Kapitel zur Psychologie unter dem Abschnitt der unteren Erkenntnisvermögen differenziert Baumgarten in knapp einhundert Paragraphen die potentiellen Fähigkeiten der Seele zur sinnlichen Erkenntnis.45 In der »Ästhetik« werden diese sinnlichen Erkenntnisfähigkeiten dann nur noch überblicksartig zusammengefasst.46 Die ästhetischen Lesekompetenzen als Erkenntnisfähigkeiten der Seele sind aber bei Baumgarten als besondere Rationalität bestimmt. »Bei demjenigen, der schön denken will, werden die bedeutenderen unteren Vermögen [nicht nur mit den] oberen Vermögen zugleich bestehen, sondern sie werden für jene auch als unerlässliche Bedingung erfordert.«47 Für Baumgarten müssen die Veranlagungen zum schönen und die Veranlagungen zum gründlichen Denken zusammenkommen und gemeinsam trainiert werden, um ästhetischen Spürsinn oder eben »Scharfsinn« zu realisieren. Ästhetisch scharfsinnige Rationalität nach Baumgarten ist sinnliche Erkenntnis mit Verstand – ein Erkennen jenseits der Trennung von reiner Logik und bloßer Anschauung oder sinnlicher Ergriffenheit, auch wenn das ästhetische Begreifen ihm als sinnliche Erkenntnis gilt. Die mit den Dingen verwickelte ästhetische Lesekompetenz ist für Baumgarten als Prozess sinnlicher Erkenntnis vernünftig und sie ist – mit Goodman gesprochen – schon in diesem frühen Stadium der Ästhetik, eine von humaner Einstellung geprägte Weise der Welterzeugung. Denn die Sinne sind als erste Quellen ästhetischer Erkenntnis bei Baumgarten wesentlich durch die Stellung des Körpers zur Welt fokussiert. Diese Position und Einstellung des Körpers kanalisiert die Wahrnehmung. Aus den gerichteten Wahrnehmungen bilden sich in der Fantasie die Vorstellungen, die dann in der Dichtungskraft zusammengeschnürt und verlautbart werden. Die Dichtungskraft – facultas fingendi – ist das tätige Erkenntnisvermögen auf das noch zurückzukommen sein wird.
Der Scharfsinn – perspicacia – aber ist von den unteren Erkenntnisvermögen jene auszuentwickelnde Seelengabe, die am ästhetischen Gegenstand insbesondere zu differenzieren vermag. Der Scharfsinn erkennt die Übereinstimmungen und die Verschiedenheiten der Dinge. Er ist derjenige Sinn, der durch Kennerschaft trainiert werden kann und muss, um die Differenz als Tatbestand zu identifizieren und mithilfe derer die Dinge überhaupt als solche und als verschiede wahrnehmbar zu machen. Dieser Sinn vermag trennungsscharf zu erfassen, dass »alle Dinge in dieser Welt teils gleich, teils verschieden sind«.48 Er unterscheidet Einzelelemente und bindet sie als Verschiedene in der Einheit zusammen. Perspicacia identifiziert den Bezug als Differenz und differenziert Mannigfaltigkeit im Verbund. Diese »durchdringende Einsicht« ist dabei auch diejenige Fähigkeit des glücklichen Ästhetikers, die in die Beziehung zur Praxis der Übung gebracht wird, denn die seelischen Vermögen, sind Fertigkeiten in jenem Sinne von Könnerschaft, mit der sie eben durch »Übung gefördert«49 werden. Das Buch über die »Ästhetik« von Baumgarten widmet sich in einem eigenen Abschnitt diesem Phänomen der »ästhetischen Übungen« vor dem Hintergrund von Baumgartens Einschätzung, dass Seelenvermögen, obwohl von Natur aus vorhanden, der Übung bedürfen, um zur Blüte gebracht zu werden und nicht zu »erlahmen«. Ästhetisches Erkennen ist eine Praxis. Es muss geübt und getan werden, durchaus mit jener Unbedarftheit wie ein Knabe, der »mit rührigem Eifer dem Spiel gewidmet, schon ins Schwitzen kommt und vieles aushält, vieles tut, wenn er Dinge sieht, hört und liest, die er auf schöne Weise verstehen mag«.50 Bei diesem übenden Spiel im Erfassen der ästhetischen Dinge gewinnen wir Erkenntnissinn, schärfen unsere Differenzierungsvermögen, lernen die Fähigkeiten der unteren Wahrnehmungskräfte in der Fülle ihrer Möglichkeiten anzuwenden und zu nutzen und erproben immer wieder aufs neue die Identifikation der bedeutsamen Dinge. Das scharfsinnige Erfassen von ästhetischen Zeichen ist kein Automatismus, der sich einstellt, wenn wir etwa mit Kunst konfrontiert werden. Es gibt schon bei Baumgarten keine reine ästhetische Erfahrung ohne kenntnisreiche Expertise. Wir können annehmen, dass einfaches sich Einlassen zu nichts als Unverständnis führt. Wir müssen das ästhetische Erfahren als ein musterndes Verstehen von Bedeutungsgehalten lernen. Wir müssen das scharfsinnige Beobachten üben. Denn worin sonst, als im scharfsinnigen Identifizieren unterscheidbarer und bedeutungsschwangerer Dinge besteht insgesamt das ›Lesen‹ – verbaler wie nonverbaler Zeichen?
Vom Lesen zum Mustern: das Aufspüren als Erkennungsprozess
»Lesen ist«, schreibt die Philosophin Sybille Krämer zu Beginn des 21. Jahrhunderts, »die – regelfundierte – Fähigkeit, beim Sehen zugleich absehen und mannigfaltige Aspekte einer sinnlichen Erscheinung vernachlässigen zu können.«51 Das Lesen fokussiert mithin aus der Mannigfaltigkeit einer sinnlichen Erscheinung auf bestimmtes Partikulares. Dieses Fokussierte wird als Verweisung auf ein Allgemeines verstanden. Was wir sehen, ist im partikularen ›A‹ das universelle ›A‹. Krämer drückt es platonisch aus: »wir erkennen, dass eine einzelne Marke ›an der A-heit teilhat‹.«52 Doch über dieses Hineinlesen einer Allgemeinheit hinaus, welches aus einem bloßen Sehen ein Erkennen macht, erläutert Krämer auch den Sachverhalt, dass wir im Grunde beim Textlesen noch nicht einmal die Universalien der Buchstaben wirklich lesen, sondern in einer zweiten Ordnung des lesenden Erkennens von begrifflichen Zeichen diese immer schon in ihrer Relation zu anderen Buchstaben und Begriffen wahrnehmen. »Beim Lesen sehen wir nicht Einzelgestalten, sondern Relationen. Eine Relation zu sehen, besser: zu erkennen, gründet darin, die konkrete Erscheinungsweise ihrer einzelnen Bildungselemente zugunsten ihrer Konfiguration und Anordnung vernachlässigen zu können.«53 Krämer hat den verbalen Lesevorgang vor Augen. Bei ihrer Beschreibung können wir jedoch auch an Aspekte des Verstehens von ikonischen Artefakten denken: Auch beim ikonischen Lesen sehen wir nicht Einzelgestalten, sondern Relationen. Wir haben es bei Bildern und Inszenierungen, Dingen und Sachverhalten, Installationen und künstlerischen Objekten allerdings nicht mit einer Konfigurationen von Buchstabenelementen zu tun und einem relativ stabilen Regelkanon ihrer Kombinationsmöglichkeiten, sondern mit einem unendlichen Feld aus bekannten und neuen Einzelelementen und deren Relationen, die es durch ein »Absehen« und »Vernachlässigen« zu erkennen gilt. Was als bedeutsames Einzelelement erkannt wird, gleichsam als das ›A‹, das entscheiden beim Wahrnehmen von ästhetischen Objekten in einem ungleich höheren Maße als beim Lesen eines Textes die Betrachtenden. Dabei kann sich das ikonische Lesen oder bildliche Erkennen nicht auf das einfache Alphabet und eine bekannte Grammatik stützen. Es ist aktiver als das buchstäbliche Lesen, weil es in einem aktiven Ausleseverfahren angesichts der mannigfaltigen Elemente, zwischen Vernachlässigung und Erkennung, diejenigen A-Elemente und Einsichten als Allgemeinheiten erst identifizieren und immer wieder neu eruieren muss, die als Zeichen von Allgemeinheiten dann gelten. Die immer wieder neu gestellte Frage ist etwa: für welche ›A-llgemein-heit‹ steht ein Rot oder ein Kante, eine feste Textur oder die Schichtung von Collageelementen, die Richtung einer Körperbewegung oder Dauer und Kraft eines Tones?
Doch auch beim ästhetischen Lesevorgang werden die bedeutsamen Elemente von sinnlich wahrnehmbaren Sachen immer schon als Teile eines relationalen Zusammenhangs scharfsinnig aufgespürt und verstanden. Nur jene, zur Relationalität fähigen Aspekte kommen gewissermaßen als ›Marken‹ – hier im Sinne der sprachtheoretischen Terminologie – in Betracht. Denn auch beim ikonischen Lesen nehmen wir nicht die Einzelgestalten als solche wahr, sondern den Sinn, der sich aus ihren Relationen ergibt. Wir erkunden und entziffern, suchen und erkennen, behaupten und verwerfen Konfigurationen und Anordnungen von Bildelementen oder Szenen, von deren Teilhabe an einem abstrakten Verweisungscharakter wir immer schon in dem Maße ausgehen, wie wir eben Bilder, Texte, Diagramme oder Situationen als solche interpretieren. »Wir sehen in einer singulären Einschreibung etwas Allgemeines«, heißt es bei Krämer. Wir müssen diese Einschreibung oder Einsicht nicht vollziehen, weder am Bild noch am Text oder am Diagramm. Wir können immer auch die Singularität wahrnehmen. Wir sehen dann keine ›A‹-heit, kein Zeichen, sondern Material – bei Texten etwa ein Meer von Buchstaben. In dem Maße aber, wie wir tatsächlich Bedeutung verstehen und nicht einfach hinsehen, versetzen wir im Leseakt das Singuläre ins Allgemeine und können nicht anders, als die Einzelelemente als Verweisungen und Teile eines relationalen Ganzen zu erkennen. Dessen Relationen und Sinn kennen wir nicht immer schon, von dessen Bezogenheit aber gehen wir aus. Anders formuliert: wir können wieder und wieder ausgiebig darüber verhandeln, welche Bezüge zwischen den Zeichen als sinnstiftend überzeugen. Dass diese Interpretierbarkeit jedoch möglich ist, gründet in der Prämisse, dass ohne Referenzialität symbolische Ordnungen unmöglich wären. Mannigfaltige Erscheinungen werden zu symbolischen Ordnungen durch den aktiven Vorgang des Lesens, der am konkret Gegebenen, dessen allgemeine Bezugnahme einträgt. Wir haben es im scharfsinnig musternden Lesevorgang mithin mit der Vorannahme zu tun, ein zeichenhaftes Bezugssystem vor Augen zu haben, sei es begriffliche Sprache, ikonische Bilderwelten oder andere symbolische Ordnungen. Wir haben – wie schon Baumgarten bei der Analyse der mantischen Zeichen feststellte – eine besondere Erwartungshaltung gegenüber dem Vorfindlichem als einem Lesbaren. Ohne dies verstehendorientierte Gestimmtheit und sinnerwartende Haltung gegenüber den Sachen, die Texte oder Werke sind, ist ein Lesevorgang nicht denkbar.
Dass dieser Vorgang auch bei Bilderwelten und anderen ikonischen Ordnungen mitunter ›Lesen‹ genannt wird und damit die Signatur des Sprachlichen in sich trägt, entlarvt die historisch gewachsene Macht des Begrifflichen. Dieser Vorrang des Begriffs vor anderen Zeichen wird nachvollziehbar, insofern er sich aus der Geschichte der Schriftkultur ergibt. Dass dieses Paradigma des sprachlich-begrifflichen Erkennens als terminologischer Apparat vorherrscht, konfrontiert allerdings die zeitgenössische Erkenntnistheorie mit der dringlichen Aufgabe, sich der ästhetischen Kultur der Gegenwart und deren Verstehensprozess neu zu stellen. Mit zunehmender Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung des Zeichencharakters von ästhetischen Dingen muss ein neuer terminologischer Apparat gefunden werden. Vielleicht – so ein erster Vorschlag – ›mustern‹ wir tatsächlich mit unserem ästhetischen Spürsinn die Bilder, Objekte, Installationen oder performative Situationen in ihrer Visualität und ihren Bestandteilen an Referenzen eher, als dass wir sie ›lesen‹. Das ›Mustern‹ vermag ein Betrachten zu akzentuieren, das einem gezielten Ansehen als »durchdringender Einsicht« gleichkommt. Musternd sehen wir aktiv und aufmerksam das Gegenüber an. Das Mustern will wissen, was sich am Angeschauten als bedeutsam differenzieren lässt und was als dessen symbolischer Gehalt erkannt oder aufgespürt werden kann. Das gerichtete Ansehen oder Mustern identifiziert das mannigfaltig Bedeutsame an sinnlich vorhandenem Gegenüber. Das Identifizieren im Mustern will etwas Bestimmtes am konkret gegebenen Objekt als das gesuchte allgemeine Zeichen markieren. Nämlich die zeichenhaften Marken, an denen sich Sinnbezüge und referentielle Elemente herauskristallisieren, die zu Einsichten führen.
Ikonische Zeichen im öffentlichen Raum
Mustern wir nun probeweise eine künstlerische Arbeit, um zu prüfen, wie sich das Lesen von ikonischen Elementen abspielt und wie mithilfe durchdringender Einsicht, Scharfsinn und ästhetischer Spurensicherung aus gewöhnlichen Handlungen ikonische Zeichen werden. Mustern wir ein Ereignis, was sich für die Betrachtenden – die Musternden – erst langsam als Bedeutsames herausschält. Denn die künstlerische Arbeit, die wir jetzt mustern, ist nicht gerahmt durch einen Kunstraum und trägt ihren Zeichencharakter nicht als Hinweisschild an sich. Aus dem Rauschen der visuellen Alltagskultur taucht sie als Performance für die Zuschauenden durch die Differenz zum Gewöhnlichen erst langsam und unerwartet auf:
Wir befinden uns im Hauptbahnhof einer europäischen Großstadt. Züge fahren ein und aus, Reisende durcheilen die Hallen oder dösen an Reklameschilder gelehnt. Es ist einer dieser Bahnhöfe, die in Konsumzonen verwandelt wurden, mit Bäckereien und Kleidergeschäften, Aufenthaltsregeln und Sicherheitspersonal. In einer solchen Halle des öffentlichen Fernverkehrs und warenförmigen Marktgeschehens sehen wir gewöhnlicher Weise die vorhandenen Anzeigetafeln, Schaufensterauslagen oder Menschen als Schemen – wir nehmen sie nicht bewusst musternd, sondern als Einrichtung einer urbanen Umwelt beiläufig wahr. Unvermittelt beginnen aber einige dieser Schemen um uns herum als Personen hervorzutreten. Sie werden sichtbar, indem sie Unerwartetes tun. Mehrere Personen legen sich verteilt über den Bahnhofsraum mitten im Getümmel auf den Boden. Mehrere Personen breiten anschließend im Stehen an der Rolltreppe, auf dem Bahnsteig oder in der Verkaufshalle die Arme zur Seite aus. Personen fangen an, vor sich hin zu tanzen oder strecken fremden Passanten die Hände begrüßend entgegen und drehen dann langsam die Handflächen bettelnd nach oben… Einzelne Reisende beginnen sich angesichts dieser unerwarteten Gesten und dieser ungewöhnlichen Personen in ihrem Umfeld offensichtlich zu schämen und fixieren ihre Taschen, um nicht hinsehen zu müssen. Viele zufällig Anwesende schauen sich verwundert um. Eine Gruppe jüngerer Männer lässt sich grinsend auf die Tanzenden ein und beginnt im Vorbeigehen die Oberkörper zu wiegen. Eine Dame hält sich an ihrem Gehstock fest. Das Unerwartete des Bahnhofraumes findet durch die choreografierte Darstellung des abweichenden Verhaltens plötzlich statt. Spielerisch werden Strukturen der Architektur von den sich eigentümlich verhaltenden Personen angeeignet. Bodenfliesen werden als Hüpfmuster genutzt. Doch anstatt bei diesem Kinderspiel mitzuspielen, nehmen Mütter ihre Kinder an die Hand. Sicherheitskräfte werden herangeholt. Nervöses Gekicher. Was zunächst als Devianz in Erscheinung tritt, das Betteln, Tanzen, Spielen, Rumlungern und plötzliche Rennen einzelner Personen, wird zunehmend als eine durchkomponierte Choreografie vieler Akteure sichtbar, die verstreut über den ganzen Bahnhof gleichzeitig und unvermittelt dieselben Gesten und Schritte vollführen. Sie sind verteilt über den Raum. Sie sprechen nicht miteinander. Sie konzentrieren sich auf die Handlungen, die sie vollziehen. Wer steuert diese Darsteller im öffentlichen Raum und ihre Gebärden? Wer ist Passant, wer Darsteller? Wir sind erstaunt, nicht über das abweichende Verhalten Einzelner, was uns peinlich berühren würde, sondern über das choreografische Zusammenspiel der Vielen in ihren provokativen Abweichungen von der Norm. Das Staunen macht uns zu aufmerksamen und scharfsinnigen Beobachtern. Der Schauplatz hat keine öffentliche Ordnung mehr, sondern ist zu einer bezeichnenden Anordnung geworden. Wir beginnen das Sichtbare zu mustern, weil es durch seine Differenz zum Gewöhnlichen aus dem Meer der visuellen Eindrücke als Konstellation auftritt. Wir beginnen nach Spuren von Bedeutung zu suchen.
Was sehen wir? Wir sehen ab von den staunenden Passanten und schauen hin auf die Personen, die Kenntliches tun. Das Mustern als Lesen von ikonischen Situationen konstituiert die bedeutsamen Einzelelemente durch den Vergleich der Elemente untereinander. Das ist der Scharfsinn, von dem Alexander Gottlieb Baumgarten im 18. Jahrhundert schrieb, um die ästhetischen Erkenntnisvermögen zu charakterisieren. Dem scharfsinnigen Mustern wird in diesem Fall in einem europäischen Hauptbahnhof nahegelegt, dass die Personen, welche die ungewöhnlichen Handlungen vollführen, als Elemente einer bedeutsamen Choreografie zu verstehen sind. Aber was bedeuten sie? »Symbole im pikturalen Schema sind relativ voll«54, notiert der Symboltheoretiker Goodman und meint damit, dass potentiell alles in der Mannigfaltigkeit der sinnlichen Erscheinungen eines ikonischen Ereignisses als Element bedeutsam sein kann. ›Potentiell alles‹ wird im Fall der Performance im Hauptbahnhof auf den ersten Blick begrenzt durch die Teilnehmenden der Aktion. Sie setzten den Rahmen des Dargestellten. Aber alles an dem, was diese Darsteller sichtbar werden lassen, kommt als Symbol in seiner ikonischen Fülle in Betracht. Mit der Markierung des bedeutsamen Feldes haben wir beim Mustern der Szene bedeutsame Einzelelemente – ikonische Marken – identifiziert – die Personen und ihre performativen Handlungsvollzüge. Nicht als Einzelelemente erschaffen die beteiligten Personen jedoch das ikonische Ereignis, sondern erst ihr Zusammenspiel und ihr relationales Auftreten erwirken das Bezeichnende. Das Mustern der Szene hat zunächst mit der Rahmung und Identifikation der bedeutsamen Zeichen seinen Lesestoff gefunden. Jetzt aber beginnt das Mustern diesen ›Stoff‹ als relationales Geflecht zu dechiffrieren.
Anders als ein Gemälde, dessen einzelnen ästhetischen Marken – die Farben und Formen – kontinuierlich ineinander übergehen, scheinen bei der ikonischen Szene im Bahnhof die Symbole diskret. Es sind identifizierbare Personen, die Dinge tun und in diesem sichtbarmachenden Tun Bedeutungsbezüge erzeugen. Doch schon bald lösen sich die ersten Eindrücke von definierten Bedeutungsträgern auf. In einem kontinuierlichen Übergang gehören vorübergehend auch Schaufenster oder Fußbodenfliesen, Plastiktüten oder rote Tücher zum symbolischen Ganzen der Szene dazu. Die Performance weist – wie ein Gemälde – eine »relative Zeichenfülle« auf – wie ein Farbverlauf, dessen Übergang von Rot zu Gelb über Orange zwar deutlich sichtbar aber nicht definitiv bestimmbar ist und der daher an jedem beliebigen Mischungspunkt bedeutsam sein kann. Alle Darstellenden der Performance im Bahnhof ziehen irgendwann ihre Schuhe aus und stellen sie vor sich auf den Boden. Die Schuhe, die sie einfach nur anhatten werden mit dieser kollektiven Geste zu Bedeutsamen. Alle Darstellenden klopfen irgendwann an die Schaufensterscheiben der Geschäfte. Die Scheiben waren vorher schon bedeutungsloser Teil der Umgebung und bleiben es hinterher. Mit dem Klopfen an ihnen aber werden sie Teil des Bedeutungsgeflechts. Was gehört zum Symbolsystem der Performance? Was ist ihr äußerlich? Die Fülle der Erscheinungen in der Umgebung der Handelnden kann potentiell gehaltvoll sein. Goodman nennt diese kontinuierlichen Übergänge im nonverbalen Symbolsystem die »syntaktische Dichte, bei der gewisse minimale Differenzen zur Unterscheidung von Symbolen dienen« und die »relative Fülle, bei der vergleichsweise viele Aspekte eines Symbols signifikant sind«.55 Er zählt diese »Dichte« und diese »Fülle« zu den symboltheoretisch relevanten »Symptomen des Ästhetischen«. In den beiden Büchern »Sprachen der Kunst« und »Weisen der Welterzeugung« beansprucht Goodman die Kunst als Symbolsystem zu begründen. Kunst sei ein »nonverbales Symbolsystem«, wobei Goodman den Ausdruck »Symbol« als einen Grundterminus setzt, der »Buchstaben, Wörter, Texte, Bilder, Diagramme, Karten, Modelle und mehr« erfasst.56 Der Begriff des Symbols meint – wie bei Ernst Cassirer57 – Bedeutungsträger im allgemeinen Sinne. Als Symbolsystem stehe die Kunst in einem Verweisungszusammenhang, der sich zwar strukturell von demjenigen der Texte unterscheide, gleichwohl aber referenziell sei. Goodman vertritt daher die Ansicht, »dass wir sowohl das Gemälde als auch das Gedicht lesen müssen und dass ästhetische Erfahrung eher dynamisch als statisch ist.«58 Und tatsächlich kommen wir beim Betrachten der künstlerischen Performance im öffentlichen Raum mit der ästhetischen Erfahrung der Irritation alleine oder des bloßen Wohlgefallens an der Formation der Körper gerade soweit, dass uns diese Erfahrung lehrt, dass es sich bei der Szene um einen künstlerischen mithin bedeutungsvollen Schauplatz handelt.
Die ästhetische Erfahrung ist eine Differenzerfahrung, die das Gegebene als Besonderes in der Unterscheidung vom Gewöhnlichen wahrnehmbar macht. Sie erfasst das Ereignis als ein Künstlerisches im Nichtalltäglichen. Ästhetische Erfahrung wirkt in diesem Sinne wie der Rahmen des Gemäldes, der die Farben auf der Leinwand von den Farben auf der Galeriewand räumlich vor allem aber kategorial trennt: Symbole die einen, Dekor die anderen. Die Performance in der Bahnhofshalle erzeugt ihre Rahmung, indem sie eine ästhetische Erfahrung provoziert, die das ikonische Ereignis als künstlerische und damit bedeutsame Aktion sichtbar werden lässt. Um zu mustern, bedürfen wir einer ästhetischen Erfahrung, wie eines Buches um zu Lesen. In der ästhetischen Erfahrung aber geht der Gehalt des zu Musternden so wenig auf, wie das zu Lesende in der Wahrnehmung des Buchobjekts. Wie also mustern wir?
Für Goodman geht es beim »Lesen« von ästhetischen Symbolsystemen um jenen Spürsinn, der es vermag, die subtilen Unterschiede und feinen Beziehungen von bedeutsamen Elementen zu identifizieren. Zu den spezifisch subtilen Eigenschaften der nonverbalen Symbolsysteme zählt Goodman nicht nur semantische Dichte, relative Fülle und syntaktische Dichte, sondern auch »Exemplifikation« und »multiple Bezugnahme«.59 In einem bestimmten Moment der Performance schwenken die beteiligten Personen gleichzeitig mit winkender Geste ein rotes Tuch. Gerahmt als künstlerische Szene ruft diese Geste kulturelle Gemeinplätze auf – sie wird zu einem Verweis. Wir sehen das altertümliche Abschiednehmen, wenn der Zug aus dem Bahnhof fährt und sich die Reisenden für einen letzten Blick aus den geöffneten Fenstern beugen. Das performative Aufrufen dieser Geste »exemplifiziert«, wie Goodman sagen würde, die kulturelle Geste. Das Tuch wird zum ikonischen Zitat einer bedeutsamen Handlung. Die Alltagsgeste wird zu einer Geste, die wir aus alten Filmen kennen, wo Damen am Bahnsteig stehen und das Taschentuch schwenken. Die winkenden Personen als Teil der Performance haben Anteil an dieser universellen Bedeutungsgeste, die einen Resonanzraum öffnet, der vergangene Zeiten ebenso aufruft, wie das Zeichen dafür, dass etwas Liebgewonnenes verschwindet. Das Tuch in der Performance ist aber rot – rot wie die Liebe, rot wie die Revolution. Seine Rotheit exemplifiziert nichtmehr einfach das Rote. Das Rote des winkenden Tuchs bedeutet referentiell. Es meint etwas, was es selber nicht mehr im Sinne eines Exempels ist – Liebe, Revolution, Leidenschaft. In der »relativen Fülle« der Rotheit als referenziellem Zeichen gehen die Bedeutungen ineinander über. Dagegen signalisiert das heftige Klopfen an den Schaufensterscheiben der Ladengeschäfte durch die an der künstlerischen Aktion Beteiligten wieder einen exemplifizierenden Bedeutungsraum. Das Klopfen ist fordernd. Es fordert das gefährlich schwingende Glas ebenso heraus, wie die gesellschaftliche Trennung von Eigentum und Gemeinwesen. Das Klopfen exemplifiziert die gefährliche Schwingung. Was, wenn die Scheiben sprängen? Was, wenn die Eigentumsverhältnisse splitterten? Die ungehörige Geste des herausfordernden Klopfens gegen die Ladenscheiben bewirkt im Normalfall – im Fall es nicht beispielhaften Zitatseins – das Einschreiten des Sicherheitspersonals. In seiner choreografischen Vervielfachung aber ruft das kollektive Klopfen komplexe Resonanzräume auf, innerhalb derer die Kategorien von Einschluss und Ausschluss, Aneignung und Anpassung, Straftat und Widerstand verwoben sind. Meinen also in der Relation von roten Tüchern und Schaufensterklopfen die roten Tücher tatsächlich die Revolution und weniger die Liebe? Im Zusammenhang der Choreografie wird eine Syntaktik wahrnehmbar, welche die bedeutsamen Symbole planmäßig miteinander in Beziehung setzt. Die Choreografie der Vielen und der Zusammenhalt, den sie als Konstellation von Gesten schafft, erweist sich dabei als eine verbindende Gewebestruktur. Aber auch die einzelnen Gesten sind als Symbole innerhalb der künstlerischen Aktion »semantisch dicht« und beinhalten kapillare Bedeutungsverschiebungen. Diese semantische Dichte als Eigenschaft der physisch-haptischen Ausdrucksweise wird besonders nachvollziehbar in der Geste des Übergangs vom Begrüßen zum Betteln in der Performance am Hauptbahnhof: Die zerstreuten Teilnehmenden der Aktion winkeln kollektiv den gesenkten rechten Arm nach oben und strecken die Hand zur Begrüßung nach vorne. Je nachdem, wo die Personen stehen, in der Weite der Halle oder der Enge eines Bahnsteigs, wirkt die Geste auffordernd gegenüber einem zufälligen Gegenüber oder grotesk ins Leere gegriffen. Das Begrüßen symbolisiert sich dabei selber in der Handhaltung als soziale Geste. Die im Anschluss dargebrachte Bewegung aber – von der hochkant ausgestreckten Hand, die sich langsam zur Seite neigt, bis irgendwann die Handinnenfläche nach oben weist – zeigt mit der Bewegung des nuancierten Kippens, die minimale Differenz und den fließenden Übergang zwischen einer Geste der freundlichen Begegnung zu einer Geste der ökonomischen Unterwerfung. Die zerstreute Menge bettelt. Was aber bedeutet die Hand im Dazwischen von Betteln und Grüßen? Das performative Symbol erweist sich als komplex durch seine Ambivalenz und will gerade diese Ambivalenz auch zeigen: Es geht um das Dazwischen der Gesten und deren Bedeutung als erlaubt oder unerlaubt. Die semantische Dichte charakterisiert Symbole, die für Tatbestände bereitstehen, die sich nur graduell voneinander unterscheiden. Insgesamt exemplifiziert die künstlerische Aktion im Hauptbahnhof durch ihre performativen Handlungen soziale Einschlüsse und Ausschlüsse sowie deren gestische Realität. Die Performance exemplifiziert in dem Sinne, wie Goodman das Exemplifizieren als konkrete Wiederholung von Aspekten des Gemeinten versteht. Die künstlerische Aktion ist eine »Probe« von Eigenschaften und Handlungsweisen, die sie selber besitzt und dadurch symbolisch thematisiert. Die Gesten der Beteiligten proben den Aufstand. Die Aktion ist eine Herausforderung des Gewöhnlichen und dessen Regelkatalog.
Wir bemerken in der scharfsinnigen Musterung der dargestellten Gesten schließlich auch, dass alle diese Darsteller keine Tänzer oder Schauspieler sind, die etwa die Bewegungsabläufe auswendig gelernt hätten und synchron aufführen könnten. Es handelt sich einfach um Zuhörer. Jede Person der Performance hat Kopfhörer auf oder ein Transistorradio am Ohr. Sie hören, was für die Passanten unvernehmbar bleibt: Anweisungen, Musik und Reflexionen. »Das Radioballett«, flüstert die Radiostimme den Teilnehmern dieser Aktion ins Ohr »untersucht die Grauzone zwischen erlaubten, zwielichtigen und verbotenen Gesten. Es lässt die aus dem privatisierten öffentlichen Raum verdrängten Gesten in diesen zurückkehren.«60 Die Performance basiert auf einer vorproduzierten Radiosendung, die zu einem bestimmten Zeitpunkt über einen freien Radiosender der Stadt oder einen mobilen Transmitter ausgestrahlt wird. Der Rest ist Verabredung: Kommt um 16 Uhr in den Hauptbahnhof und schaltet das Radio auf der Frequenz des freien Radios ein! Das ›Radioballett‹ nutz den medialen Raum und eignet sich dessen Kommunikationswellen für die künstlerische Untersuchung des öffentlichen Raumes, der öffentlichen Gesten und der Ausschlüsse an. »Zerstreuung« fordert die Stimme aus dem Radio die Zuhörer auf, »verteilt Euch über den Bahnhof!« Die Radiohörer schlendern in die Gänge und Flure, auf die Bahnsteige und vor die Schaufenster der Geschäfte. Sie hören jetzt Musik zwischen den Ansagen. »Abstand« verlangt das Radio, »achtet auf Abstand um Euch herum!« Die Radiostimme erläutert: »das Radioballett organisiert nicht die Verteilung der Menschen im Raum«. In dieser Mischung aus Aufforderungen, Erklärung und atmosphärischen Musikklängen werden die Beteiligten der Aktion zu kollektiven und dabei zerstreuten Experimentatoren in der Sache des eignen Tuns und in der Sache der erlaubten und unerlaubten Gesten im privatisierten öffentlichen Raum: »Die Geschäfte in der Konsumzone« teilt die Radiostimme mit, »zeigen Rückstände einer Traumwelt – die Traumwelt ist die Ware – die Privatisierung der Konsumzone bewacht den Reichtum – im nichtbestimmungsgemäßen Verweilen werden andere Verteilungen dieses Reichtums vorstellbar!« Nach diesen Thesen zur Warenförmigkeit des Öffentlichen und dessen narkotisierender Wirkungen auf die Einzelnen fordert eine weitere Stimme die Zuhörenden nun auf, aktiv zu werden: »Vor das Schaufenster stellen und das Warenangebot gegen den Strich bürsten!« Als würde das Streichen der vielen Fingern über die Ladenscheiben als Grauzonengeste nicht reichen, um das Unerlaubte am eigenen Leib zu erspüren, verlangt die Radiostimme nun: »Kontakt: An die Schaufensterscheiben klopfen – Noch einmal stärker gegen die Scheibe klopfen.« So kommt das beängstigende Poltern gegen Schaufensterglas im Bahnhof zustande. Was von außen wie ein herausforderndes Zeichen wirkt, das gegen die öffentlichen Ordnungsprinzipien anklopft, wird aus der inneren Logik der Choreografie argumentativ gestützt: »Eine andere Verteilung des Reichtums wird vorstellbar«, sagt das Radio und fordert dann auf: »Lauft weg!« Die Menge stobt in alle Richtungen auseinander. Nichts ist wirklich schlimm und verboten an diesen Gesten des Klopfens und Rennens, doch die Außenstehenden – die Nichthörenden – sind alarmiert. Die performative Untersuchung der Grauzonen zwischen den erlaubten und unerlaubten Gesten liefert als Zwischenergebnis für die Beteiligten die Erfahrung der Souveränität im Schwarm. Sie zeigt, dass Regeln und Handlungsweisen modifiziert werden können, wenn Viele dies gemeinsam tun und koordiniert wollen. Sie zeigt, dass durch die Abweichung von der Norm in der Menge ein hedonistisches Vergnügen entstehen kann. Dieses Vergnügen bahnt sich tänzelnd seinen Weg in die Öffentlichkeit. »Tanzen«, sagt die Radiostimme »selbstvergessen tänzeln«. Musik spielt in den Ohren der Beteiligten der Performance und der Bahnhof schwingt mit den Rhythmen für die einen und wird ein absurdes Szenario wie ein Stummfilm für die anderen. Diese Anderen, die plötzlich Außenstehenden, die welche nichts hören, die daher manches anders sehen, die sich eben noch innerhalb der Normen bewegten, diese Nicht-Radiohörer verstehen aber im Mustern der Szene die Differenz der Gesten als Zeichen. Sie nehmen wahr, dass Rennen Angst demonstriert oder Gefahr, dass Tanzen sich als verrückt aber ungefährlich und von ansteckender Leichtigkeit zeigt. Die Revolution müsste tanzend vollzogen werden. Die Passanten schmunzeln.
Das ›Radioballett‹ der Performancegruppe LIGNA untersucht die Regeln und Ausschlussmechanismen des öffentlichen Raums durch Sichtbarmachung von Devianz und versteht sich als eine »Übung im nichtbestimmungsgemäßen Verweilen«. Öffentlichkeit ist ein Teil der visuellen Kultur und das ›Radioballett‹ präsentiert sich daher korrespondierend auf der ikonischen Ebene des Performativen. Es liefert eine szenische Darstellung über den szenischen Gehalt des Öffentlichen und inszeniert die personale Darbietung von öffentlichen Akteuren. Durch Nicht-bestimmungsgemäßes-Verweilen wie Tanzen oder Klopfen treten gewöhnliche Passanten auf die Bühne des Öffentlichen und werden zu bezeichnenden Akteuren. Wenn der Akteur dabei ein Einzelner wäre, nähme man ihn als Absonderling wahr. Die vielen Absonderlinge aber erschaffen eine mächtige Choreografie. Sie sind eine Demonstration über das Geregelte und das Unerlaubte im buchstäblichen Sinne des demonstrare, des sichtbaren Zeigens.
Historisch knüpft das ›Radioballett‹ weniger an die Performances oder Happenings der 1960er Jahre an, die alltägliche Handlungen modifizierten, indem sie diese im Kunstraum aufführten und dabei das Publikum involvierten, sondern an die politischen Aktionen der späten 1968er, die kunstartige Handlungen in der Realität wiederholten, um diese Realität politisch (und performativ) herauszufordern. »Denn anders als andere künstlerische Ereignisse sind Aktionen nicht darauf angelegt, aufgesucht zu werden. Sie kommen zu den Leuten«61, notiert der Kunsthistoriker Dirck Link. Das ›Radioballett‹ ermächtigte sich als Stimme nicht durch eine kuratorische Setzung des Kunstbetriebs, sondern durch Selbstbeauftragung »mittels des Aktes des Sich-Zeigens zu Praxis«.62 Von Relevanz für eine ikonische Symptomatik und Syntaktik des künstlerischen Bedeutens ist am ›Radioballett‹ tatsächlich dieser Akt des Sich-Zeigens, diese Provokation, die es im öffentlichen Raum als Irritation erzeugt und die zu einer ästhetischen Rahmung des Geschehens führt, in deren Folge die anschaulichen Dinge und Handlungen in ihrem Zeichencharakter wahrnehmbar werden. Die Performance exemplifiziert auf einer Metaebene den graduellen Übergang von einer alltäglichen Situation zu einem ikonischen Symbolsystem durch das versprengte Auftauchen als Choreografie. Im performativen Detail der kollektiven Gesten macht die künstlerische Aktion die nuancenreiche Komplexität der inszenierten Symbole nachvollziehbar, deren vielfältige Bezüge an den Rändern der Zeichen zwischen bedeutsam und irrelevant oszillieren. Deutungswellen breiten sich im choreografierten Raum aus und nehmen mit zunehmendem Abstand vom Aktionszentrum an Bedeutung ab. Wo genau die Grenze zwischen bezeichnenden Symbolen und umgebender Alltagswelt liegen, lässt sich nicht definieren. Das, was als Figuration, Geste oder Gebärde in allen seinen detailreichen Aspekten sichtbar wird, ist deutbar als Element eines Symbolsystems und was als Choreografie einen Rahmen konstituiert, bringt die deutbaren Zeichenelemente so miteinander in Beziehung, wie auch die Darsteller durch die Radiowellen miteinander in Beziehung stehen, und aus diesem Zusammenhang heraus wird »relativ voller« und »syntaktisch dichter« Sinn erzeugt. Die choreografierte Performance arbeitet als künstlerische Darstellung nicht nur implizit mit den Mustern einer ikonischen Semiologie, sondern expliziert diese auch mittels der Darbietung von Grauzonen öffentlichen (bedeutsamen) Handelns. Die Performance stellt die Funktionsweise der ikonischen Semantik und Syntaktik, ihre graduellen Abstufungen, ihre Verweisungsdichte und Zeichenkomplexität und ihren Modus der Zusammenhangsbildung aus. Sie zeigt, wie aus physischen Begebenheiten koordinierte Zeichen werden und wie sich diese Zeichen im Rahmen ihrer Ikontik – ihrer Grammatik der künstlerischen Artikulation – nuancenreich im Bedeutungsraum verschieben, gleich der Transformation von der Geste des Grüßens zur Geste des Bettelns. Das ›Radioballett‹ stellt mithin künstlerisch dar, wie die Zeichen untereinander eine syntaktische Einheit etablieren, indem die zerstreuten Darsteller im Bahnhof raum-zeitlich in der Choreografie der Performance zusammenhängen und aus diesem choreografierten Zusammenhang heraus Bezüge darlegen. Vor allem aber bemerken wir im Prozess des Musterns jene ästhetische Haltung, die es uns erlaubt, scharfsinnig an Ladenfensterscheiben und Glasklopfen gesellschaftliche Verhältnisse zu dechiffrieren oder in winkenden roten Taschentüchern den Abschied von der Revolution zu erkennen.
Nierenformen – oder die Konventionen ästhetischen Verstehens
Was macht uns glauben, dass winkende rote Taschentücher den Abschied von der Revolution bedeuten – zumindest im Rahmen einer Performance, welche erklärtermaßen erlaubte, zwielichtige und unerlaubte Gesten im öffentlichen Raum untersucht? Was gibt uns die Sicherheit, diese Leseweise der ikonischen Zeichen mindestens als verhandelbar nicht aber als vollkommen absurd anzusehen? Wann halten wir eine Deutung tatsächlich für abwegig? Was sind die Kriterien nach denen absurde von akzeptablen Bedeutungen geschieden werden? Monströse Doppelgänger nennt der Kunsthistoriker Marc Gottlieb jene Kommentatoren, die mit abwegigen Auffassungen von künstlerischen Werken in die Medien drängen, weil sie glauben, bahnbrechende, bisher verborgene Deutungen zu Gemälden oder Künstlern anbieten zu können.63 Monströse Doppelgänger erkennen etwa im Gemälde des Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle die Nierenform im Hintergrund Gottes und schließen auf urologische Beschwerden des Künstlers. Was jedoch ist daran abwegig? Welches Regelwerk sorgt für eine richtige Deutung der ikonischen Zeichen? Was sichert die Bedeutung von Formen in Gemälden ab? In welchem Kontext hält sich die Wahrnehmung auf, wenn ihr Schaufensterscheiben als Zeichen für gesellschaftliche Ausschlussmechanismen plausibel erscheinen? Woher stammt der Konsens, der das Grüßen als performative Geste in der ausgestreckten Hand erkennt? Wer etabliert jene Deutungshoheit, welche den Verweis auf Krankheitssymptome im Fresko ausschließt? Der Kunsthistoriker Gottlieb nennt die vermeintlichen Fehldeuter »monströs«, weil das Gelächter der professionellen Kunsttheoretiker und Theoretikerinnen über die dilettantischen Anmaßungen der Außenseiter nur ein unheimliches Zeichen für den ungesicherten Boden ist, auf dem die Experten sich selber bewegen. Denn wer darüber entscheidet, was an den ästhetischen Dingen tatsächlich als Symbol anerkannt wird und worin seine Bedeutung besteht, ist eine Sache der Konvention und eine Sache der Expertengemeinde. Der Ästhetiker Baumgarten hat im 18. Jahrhundert die bedeutungsvollen Dinge in der Wahrsagekunst wohlweislich um die Figur der Sehenden herumgruppiert. Ästhetische Gegenstände, die als Zeichen wirksam werden, konstituieren sich durch die taxionomische und interpretatorische Nähe, die sie zum Interpreten aufweisen. Die Wahrsagenden müssen ihnen das Bedeutsame durch räumliche Nähe und Aufmerksamkeit zugestehen können. Sie kennen die Bedeutungsgeschichten, die mit ikonischen Zeichen verknüpft sind. Mithin sind es die Gewohnheiten einer musternden Expertengemeinde, welche tatsächlich die Symbole als bedeutsame konstituieren. Wir erinnern uns hier an die Gebrauchstheorie von Ludwig Wittgenstein, welche auf die verbale Sprache zielte. Wittgenstein diagnostizierte in seinen späten sprachphilosophischen Erwägungen, dass ein Bestand an Gewohnheiten den Gebrauch der Worte organisiert. Bedeutung wird durch eine kulturhistorisch gewachsene, soziale Verabredung festgelegt. Eine Verabredung, die uns dazu motiviert, mit bestimmten Lauten gewisse Vorstellung in Verbindung zu bringen, bei denen wir davon ausgehen, dass auch andere diese Vorstellungen teilen. Bedeutung liegt nicht in der Wahrheit der Buchstaben, sondern wird diesen zugeordnet. Mit Blick auf die absurden Deutungsvarianten von kunstwissenschaftlichen Außenseitern anhand von kanonischen Gemälden wird der konventionelle Boden auch der ikonischen Symbolkunde spürbar. Die Nierenform im Fresko ist eine abwegige Bedeutungsannahme, weil kein etabliertes Bilderspiel existiert, in dessen Kontext sie einen Weg des Sinns weisen würde. Zugleich liegt diese Abwegigkeit von Sinn nicht in der Natur der gemalten Formen. Die semantische Dichte ikonischer Zeichen ist groß und zugleich konventionell. Der Variantenreichtum dessen, was als Symbol anerkannt werden kann, ist nach Goodman weit und die einzelnen Elemente ikonischer Marken weisen eine »relative Fülle« auf – und doch ›spielen‹ sich Fülle und Weite im Rahmen verabredeter Bedeutungshorizonte ab. Ästhetische Bedeutungslandschaften unterscheiden das Absurde vom Wahrscheinlichen in der Beurteilung von Gehalten, indem die Gemeinde von Fachleuten einen Spezialdiskurs etabliert, innerhalb dessen die Raster erlaubter und unerlaubter, sinnvoller und unsinniger Aussagen positioniert sind. Die Fachgemeinde der Interpreten konstituiert und regelt die Sinnproduktion. Die monströsen Doppelgänger tauchen zwischen den verabredeten Laufstegen der Interpretationen auf wie Untote. Von Medizinern ist bei Gottlieb die Rede, die in tatsächlicher Kenntnis um die urologischen Beschwerden des Renaissancemalers Michelangelo die Nierenform in dessen Gemälde erkennen und als Zeichen für eine künstlerische Verarbeitung des Krankheitsfalls deuten. Wasser-vom-Körper-scheidende-Nieren lassen sich als Symbole in der Sixtinischen Kapelle finden und plausibel machen, gerade weil dieses Deckengemälde auch die Trennung von Wasser und Erde im göttlichen Schöpfungsprozess darstellt. Was spricht vor dem Hintergrund dieses Bedeutungsrahmens dagegen, dass das Wandgemälde des Michelangelo vom erdgeschichtlichen Ereignis der Trennung der Elemente auch vermittels formaler Flächendarstellungen von der Niere erzählt – eben jenem Organ, das diesen wasserscheidenden Prozess in Michelangelos Körper (pathologisch unzureichend und daher merkbar) wiederholt? Im herrschenden kunsthistorischen Diskurs und seinem ikonologischen Mustererkennungsprogramm ist die Niere im Renaissancegemälde als Bedeutungsträger jedoch absurd. Gottlieb erinnert allerdings seine kunsthistorische Expertengemeinde daran, dass die Identifikation abwegiger Symbole und unerwarteter Bedeutungen das Material bilden, aus dem ikonologische Revolutionen gebaut sind. Eine Neuformation der Kunstgeschichte oder Kunstkritik hängt mithin auch an der Frage, ob Bilder anders als erwartbar lesbar werden. Anormale Deutungsmuster können ein herrschendes Paradigma zum Kollabieren bringen. Eine kritische Menge abweichender Interpretationen, Darstellungen oder Informationen fordert Erklärungen über den Status und die Haltbarkeit desjenigen Erkenntnisrasters ein, das die Anomalien in der Interpretation nicht zu integrieren vermag. »Monströsen Doppelgänger« erinnern uns daran, dass auch die ikonische Semantik als Zeichenspiel funktioniert und ästhetische Deutungsräume von Expertengemeinden etabliert werden. Künstlerische Artikulation wird erst innerhalb dieser Rahmenwerke überhaupt kenntlich und verständlich. Kunst ist gerahmt von Diskursen, Haltungen, Mustererkennungsprogrammen, Fachgemeinden, inaugurierten Autoren und Kulturgeschichte. Ein ikonischer Diskurs – eine imagery – eine Bilderbedeutungswelt bildet sich auf der Grundlage der spezifischen Erwartungshaltung des Betrachterpublikums und vor dem Hintergrund einer verabredeten semantischen Landschaft, innerhalb derer Gehalte wahrnehmbar und verhandelbar werden. Diese Haltungen, diese semantischen Räume, diese Deutungsmuster und Expertengemeinden aber konstituieren nicht nur ästhetischen Sinn, sie regulieren ihn auch. Und sie schließen dabei mitunter Nierenformen in Renaissancegemälden aus. Der französische Philosoph Jean-François Lyotard hat die wittgensteinsche These vom Sprachspiel in seiner Sprachphilosophie radikalisiert und jenen »Widerstreit« herausgearbeitet, der mit den Deutungsregulierungen der Sprachspiele einhergeht. Entsprechend müsste auch für die Bedeutungstheorie der Kunst eine kritische Theorie formuliert werden, welche die Widerstreite der ästhetischen Symbolordnungen identifiziert. Ästhetische Sprachgemeinschaften und ihre kulturell habitualisierten Selbstverständnisse über die Geltung von Symbolen und die Plausibilität von Bedeutungen bilden die notwendige Grundlage der Verständigung mit ästhetischen Mitteln. Das Selbstverständnis, in dem aber ästhetische Zeichen gewohnheitsmäßig erkannt werden, installiert Deutungshoheiten. Die Ikontik muss sich im Moment ihrer Bestimmung zugleich in einer Phase der kritischen Situierung befinden. Nierenformen in Renaissancegemälden dürfen verhandelt werden.
1Huber, Inszenierungen und Verrückungen: Forschungsverfahren einer Theorie des Ästhetischen, in Bippus (Hg): Kunst des Forschens, 2009, S. 211.
2…so der Titel eines von James Elkins herausgegebenen Aufsatzbandes (Visual Literacy, Routledge 2008), in dem Mitchell in seinem Essay »Visual Literacy or Literary Visualcy« der Frage nachgeht, inwiefern verbale und bildliche Sprache miteinander verglichen werden können (S. 11 ff), bevor er »vier fundamentale Konzepte einer Bildwissenschaft« (S. 14 ff) aufstellt.
3Was es bedeuten würde, mit Bildprodukten in eine dialogische Kommunikation einzutreten dokumentiert in ersten Ansätzen ein Experiment in einem schwedischen Krankenhaus, bei dem Patientengruppen (und parallel Künstler) aufgefordert wurden, auf die klinischen Bilder wie Röntgenaufnahmen oder Ultraschall, mit denen ihre Krankheiten kommuniziert wurden, mit eignen Bildern zu reagieren, siehe dazu den Aufsatz von Henrik Enquist: Bridging the Gap between Clinical and Patiant-Provided Images, in: Elkins (Hg.): Visual Literacy, 2008.
4Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 2001.
5Vgl. Lyotard: Der Widerstreit, 1989.
6Dieses Bild des Käfers in der Schachtel ruft das Gleichnis bei Wittgenstein in den »Philosophischen Untersuchungen« auf, mit dem er deutlich macht, inwiefern die Einzigartigkeit privater Erfahrungen niemals Gegenstand intersubjektiver Verständigung durch Sprache sein kann. Weil nämlich niemand außer dem Einzelnen den Käfer in der Schachtel erblicken kann und ein gebrauchsmäßiger Abgleich des Gesehenen bzw. Erfahrenen unmöglich ist.
7Adorno, Negative Dialektik, 1975 S. 16.
8Adorno, Negative Dialektik, 1975 S. 20.
9… neben einem Denken in Konstellationen und einer Philosophie, die zwischen dem systematischen Ganzen und dem essayistischen Ausschnitt oszilliert.
10… die mit Wittgenstein aber zugleich historisch wandelbar und dem Gemeinsinn verpflichtet wäre.
11Adorno: Ästhetische Theorie, 1989, S. 86ff.
12Adorno: Ästhetische Theorie. 1989, S. 196.
13Adorno: Ästhetische Theorie. 1989, S. 191.
14Adorno: Ästhetische Theorie. 1989, S. 498ff.
15Vgl. Goodman: Sprachen der Kunst, 1997, S. 226/227.
16Goodman: Sprachen der Kunst, 1997, S. 40/41.
17… eine ähnlich beliebte Übung unter Kunsthistorikern, wie die Betrachtung homerischer Sagen bei Philologen.
18Gadamer: Wahrheit und Methode, 1986, S. 145.
19Vgl. Cassirer: Versuch über den Menschen, 1990, S. 172ff.
20Cassirer: Versuch über den Menschen, 1990, S. 209f.
21Vgl. Snell: Die Entdeckung des Geistes, 1975.
22Nach Diogenes Laetius VI 53. »Darauf Platon: Sehr begreiflich; denn Augen, mit denen man Tische und Becher sieht, hast Du allerdings; aber Verstand, mit dem man Tischheit und Becherheit erschaut, hast Du nicht.« Platon wiederholt mithin die ihm wesentliche Trennung von Konkretem und Abstraktem in der Replik, wenn er die körperlich konkrete Sicht von geistig abstraktem Denkvermögen differenziert, um Diogenes die Fähigkeit zur geistigen Sicht auf die Dinge abzusprechen.
23Ginzburg: Spurensicherung, 1988, S. 88.
24Ginzburg: Spurensicherung, 1988, S. 89.
25Ginzburg: Spurensicherung, 1988, S. 91.
26Ginzburg: Spurensicherung, S. 95 nach G. Galilei, Il Saggiatore hg. von L. Sosio, Mailand 1965 S. 38.
27Vgl. dazu in der Einleitung in Baumgartens »Texte zur Grundlegung der Ästhetik« von Hans Rudolf Schweizer den Kommentar des Erstherausgebers der Baumgartenschriften J. Chr. Förster, in: Baumgarten, Texte zur Grundlegung der Ästhetik, 1983, S. XVIII.
28Vgl. Baumgarten: Philosophia Generalis § 147 I, in: Texte zur Grundlegung der Ästhetik, 1983.
29Vgl. Baumgarten: Philosophia Generalis § 147 I, in: Texte zur Grundlegung der Ästhetik, 1983 S. 75/76.
30Vgl. Baumgarten: Ästhetik, 2007, S. 27ff/§ 26ff.
31Baumgarten: Ästhetik (Teil 1 §§1-613), 2007, S. 35 § 39.
32Baumgarten: Ästhetik (Teil 1 §§1-613), 2007, S. 422/421 § 441.
33Baumgarten: Metaphysik. Die Psychologie, in: Texte zur Grundlegung der Ästhetik, 1983 § 517/S. 9.
34… wobei das Exemplifizierende nicht ausreicht, um die alle Ebenen der Zeichenhaftigkeit von gegenständlicher Kunst zu erfassen, wie wir noch sehen werden.
35Goodman: Sprachen der Kunst, 1997 S. 223.
36Diesen Satz hat Ginzburg von Aby Warburg und Gustave Flaubert entliehen und er steht als Motto über dem Aufsatz Spurensicherung 1988, S. 78ff.
37Vgl. Baumgarten: Metaphysik. Die Psychologie in: Texte zur Grundlegung der Ästhetik, 1983, § 534 – § 623.
38Ginzburg: Spurensicherung,1988, S. 87.
39Ebd.
40Vgl. Smith: Introduction zu: What is Research, in the Visual Arts: Obsession, Archive, Encounter, edited by Michael Ann Holly and Marquard Smith, 2008, S. XX.
41Goodman: Weisen der Welterzeugung, 1984, S. 89.
42… die er ja vom Rationalisten Leibnitz übernimmt, um ihnen einen epistemischen Rang zuzuweisen. Vgl. dazu auch die Einleitung von Dagmar Mirbach zu Baumgartens Ästhetik, 007, XXXVI. Ff.
43Vgl. das Kapitel zur ästhetischen Wahrheit in: Baumgarten: Ästhetik, 2007, S. 403ff/§ 423ff und genauer zum Begriff der ästhetikologischen Wahrheit S. 407/§427.
44Baumgarten: Ästhetik, 2007, §426.
45Baumgarten: »Metaphysik. Die Psychologie«, in: Texte zur Grundlegung der Ästhetik, 1983, § 534 – § 623.
46Baumgarten: Ästhetik, 2007, § 28 – § 39.
47Baumgarten: Ästhetik, 2007, S. 35/§ 41.
48Baumgarten: Metaphysik, in: Texte zur Grundlegung der Ästhetik, 1983, § 576.
49Baumgarten: Metaphysik, in: Texte zur Grundlegung der Ästhetik, 1983, § 577.
50Baumgarten: Ästhetik, 2007, § 55.
51Krämer: »Operative Bildlichkeit. Von der ›Grammatologie‹ zu einer ›Diagrammatologie‹? Reflexionen über erkennendes ›Sehen‹«, in: Heßler, Mersch (Hg.): Logik des Bildlichen. 2009, S. 102, (Hervorhebungen im Original).
52Ebd.
53Ebd.
54Goodman: Sprachen der Kunst, 1997, S. 213.
55Goodman: Weisen der Welterzeugung, 1984, S. 88/89.
56Vgl. Goodman: Sprachen der Kunst, 1997, S. 9.
57Ernst Cassirer arbeitet für die menschliche Ausdrucksvielfalt, wie Goodman, mit dem Begriff des Symbols und schlägt eine Differenzierung zum Begriff des Zeichens vor. Er gesteht etwa den Tieren zeichenhaften Ausdruck zu, wenn sie Freude, Enttäuschung, Anhänglichkeit oder ähnliches äußern. Gegenüber dieser »emotionalen Sprache« vermag die »propositionale Sprache« nicht nur das konkrete Selbst zu artikulieren, sondern einen Ausdruck über etwas zu formulieren. Cassirer prägt zur Unterscheidung dieser beiden Formen des Ausdrucks den Unterschied zwischen »Zeichen und Symbolen«. Zeichen machen und verstehen alle möglichen Organismen. Ein Hühnerschwarm versteht das Zeichen für Futter. Zeichen sind Signale für faktische Begebenheiten. Aber nur menschliche Organismen sind zur Symbolsprache fähig und artikulieren mittels ihrer symbolischen Ausdrücke eine Bedeutungswelt. Zeichen sind als Signale »Operatoren« Symbole sind »Designatoren«, wie Cassirer im Rückgriff auf Charles Morris festhält. Vgl. Cassirer: Versuch über den Menschen, 1990 mit Bezug zu Charles Morris: Grundlagen der Zeichentheorie, 1972.
58Goodman: Sprachen der Kunst, 1997, S. 223.
59Vgl. Goodman: Sprachen der Kunst, 1997 bzw. verdichtet in Goodman: Weisen der Welterzeugung, 1984, S. 88/89.
60Vgl. hier und bei den folgenden akustischen Zitaten: https://ligna.blogspot.com/2009/12/radioballett.html (letzter Aufruf September 2018).
61Vgl. zu dieser kunsthistorischen Differenzierung Linck: Der Akt der Aktion: Über möglicherweise künstlerische Handlungen im Kontext von ›68, S. 87-102, in: Gludovatz, von Hantelmann, Lüthy, Schieder (Hg.): Kunsthandeln, 2010, S. 88ff.
62So Linck über die Aktivisten der ʼ68 in seinem Aufsatz: Der Akt der Aktion, 2010, S. 92.
63Gottlieb: On Monstrous Double: The Dream of Research in ›Outsider Art History‹, in: What is Research in the Visual Arts: Obsession, Archive, Encounter, edited by Michael Ann Holly and Marquard Smith, 2008.