Relativität
Der andere Blick – künstlerische Wissenschaftsforschung
Bevor wir uns aber der Frage widmen, was mit einer kritischen Epistemologie genau gemeint sein könnte und inwiefern diese nachdenkliche Lehre über das Wissen tatsächlich der künstlerischen Forschung im Wege steht oder aber, gerade umgekehrt, die Kunst als Wissenskultur erst durch die kritische Epistemologie auf den Weg gebracht wird – bevor wir uns also der Wissenschaftstheorie widmen, betrachten wir ein Video: Es handelt sich um ein künstlerisches Video, das mit ästhetischen Mitteln die Relativität des forschenden Blickes untersucht – gleichsam eine nachdenkliche künstlerische Anschauung über das einsehbare Wissen und seine Reichweite. Diese künstlerische Videopraxis betreibt selber eine kritische Epistemologie und widmet sich der Kontextualität der Wahrnehmung. Sie durchleuchtet die Wahrnehmung und deren Bedeutung für den Forschungsanspruch. Das Video formuliert aus dem Feld des Ästhetischen heraus die Frage: wie können wir sichere Erkenntnisse gewinnen, wenn wir nicht sicher sein können, was wir sehen?
Wir betrachten das künstlerische Videoprojekt ›Kobarweng or Where is your Helicopter‹ und dieses hat eine besondere Forschungsdisziplin im Blick – die Anthropologie – indem es den Moment des Zusammenstoßes zweier Kulturen in Südostasien filmisch nachzeichnet. Es geht um folgende Situation: Ein Dorf im Hochland Papua Neuguineas wird im Jahre 1959 von einer Begegnung mit der Außenwelt erschüttert. Eine Gruppe westlicher Wissenschaftler fällt mit Fallschirmen aus einem Hubschrauber in den Urwald, um dort Land und Menschen zu kartographieren. Zur Gruppe der aus dem Himmel Fallenden gehört auch ein Anthropologe, der sich den ›nicht kartierten‹ Bewohnern dieses Landstrichs widmen will. Schriftliche und filmische Aufzeichnungen werden zu diesem Anlass vom Land und seinen Bewohnern gemacht. Die Gruppe der so heimgesuchten Dorfbewohner wiederum hat ihrerseits Erfahrungen gemacht und Erinnerungen bewahrt. Diese Dorfbewohner berichteten im Jahre 1987 dem belgischen Künstler Johan Grimonprez bei dessen Reise nach Papua Neuguinea von dieser Begegnung aus den 1950er Jahren. Und sie fragen Grimonprez: »Wo ist Dein Hubschrauber?« Als wären Hubschrauber die natürliche Art der westlichen Fortbewegung und als wäre es selbstverständlich, dass auch der Künstler ein Forschender sei. Einer eben, der für seine Suche nach Erkenntnissen aus dröhnenden Flugobjekten auf den Boden der Tatsachen fiele. Das Video des Künstlers ist das Ergebnis seiner Begegnung mit den Dorfbewohnern im Hochland von Papua Neuguinea 1987 einerseits – sowie das Ergebnis der Sichtung dokumentarischen Materials aus den 1950er Jahren andererseits – und es lässt wenig erkennen. Verwackelte Bilder von Wohnfluren, schemenhafte Flugobjekte über Urwaldwipfeln, sich entfaltende kleine weiße Fallschirme vor grauem Himmel, vage Waldlandschaften im Überflug, dokumentarisches Filmmaterial von hockenden Menschen mit Nasenschmuck am Boden, Palmenblätter in Nahaufnahme und ein Klapptisch, abstürzende Flugbomber in der Ferne, Hütten bauenden Dorfbewohnern in schwarzweiß.
Der Blick derjenigen, die das Video des Künstlers betrachten, vermag aus dieser verschwommenen, optischen Gemengelage nichts Verlässliches zu destillieren. Wir schauen und sehen nichts wirklich. Was wir betrachten, sind die Blicke des Anthropologen von 1959 und die Aufnahmen des Künstlers von 1987. Welchen Typ von Einsicht ermöglichen deren Wahrnehmungen? Die Montage des Filmmaterials, das Vergrößern und Verkleinern der Ausschnitte, der Kamerablick von unten nach oben oder von oben nach unten, die Verlangsamung der Aufnahmen – diese Verfahren der Bildbearbeitung suchen nach einer Wahrheit und einem Zusammenhang der Aufnahmen. Die künstlerische Analyse (Zergliederung) und Synthese (Zusammenfügung) bemüht sich, Einsicht aus dem Medium der bewegten Bilder zu extrahieren. Die Dorfbewohner aber nehmen die Wahrheit der Welt anders wahr. Weniger einsichtig mehr eingängig. Sie analysieren akustisch und mythisch. Sie erzählen sich Geschichten über die Ankunft der Fremden und suchen nach Korrespondenzen zwischen dem Klang der Hubschrauber mit den Geräuschen der Frösche oder Vögel des Waldes. Grimonprez schichtet diese diversen Wahrnehmungsweisen audiovisuell übereinander: Auf den unscharfen Videoaufnahmen liegen Texte mit historischen und sagenhaften Aussagen über die Rolle der Ahnen beim Auftreten des Helikopters und über die wechselvolle Geschichte der feindlichen Übernahmen Papua Neuguineas durch europäische und ostasiatische Mächte, welche sich für die Dorfbewohner in Flugzeugaktivitäten und Landebahnprojekten niederschlug. Durchdringende Schreie von Waldvögeln durchbrechen die Stille des stummen Filmmaterials. Das Grollen von Propellern ist aus der Ferne zu hören. Die Zuschreibungen und Wahrnehmungen zirkulieren zwischen den akustischen und optischen Daten und Dokumenten. Grimonprez hat dieses Material gesammelt – alte Filmaufnahmen aus den 1950er Jahren, neue Bildeindrücke, Geschichten und Aussagen von Dorfbewohnern, die sich noch erinnern, historische und aktuelle Töne vom Urwald und von Flugobjekten – um diese Proben von der Realität der Wahrnehmung in ein Verhältnis zu setzen und damit die Wahrheit der Wahrnehmung der Akteure aus unterschiedlichen Perspektiven auszuloten. »Durch die Verschränkung von dreißig Jahre altem Dokumentationsmaterial mit den Berichten der Ureinwohner,« so der Künstler, »beleuchtet ›Kobarweng‹ kritisch den Mythos von Objektivität sowie den Anspruch auf eine epistemische und wissenschaftliche Distanz, der nicht nur von Anthropologen, sondern quer durch die westliche Wissenschaft aufrechterhalten wird und wo der Beobachter sich in einer entfremdeten Position der Transzendenz gegenüber seinem Objekt gefangen findet.«1
Mit diesen Worten positioniert Grimonprez die westlichen Wissenschaftler vor dem Hintergrund seines Videoprojekts im »Mythos der Objektivität« und der Künstler beansprucht mittels der künstlerischen Erfahrung und ästhetischen Bearbeitung des Materials diesen Mythos destabilisieren zu können: Objektiv betrachtet erkennen wir nicht viel im Video von Grimonprez. Dieser Mangel an objektiver Einsicht trifft die westliche Wissenschaft, die das Phänomen der indigenen Bevölkerung zu verstehen trachtet, allerdings ebenso wie die südostasiatischen Dorfbewohner, die das Geschehene in ihre Narrative einbetten und mit akustischen Referenzen zu erklären beanspruchen. Die vorgeschlagene Wahrheit der künstlerischen Analyse über die Ereignisse von 1959 entfaltet sich aus der ästhetischen wie erzählerischen Verschränkung dieser beiden unterschiedlichen Positionen. ›Kobarweng‹ addiert mittels Montage einen Überschuss zum westlichen wie zum südostasiatischen Wissen über Welt und relativiert dabei zugleich die Alleinherrschaft der jeweiligen Blickgemeinschaft bzw. des jeweiligen Hörkollektives. Der spezifisch künstlerische Beitrag zu einer kritischen Wissenschaftstheorie basiert hier auf der ästhetischen Arbeit mit den ästhetischen Dimensionen des gesammelten und sortierten, gesehen und gehörten Materials – eine Arbeit an den Sichtbarkeiten und Hörbarkeiten sowie den Sinnfälligkeiten des Erzählten.
Der kritischen Kommentierung zufolge, die Grimonprez selber formuliert, müsste der Künstler eigentlich die von ihm im Mythos der Objektivität markierte »westliche Wissenschaft« und ihre Idee der Forschung verachten. Denn diese westliche Wissenschaft scheint entfremdet von den Objekten der Betrachtung und gefangen in der Vision einer objektiven Distanz zum Forschungsobjekt. Aber – stehen die Wissenschaftsforscher tatsächlich verächtlich den westlichen Wissenschaften entgegen, nur weil sie deren Träume von Nachvollziehbarkeit und Objektivität kritischen analysieren? Bruno Latour, der kritische Epistemologe, der die westliche Wissenschaft so distanziert beobachtet hat, wie die Anthropologen die Dorfbewohner Papua Neuguineas, ist über eine solche trennende Aufteilung in Wissenschaftler einerseits und Wissenschaftskritiker andererseits verwirrt: »Wie konnten wir [Wissenschaftsforscher] gegen die Wissenschaftler gestellt werden? Daß wir einen Gegenstand erforschen, bedeutet nicht, daß wir ihn attackieren. Sind Biologen gegen das Leben, Astronomen gegen Sterne, Immunologen gegen Antikörper?«2 Latour ist in seiner Eigenschaft als kritischer Epistemologe nicht in jenem Maße kritisch gegen die Forschung, dass er diese nicht wertschätzen täte – er ist für die Betrachtung von deren Realität. Er will die Wirklichkeit der Eingelassenheit des Forschens verstehen. Und auch Grimonprez untersucht mittels des vorhandenen und des neuen Bild- und Tonmaterials die zirkulierenden Referenzen im Urwald der Zuschreibungen – nicht um der Zurückweisung, sondern um der Sensibilisierung der Wissenschaft willen. Vielleicht klingt der Künstler in seinem Text tatsächlich ein bisschen so, als hielte er seine eigene Arbeit für die bessere Forschung, weil das künstlerische Video Unschärfen zulässt, wo Anthropologen Klarheiten zu erreichen versuchen. Aber die ästhetische Forschung des Künstlers untersucht tatsächlich jene allgemeine Unschärfe im Blick und jene generelle Gerichtetheit der Wahrnehmung, die dem wahrnehmenden und analysierenden Forschen in seiner Historizität und Perspektivität insgesamt anhaftet – auch dem künstlerischen Untersuchen. Denn auch die künstlerische Wissenschaftsforschung ist ›situiert‹. Sie sammelt und sortiert, sieht und hört das Material im Fall von Grimonprez aus der Perspektive eines seinerzeit in New York lebenden, belgischen Künstlers, der intellektuell mit den erkenntniskritischen Texten seines kulturellen Umfeldes groß geworden ist. Die erkenntniskritische Perspektivierung relativiert das Forschen insgesamt hinsichtlich seiner Ansprüche.
So stellt sich nun aber erneut und vor dem Hintergrund dieser wissenschaftskritischen künstlerischen Videoarbeit die Frage, warum die Kunst ausgerechnet in jener Zeit zur Forschungsdisziplin zu werden beginnt, wo die neuzeitliche Idee der Forschung in die Unschärfe geführt wird – auch von der Kunst? Grimonprez ist nicht der einzige wissenschaftsforschende Künstler, der mit dem ästhetischen Material der etablierten Disziplinen jongliert, um deren Status zu analysieren. Was sagen uns eingelegte Tierkadaver, abgemalte Blätterstrukturen oder videotechnisch aufgezeichnete Bewegungssequenzen von Parasiten über die Wahrheit der Welt? Die wissenschaftlichen Verzeichnispraktiken beanspruchen zu zeigen und zu konservieren um zu erkennen. Zugleich aber sind diese verzeichneten Dokumente ästhetische Artefakte. Der Schweizer Künstler Hannes Rickli sammelt und re-arrangiert Videoaufzeichnungen aus wissenschaftlichen Laboren, um die Chimärenhaftigkeit epistemischer Aufzeichnungen in ihrer Eigenschaft als zugleich Dokumente und Artefakte durch Kontextverschiebung zu analysieren. Was im Labor an Beobachtungsbildern gesammelt wurde, um daraus Daten zu destillieren, stellt Rickli in den Kunstraum, um daran die künstlerische Dimension zu erkennen. Dabei geht es ihm – ganz im Sinne Latours – »nicht um Kritik an der Praxis der empirischen Naturwissenschaften, sondern vielmehr um die Befragung des Status der gewonnenen Materialien und deren unabsichtlich entstandene Zeichenüberschüsse.«3 In den wissenschaftlichen Laboren scheinen die audiovisuellen Installationen auf den ersten Blick nur zu beobachten: Bienenmilben oder Knurrhahnverhalten mittels der Videokameraaufzeichnung. Zugleich erzeugen sie aber eine ästhetische Wirklichkeit der Fakten als Artefakte. »Es kristallisierte sich bei der Betrachtung dieser Laborfilme der Eindruck heraus«, so Ricklis Analyse durch die Operation der Dekontextualisierung des wissenschaftlich erzeugten Beobachtungsmaterials, »dass sie zwar allesamt aus dem Anlass funktioneller Datenerhebung hergestellt wurden, dem nachträglichen, vom Laborkontext abgelösten Blick boten sich jedoch nicht wissenschaftliche Daten, sondern das Hantieren und die gegenseitigen Zurichtungen von menschlichen, tierischen und apparativen Beteiligten sowie die lokalen räumlichen und zeitlichen Umstände des Experimentierens dar.«4 Auch die künstlerische Arbeit von Rickli dekonstruiert mithin, bei aller feinsinniger Liebe zum audiovisuellen Material, die Aura von methodischer Strenge und objektiver Distanz im naturwissenschaftlichen Kontext und damit deren wissenschaftliches Fundament. Warum also beansprucht die Kunst ausgerechnet in jenem ideengeschichtlichen Moment zur forschenden Disziplin zu werden, wo sie selber dazu beiträgt, die forschenden Disziplinen zu ästhetisieren. Es stellt sich die Frage, auf welchem Fundament die Kunst als Beitrag zur kritischen Epistemologie eigentlich selber zu forschen beansprucht?
Regeln im Zeitalter des anything goes
Die kritische Epistemologie untergräbt aber am Ende nicht die Kunst in ihrer neuen Dimension als Wissensproduzentin, sondern trägt wesentlich zum Aufkommen der künstlerischen Forschung erst bei. Sie ermöglicht ein Denken, dass ein neues Forschen unter den Bedingungen der Kritik zu etablieren in der Lage ist – ein Denken, dass eine Neuformation der Wissenschaften zulässt. Die kritische Epistemologie stellt Unschärfen des Forschens fest, um das Forschen anders zu fokussieren – ganz im Geiste eines fröhlichen Friedrich Nietzsche, der proklamiert: »Was wäre das für ein Narr, der da meinte, es genüge, auf diesen Ursprung und diese Nebelhülle des Wahns hinzuweisen, um die als wesenhaft geltende Welt, die sogenannte Wirklichkeit zu vernichten! Nur als Schaffende können wir vernichten!«5 Aus der Diagnose der Unschärfe erwachsen neue Kriterienkataloge darüber, worum es mit der Forschung geht. Und im Umfeld dieser neuen Kriterienkataloge kann sich die Kunst als Forschungsdisziplin etablieren.
Was aber meinen wir überhaupt, wenn wir von einer kritischen Epistemologie sprechen, und warum kann in ihrem Zusammenhang von einer Unschärfe der Forschung ausgegangen werden? Was meinen wir mit Nebelhüllen der Wirklichkeit, aus denen die Kunst als Wissenskultur aufzusteigen in der Lage ist? Wir haben uns die Arbeit des Künstlers Grimonprez angesehen, der sich als ästhetischer Wissenschaftsforscher der visuellen Verzeichnisverfahren von Anthropologen annimmt und das von diesen Anthropologen erzeugte Wissen mit dem Wissen der Bewohner des Waldes in Papua Neuguinea konterkariert. Wir haben auf den Künstler Rickli geschaut, der wissenschaftliche Dokumente aus ihren gewöhnlichen Laborkontexten herauslöst, um sie unter anderen, ästhetischen Umständen zu betrachten und anderes Wissen an ihnen zu entdecken. Die kritische Epistemologie – auch die begriffliche – ist insgesamt von dieser Art. Sie ist eine Denkweise, die im Kern beansprucht, die Reichweite und die Kriterien unserer Vernunft zu befragen. Der Begriff der kritischen Epistemologie ist dabei so unpräzise, wie jeder Gattungsbegriff. Doch artikuliert er eine regulative Idee, die hilft, den Geist dieser kritisch fragenden Denkweise zu markieren. Die Vokabel ›kritisch‹ meint hier, über die Bedingungen der Möglichkeit des Erkennens zu »räsonieren« oder die Weisen der Erzeugung des Wissens zu »situieren«.6
Was bedeutet diese Charakterisierung des ›Kritischen‹ der kritischen Epistemologie aber im Einzelnen und was bedeutet es für die Kunst? Wir erinnern uns, dass der Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn in der Mitte des 20. Jahrhunderts für den Bereich der Naturwissenschaften die These aufgestellt hat, dass im Normalfall des Wissenschaftsbetriebs keine nachvollziehbaren Regeln oder verlässliche methodische Rahmenbedingungen gelten. Die Forschung sei nicht nachvollziehbar systematisch. Kuhn spricht dabei nicht so provokativ wie der Künstler Grimonprez von einem »Mythos der Objektivität« aber er schreibt davon, dass Regeln nicht kontinuierlich und aufmerksam entwickelt werden, ebenso wenig wie methodische Kriterien das Geschäft der Forschung ordnungsgemäß begleiten. Regeln spielen keine Rolle in der Wissenschaft, weil sich Forscher, so Kuhns Beobachtung aus seiner Erfahrung als Physiker heraus, an anderen Axiomen orientieren, nach denen sie ihre Zugehörigkeit zur Gemeinschaft und die Legitimität ihrer Verfahren beurteilen. »Die normale Wissenschaft kann […] ohne Regeln voranschreiten, wie die betreffende wissenschaftliche Gemeinschaft vorbehaltlos die bereits erzielten Problemlösungen anerkennt.«7 Anstatt der Regeln sei es vielmehr ein begriffliches Gewebe, das über dem Gegenstand der Forschung ausgebreitet werde, diesen gleichsam zusammenhalte und mit der Forschergemeinde verknüpfe. Unhinterfragte Vereinbarungen über die wesentlichen Fragen der Disziplin, die grundsätzlichen Gegenstandsbereiche sowie den tradierten Umgang mit diesen regieren den wissenschaftlichen Alltag. »Wissenschaftler arbeiten nach Vorbildern, die sie sich durch ihre Ausbildung und die spätere Beeinflussung durch die Literatur angeeignet haben, oft ohne genau zu wissen, oder auch wissen zu müssen, welche Eigenschaften diesen Vorbildern den Status von Gemeinschafts-Paradigmata gegeben haben.« Und so radikalisiert Kuhn seine These: »[A]us diesem Grunde brauchen sie kein vollständiges System von Regeln. Die Kohärenz, welche die Forschungstradition, an der sie teilhaben, erkennen läßt, beweist vielleicht noch nicht einmal die Existenz eines zugrunde liegenden Komplexes von Regeln und Annahmen.«8 Kuhns Argument ist nämlich umgekehrt. Nicht die normale Wissenschaft entwickelt die guten Regeln der Forschung – sie hat meist noch nicht einmal implizit einen solchen Regelkanon. Es werden tatsächlich erst in Zeiten von Krisen methodische Kriterien eingefordert, wenn nämlich die Kohärenz korrodiert, um dann wieder festen Boden unter den wackligen Forscherfüßen zu gewinnen.
Und genau diese Situation der Krise können wir für das Auftreten der künstlerischen Forschung auf der Bühne der Wissenschaften diagnostizieren: Die Kunst stellt das Geschäft der Normalforschung in Frage und torpediert wissenschaftliche Selbstverständnisse. Regeln müssten also, so Kuhn, »wichtig werden und die charakteristische Gleichgültigkeit ihnen gegenüber müßte verschwinden, sobald die Paradigmata oder Vorbilder nicht mehr als tragfähig empfunden werden.«9 Erweisen sich nämlich die wissenschaftlichen Grundannahmen als fraglich, die Gegenstandsbereiche als zweifelhaft, ihre Untersuchung als unzureichend oder gar die Vereinbarungen über die möglichen oder unmöglichen Mitspieler im wissenschaftlichen Betrieb als brüchig, dann werden objektive Regeln gefordert und diskutiert und als wesentlich wissenschaftspolitischer Einsatz ins Feld geführt. Die Forschungsregeln der künstlerischen Praxis stehen mithin genau deswegen so vehement zur Disposition, weil die Vereinbarungen über die Mitspieler im wissenschaftlichen Geschäft und die Gegenstandbereiche der Disziplinen unsicher geworden sind. Die methodologischen Anforderungen an die Kunst als Forscherin sowie die epistemologischen Grundsatzdiskussionen dürften im Grunde aber auch schon der halbe Einstieg in die neue Seinsweise der Kunst als Wissenschaft sein.
In den Worten Kuhns: »Vor allem die einem Paradigmata vorausgehende Periode ist regelmäßig durch häufige und tiefgreifende Diskussionen über gültige Methoden, Probleme und Lösungsgrundsätze gekennzeichnet, obwohl diese eher dazu dienen, Schulen zu definieren als Übereinstimmungen herbeizuführen.«10 Was also bedeutet die wissenschaftstheoretische Einsicht Kuhns in die machtpolitische Bedeutung von Regeln im wissenschaftlichen Spiel der Paradigmata aus der Mitte des letzten Jahrhunderts für die uns betreffende Frage nach der Regelhaftigkeit der künstlerischen Forschung als Wissenschaft? Wir haben es mit einer paradigmatischen Wende zu tun, die nicht nur innerhalb einer Disziplin deren Selbstsicherheit in Frage stellt, sondern das ganze epistemische Feld neu sortiert. Daher beginnt der Regelkanon eine so eminente Rolle zu spielen und wird als Waffe zur Inklusion und Exklusion von Akteuren im Forschungsgeschäft eingesetzt. Kuhn argumentiert lange bevor die künstlerische Forschung denkbar wurde, dass »wenn die Wissenschaftler sich nicht einig sind, ob die grundlegenden Probleme ihres Fachgebiets als gelöst zu betrachten sind, erlangt die Suche nach Regeln eine Funktion, die sie normalerweise nicht besitzt.«11 Kuhn hat dabei ein innerdisziplinäres Phänomen vor Augen: den Paradigmenwechsel in der Physik. Doch wenn sich die Wissenschaftler darüber hinaus nicht mehr einig sind, wer überhaupt zur Forschergemeinde gehört und was grundsätzlich wissenschaftliche Probleme sind, dann wird die Suche nach Regeln auch zu einer disziplinkonstituierenden Arbeit.
Das Anliegen des Wissenschaftshistorikers Kuhn ist es, die Naturwissenschaften in deren historischem Verlauf zu verstehen und eine gewisse »Inkommensurabilität« aufzudecken, die zwischen den unterschiedlichen Epochen der Geschichte des Verstehens und Erforschens von Natur herrscht. Kuhn bekennt sich dabei ausdrücklich zum Fortschritt in der Wissenschaft, aber nicht im Sinne einer Annäherung an die Natur wie sie »wirklich vorhanden« ist, sondern weil jüngere Theorien oft besser geeignet sind, Probleme ihrer Umwelt zu lösen, als frühere. »Die Vorstellung von einer Übereinstimmung zwischen der Ontologie einer Theorie und ihrem ›realen‹ Gegenstück in der Natur« kommt Kuhn trügerisch vor.12
Kuhns Überlegungen reihen sich ein, in die vielen Wissenschaftskritiken des 20. Jahrhunderts, die auf der Grundlage bestehender Wissenschaftsformationen, deren Geltungsansprüche relativieren. Kuhn selber bereitet keiner neuen Wissenschaft den Weg – schon gar nicht einer künstlerischen. Aber seine Vorstellung vom inkommensurablen Epochenfortschritt in den Wissenschaften legt nahe, dass sich die Wissenschaft eigentlich künstlerisch begreifen müsste. Was Kuhn nahelegt, ist tatsächlich ein neues historisches Wissenschaftsverständnis in Korrelation zur Stilgeschichte in der Kunst. Innovation, eigenen Stil und Geschichtsbewusstsein attestiert er den Künsten, die ihre Vergangenheit als Stilgeschichte nicht nur kennen und schätzen, sondern als der Auseinandersetzung würdig erachten. Es gäbe mithin keinen Grund, warum eine emanzipierte Naturwissenschaft, die sich der eigenen Epochengeschichte als Stilgeschichte bewusst geworden ist und dem naiven Fortschrittsgedanken entwuchs, nicht diese Qualitäten des Künstlerischen auch für sich entdecken könnte.
Der Wissenschaftstheoretiker Kuhn leistet mit Blick auf seine Disziplin – die Physik – einen Beitrag zum Verständnis dessen, was an der Forschung ihre stilgeschichtliche Praxis ist, und diese Einsicht kann fruchtbar gemacht werden für eine ästhetisch konnotierte Epistemologie. Aufgrund seiner eigenen Erfahrungen im Bereich der Physik beschreibt Kuhn den Forschungsbetrieb und das Ausbildungsgeschäft in Nahaufnahmen. Er schildert praktische Fertigkeiten des naturwissenschaftlichen Forschens, um den Prozess der Wissenschaftlerausbildung zu charakterisieren. »Es sind also nicht ausgedachte Pläne und zurecht gelegte Schemata, die den Prozess der Wissenschaft im Machen lenken, sondern verkörpertes Geschick. Es sind singuläre ästhetische und materielle Dimensionen von Handlungen und Gesten, von Gegenständen und lebendigen Versuchstieren, die sich in den Videotapes und auf den Monitoren einprägen.«13 Mit dieser Diagnose bestätigt dann auch der Künstler Rickli die Einschätzung des Theoretikers Kuhn. Die tätige Aneignung von Wissenschaft erklärt, so Kuhn, warum Forschung ohne Explikation von Methoden von statten geht und von statten gehen kann. Disziplinäre Grundlagen werden nicht eigentlich erklärt, sondern in performativen Vollzügen erlernt. Vollzüge, die nicht einfach in einen Kanon von Methoden und Regeln abstrahierbar sind, da sie dem Eigensinn der jeweiligen Situation verhaftet bleiben.
Eine tastende Praxologie des Forschens zeichnet sich hier ab. Das Regelhafte, sofern es überhaupt generalisierbar wäre, müsste in der naturwissenschaftlichen Forschungsarbeit aus der Gemengelage lokaler Laborgegebenheiten, praktischer Übungen, konkreter Probleme, momentaner Gemütslagen, situativer Konstellationen und vielem mehr herausgeschält werden. »Man könnte annehmen« so Kuhn, »daß der Wissenschaftler irgendwo auf diesem Wege intuitiv Spielregeln für sich selber abstrahiert«. Doch, so fasst er seine Erfahrung dann zusammen: viele sind »nur wenig besser als Laien, wenn es um die Charakterisierung der feststehenden Grundlagen des Gebiets, seiner legitimen Probleme und Methoden geht.«14 Keine Regeln nirgends. Jedenfalls nicht als der Forschung vorangehende Anleitungen, bestenfalls als nachträgliche wissenschaftstheoretische Explikationen. Dagegen zeigen sich jede Menge Praktiken des Forschens als Realität von Wissenschaft. So zeichnet Kuhn ein Bild von der Wissenschaft als praxisontologischer Tat-Sache. In der Forschung als Tätigkeit generiert sich die Wissenschaft fortwährend im Prozess des Vollzugs ihrer diversen Praktiken. Nicht das Wissen macht die Wissenschaft, sondern die zur ›Schaft‹ versammelten, divers forschenden Tätigkeiten.
Im Zuge der Geschichte der kritischen Epistemologie hat sich das Forschen in den Wissenschaften mithin als ein relativ poröses Unterfangen herausgestellt. Forscher wurden darauf hingewiesen, dass sie nicht Fakten finden, sondern Tat-sachen er-finden. Und vor dem Hintergrund dieser erfinderischen Dimension des Forschens scheint es auch kein Zufall mehr zu sein, dass die schöpferisch veranlagte Kunst in den erkenntnistheoretischen Fokus rückt. Im Zeitalter einer porösen und erfinderisch gedachten Forschung ist jene epistemische Offenheit zu verzeichnen, innerhalb derer es möglich wird, auch über das ästhetische Tun als einer Forschungspraxis nachzudenken. Gerade im Ideenkosmos der kritischen Epistemologie findet die Kunstpraxis tatsächlich den Möglichkeitsraum, den sie braucht, um sich in ihrer Forschungstätigkeit entdecken und entwickeln zu können. Während die Idee der neuzeitlichen Forschung als regelgeleiteter und konstatierender Methode untergraben wird, gräbt sich die Idee der künstlerischen Forschung aus der Gemengelage schöpferisch wissenschaftlicher Verfahren als eigene Praxisform heraus. Einerseits. Andererseits unterläuft gleichzeitig derselbe Geist der kritischen Epistemologie, der den Möglichkeitsraum für die Vision einer ästhetischen Forschungsdisziplin eröffnet, das Vertrauen in die Tragweite der Forschungsaktivität, welche die noch junge Disziplin der künstlerischen Forschung benötigt, um sich etablieren zu können. So steht das Geschäft ästhetischen Einsehens auf unsicherem Grund und kann sich als Forschung nicht behaupten, weil die Forschung keine Behauptung mehr ist. Denn das forschende Suchen wurde als eine Tätigkeit entlarvt, die sich ihrer geregelt methodischen Grundlagen nicht sicher sein kann.
Während Thomas Kuhn bezweifelt, dass es überhaupt Regelsätze gibt, welche das Alltagsgeschäft der Forschung leiten, und damit gegen die verbreitete Annahme opponiert, dass Wissenschaftlichkeit etwas mit methodischer Regelhaftigkeit zu tun habe, wendet sein wissenschaftstheoretischer Kollege Paul Feyerabend diese Diagnose konstruktiv nach vorne und fordert eine »heitere Anarchie« der systematischen Unterwanderung von Regelsätzen und Grundannahmen. Wo Kuhn mithin die Regeln nicht sieht, von denen die Wissenschaft spricht, und stattdessen Wissenschaftlichkeit als praxische Intuition dechiffriert, fordert der Provokateur Feyerabend eine kontinuierliche Neuerfindung von Regeln als die Bedingung wissenschaftlichen Fortschritts und zwar – und darin ganz ähnlich wie Kuhn – weil Methoden ohnehin die Forschung nicht regeln und der Bruch von Regeln – und darin ist Feyerabend anders als Kuhn – die Norm bedeutet. Feyerabend hat im Grunde eine durch und durch anarchistische Meinung von der Normalwissenschaft, die seiner Beobachtung nach unaufhörlich durch Regelbrüche vorankommt und diese subversive Liebe zum Umsturz möglichst auch annehmen möge. »Regelmäßigkeiten«, so Feyerabend, sind »nur ein Aufputz, hinter dem sich ein im Grunde anarchistisches Verfahren verbirgt«.15 In Abweichung davon sieht Thomas Kuhn nur in den wenigen, geniehaften Sonderlingen der Forschungsgeschichte die Revolutionäre, die in besonderen Momenten mit herrschenden Grundannahmen nicht weiter kommen und deswegen zur Regelverletzung neigen. Nur diese sind für den Physiker und Wissenschaftshistoriker die Anarchisten der Wissenschaft und Koryphäen der Kulturgeschichte des Wissens. Die Normalwissenschaft folgt dann diesen Genies wie die Lemminge ihrem Wandertrieb. So folgert Feyerabend, dieser Einschätzung Kuhns gegenüber, durchaus richtig, dass sich seine – Feyerabends – Ideen von denjenigen Kuhns in Hinblick auf die Forderungen unterschieden.16 Kuhn fordert Abstand zu nehmen vom Mythos der Regelhaftigkeit und stattdessen einen Stilbegriff in die Wissenschaftsgeschichte einzuführen, um diese besser zu verstehen. Feyerabend fordert, Abstand zu nehmen vom Mythos der Regelhaftigkeit in den Wissenschaften und stattdessen ihr ungeregeltes Temperament zu würdigen, um der Wissenschaft und ihrer Vielgestaltigkeit zum Fortschritt zu verhelfen. »Die Idee einer Methode, die feste, unveränderliche und verbindliche Grundsätze für das Betreiben von Wissenschaft enthält und die es ermöglicht, den Begriff ›Wissenschaft‹ mit bescheidenem, konkretem Gehalt zu versehen, stößt auf erhebliche Schwierigkeiten, wenn ihr die Ergebnisse der historischen Forschung gegenübergestellt werden.«
Für Feyerabend zeigt sich nämlich, »daß es keine einzige Regel gibt, so einleuchtend und erkenntnistheoretisch wohlverankert sie auch sein mag, die nicht zu irgendeiner Zeit verletzt worden wäre.« Und weiter: »Die liberale Praxis, ich wiederhole es, ist nicht bloß eine Tatsache der Wissenschaftsgeschichte. Sie ist sowohl vernünftig als auch schlechthin notwendig für den Erkenntnisfortschritt.«17 Kuhn macht demgegenüber sein epochales Verhältnis zur Wissenschaft als Stilgeschichte deutlich, wenn er notiert: »Die Geschichtsschreibung der Literatur, Musik, bildenden Kunst, Politik und vieler anderer menschlicher Tätigkeiten beschreibt ihren Gegenstand seit langem auf diese [periodisierende] Weise. Periodisierung durch revolutionäre Umbrüche von Stil, Geschmack und institutioneller Struktur gehören zu ihren Standardwerkzeugen. Wenn ich hinsichtlich solcher Vorstellungen originell war, dann hauptsächlich durch ihre Anwendung auf die Naturwissenschaft.«18 Kuhn formuliert vor dem Hintergrund dieser postulierten Stilgeschichte der Naturwissenschaften ein nicht mehr wissenschaftstheoretisches, sondern soziologisches Forschungsprogramm: Um die Wissenschaft zu verstehen, ginge es vor allem um »vergleichende Studien«. Er fragt sich: »Wie wählt man, und wie wird man zum Mitglied einer bestimmten wissenschaftlichen oder nichtwissenschaftlichen Gemeinschaft gewählt? Worin bestehen der Prozeß und die Stadien der Sozialisation in der Gruppe? Was sieht die Gruppe kollektiv als ihre Ziele an? Welche individuellen oder kollektiven Abweichungen wird sie tolerieren?«19 Über diese diskursiven Figurationen von Ausschlussmechanismen, Sprecherpositionen, Kommentarritualen wird dann im Jahre 1972 der französische Kritiker der Ideengeschichte Michel Foucault ausführlich vor dem College des Française sprechen und damit die Politik der Wissenschaft und ihre vermeintlich objektive Ordnung ins Spiel der kritischen Betrachtung bringen.
Halten wir aber an dieser Stelle mit Blick auf die Diagnose von Thomas Kuhn fest, dass wir es in der Stilgeschichte der Wissenschaften angesichts der heftigen Methodendiskussionen und Regelforderungen hinsichtlich der künstlerischen Forschungspraxis möglicherweise mit einem Stilwechsel zu tun haben – einem Paradigmenwechsel, der sich in der Entrüstung über die Regellosigkeit der Künste ankündigt. Halten wir darüber hinaus mit der provokativen Theorie eines Paul Feyerabend zur kontinuierlichen Anarchie der regelgeleiteten Forschung auch fest, dass sich dieses neue Paradigma, das die Kunst als Forschung mit anderen Mitteln etablieren wird, schlechterdings nicht naiv gegenüber der Ideen der kritischen Epistemologie verhalten kann und keinen stabilen Methodenkanon etablieren dürfte, der den Annahmen über die Regellosigkeit der Wissenschaften entgegenliefe. Man mag mit Kuhn zuversichtlich bleiben und annehmen, dass es ohnehin zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte des Wissens diesen Katalog von Leitlinien und Parameter in der Forschung je gab, dass es eher nur einen neuen Stil des Forschens und eine Akzeptanz neuer Werkzeuge und Erkenntnisgegenstände geben wird.
Doch die Entwicklung der Kunst hin zu einer Forschungsdisziplin könnte zunächst durchaus in die Reglementierung führen. Ein Überschuss an Legitimationsenergie könnte tatsächlich eine akademisierende Disziplinierung zur Folge haben und die Kassandrarufe, die vor dieser Gefahr warnen, sind unüberhörbar. Auf der Suche nach Anerkennung im Betrieb der Wissenschaften könnte die künstlerische Forschung in Regelwerken und Methodenkatalogen kanalisiert werden. Ein neuer Feyerabend täte dann Not, der an das Anarchische auch der künstlerischen Forschungspraxis erinnerte. Nicht weil dieser anarchische Störrsinn ein auserkorenes Spezifikum ästhetischer Einsichtsverfahren wäre – mitnichten. Die Vorstellung von der Kunst als Spezialistin für Idiosynkrasien ist uninteressant für die Kunst der Forschung, weil sie sich gegenüber den generellen Regelverstößen in der Forschung immunisiert. Anarchisch eigensinnig hätte die künstlerische Forschung zu sein, weil sie – wie jede andere Forschung auch – aus dieser kontinuierlich produktiven Unterwanderung ihrer eigenen Regeln jenen Fortgang generierte, der die Geschichte der Wissensformen – nicht als Fortschritt aber – als Geschehen am Laufen hält. Die Kunst als Wissenschaft wäre – wie die Wissenschaft überhaupt – als produktive Gestaltungspraxis anzuerkennen, was ihr – vielleicht anders als der traditionellen Wissenschaft – leicht gelingen sollte.
1Grimonprez, Story of Kobarweng or Where is you Helicopter, 1991. (Aufruf Sept. 2018). Übersetzung von A.H., das englische Original lautet: »Juxtaposing thirty-year-old documentary footage with the accounts of indigenous people, Kobarweng critically considers the myth of objectivity, the pretence to an epistemic and scientific detachment maintained not just by the anthropologist, but throughout the discourse of western science, where the observer finds himself caught in an alienated position of transcendence over his/her object.«
2Latour: Die Hoffnung der Pandora, 2002, S. 8.
3Rickli: Livestream Knurrhahn, in: Bippus: Kunst des Forschens, 2009, S. 56.
4Rickli: Experimentieren, in: Badura, Dubach, Haarmann et al. (Hg.): Künstlerische Forschung: Ein Handbuch, 2015, S. 136.
5Nietzsche: Fröhliche Wissenschaft, 1999, §58.
6Das »Räsonieren« (Kant) oder »Situieren« (Haraway) verweist auf die lange Geschichte der kritischen Epistemologie, die sich bis an die Anfänge der Geschichte des Denkens zurückverfolgen ließe. Beispielhaft kann Immanuel Kant und seine »Kritik der reinen Vernunft« als paradigmatischer Fall kritischer Epistemologie markiert werden. Aber auch die »Negative Dialektik« von Theodor Wiesengrund Adorno lässt sich als kritisch epistemologische Schrift interpretieren. In der, für die künstlerische Forschung relevanten, zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lassen sich drei verschiedene Stränge kritisch epistemologischen Denkens identifizieren, die als Kronzeugen eines derangierten Forschungsbegriffs aufgerufen werden können: Die hier gleich diskutierte, wissenschaftstheoretische Kritik an Methodik und Objektivität in der naturwissenschaftlichen Forschung bei Thomas Kuhn oder Paul Feyerabend, die poststrukturalistische Kritik an den Wissensdiskursen bei Jean-François Lyotard oder Michel Foucault, deren Auswirkungen bis zu Donna Haraway reichen, sowie die ethnologisch oder soziologisch operierenden Analysen von Bruno Latour, Karin Knorr-Cetina oder Hans-Jörg Rheinberger.
7Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 1976, S. 61.
8Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 1976, S. 60.
9Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 1976, S. 61.
10Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 1976, S. 62.
11Ebd.
12Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 1976, S. 217/218.
13Rickli, Livestream Knurrhahn, in: Bippus: Kunst des Forschens, 2009, S. 58. Rickli untersucht unter ästhetischen und installativen Gesichtspunkten wissenschaftliches Videomaterial und den Aufbau experimenteller Beobachtungssituationen in Forschungslaboren, in denen etwa das Verhalten von Bienenmilben oder Knurrhahnfischen untersucht wird.
14Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 1976, S. 61.
15Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang, Frankfurt a.M. 1983, S. 238.
16Vgl. Feyerabend: Wider den Methodenzwang, 1983, S. 374.
17Feyerabend: Wider den Methodenzwang, 1983, S. 21.
18Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 1976, S. 220.
19Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 1976, S. 201.