Politisierung: Von der Anschauung zur Einmischung
Was ist politische Kunst
Eine der Herkunftslinien der künstlerischen Forschung führt auf das Terrain der politischen Kunst. Der Aufruhr bringt oftmals den Zweifel am herrschenden Wissen mit sich und im Zweifel am offiziellen Wissensfundus reichen sich dann das Politische und das Erkenntniskritische innerhalb der Kunst die Hände. Aber was ist überhaupt politische Kunst und wo fordert sie den Glauben an herrschende Wissenshorizonte heraus?
Das Politische in der Kunst hat den Anspruch, die Welt nicht nur ästhetisch zu deuten, sondern auch praktisch zu ändern. Wenn wir von dieser ersten Deutung des Politischen in der Kunst ausgehen, können wir uns klar machen, dass es bei dem Anspruch, die Verhältnisse ändern zu wollen, naheliegt, auch die Begründungslogik dieser Verhältnisse in den Blick zu nehmen. In den Worten der aktivistischen Künstlergruppe Group Material: »Unser Ziel ist klar. Wir laden jeden dazu ein, die gesamte Kultur, die wir für selbstverständlich genommen haben, in Frage zu stellen.«1 Mit diesem Willen zur Infragestellung forschen aktivistische Künstlerinnen und Künstler noch nicht. Aber sie beginnen zur Berechtigung ihres Tuns auch jener Wissenskultur kritische Aufmerksamkeit zu schenken, auf die sich die bestehenden Verhältnisse berufen. Eine misstrauische Form der Wissensanalyse wohnt tendenziell der künstlerischen Herrschaftskritik inne und so scheint es nur ein kleiner Schritt zu sein, vom veränderungswilligen Handeln zum forschenden Intervenieren – oder umgekehrt vom forschenden Intervenieren zum verändernden Handeln.
Gehen wir also dieser Fährte zum Verhältnis von kritischer Infragestellung und aktivistischer Kunst nach, um Vorläufer der Kunst als Forscherin im Feld der Kunst als Aktivistin ausfindig zu machen. Dadurch sind wir mit der Aufgabe konfrontiert, die eingangs vorgenommene, vorläufige Charakterisierung der politischen Kunst zu präzisieren. Denn wo suchen wir die politischen Vorläufer der künstlerischen Forschung? Wo fängt die politische Kunst an – historisch, praktisch und thematisch – und wo hört sie auf? Was sind die Kriterien ihrer Bestimmung? Diese Fragen erweisen sich als Herausforderung, denn mit ihnen ist eine andere, bisher ignorierte Frage verbunden: Existiert überhaupt eine politische Kunst und nicht vielmehr nur politisches Handeln auf dem Terrain des Künstlerischen? »But is it Art?« fragt daher die Kunsttheoretikerin Nina Felshin paradigmatisch im Titel ihres Buches, welches beansprucht, mithilfe verschiedener Spezialistinnen und Spezialisten aus dem Feld der Praxis und der Theorie den spezifischen »Geist der Kunst als Aktivismus« zu untersuchen.2 Hintergrund dieser Behauptung eines aktivistischen Geistes der Kunst ist die Beobachtung, dass der politischen Kunst ihr Status als Kunst ebenso regelmäßig abgesprochen wird, wie sie in Erscheinung tritt. Es scheint geradezu zum Spezifikum der politischen Kunst zu gehören, dass sie die Frage nach ihrer Existenz begleitet. Diese fortgesetzte Infragestellung des Kunstcharakters der Aktivistenkunst hat auch und wesentlich kulturpolitische Gründe und illustriert den Einsatz hegemonialer Diskurssysteme gegen die Vergabe von kultureller Aura an politische Eingriffe ins Bestehende. Philosophisch relevant für eine Bestimmung der politischen Kunst ist hier allerdings der Sachverhalt, dass im Grenzgebiet zwischen den künstlerischen Strategien einerseits und den politischen Taktiken andererseits tatsächlich die definitorischen Marksteine fehlen, die den Moment des Übergangs von reiner Kunst in reine Politik anzeigen, und zwar im Wesentlichen deswegen, weil dem Politischen gerade eine provokante Kunst der Grenzüberschreitung innewohnt und sich darüber hinaus das Politische und das Künstlerische in einer fundamentalen Gemeinsamkeit überlagern: beides sind Handlungen im Bestehenden. Die politische Kunst entdeckt das Handeln in Form von Aktionen, Happenings und Interventionen in den öffentlichen Raum oder in Performances. Dieses künstlerische Handeln überlagert sich mit dem Politischen, denn politische Praxis bestimmt sich ihrerseits durch gesellschaftliche Handlungen. Kunst und Politik handeln. Beide erschaffen mittels ihrer Handlungen eine kulturelle oder gesellschaftliche Realität. So liegt die Unschärfe des Phänomens der politischen Kunst in ihren beiden Qualitäten als Provokateurin einerseits und als Praktikerin andererseits. Darüber hinaus fehlt zur Bestimmung politischer Kunst – zumindest aus deutschsprachiger Sicht – »eine Geschichte von Aktivismus und Partizipation in der Kunst des 20. Jahrhunderts: eine andere Kunstgeschichte mit dem Fokus auf partizipatorischen Unternehmungen mit kritisch-emanzipatorischer Intention,« diagnostiziert Stella Rollig.3 Die Kunsthistorikerin benennt damit einen wissenschaftlichen Grund, warum das Phänomen der politischen Kunst bisher schwer greifbar geblieben ist – nicht notwendig für die, welche es praktizieren, wohl aber für den theoretischen Diskurs, der es zu erfassen und zu diskutieren beansprucht. In der Folge dieser Tendenz zur diskursiven Fragmentierung scheint es, als würde die politische Kunst immer wieder neu erfunden werden müssen oder als würde es sich immer wieder nur um einzelne, politisierte Episoden in der Kunstgeschichte handeln, welche ohne Zusammenhang und Konsistenz verbleiben. Daher müsse stetig um den Status und Charakter dieser Aktivistenkunst verhandelt werden. Rollig bringt nun eine Geschichte der Kunst als gesellschaftspolitischer Akteurin auf den Weg, wenn sie einen historischen Bogen spannt von den revolutionspolitischen Ambitionen des russischen Konstruktivismus in den 1920er Jahren, über britische Sozialkunst mit Obdachlosen in den 1960er Jahren, bis hin zur New Genre Public Art der 1990er Jahre, die in urbane Räume interveniert, um gesellschaftliche Kräftefelder sichtbar zu machen. Künstlerinnen und Künstler seien während des gesamten 20. Jahrhunderts damit beschäftigt gewesen, Diskurse und Praktiken des Politischen zu variieren.
Tatsächlich war es Anspruch aller dieser künstlerischen Positionen seit den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts, einzugreifen in das öffentliche Leben und die Realität des Sozialen zu verändern – verbunden mit dem Begehren, verbessernd zu wirken und nicht nur symbolisch zu bedeuten. Alle diese Positionen strebten an, den gesellschaftlichen Raum durch ihren künstlerischen Einsatz zu verändern und damit gewissermaßen die elfte Feuerbachthese von Karl Marx in einer Variation für die Kunst zu reformulieren: Die Künstler haben die Welt nur verschieden dargestellt, es kömmt darauf an, sie zu verändern. Dieser Anspruch – durch ästhetische Handlungen die soziale Welt umzugestalten – kennzeichnet das Politische der Kunst. Und auch die amerikanische Kunsttheoretikerin Felshin bestätigt diesen, wesentlich auf Veränderung ausgerichteten »Geist der Kunst als Aktivismus«, wenn sie charakterisiert, dass politische Kunstpraktiken einen innovativen Gebrauch vom öffentlichen Raum machen würden, um damit Themen von soziopolitischer und kultureller Signifikanz zu adressieren, und es ihnen darum ginge, öffentliche Teilhabe als Mittel zur Durchsetzung gesellschaftlicher Veränderungen zu ermutigen. Ausgehend von diesen Identifikationsmerkmalen hat sich aus der Sicht Felshins für den angelsächsischen Raum allerdings tatsächlich eher eine Kanonisierung der politischen Kunst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts eingestellt, als dass ein Mangel an Geschichtsbewusstsein zu diagnostizieren wäre. Mit dem einen Fuß in der Kunst und dem anderen im politischen Aktivismus sei in den 1970er Jahren ein bemerkenswerter »Hybrid« aufgetaucht, der sich in den 1980er Jahren ausweitete, um schließlich ein Jahrzehnt später schon in Aufsätzen, Museumsausstellungen, Kunstförderprogrammen und auf Konferenzen institutionalisiert zu sein, so Felshin. Mittels dieser Kanonisierung werden künstlerische Arbeiten als politisch identifiziert und hinsichtlich ihrer charakteristischen Merkmale diskutiert: »Aktivistische Kunst ist sowohl in ihrer Form als auch ihrer Methode eher prozess- als objekt- oder produktorientiert und sie findet gewöhnlicher Weise eher an öffentlichen Orten als im Kontext von Kunsträumen statt,«4 so die Bestimmung des Politischen in der Kunst in den Worten von Felshin. Kunst als politischer Aktivismus ist in dieser Diagnose gekennzeichnet durch Eingriffe und Prozesse sowie öffentliche Aktionsorte. Wie aber hängt diese handelnde Kunst auf dem Terrain des Öffentlichen zusammen mit der Forschung?
Wider die herrschenden Behauptungen
Mittels eines Diagramms macht die Kunsttheoretikerin und Praktikerin Suzanne Lacy einen Vorschlag, wie die aktivistische Politkunst, welche die Welt handelnd verändern will, in einem Kontinuum steht mit dem, was Lacy in den 1990er Jahren die »analysierende Kunst« nennt – eine Kunst, welche die soziale Welt untersuchen will.5 Das Kontinuum dieses Diagramms reicht von der Kategorie des Privaten zur Kategorie des Öffentlichen. Im Bereich des Privaten befinden sich die Künstler und Künstlerinnen als Erfahrende. Auf der Seite des Öffentlichen stehen die künstlerischen Aktivisten und Aktivistinnen. Dazwischen liegen berichterstattende und analysierende Künstlerpositionen. Gesellschaftlich orientierte Künstlerinnen und Künstler, so Lacy, operieren zu verschiedenen Zeiten im Rahmen ihrer künstlerischen Arbeiten an unterschiedlichen Punkten dieses Spektrums oder bewegen sich zwischen den erfahrenden, den berichtenden, den analysierenden und aktivistischen Strategien hin und her. Nahe beieinander stehen in dieser Beobachtung nun die analysierenden und die aktivistischen Strategie auf der Seite des Öffentlichen, weil in beiden Fällen die traditionellen Formen der Repräsentation von subjektiven Erfahrungswerten in der Kunst transzendiert werden. »Vom Berichten oder Präsentieren von Informationen zum Analysieren ist es eigentlich nur ein kleiner Schritt«, diagnostiziert Lacy. »Dieser Schritt impliziert aber eine enorme Verschiebung in der Rolle des Künstlers oder der Künstlerin. In den ersten beiden Arbeitsformen – erfahrend und berichtend – sehen wir eine Betonung der intuitiven, rezeptiven, erfahrungsbezogenen und beobachtenden Fertigkeiten«, so Lacy.
»Wenn Künstlerinnen und Künstler jedoch durch ihre Kunst soziale Situationen zu analysieren beginnen, übernehmen sie Fertigkeiten, die gewöhnlich mehr mit Sozialwissenschaftlern, investigativen Journalisten und Philosophen assoziiert werden.«6
Diese investigativen Künstlerinnen und Künstler beanspruchen dann nicht mehr nur Objekte zu formen, sondern intellektuelle Positionen einzunehmen. Die Erweiterung des künstlerischen Selbstverständnisses über die Gestaltung visueller Objekte hinaus, teilen die analytischen Künstlerpositionen mit den aktivistischen, zu denen sie in einem direkten Kontinuum der Praktiken stehen. Von der Analyse führt ein direkter Weg zum Aktivismus – zumindest im Terrain der sozialkritischen Kunst – denn mit der Untersuchung bestehender Verhältnisse werden Probleme identifiziert, deren Lösung ein Handeln erfordert. Die Tat steht mit der Analyse in einer ähnlich plausiblen Wechselwirkung, wie beim Arzt die Diagnose mit der Behandlung. »Martha Rosler«, so erläutert Lacy am Beispiel der nordamerikanischen Künstlerin, »hat die Stadt New York als Künstler-Analytikerin untersucht, aber man kann sagen, dass ihre Arbeit dabei in Aktivismus überging. Ihr Projekt ›If you Lived Here … The City in Art, Theory and Social Actions‹ ist eine Assemblage aus Ausstellungen, Symposien, Fotografien sowie Schriften und bezieht die Arbeit von Künstlerinnen und Künstlern sowie Aktivistinnen und Aktivisten ein, die sich mit der, in den USA seinerzeit aktuellen Krise der städtischen Wohnungspolitik beschäftigten.«7
Roslers Arbeit »erwog«, so Lacy, inwiefern Kunstschaffende selber von Obdachlosigkeit bedroht waren und sich inmitten einer Wohnungspolitik wiederfanden, die von Immobilienspekulationen beherrscht wurde. »Dabei wurde die Analyse von Wohnverhältnissen und Wohnungslosigkeit durch geplante und durchgeführte Interventionen unterstrichen, die zum Modell für aktivistische Praktiken avancierten.«8 Lacys Beschreibung der künstlerischen Arbeit von Rosler legt nahe, dass Analyse und Aktivismus wechselwirken, weil einerseits die Analyse selber durch das Ansammeln von entlarvenden Dokumenten über Wohnungsnot und Vertreibungspolitik einer Provokation nahe kommt und andererseits der Aktivismus schon deswegen in der Analyse wohnt, weil die Analysierenden teilweise Betroffene sind. »Die Teilnehmer/innen waren Künstler/innen in und außerhalb der Kunstwelt, Community-Aktivisten und Gruppen sowie Obdachlose als auch Einzelkünstler/innen oder Mitglieder unterstützender/beratender Gruppen.«9 Die Künstlerin Rosler kooperierte mit Akteuren, die nicht nur ein soziales, ökonomisches oder empirisches Wissen über Wohnungspolitik zum Ausstellungsprojekt beitrugen, sondern auch ein Wissen über Strategien der politischen Selbstorganisation in Zeiten der Immobilienspekulation kommunizierten. Rosler versteht ihre Arbeit als sowohl politisch wie auch analytisch. Durch ihren Fall wird anschaulich, wie Analysieren und Eingreifen durch die Figur der Betroffenen zusammenfallen oder sich gegenseitig bedingen. Das analysierende Forschen im Kontext der Kunst am Gegenstand der Wohnungspolitik ist zugleich ein politisches Handeln im Kontext der Kunst, weil der Analyseprozess als Sichtbarmachung von Unbedachtem die Position verändert, von der aus sich die Analysierenden tätig in den Gegenstandbereich ihrer Untersuchung einmischen. Von unwissend Getriebenen werden die ausstellenden Kunstakteure zu erkennend Agierenden. Die künstlerisch analysierende Praxis des Untersuchens der Wohnverhältnisse, das Sammeln von Dokumenten, das Arrangieren von Fakten, das Herausfinden und Visualisieren von Zahlen und Hintergründen, diese Feldforschung und installative Darstellung des Feldes ist forschende Analyse und zugleich tätige Intervention, weil ein Wissen bereitgestellt wird, dass sich in die Beantwortung der Frage nach der Wahrheit über das Wohnen einmischt und mittels einer Verschiebung des Wissenskanons das Selbstverständnis herrschender Politik zu delegitimieren und zu verändern beansprucht.
Im Kontext der politischen Kunst interveniert das Analysieren und Präsentieren alternativer Wahrheiten in die Diskurshoheit und ist damit in einem Sinne aktivistisch, wie das Recht Wahrzusprechen als ein Aushandlungsprozess mit Ausschlussmechanismen verstanden werden muss, in den mittels künstlerischer Artikulation eingegriffen wird. Die politische Kunst praktiziert diese Politik der Wahrheit nicht nur implizit, sondern expliziert sie auch. Rosler will nicht nur wissen und zeigen, was die soziale Wahrheit des Wohnens in Zeiten der Immobilienspekulation ist, sondern sie will auch mittels des Zeigens dieser Wahrheit eingreifen in die Vorherrschaft einer ökonomischen Wahrheit und damit sowohl die Politik des Wohnens, wie die Politik der Wahrheit aufzeigen als auch verändern.
Das ästhetische Forschen beginnt in der politischen Kunst mit dieser doppelten Anstrengung: anderes Wissen zu generieren und auf dessen Grundlage ästhetisch-politische Handlungen zu vollziehen. Beides zusammen beansprucht zweierlei zu transzendieren: die hegemonialen Erklärungen über die soziale Welt und die diskriminierende Realität der sozialen Welt. Im Kontext der politischen Kunst entwickelt sich mithin ein kritisches Bewusstsein über die hegemoniale Politik der Wahrheit. Gleichsam nebenbei entsteht eine epistemologisch relevante Wissenskritik. Diesen Prozess der Bewusstwerdung über die Macht des Wissens und die Kontexte, innerhalb derer es sich bildet, dokumentiert auch eine weitere Arbeit von Martha Rosler. Ihre Videoarbeit ›Semiotics of the Kitchen‹ von 1975 lässt sich als Eingriff in die Diskurshoheit betrachten und verschränkt investigative Diagnose mit politischer Symbolhandlung. In ihrem sechs Minuten langen Film ist Rosler zu sehen, wie sie in einer Küche umgeben von Küchenwerkzeugen der Kamera zugewendet steht wie in einer lehrreichen Kochfernsehsendung. Doch Rosler zeigt den Betrachtern und Betrachterinnen nicht das Zubereiten einer Speise. Sie buchstabiert das Alphabet in der Küche aus: Der Buchstabe A erfährt als erstes seine Referenz durch eine Schürze (apron), seine Lautgeste durch das Aussprechen der apron und seinen Vorstellungsraum durch die Tätigkeit des Anziehens der Schürze. Es folgt das tätige Aufgreifen des Buchstabens B in der Form einer Schüssel (bowl) zusammen mit deren lautmalerischer Realisierung, die verbunden wird mit der Praxis des B als einem Rühren in der Schüssel. Das I findet seine Küchenrealität am kleinen Gerät des Eispickels (ice pick), welcher der Hausfrau Rosler zu weit ausholenden Stechgesten verhilft und dem Küchentisch empfindliche Verletzungen zufügt. Spätestens mit dem kurz darauffolgenden K, das sich am schneidewütigen Messer (knife) materialisiert, wird die provokative Semantik dieser formalästhetischen Semiotik offensichtlich. Brachial schlägt auch das T als Fleischklopfer (tenderizer) auf die Welt der Küche ein. Rosler führt eine spezifisch hausarbeitende Wahrheit des Verhältnisses von Referent, Signifikat und Signifikant vor. Die Küchensemantik Roslers ist eine performative Symboltheorie, die drei Sinnebenen behandelt: Die symboltheoretische Relevanz der vermeintlich unwesentlichen Hausfrauenarbeit, die Abhängigkeit des Wesens des Alphabets von seinem Kontext, welches im Küchenraum von einer abstrakten Letternreihe zu einer Stufenleiter der Gewalteskalation mutiert, und die Bestätigung einer Performativität des Bedeutens, indem Buchstaben als Gebärdengesten präsentiert werden. Die performativ vermittelte Einsicht lautet: Diese Schriftzeichen, die in Küchen vorkommen, handeln. Genauer, sie stoßen, schneiden und werfen. Was wie ein ABC der kulinarischen Werkzeuge beginnt, spitzt sich zu einem Einmaleins der Zerstörungspraktiken zu. Gleichsam von A wie Abstechen über H wie Hacken und S wie Schleudern bis zu Z wie Zerstückeln. Diese Videokunst will mittels der Buchstabenanalyse politisch verdeutlichen: Wir Küchenarbeiterinnen haben unsere eigene Beweisführung und einen spezifischen Wissenskanon, wir sind bewaffnet und Aggression motiviert unser Handeln. Der provokative Eingriff in die Diskurshoheit durch die künstlerische Arbeit beruht auf einer Infragestellung der Ordnung der Geschlechter mittels einer Infragestellung der Abstraktheit der Buchstaben, indem dargestellt wird, wie Buchstaben eine performative Energie im Rahmen von Geschlechterrollen entfalten und indem die Aura der theoretischen Semiotik für die Niederungen der Küchenarbeit angeeignet und dort ausformuliert wird. Dabei wird ein neues Wissen sowohl über das Wesen der Lettern sowie über die Stabilität der Geschlechterordnung vorgeschlagen. Dieses Wissen kommt einer aktivistischen Positionierung gleich, weil es sowohl die Geschlechterrollen wie den Wissenskanon konterkariert. Die ›Semiotics of the Kitchen‹ stehen in ihrer behauptenden Kürze methodisch am Anfang einer künstlerischen Forschung. Die Arbeit präsentiert sich als politische Kampfansage und droht mit dem Aufstand in der Küche. Sie gleicht mehr einer Positionierung als einer untersuchenden Problematisierung. Zugleich dokumentiert der Kurzfilm von Rosler jenen Schulterschluss, den eine politische Kunst mit einer forschenden Kunst mittels der Geste des Widerspruchs gegen die herrschenden Behauptungen eingeht. Und in dem Maße, wie das gestische Wider zu einem methodischen Für eines anderen Wissens werden wird, gebiert die emanzipatorische Kunsthandlung eine investigative und analytische Kunstforschung. Politische Kunst bereitet künstlerische Forschung in jenem primär emanzipatorischen Sinne vor, in dem schon Group Material jeden aufforderte, die gesamte herrschende Kultur und damit auch die Wissenskultur in Frage zu stellen. Aber nicht als Selbstzweck der Erkenntnis, sondern, um aus einem anderen Verstehen ein anderes Handeln und ein anderes Sein ableitbar zu machen. Es handelt sich im Kontext der politischen Kunst mithin um den Beginn einer kritischen Forschung. Es entfaltet sich eine künstlerische Analyse, die betrieben wird, um das Wissen zu kontextualisieren oder zu verändern und damit nachzuweisen, dass herrschende Grundannahmen positional sind.
Politik der Wahrheit
Nicht jede politische Kunsthandlung ist eine Analyse und damit relevant für die Genese der künstlerischen Forschung. Die Suche nach den Wurzeln der künstlerischen Forschung im Terrain der politischen Kunst lässt den Kurzschluss nicht zu, dass aktivistische künstlerische Praktiken in jeder Hinsicht auch forschende Praktiken wären. Wir erinnern uns daran, dass Lacy eine Vielzahl an unterschiedlichen Handlungsweisen im Terrain der sozialen Kunst aufgelistet hat: vom Darstellen individueller Erfahrungen über das Berichterstatten bis zum Intervenieren. Politische Kunst ist nicht monomethodisch, sondern »plündert« die zur Verfügung stehenden kulturellen Praktiken, um mit ihnen Politik zu machen, wie Renate Lorenz mit Blick auf die Aktivisten-Künstler-Gruppe ACT UP diagnostiziert: »Die Handlungsformen von ACT UP plündern theoretische und wissenskritische Texte ebenso wie Ästhetik und Vorgehendweisen aus den Bereichen Werbung/Kunst/Performance und Videoaktivismus. Zwischen Kunst als politischem Faktor der Bewegung und dem Sampling künstlerischer Formen für Werbe- und Angriffsstrategien muß und kann nicht mehr unterschieden werden.«10
In politscher Kunst werden Bildprodukte erzeugt, die nicht nur analysierend, sondern auch darstellend sind, und die politischen Inhalte auf ästhetische Weise suggestiv vermitteln sollen. Performative Demonstrationen werden als Happenings inszeniert oder Installationen in den öffentlichen Raum gebaut, um Konflikte zu visualisieren. Politische Kunst bedeutet insgesamt »Kunst und Theorie als Werkzeug eines öffentlich relevanten Handelns«11 zu nutzen und zeichnet sich somit generell durch einen instrumentellen Zugang zu ästhetischen, interventionistischen oder analytischen Handlungsweisen aus. Die kritische Analyse erweist sich als eines von vielen möglichen Arbeitsmitteln in der Werkzeugkiste der politischen Kunst. Aber ein zentrales. Denn immer sind die Gegenstände der politisch-künstlerischen Auseinandersetzung eingebettet in Wissensregime und häufig werden diese Wissensregime zum Gegenstand einer kritischen künstlerischen Auseinandersetzung. Ob es sich dabei um Wohnungspolitik, Feminismus oder Homophobie in Zeiten der Aidskrise handelt, es geht in der politischen Kunst bei diesen Themen auch um Fragen der Wahrheit: was ist die Wahrheit der Körper, welches Wissen regelt das Soziale, worin besteht die Natur einer Krankheit und welche Politik lässt sich daraus ableiten? Die politisch motivierten, künstlerischen Untersuchungen beanspruchen, mit einer anderen Wahrheit den vorherrschenden Zusammenhang von Wissen und politischem Handeln anzufechten oder auf der Grundlage eines anderen Wissens ein anderes Handeln zu provozieren.
Diesen konstruktiven Chiasmus aus ästhetischer Feldforschung und politischem Handeln intensiviert exemplarisch die Künstlergruppe Ala Plástica in den 1990er Jahren und stellt damit das Forschende als konstitutives Moment des Politischen beispielhaft heraus: Ala Plástica arbeitet in Argentinien am Rio de la Plata und versteht sich als künstlerisch-politische Umweltorganisation. Der Rio de la Plata – der Silberfluss – ist ein meergroßes Flussmündungsdelta. Über das Deltabassin werden mehrere Millionen Menschen der dicht besiedelten Metropolen Buenos Aires und Montevideo mit Wasser versorgt. Durch Müll und Abflüsse ist das Flussmündungsgebiet aber verschmutzt. Diese ökologische und soziale Ausgangssituation bildet die Grundlage der Arbeit von Ala Plástica. Ihr 1995 begonnenes Langzeit-Projekt ›Junco/Especies Emergentes‹ gleicht einer Kampagne, bei der die örtliche Bevölkerung, wissenschaftliche und technische Experten sowie Künstler einbezogen wurden. Das soziale, politische, ästhetische und wissenschaftliche Interesse gilt dabei einer lokalen Schilfsorte – dem Junco – ausgehend vom traditionellen Wissen, welches die lokale ländliche Bevölkerung über dessen Vorkommen, Textur, Wirkung oder Biegsamkeit hat. Junco dient dem Körbe flechten in der Alltagspraxis der Landbevölkerung. Durch sein weit verzweigtes Wurzelsystem ist Junco aber auch in der Lage, Wasser zu reinigen und Ufer zu festigen. Sein Vorkommen ist ökonomisch und ökologisch sinnvoll. Ala Plástica arbeitete im Rahmen ihres künstlerisch-politischen Projekts mit den Mitteln der Fotografie, der performativen Zusammenkünfte, dem Sammeln von Dingen und Aussagen sowie dem Choreografieren von Leuten und Expertisen. Das Ziel war es, lokales, ortsspezifisches und traditionelles Wissen aus dem Vergessen herauszuarbeiten und zugleich als ökologisches, epistemisches und ästhetisches Werkzeug fruchtbar zu machen für die spezifische Umweltproblematik des Rio de la Plata. Als Alternative zu naturwissenschaftlichen, biochemischen Wissenstypen, die durch Laboranalysen und mithilfe künstlicher Substanzen auf Umweltverschmutzungen reagieren, aktiviert Ala Plástica ein erfahrungsbasiertes Wissen und wendete es als minimalinvasives Instrument umweltpolitisch an: der Junko-Schilfgürtel an den Ufern des Rio de la Plata wurde im Rahmen des Projekts ›Junco/Especies Emergentes‹ aufgestockt, um die Wasserqualität des Bassins zu verbessern.12 Diese ästhetisch-gärtnerische Kampagne impliziert kollaborative Analyse, Land-Art, politisches Handeln und hatte zugleich einen sozio-epistemischen Effekt. Denn ebenso wie sich das Schilfgras rhizomatisch über sein Wurzelsystem verbreitet, so wuchsen auch die Kommunikationsnetzwerke der Gruppe und verfeinerten sich immer mehr. Durch diese Kommunikationskanäle fließt der Junco-Wissenstyp und sedimentiert sich im verästelten Netzwerk, wie der Flussboden im Schilfrhizom an den Ufern des Rio de la Plata. Der politische Einsatz der Künstlergruppe ist zugleich ein epistemischer Einsatz. Ala Plástica entbirgt ein ausgegrenztes Wissen, um es ökologisch nutzbar zu machen. Dabei installiert die Kampagne ›Junco/Especies Emergentes‹ ein alternatives Subjekt des Wissens – die ländliche Bevölkerung an den Ufern des Rio de la Plata – und pariert exklusive Strukturen im Wissensbetrieb. Der Wille, die Welt nicht nur verschiedentlich darzustellen, sondern auch vor dem Hintergrund ihrer möglichen Andersheit zu verändern, inspiriert die politische Kunst dazu, das Wissen über die Welt zu befragen, die Subjekte des Wahrsprechens zu überdenken und die epistemischen Methoden zu erweitern.
Damit aber nicht genug. Die politisch motivierte Kunst des 20. Jahrhunderts ist auch deswegen genealogisch und epistemologisch relevant für die künstlerische Forschung des 21. Jahrhunderts, weil sie in den Kanon der wissenswerten Dinge interveniert und vorschlägt, neue Sachverhalte als Gegenstände der Erkenntnis zu adeln. Ein anderes, groß angelegtes, künstlerisches Langzeitprojekt dokumentiert diesen Willen zum anderen Wissen auf dem Terrain der politisch engagierten Kunst:
Betrachten wir 28 Bilder datiert vom 1. bis zum 28. Februar des Jahres 1974. Diese Bilder sind der Ausschnitt aus einer jahrelangen ästhetischen Analyse, die ein unerwartetes Erkenntnisobjekt durchsetzen will. Auf jedem der Bilder sind unregelmäßige, bräunliche Flächen auf weißgrauem Stoffgrund im Hochformat zu sehen. Im unteren Drittel eines jeden Bildes befindet sich ein kurzer tabellarischer Text in Schreibmaschinenschrift mit wiederkehrendem, leicht variierendem Inhalt: »08:30 Uhr 4 Unzen Flaschenmilch, 2 Teelöffel Haferflocken, 3 Teelöffel Eigelb« Zeilenumbruch. »10:20 Uhr: 2 Teelöffel Orange« Zeilenumbruch »12:30 Uhr: 7 Unzen Flaschenmilch, 4 Teelöffel Karotte, 6 Teelöffel Rindfleisch« Zeilenumbruch. »14:30 Uhr: 3 Unzen Orange« Zeilenumbruch »17:30 Uhr: 7 Unzen Flaschenmilch, 3 Teelöffel Haferflocken, 12 Teelöffel Aprikose« Zeilenumbruch »20:00 Uhr: 2 eineinhalb Unzen Ribena-Saft« Zeilenumbruch. »21:00 Uhr: 8 Unzen Flaschenmilch« Zeilenumbruch. »Total: 34 Unzen Flüssigkeit, 30 Teelöffel Festes«. Das Ergebnis dieses kulinarischen Tagesablaufs ist bei einer Skala von 01 für Verstopfung bis 05 für Durchfall mit 02 unten rechts in der Ecke dieses exemplarischen Bildes als normaler Stuhlgang kategorisiert und ästhetisch in der Form eines oben zerfransten, unten spitz zulaufenden, eher dunklen, okerbraunen dreieckigen Flecks dokumentiert.13 Es handelt sich bei diesem, wie bei allen anderen 28 Bildern, um Windelstoff mit Fäkalspuren. »Ich habe«, so die Künstlerin Mary Kelly in ihrer Projektpublikation zu ›Post-Partum Document‹ »den Ernährungsprozeß und das Wickeln über einen Zeitraum von drei Monaten, von Januar bis März 1974 aufgezeichnet. Den Februar, das heißt den sechsten Lebensmonat des Kindes, habe ich deshalb für diese Dokumentation gewählt, weil in dieser Zeit die radikalsten Veränderungen stattfinden.«14 Die 28 Februarbilder, die wir im ›Post-Partum Document‹ zu sehen bekommen, zeigen die nachweislichen Effekte des Übergangs von flüssiger zu fester Nahrung bei einem Säugling und den Einzug von Fäulnisbakterien in den kindlichen Verdauungstrakt, den das Abstillen mit sich bringt, sowie die mütterliche Fixierung auf die sinnlich wahrnehmbaren Symptome dieses Prozesses der Entwöhnung von der Brust. Der Durchfall am 3. Februar schlägt sich fast unsichtbar doch großflächig im Windeltuch nieder ähnlich wie der weiche Stuhl am 12. Februar. Die häufigen als normal kategorisierten Ausscheidungen hinterlassen eine deutlicher sichtbare Spur in der Form eines dunklen Farbtons im Stoff. Es handelt sich bei diesen Bildern um die präzise verzeichneten und kontextualisierten, dreckigen Windeltücher eines Londoner Kindes aus den feministisch bewegten 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Mutter – Mary Kelly – hat als Künstlerin und Analystin insgesamt über einen Zeitraum von fünf Jahren ihren Sohn beobachtet und dessen Verdauung, aber auch dessen Sprachversuche oder Malfertigkeiten und Schreibübungen in zeitlich und entwicklungspsychologisch fixierten Phasen gesammelt, beschrieben, sortiert, gerahmt oder anderweitig in Form gebracht. Das künstlerische Projekt »Post-Partum Dokument« war als »prozeßhafte Analyse und Visualisierung der Mutter-Kind-Beziehung konzipiert«.15 Kellys Methodenkatalog zur Analyse dieses Phänomens der Mutter-Kind-Beziehung sieht verschiedene Strategien vor: Sie begreift die alltägliche Begegnung mit ihrem Sohn als Laborsituation, indem sie bestimmte Aspekte dieser Beziehung isoliert und zu einem Gegenstand der forschenden Untersuchung erhebt. Die Verdauung beispielsweise. Die zeitweise Fokussierung auf Fäkalspuren wird durch unterschiedliche Beobachtungen und Wissenshorizonte begründet: Körperlich durch den Übergang von fester zu flüssiger Nahrung in der Phase der Entwöhnung von der Muttermilch. Biochemisch durch den, damit einhergehenden Einzug von Fäulnisbakterien in den Darmtrakt des Kindes. Sozial durch die Markierung dieser Phase als Eintritt des Kindes in den Zustand der Identitätsbildung. Psychoanalytisch durch die These, dass mit der Phase der Entwöhnung von der Brust, der Säugling zum »Symptom der Mutter wird, da sie über ihn beurteilt wird«, wie Kelly schreibt.16 Diese unterschiedlichen Annahmen und Diagnosen markieren die Wissenskontexte für den Experimentalaufbau der Untersuchung, der folgender Forschungsfrage folgt: Welchen Verlauf nimmt die Verdauung in dieser Phase der veränderten Nahrungsaufnahme und lassen sich daraus Rückschlüsse ableiten für die Rolle der Mutter im Verhältnis zu ihrem Kinde? Gegenstand der künstlerischen Untersuchung ist der psycho-sozial-natürliche Komplex, bei dem Phänomene der Natur, wie Fäkalien und Nahrungsmittel, mit Phänomenen der psycho-sozialen Kultur, wie die Mutter-Kind-Beziehungen, einander offenbar solchermaßen bedingen, dass sich daraus eine quasi natürliche, gute Mutter-Kind-Beziehung als gesellschaftliche Norm zum Wohle des Kindes zu ergeben scheint.
Die Langzeitstudie Kellys wird als kritische Visualisierung psychoanalytischer Theorien und als methodische Dokumentation diskutiert und fällt damit in den Bereich der analysierenden Kunstformen. Sie ist aber auch eine feministische Intervention in die Geschlechterordnung und damit eine Kunst, die sich politisch als verändernde Praxis versteht. Denn »das Symptom des Kindes«, die Fäkalienspur, die eine Nichtübereinstimmung zu den Ernährungsdaten aufweist, so das Forschungsergebnis von Kellys Windeluntersuchung, »unterminiert den ideologischen Begriff der ›natürlichen Fähigkeit‹ und stellt die Angemessenheit der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in Frage, durch welche der sekundäre gesellschaftliche Status der Frau bekräftigt wird.«17 Kelly beansprucht gesellschaftspolitisch den Status der Frau als häuslicher Mutter zu verändern, indem sie analytisch den intrinsischen Zusammenhang zwischen Kindeskörpergesundheit und Muttersorgeanwesenheit destabilisiert. Über einen definierten Zeitraum verzeichnet Kelly die ästhetischen Spuren der Ausscheidungen ihres Kindes und setzt sie in Korrelation zu den Daten der Nahrung, um Unregelmäßigkeiten nachzuweisen, die einen natürlichen Zusammenhang zwischen guter mütterlicher Ernährung und gutem Stoffwechsel infrage stellen und somit den natürlich guten Zugang der Mutter zum Körper des Kindes als nicht nachweisbare Behauptung zurückzuweisen. Die Legitimation dieser Beweisführung führt über anerkannte wissenschaftliche Methoden der lückenlosen, definierten, nachvollziehbaren und dokumentierten Datenerfassung. Deren Parameter sind der exakte Zeitraum eines Monats, die präzise Rhythmik jeden Tags, die lückenlose Verzeichnung jeder Nahrungsaufnahme, die Genauigkeit hinsichtlich deren jeweiliger Mengenanteile und schließlich die Anschaulichkeit der Symptomatik in Form von 28 Windel-Fäkal-Ergebnissen. Kellys Kunstpraxis wendet bekannte methodische Verfahren der Wissenserzeugung an und setzt sie strategisch im Feld der Geschlechterpolitik ein. Ihr Projekt ist ausgestattet mit allen Insignien einer ordentlichen, wissenschaftlichen Forschungsarbeit, definiert die Rahmenbedingungen, hat eine Forschungsfrage, erweist sich in allen Aspekten als nachvollziehbar und legt die Kriterien der Analyse offen. Mit dieser Wissenschaftlichkeit im Gegenstandsbereich der Säuglingswindel installiert Kelly umgekehrt im Feld der Wissenserzeugung einen wenig anerkannten Forschungsgegenstand und kann somit auch als Beitrag zu einer anderen Politik der Auswahl und Identifikation von Erkenntnisobjekten verstanden werden. Post-Partum Dokument ist ein künstlerischer Eingriff in die Politik der Geschlechterordnung mittels einer Analyse. Aber auch ein feministischer Eingriff in die Ordnung der wissenschaftlich anerkannten Erkenntnisobjekte mittels der Kunst. Um diese Eingriffe vollziehen zu können, etabliert Kelly die Kunst als Ort der Forschung. Und sie weist dabei gleichzeitig die ästhetische Qualität wissenschaftlicher Forschung nach: Denn Kelly generiert Bilder. Sie erzeugt Bilder, indem sie anerkannte wissenschaftliche Analysestrategien als künstlerische Methoden adaptiert. Diese Analyseergebnisbilder sind insbesondere aufgrund ihrer sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten forschungsrelevant. Es ist die ästhetische Qualität der Fäkalspuren, die Rückschlüsse auf die Qualität der Verdauung des Kindes zulässt – gleich eines Lackmustests zum Nachweis von Bakterienkulturen.
Wir können an diesem Punkt und mit Blick auf gerahmte Windelbilder, argentinische Schilflandschaften, den inszenierten Küchenfilm oder die provokative Wohnraumausstellung festhalten, dass sich die politische Kunst als relevant für die epistemologische Ästhetik erweist, weil mit der Kunst als Aktivistin auf methodischer und inhaltlicher Ebene ein kritisches Verhältnis zum Wissen für die Kunst als Forschung vorbereitet wird. Künstlerinnen und Künstler, die ihre Arbeit als politisch verstehen, nehmen sich des herrschenden Wissens als Gegenstand ästhetischer Auseinandersetzung an. Sie ergänzen die etablierten Subjekte des Wahrsprechens, indem sie die Kunst als Wissensproduzentin installieren. Als neue Wissensproduzentin erweitert die politische Kunst die epistemischen Methoden des Forschens oder öffnet den Kanon der zu untersuchenden Sachverhalte für neue Erkenntnisgegenstände. Der Eingriff der politischen Kunst in den Kanon des Wissens wird nicht nur die Kunst als neue Forschungsdisziplin vorbereiten, sondern auch die Ordnung des wissenschaftlichen Betriebs transformieren. Auf die Bühne der Forschung tritt also schon mit der politischen Kunst eine neue Akteurin.
Künstlerische Eingriffe in den Theoriebetrieb
Wie fundamental die politische Kunst das Selbstverständnis der Wissenschaft herausfordert, lässt sich an jenen Projekten ablesen, die beginnen, nicht mehr nur darstellende oder handelnde Kunst zu praktizieren, sondern begrifflich zu arbeiten, um eigenständige theoretische Analysen zu betreiben. Das Terrain der Theorie wird zum Betätigungsfeld der politischen Kunst. Künstlerinnen und Künstler wollen nicht mehr darauf warten, aus der Kunstgeschichte heraus reflektiert und eingeordnet zu werden. Sie überlassen die theoretische Analyse nicht mehr den Soziologen, Politiktheoretikerinnen oder Kulturwissenschaften, sondern lesen, denken, feldforschen, schreiben, erklären und diagnostizieren selber. Die Kunst greift in die Theorieproduktion und den Wissensapparat ein und eignet sich deren Ansprüche und Methoden an.
Künstlergruppen wie Art & Language, die sich Ende der 1960er Jahre in England formierten, oder Internetplattformen wie the thing Hamburg, die in zahlreichen Artikeln den Kunstbetrieb und die politische Kultur reflektierten, treten an, alternativ zur Geisteswissenschaft und Kunstkritik über sich selber als Kunst und über das kulturelle Umfeld der Kunst Analysen zu betreiben. Beiden Projekten gemeinsam ist der Wille, die Forschung und das Nachdenken über Kunst und Kultur nicht den etablierten Disziplinen zu überlassen. Beiden Projekten gemeinsam ist auch, sich selber als erweiterte Kunstpraxis zu begreifen und im Zuge einer peer-to-peer Beurteilung gegenseitig auf Augenhöhe zu analysieren. Beide Projekte lassen klassische künstlerische Verfahren hinter sich, um im Medium der Begriffe an der Deutung und Diagnose von Welt zu arbeiten. Beide Projekte integrieren damit die theoretische Reflexion in die künstlerische Praxis und beide Projekte stellen im Zuge dieser Ausweitung der künstlerischen Verfahren die Frage danach, welche Disziplinen mit welchen Mitteln berechtigt sind, welche Erkenntnisgegenstände zu untersuchen. Für eine epistemologische Ästhetik relevant ist hier weniger das begriffliche Instrumentarium, mit dem künstlerische Projekte wie the thing oder Art & Language operieren und damit anerkannte Reflexionsmedien der Geisteswissenschaften adaptieren. Relevant ist vielmehr die forschungsstrategische Maßnahme, mit der die Expertise der Kunst herangezogen wird, um über die Kunst zu reflektieren, sowie die epistemische Provokation, die darin besteht, die Deutungshoheit der Geisteswissenschaften in Sachen Kunst und Kultur anzufechten.
Der Künstlergruppe Art & Language geht es darum, die Bedingungen der Kunst zu befragen und in den Texten ihres Magazins ›Art-Language‹ öffentlich zu diskutieren. Die reflexive und kritische Arbeit der Kunstanalyse soll der Kunst selber nicht ausgelagert sein, sondern Teil des künstlerischen Geschäfts werden. In ihrer bekannten Arbeit ›Index 001‹ von 1972 präsentieren Art & Language auf der Documenta 5 ein sowohl skulpturales wie systematisches Modell der Archivierung und Indizierung ihrer textuellen Arbeit. In vier Archivschränken, die aussehen wie graue Skulpturensockel, befinden sich alle bis dahin in der Zeitschrift ›Art-Language‹ veröffentlichten sowie auch alle unveröffentlichten Texte. An den Wänden sind auf Papier 350 Textzitate gelistet, die nach drei Kriterien gekennzeichnet sind: Dem Kriterium der Kompatibilität, dem Kriterium der Inkompatibilität oder dem Kriterium der relationalen Wertlosigkeit. Die Textausschnitte werden als kompatibel mit anderen Textfragmenten gewertet, als inkompatibel oder als jenseits aller Bezüglichkeit. Mit dieser kriterialen Systematik erzeugt die Gruppe Art & Language ein immanentes Bezugssystem ihrer Texte und Aussagen. Ein Diskursraum wird vorgeschlagen, der die einzelnen Aufsätze kontextualisiert, so wie die Texte selber die Kunst und ihre Praktiken in Beziehung zu setzen beanspruchen.
Etwa 30 Jahre später wird 2006 in Hamburg die Internetplattform the thing Hamburg von der Netzkünstlerin Cornelia Sollfrank initiiert. Nunmehr auf der Basis neuer Medien ist die Grundidee dieses Onlinemagazins »dass KünstlerInnen als Teil ihrer Praxis Kommunikationsstrukturen schaffen, in denen sie untereinander – und mit anderen – ausgehend von künstlerischen Fragestellungen gesellschaftlich relevante Themen diskutieren und in unterschiedlichen Formaten publizieren können.«18 Der »Plattform für Kunst und Kritik«, die bis 2009 existierte, ging es um das Schreiben und öffentliche Nachdenken über Kunst und Kultur, ausgehend von künstlerischen Perspektiven. Neben redaktionell betreuten Beiträgen hielt die Plattform einen Bereich vor, in dem unredigierte Beiträge von Nutzerinnen und Nutzern veröffentlicht werden konnten. Im Zentrum der inhaltlichen Auseinandersetzung der Beiträge auf the thing steht die Thematisierung und Auseinandersetzung mit dem Kunstsystem selber, den Produktionsbedingungen, Vermittlungsstrukturen oder Hierarchien. The thing steht somit einerseits in der Tradition der interventionistischen institutional critique, beansprucht aber andererseits die Modi der reinen Kritik und der bloß destabilisierenden Intervention durch das Etablieren eigener Kommunikationsstrukturen und Informationskanäle zu überwinden. The thing Hamburg schuf zusätzlich zu den Informationen des Mainstreams und der traditionellen Kunstkritik eine weitere Form von Öffentlichkeit. Die Plattform baute ein eignes Theoriefeld auf und bildete einen eignen Distributionsapparat für künstlerische Positionen. Epistemologisch relevant für die Kunst als Forschung ist an dieser Theoriebewegung im Feld der politischen Kunst der reflexive Anspruch, innerhalb der Kunst die eigenen Positionen eigenständig zu verorten, zu beurteilen und auf diese Weise eine reflexive Metaebene in die Kunst zu integrieren. Diese Metaebene ist politisch motiviert, um eine kritische Unabhängigkeit vom hegemonialen Beurteilungssystem zu erreichen. Sie zeitigt aber dabei auch den epistemologischen Effekt des Aufbaus einer innerkünstlerischen Theorieproduktion. Theorie wurde Teil der künstlerischen Positionierung und damit wurde die politische Kunst begrifflich reflexiv.
Politische Kunst und soziale Bewegungen haben mithin gesellschaftliche Autoritäten in Frage gestellt und in diesem Zuge die Wissensproduktion als Spiel der Macht entlarvt. Die Weisen der Erkenntnisgenese in den anerkannten Wissenschaften werden dekonstruiert und Forschungsfragen sowie Methoden in politischen Interessenlagen kontextualisieren. Im Modus der künstlerischen Einmischung in den Herrschaftsbereich der Wissenschaften etabliert sich die politische Kunst an der Schnittstelle zur forschenden Kunst als kritische Erkenntnistheoretikerin. Sie forscht und provoziert in der Sache der Forschung selber, weil sie der Forschung als Einrichtung der Herrschenden misstraut. Denn die Aura der Wahrheit kann nicht destabilisiert werden, ohne sich Expertise im Wahrsprechen anzueignen. Die misstrauische politische Kunst sah sich mithin gezwungen, in die kritische künstlerische Forschungspraxis überzugehen, und begann die Kriterien zu untersuchen, nach denen Wissen generieret wird, um anderes Wissen generierbar zu machen. Andere methodische Ansprüche, andere Formen der Analyse, andere Kontexte der Verifikation, andere Techniken der Überzeugung wurden entwickelt, nicht alleine um das ästhetische Forschen als Alternative zu etablieren, sondern um das Erzeugen von Wissen, Erkenntnis oder Einsicht systematisch zu pluralisieren.
Doch nicht alleine die misstrauische Herausforderung der etablierten Disziplinen und ihrer Diskurshoheit bereitet im Feld der politischen Kunst die künstlerische Forschung als Disziplin vor. Die Kunst als Aktivistin im Feld wirkt darüber hinaus vorbereitend für die Kunst als Forscherin, weil sie – wie wir sehen werden – neue Räume für die Kunst errichtet: Der politische Aktivismus in der Kunst ist ein Katalysator für die Installation anderer Kunstorte. Räume, die sich auf die kritische und provokative Verhandlung von Inhalten richten und nicht alleine die Präsentation von Artefakten oder Behauptung von Annahmen.
Eine Frage des Ortes: Von alternativen Kunsträumen zu Wissensforen
Von der Politisierung der Kunst geht für die künstlerische Forschung eine heterotopische Verheißung aus. Die politische Kunst, die beansprucht hegemoniale und repressive Strukturen in Politik, Wissenschaft, Familie, Militär, Wirtschaft, Wissenschaft oder im Kunstbetrieb anzufechten und Gegendiskurse etabliert, hat es immer wieder für nötig befunden, auch die etablierten Präsentationsorte der Kunst wie Museen oder Galerien in Frage zu stellen. Im Ausbrechen aus den traditionellen Kunstorten hat die Kunst als Aktivistin immer wieder Räume gesucht und angeeignet, die architektonisch wie gesellschaftlich gleichsam ›rohe Wände‹ aufwiesen. Es ging um neue Räume, die in egalitären Strukturen betrieben werden konnten und an thematisch brisanten Orten wie sozialen Brennpunkten oder postindustriellen Stadtvierteln lagen. Diese politisch motivierte Geste der nicht nur diskursiven oder ästhetischen, sondern auch örtlichen wie organisatorischen Distanzierung gegenüber den hochkulturellen Institutionen bildet die Grundlage für ein systematisches Nachdenken über das Verhältnis von Ort und Thema, über Präsentationskontext und Ausdruckswirkung in der Kunst. Denn das Umfeld spricht mit. Es erzählt wohlklingend von autonomen Objekten zum Zwecke der kontemplativen Erfahrung oder es poltert rau über die Eingelassenheit der Kunst in gesellschaftliche Kämpfe, ökonomische Rahmenbedingungen und historische Kontexte. Der Ort, wo eine künstlerische Arbeit der Öffentlichkeit als Ware, Werk oder Provokation dargeboten wird, erweist sich als relevant für deren symbolische Implikationen und gesellschaftlichen Effekte. Kunsträume werden als Topoi kenntlich – als Positionen im geografisch-diskursiven Raum. So macht die politische Kunst im 20. Jahrhundert eine ästhetische und zugleich epistemologische Erfahrung über den Erkenntniszusammenhang von Umgebung, Form und Inhalt.
Auch die Kunst, die sich im 21. Jahrhundert als Wissensproduzentin versteht, wird also hinterfragen müssen, ob auratisierende Ausstellungshallen oder kommerzielle Galerien dem Anspruch der nunmehr forschenden Kunst gerecht werden. Können diese Orte Wissensgehalte zur Disposition stellen oder Einsichten nachvollziehbar machen? Im Fall der ästhetischen Forschung wird der räumliche Kontext den Inhalt ebenso disponieren und die künstlerischen Arbeiten als epistemologisch relevante Erkenntnisangebote in Erscheinung treten lassen, wie im Fall der politischen Kunst. So schallt von den politischen Künsten zu den forschenden Künsten jener Hinweis durch die Kunstgeschichte, dass andere Orte für die Kunst nicht nur vorstellbar sind, sondern auch den Charakter und Aussagenwert der künstlerischen Darstellung prägen.
In der Geschichte der politischen Kunst wurden vor allem Orte des Alltags als Präsentationsräume ausprobiert. Es wurde die Nähe zur gesellschaftlichen Öffentlichkeit gesucht und die statische Konstellation von Werk, Autor oder Autorin und Publikum aufgebrochen. Ortsspezifische Darstellungsformen wurden entwickelt, der städtische Raum wurde als Kunstraum angeeignet, leerstehende Ladenlokale oder Vitrinen in Fußgängerpassagen zwischengenutzt und Produktionsstätten als alternative Galerien verstanden. Die klassischen Räume der Kunst wurden in ihren hierarchischen, exklusiven oder marktorientierten Strukturen demaskiert. Museen und Galerien schienen weit weg zu sein von den politisch relevanten Handlungsfeldern und sie drohten Konflikte zu beruhigen, statt gesellschaftliche Kräftefelder sichtbar zu machen. Museen und Galerien – auratisierend die einen und kommerziell die anderen – erwiesen sich als unbrauchbar oder kontraproduktiv für eine Kunst, die beansprucht die Welt nicht nur darzustellen, sondern verändern zu wollen. Was die politische Kunst ausdrücken will, lässt sich nicht im Museum zeigen, wo mit weißen Wänden Kontexte neutralisiert werden. Es lässt sich nicht in Galerien präsentieren, wo die Kunst als kommerzielle Ware in Erscheinung tritt. Für New York resümiert Julie Ault über den Beginn dieser Bewegung des Eröffnens von alternativen Räumen aus dem Geist der Kunst als Aktivistin: »Während der 1970er und 1980er Jahre etablierten sich viele alternative, von Künstlern und Künstlerinnen initiierte Räume und Gruppenstrukturen als konstruktive Antwort auf die ausdrücklichen und eingebetteten Grenzen der kommerzorientierten Welt.«19 Hintergrund dieser Bewegung der räumlichen und strukturellen Selbstorganisation war in den USA die Politisierung der Kunstszene in einem umfassenden Klima des zivilgesellschaftlichen Widerstands gegen den Vietnamkrieg und des Eintretens für Menschrechte seit den späten 1960er Jahren. Rassistische Ausgrenzung wurde bekämpft, patriarchale Strukturen thematisiert, soziale und ökonomische Ungleichheiten angefochten. »Wenige Jahre vor dem Erscheinen der ersten alternativen Räume schloss sich die künstlerische Avantgarde New Yorks dieser Bewegung des politischen Widerspruchs an«, schreibt die französische Kulturwissenschaftlerin Cristelle Terroni. »Viele Künstlerinnen und Künstler begannen durch künstlerische Bewegungen wie Pop Art, Minimalismus und Happenings […] die dominanten ästhetischen Prinzipien zu hinterfragen, die seit den 1950er Jahren etabliert waren und die New Yorker Kunstszene strukturierten.«20 Für Terroni bedeutet dies, dass mit dem Auftauchen dieser neuen Kunstformen die modernistische Idee des autonomen und selbstständigen Kunstwerks als einem Objekt, das als unabhängig von den räumlichen und politischen Realitäten seiner Umgebung verstanden wurde, nicht länger denkbar war. In Antwort auf die kritische Hinterfragung von kontextloser Kunst und vor dem Hintergrund des zivilgesellschaftlichen Widerstands gegen Krieg und Unrecht entstand vor allem im New York der 1970er und 1980er Jahre ein Netz aus kollektiven, selbstorganisierten Räumen, temporären ortsspezifischen Institutionen, Publikationen, Ausstellungen, Kongressen sowie Aktionen – allesamt auf die Sichtbarmachung von Kontexten und politischen Realitäten ausgerichtet sowie mit dem Anspruch versehen, Inhalte zu verhandeln, statt Form zu repräsentieren. Als alternative spaces wurden die neuen Kunstorte zum Topos. Terroni macht sich klar, worin das Alternative dieser alternative spaces tatsächlich bestand: Die neuen Kunstorte entstanden in ehemaligen innerstädtischen Gewerbegebieten oder multiethnischen Vierteln, wo die Mieten günstig und die wirtschaftlichen wie ethnischen Realitäten präsent waren. Alte Lagerhallen oder leerstehende Läden wurden umgenutzt, dabei die Geschichte dieser Orte nicht durch Umbauten verschleiert oder mit weißer Farbe übertüncht. Die Räume blieben roh und unverändert, was die Künstlerinnen und Künstler veranlasste den Ort der Präsentation ihrer Arbeiten materiell zur Kenntnis zu nehmen und mit dem Vorfindlichen ästhetisch zu operieren. Ortsspezifische Arbeiten entstanden als kontextuelles Genre. Künstlerische Darstellungsformen wie Performances oder Videokunst, die in den 1970er Jahren noch wenig etabliert waren, wurden systematisch zum Einsatz oder zur Darstellung gebracht. Mit den Performances und den Happenings als Kunstformen begann das Publikum eine konstitutive Rolle für die Kunst zu spielen. Der ephemere Charakter dieser Ereigniskunst konterkariert die Behauptung einer stabilen Autonomie des Werks. Mit der Videokunst hält ein demokratisches und massenmediales Ausdrucksmaterial Einzug in dem Kunstbetrieb und untergräbt die Erwartung an stoffliche Wertigkeit künstlerischer Erzeugnisse. Gruppenausstellungen wurden nicht mehr nur kuratiert, sondern auch auf einer first-come-first-serve Basis organisiert. Das Publikum fand sich in Teilhabeprozessen wieder und wurde nicht auf kontemplative Distanz gehalten. Auch die Benennungen änderten sich. Man verstand die selbstorganisierten Präsentationen in den alternativen Räumen zunehmend als Arbeitszusammenhänge (workshops) und weniger als Ausstellungen.21 Auf der Ebene der Organisation sowie durch die Wahl der Darstellungsmedien und mittels der Positionierung der Arbeiten in Raum und gegenüber den Betrachtern – in allen diesen Facetten der Praxis und der Präsentation alterniert die Kunst in den alternativen Orte im Verhältnis zur Funktionsweise der traditionellen Orte und den Erscheinungsformen der klassischen Werke. Der Anspruch, die Welt in ihren sozialen Strukturen ändern zu wollen, begann durch das Aufkommen der alternativen Räume mit der veränderten Form, Organisation und Darstellungsweise der Kunst zu korrespondieren. Die Kunst, die eine Transformation des Realen vorantreiben wollte, änderte aber vor allem sich selber mittels ihrer neuen Präsentationsorte und ihrer neuen Darstellungsformen und begann sich von materiell Seiendem zu lösen. Sie wurde zu relativ Seiendem. Philosophisch relevant ist hier die ontologische Verschiebung, die dabei dem Kunstding widerfährt. Es wird ein Vehikel – ein Medium des Austausches – und verliert seinen stabilen Charakter. Kunstdinge, die in alternativen Räumen vorkommen, sind anwesend im Rahmen ihrer räumlich-diskursiven Bezogenheit und wirkend hinsichtlich ihrer symbolischen Angebote. Wir beobachten mit dem Aufkommen der alternativen Kunsträume eine Verwandlung der Kunst von sinnlichen Sachen zu politisch oder epistemologisch wirkenden Prozessen. Aus autonomen Kunstobjekten werden durch ihren Einsatz in alternativen Kunstorten ephemere Angebote der Auseinandersetzung mit Inhalten. Diese flüchtigen künstlerischen Artikulationen in alternativen Kunsträumen sind als Sachverhalt in dem Maße nur da, wie sie im spezifischen Raum und im sozio-historischen Kontext anwesend sind. Die neuen Orte knüpfen ein ontologisches Band zwischen den in ihnen befindlichen Kunstdingen und den sozialen, historischen oder politischen Implikationen ihrer selbst als alternativer Präsentationsräume. Sie etablieren einen Wahrnehmungsraum, innerhalb dessen auch die künstlerischen Artikulationen untereinander in bedeutsamer Beziehung zu stehen beginnen.
Alles in alternativen Räumen wird bedeutsam und konstituiert die symbolische wie ästhetische Dimension von künstlerischen Artikulationen: Die Farbe der Wand, die auf die Geschichte des Ortes verweist, im Verhältnis zur Farbigkeit des Kunstwerks, das sich davon abhebt oder darin einschmiegt. Die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung, die in der Nachbarschaft wohnt und als potentielles Publikum in Betracht gezogen werden muss. Die künstlerischen Positionen, die bisher gezeigt wurden und Erwartungshaltungen an das Dargestellte präfigurieren. Der Zeitpunkt der Präsentation, der den Wahrnehmungshorizont rahmt. Die ganze Fülle der bedeutsamen Bezüge tendiert ins Unendliche. Diese Bedeutungsfülle wird sichtbar durch die Verschiebung der Kunst in die alternativen Räume, die sich als bedeutsam thematisieren. Und diese sich selber thematisierenden Räume lassen die Kunst als wesentlich Bezogene in Erscheinung treten. Die alternativen Räume kehren den relationalen Charakter ihrer Kunst heraus. Aber sie erscheinen auch selber als mehrdimensional. Sie generieren sich als plurale Verhandlungsorte, weil der ephemere und relationale Charakter von künstlerischen Artikulationen als vorübergehendes Angebot an den Verständnishorizont des Publikums verstanden werden muss.
Ausstellungen werden als mehrdimensionale Versammlungen von künstlerischen und diskursiven Artikulationen organisiert, wo Themen dargestellt und zugleich reflektiert werden, ohne dass die künstlerischen Medien des Ausdrucks alleine im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Es werden in diesen Räumen Dinge angesammelt und arrangiert, aber es wird auch diskutiert und gestritten, behauptet und vorgetragen. Ausstellungen in alternativen Räumen werden zu Symposien der Dinge und der Worte. Künstlerinnen und Künstler entwickelten ästhetische Arbeiten und sie artikulierten sich in Texten. Objekte und Begriffe treten miteinander in Austausch. Unter dem Titel ›Copyshop. Kunstpraxis & politische Öffentlichkeit‹ fand in Köln Anfang der 1990er Jahre in einer ehemaligen Bierkneipe eine paradigmatische Ausstellung statt, die einer anhaltenden Diskussionsrunde mehr ähnelte, als einer Kunstpräsentation.22 Der kritische Austausch darüber, was Öffentlichkeit sei und welche Rolle die Kunst darin spielen könne, erwies sich als konstitutiv für diese – noch Ausstellung genannte, aber Symposium seiende – Veranstaltung, die von Renate Lorenz und Jochen Becker als BüroBert organisiert worden war. Die alternativen Kunsträume, die inzwischen auch in Deutschland an verschiedenen Orten eröffnet wurden, begannen zu Wissensforen zu werden. Copyshop stellte sich organisatorisch in den Kontext seiner historischen Vorbilder aus den Vereinigten Staaten. Es positionierte sich aber darüber hinaus als ein Raum, in dem historische Erfahrungen, intellektuelle Reflexionsangebote und künstlerische Maßnahmen zur Darstellung gebracht und vernetzt wurden. Der Ort kooperierte mit lokalen Projekträumen, lud politische Künstlerkollektive wir ›Paper Tiger TV‹ aus New York ein und bot sich als Versammlungsstätte für zahlreiche Künstlerkollektive an. Copyshop erwies sich dabei als »alternativ« nicht nur hinsichtlich des herben Charmes, den eine ehemalige Kneipe als Kunst-und-Diskussionsort ausstrahlen konnte oder aufgrund seiner selbstorganisierten Struktur oder wegen des politischen Selbstverständnisses seiner Initiatoren. Copyshop war eine Alternative zu klassischen Präsentationsorten auch hinsichtlich seiner diskursiven Durchflechtung. Kunst wurde hier nicht nur in soziokultureller, räumlicher oder historischer Hinsicht kontextualisiert, sondern auch in diskursiver Hinsicht. Die künstlerische Artikulation fand im Kontext einer intensiven verbalen Artikulation statt und verknüpfte ästhetisches und begriffliches Denken. Die Sphäre des Künstlerischen war mittels solcher »Ausstellungen« zu einem Raum für reflexive, einsichtige, kritische Erkenntnispraxen geworden und der Kunstraum zu einer Tagungsstätte für Inhalte.
Und so erweist sich der genealogische Bezug zur politischen Kunst des 20. Jahrhundert als wegweisend, weil mit ihm auch spezifische Anforderungen an Präsentationsorte für die künstlerische Forschung im 21. Jahrhundert konturiert werden können. Die Kunst als Aktivistin weist der Kunst als Forscherin den Weg zu einem reflexiven Verständnis von Präsentationsräumen als wirkungsvollen und bedeutsamen Topoi. Der physische Ort und seine geopolitischen Implikationen, die Organisation seiner Struktur, das adressierte Publikum ebenso wie dessen Rolle, die Architektur des Raumes, dessen Geschichte und Materialität – alle diese topischen Faktoren situieren künstlerische Artikulationen in Wahrnehmungshorizonten und symbolischen Ordnungen. Die politische Kunst hat im Zuge ihrer heterotopischen Suche nach anderen Räumen Institutionen hinsichtlich ihrer Ausschlussmechanismen und Repressionsstrukturen in Frage gestellt und autonome Strukturen der Selbstorganisation ins Leben gerufen, um eine institutionelle Selbstbehauptung durchzusetzen und Platz zu schaffen, für reflexive Praktiken in Korrelation zu ästhetischen Prozessen. Produzentengalerien und Künstlerhäuser entstanden, die sich weniger als Orte der Präsentation und mehr als Räume des Experimentierens und Debattierens verstanden. Die Kunst wurde als performativ-symbolischer Eingriff in gesellschaftliche, soziale, ökonomische oder wissenschaftliche Territorien verstanden. Die Erweiterung des materiellen Kunstverständnisses in Richtung diskursiver Prozesse führte dazu, dass Symposien veranstaltet wurden, Publikationen veröffentlicht, Denkräume eingerichtet und Archive arrangiert. Die raumzeitlichen und soziopolitischen Umstände, in denen sich künstlerische Positionen verorteten, wurden für wichtiger erachtet, als die bloße Darstellung einzelner Behauptungen. Straßenläden mit Schaufenstern zum Stadtraum schienen passender für die politische Kunst als museale Oberlichträume. Die ästhetischen Reflexionsprozesse und kritischen Artikulationsverfahren beanspruchten auf diese Weise die Orte durchzusetzen, in denen sie als Werkpositionen und Einsichtsangebote angemessen in Erscheinung treten können. Für die Kunst als Aktivistin im Kampf gegen hegemoniale Gesellschaftsstrukturen und hierarchische Ausschlussmechanismen war es notwendig in der Frage des Raumes auch die Strukturen der traditionellen Kunstinstitutionen kritisch zu analysieren. Alternativen wurden etabliert. Von diesen alternativen Räumen geht eine generelle Aufforderung zur topischen Bewusstwerdung aus. Die politischen Kunstorte animieren die forschende Kunst, Räume als konstitutiv für das ästhetische Denken zu sehen und zu entwickeln. Die politische Kunst erweist sich nicht nur als genealogisch relevant für die forschende Kunst, weil sie die fundamentale Frage nach dem Raum als konstitutivem Moment für den Gehalt und die Vermittlung der Kunst stellt, sondern auch, weil sie selber zum epistemischen Raum hin tendiert. Das Politische und das Epistemische überkreuzen sich auf der Ebene der aktivistischen Präsentationsorte, weil dem politischen Kunsthandeln ein erkenntniskritisches Verhandeln über vorherrschende Wissensgehalte naheliegt. An alternativen Kunsträumen lassen sich die Formate entdecken, die zur Gestaltung ästhetischer Wissensforen taugen. Kleine Akademien der investigativen Reflexion und der kooperativen Untersuchung entstehen schon dort, wo künstlerische Aktivisten und Aktivistinnen temporäre Räume der Auseinandersetzung situieren.
Aus dem Klima der Kritik an etablierten Strukturen heraus hat die politische Kunst also entdeckt, dass sie nicht bloß am Wissen, an sich selber und ihren Formen forscht, sondern auch für ihre Praktiken, Einsichten und Artikulationsformen eigenständige Orte benötigt. Räume, die nicht repräsentativ, sondern reflexiv arrangiert sind. Foren, an denen Themen mit den Mitteln der ästhetischen Darstellung, der begrifflichen Artikulation und räumlichen Kontextualisierung bearbeitet, beleuchtet oder zur Diskussion gestellt werden können. Für die künstlerische Forschung wird es gleichermaßen darum gehen, entsprechende Foren der Verhandlung von Einsichten zu etablieren. Denn es kommt darauf an, die Welt nicht nur ästhetisch zu untersuchen, sondern auch Räume der ästhetischen Reflexion zu etablieren.
1Zitiert nach Felshin (Hg.): But is it Art? 1995, S. 85. Übersetzung von A.H. Im Original lautet der Satz: »Our project is clear. We invite everyone to question the entire culture we have taken for granted.«
2Vgl. Felshin (Hg.): But is it Art? 1995.
3Rollig: Zwischen Agitation und Animation, in: Rollig, Sturm (Hg.): Dürfen die Das? 2002, S. 134.
4Felshin: Introduction, in: Felshin (Hg.): But is ist Art? 1995, S. 10 Übersetzung von A.H. Im Original lautet der Satz: »Activist art, in both its forms and methods, is process- rather than object- or product-oriented, and it usually takes place in public sites rather than within the context of art-world venues.«
5Vgl. Lacy: Debated territory, in: Lacy (Hg.): Mapping the Terrain, 1995, S. 174.
6Lacy: Debated territory, in: Lacy (Hg.): Mapping the Terrain, 1995, S. 176. Übersetzung von A.H. Im Original lautet das Zitat: »From reporting or presenting information, to analysis is a short step, but the implied shift in an artist’s role is enormous. In the first two modes of working ‒ experiencer and reporter ‒ we can see an emphasis on the intuitive, receptive, experiential, and observational skills of the artist. As artists begin to analyze social situations through their art, they assume for themselves skills more commonly associated with social scientists, investigative journalists, and philosophers.« S. 176.
7Ebd. Übersetzung von A.H. Im Original lautet das Zitat: »Martha Rosler explored New York City as an artist-analyst, but her work could be said to cross over into activism. If you Lived Here … The City in Art, Theory and Social Actions, an assemblage of exhibitions, symposiums, photographs, and writings sponsored by the Dia Art Foundation in New York, amassed the work of artists and activists dealing with the current crisies in American urban housing policies. The work considered how artists have found themselves squarely in the midst of real estate speculations a shortsighted housing policies. An analysis of housing and homelessness was punctuated by proposed and actual interventions that served as models for activism.«
8Ebd.
9Rosler: If You Lived Here, in: Copyshop, 1993, S. 73.
10Lorenz: Kunstpraxis und politische Öffentlichkeit, in: Copyshop, 1993, S. 9. ACT UP (AIDS Coalition to Unleash Power) wurde in den späten 1980er Jahren in den USA gegründet, um gegen die homophobe Aidspolitik der USA zu opponieren.
11Lorenz: Kunstpraxis und politische Öffentlichkeit, in: Copyshop, 1993, S. 8.
12Vgl. zu Ala Plástica auch Downing (Hg.): Encyclopedia of Social Movement Media, 2011, S. 278f oder http://urban-matters.org/organisations/ala-plastica und http://de.scribd.com/doc/53950384/Ala-Plastica-Brief (Aufruf September 2018).
13Übersetzung von A.H. ausgehend von der Vermutung, dass es sich bei dem Originaleintrag »SMA« auf dem Bild um einen Verweis auf die SMA-Babymilchpulver-Produktreihe der Nestle-Gruppe handelt und beim Eintrag »Ribena« um ein Saftprodukt gleichen Namens. Vgl. zu diesem Bild die Ansicht auf: www.postmastersart.com/artists/mary_kelly/PPDDocI.html# (Aufruf September 2018).
14Kelly, Post Partum Document, 1998, S. 9.
15Kelly, Post Partum Dokument, 1998, Vorwort XIX.
16Kelly, Post Partum Dokument, 1998, S. 41.
17Ebd.
18www.thing-hamburg.de (Aufruf September 2018)
19Ault: For the record, in: Ault (Hg.): Alternative Art, 1965-1985 (Cultural Politics Series), University of Minnesota Press, 2003, S. 3. Das Zitat wurde übersetzt von A.H. Im Original heißt es: »During the 1970s and early 1980s, many artist-initiated alternative spaces and group structures were established as constructive responses to the explicit and implied limitations of this commerce-oriented world. Critical efforts to theorize representation as a contested arena and to create venues for self-representation and distribution were generated by and accommodated in these sites.«
20Terroni: Rise and Fall of Alternatives Spaces, 2011, www.booksandideas.net/The-Rise-and-Fall-of-Alternative.html (Aufruf September 2018). Das Zitat ist übersetzt von A.H. und lautet im Original: »A few years before the apparition of the first alternative spaces, New York’s artistic avant-garde joined this movement of political dissent through the criticism of the formalist principles of late modernism. Through the various artistic movements developed during the 1960s, Pop Art, Minimalism, and Happening among others, many artists started to question the dominant aesthetic principles established since the 1950s and structuring New York’s art world. With the emergence of new art forms, the modernist idea of an autonomous and self-sufficient work of art, an object which was understood as being disconnected from the spatial and political realities of its surroundings, was no longer possible.«
21Vgl. zu den genannten Aspekten alternativer Praktiken in alternativen Kunsträumen Terroni: Rise and Fall of Alternatives Spaces, 2011, www.booksandideas.net/The-Rise-and-Fall-of-Alternative.html (Aufruf September 2018).
22Vgl. Copyshop, Berlin, 1993.