Annäherung an eine ästhetische Syntaktik
Wie werden Sinngebilde?
Wo stehen wir also bei unserer Suche nach einer Ikontik – einer Kunst (techné) des Bildlichen (ikon)? Können wir eine ästhetische Syntaktik – eine Kunst der Bildung ästhetischer Sinngebilde – und eine ikonische Semantik – eine Theorie von der Bedeutung ikonischer Zeichen – formulieren? Für den Bereich der Semantik (oder Symptomatik) sind wir von Hasenfährten ausgegangen, haben über Dinge der Wahrsagekunst nachgedacht, sind bis zur choreografierten Kunst der performativen Gesten gekommen und haben das Exemplifizierende in ästhetischen Symbolen bemerkt: wenn etwa der Schwung des Taubenflugs als Musterbild für das Ganze des wechselvollen Lebensvollzugs steht. Aber wir haben auch eine Ebene der Abstraktion in den ästhetischen Zeichen registriert, wenn die rote Farbe von Tüchern die Revolution im Vorstellungsraum der Betrachtenden aufruft. Wir haben uns klar gemacht, dass die Expertise des Lesens von ästhetischen Zeichen einem Mustern gleicht – einem Mustern, das die fließenden Nuancen ästhetischer Bedeutungen zu bemerken in der Lage ist, weil es einem Spürsinn entspringt, der durch Übung und Erfahrung kenntnisreich und scharfsinnig geworden ist. Wir haben im Bereich der ästhetischen Semantik also eine ›Lesekompetenz‹ aufgetan, die nicht Bedeutungen auswendig lernt und Regelkenntnisse anwendet, sondern kulturelle Erfahrungswerte sammelt und Übergänge wahrnimmt. Und entsprechend ist uns mit der Nierenform in Renaissancefresken die Konventionalität ästhetischen Bedeutens vor Augen geführt worden. Wir haben es im Bereich der ästhetischen Sinngebilde mit ikonischen Spielen zu tun. Sie werden von Expertengruppen ›gespielt‹.
Bei den Klärungsversuchen zur ikonischen Semantik haben vor allem die einzelnen Zeichen als Elemente (oder Marken) eines Symbolsystems und ihre Fülle eine Rolle gespielt. Aber nicht nur sie. Auch die Dichte der Beziehungen zwischen den ikonischen Zeichen hat sich als bedeutsames Gebilde abgezeichnet. Denn aus der unterschiedlichen Lage ästhetischer Dinge zueinander werden Sinngebilde im Zusammenhang ersichtlich. Diese Lagestrukturen – oder diese komponierten Auslegeordnungen – ästhetischer Gebilde können als syntaktische Gefüge verstanden werden. Im Dazwischen der ikonischen Semantik zeichnen sich Elemente einer pikturalen Grammatik ab – eine Kunst des syntaktischen Arrangements ästhetischer Zeichenbezüge. Die Theoretiker Gunther Kress und Theo van Leeuwen gehen davon aus, dass es eine »Grammatik des visuellen Designs« gäbe, die analog zur verbalen bestimmbar sei. Denn ebenso, wie die Grammatik der Sprache beschreibe, wie sich Worte zu Clustern, Sentenzen oder Texten kombinieren, so könne in einer visuellen Grammatik beschrieben werden, wie sich Dinge, Leute oder Orte zu visuellen Behauptungen kombinieren.1 Wir erinnern uns an die Philosophin Sybille Krämer und ihre Einsicht in den relationalen Grundzug des Lesens als einer Beziehungen erzeugenden Tätigkeit. Krämer notierte, dass wir beim Lesen nicht die Einzelgestalten sehen, sondern Relationen. Eine Relation zu erkennen, bestünde aber darin, die einzelnen Elemente zugunsten ihrer Konfiguration vernachlässigen zu können.
Was aber ist das Konfigurierte einer ästhetischen Syntaktik? Wie entstehen syntaktische Kombinationen zwischen den ästhetischen Dingen und wie ›spricht‹ es aus diesen Relationen? Der libanesische Künstler Rabih Mroué präsentiert auf der Documenta 13 eine Installation in zwei abgedunkelten Räumen des zum Kunstraum umgebauten Kasseler Hauptbahnhofs. Mittels welcher Konfiguration ihrer Einzelelemente ›redet‹ diese Installation mit uns? Wir sehen im Halbdunkel der Räume verschiedene Präsentationsobjekte, zwischen denen wir uns bewegen: Von Scheinwerfern beleuchtete, große Ausdrucke in einer Reihe an der Wand. Eine mannshohe, schemenhafte Projektion an der gegenüberliegenden Hallenfläche. Dazwischen im Raum kleine Objekte auf hüfthohen Podesten von Lampen beleuchtet. Schließlich eine weitere wandfüllende Projektion im Nebenraum mit Sitzbänken davor. Hier macht uns Mroué das Verständnis seiner Installation als einer sinnstiftenden Anordnung einfach. Er liefert zum visuellen Display der Installation die begriffliche Interpretation im Videovortrag und erklärt den Betrachtenden die Zusammenhänge theoretisch, welche auch ikonisch im Arrangement und in der Auswahl der Bilder und Objekte seiner Installation liegen. Es geht thematisch in Mroués installativer Artikulation um das Schießen und das Erschossen-werden – mit Gewehren und mit Handykameras. Vor allem aber geht es mit ›The Pixelated Revolution‹ um die Untersuchung der spezifischen Ästhetik von mobilen Kamerabildern und deren fataler wie produktiver Folgen. Wir folgen Mroué zunächst durch die inhaltliche Erklärung der Arbeit, um die Installation schließlich als syntaktische Anordnung nachvollziehen zu können. Mroué hat Kurzfilme aus dem Internet gesammelt. Es sind Filme, gedreht mit der Kamerafunktion mobiler Telefone. Telefone, die jeder zur Hand hat und die fast so spontan wie das Auge die Geschehnisse bezeugen können. Anders als beim Auge ist der Bildspeicher der Telefone aber extern abrufbar, auch wenn der Augenzeuge der Ereignisse – der Kamerazeuge – abwesend ist. Mroué hat nicht irgendwelche Kurzfilme aus dem Internet heruntergeladen und künstlerisch analysiert, sondern Aufnahmen aus dem Krieg in Syrien. Wackelige Filmchen, die Straßenkämpfe und Heckenschützen im Bürgerkrieg zeigen, hochgeladen und weltweit abrufbar, auch wenn die Mobiltelefon-Kameraleute hinter der Linse vielleicht beim Filmen erschossen wurden. Mroué ist besonders fasziniert von jenen, offenbar gar nicht so seltenen Filmsequenzen, in denen die Mobiltelefonkameralinse auf ein Gegenüber zielt, das seinerseits zielt – mit dem Gewehr. Diese Videos sind mäandernde Bildersequenzen, die in der Gegend herumfilmen, Straßen und Häuserecken zur Kenntnis nehmen und unvermittelt im Sucher ein menschliches Gegenüber entdecken. Dieses undeutliche Gegenüber lugt als Heckenschütze um eine Mauer herum, späht seinerseits in die Gegend und erblickt das filmende Gegenüber und dessen Mobiltelefonlinse. Man erkennt in den unscharfen Mobiltelefon-Videos wie nun der Heckenschütze das Gewehr hebt, durch einen Sucher das Gegenüber, den Filmenden, fokussiert, mit der Waffe zielt und anscheinend abdrückt. Als wäre der Filmmacher hinter der Mobiltelefonlinse unsichtbar, reagiert er nicht auf das fokussiert und offensichtliche Erkanntwerden durch den Heckenschützen. Der Filmende hinter dem Mobiltelefon wird zur Zielscheibe ohne sich zu rühren. Die Handykameralinse starrt auf den Gewehrlauf und das schemenhafte Gesicht dahinter, wie das Kaninchen auf den Fuchs, bis dieser zubeißt, abdrückt und die Optik für den nachträglichen Betrachter dann wackelt oder kippt. Diese fatale Blickstarre gilt es zu erklären. Warum hält der Filmende am Filmen fest und riskiert erschossen zu werden? Der Künstler und Dramaturg Mroué hat diese zugleich visuelle und letale Realität untersucht, indem er die Mobiltelefon-Videos analysiert – ikonisch ebenso wie begrifflich. Ikonisch rekapituliert er immer wieder neu dieselben Sequenzen gegenseitigen Fokussierens im Film. Durchläuft sie optisch nochmals und nochmals, um durch die Wiederholung dem Geheimnis der Blickstarre der Filmenden auf die Spur zu kommen. Die künstlerische Arbeitshypothese scheint zu sein, dass in den Bildern etwas eingebettet liegt, dass den Realitätsverlust der Filmenden erklärt. Gesehen durch die Optik der Mobiltelefonlinse wird offenbar der Heckenschütze nicht als Anwesender wahrgenommen. Er ist kein Subjekt der gleichen Realitätsebene. Er ist ein Bild. Beide Jäger jagen auf den ersten Blick gleichermaßen ihr Gegenüber mit den unterschiedlichen Mitteln der Waffe und der Kamera. Beide stellen eine Blickrelation zwischen einander her. Ihr Ziel ist es, das Gegenüber aufzeigenden optisch oder aber abschießend physisch festzuhalten. Beiden geht es darum, eine Sinn-Relation herzustellen – die einen positiv (da ist er) oder negativ (da ist er nicht mehr). Doch anders als der Heckenschützen wird der Mobiltelefonfilmer durch den Schuss existenziell getroffen. Die geschossenen Bilder exponieren und zeigen den Täter aber sie töten ihn nicht. Sie eliminieren nicht die Bedingung seines Seins. Der Filmer aber hört nach dem Gewehrschuss, der ihn trifft, auf, einer zu sein. Mroué verlangsamt die Bilder in der Wiederholung und zerlegt sie dabei. Übrig bleiben Einzelbildsequenzen, die – wie unter Mikroskopen – vergrößert werden und wie in Nährlösungen vervielfältigt. Die Installation stellt diese Einzelbilder als riesige Ausdrucke von ehemals winzigen Digitalbildern unter Scheinwerferlicht aus. Mittels Stilllegung, Vergrößerung und fokussierender Beleuchtung kann der Betrachter in aller Ruhe dann verschwommene Formverläufe und Pixelraster nachvollziehen – nicht aber die Identität der Schützen. Die Mobiltelefonkamera ist so allgegenwärtig zur Hand, dass sie zur körperlichen Erweiterung des Sehens wird. Ein drittes Auge einerseits. Andererseits haftet den Bildern der Mobiltelefonkamera eine digitale Pixelästhetik an, die wir aus dem Internet kennen. Internetfilme sind keine geöffneten Türen zur Realität, sondern technische Reproduktionen von Abwesendem. Wir sehen Realität mittels der digitalen Bildästhetik, die sich als formale Wirklichkeit des Bildes, wie die Kratzer auf einer Glasscheibe, vor die abgebildete Wirklichkeit stellt. Wir können Scheibenkratzer im Sehen durch Glas ausblenden. Wir nehmen die Pixelstruktur der Bilder beim Betrachten von Internetvideos nicht explizit wahr. Doch durch das Mitsehen dieser formalen, ästhetischen Bildelemente und das Erfahrungswissen über deren Bedeutung nehmen wir das Medium als solches und das Vermittelte seiner Bildinhalte wahr. Wir laufen nicht gegen Glasscheiben und greifen noch weniger nach den Dingen im Bildschirm. Wir haben gelernt, dass eine Pfeife nicht gleich eine Pfeife ist. Unser medialer ›Alphabetismus‹ ermöglicht es uns zu erkennen, dass ein Handybild vermittels seiner Unschärfe und verpixelten Oberflächenstruktur auf Abwesendes verweist. Und so nimmt der Filmer vermittels der verpixelten Bildästhetik den Heckenschützen im Handydisplay offenbar nicht als vor-ihm-seiend wahr, sondern erkennt im unscharfen Bild den Verweis auf ein Reproduziertes, so wie auch wir in der Installation anhand der Ausdrucke überdeutlich an der Wand die pixelige Bildästhetik sehen. Fataler Fehler zweier sich überkreuzender Realitäten: Die Handykamera als reale Körpererweiterung und deren Bild als Simulakrum.
Mroués Installation beinhaltet nun in Form von kleinen Objekten auf hüfthohen Podesten auch Daumenkinos bestehend aus Einzelbildern der Handyfilme. Die Einzelbilder in Heftform werden durch die handgreifliche Tätigkeit der Betrachtenden zu Leben erweckt. Im Daumenkino wird die Aktivität des Filmers rekonstruiert und in ihrer Produktivität ersichtlich. Das Sehen von Filmen ist eine Aktivität des Sehenden, so die mögliche Bedeutung dieses interaktiven Bilderkatalogs – einerseits. Andererseits stoppt kein Daumen das Kino vor der Kameralinse, während sie aufnimmt. ›Stop recording‹ unterbindet die Technik der Aufnahme, nicht die Produktivität des Realen. Eine Videomontage an der Wand gegenüber den ausgedruckten und vergrößerten Handyfilmstandbildern in der Installation von Mroué, rekapituliert die cinematografische Szene des Erschossen-Werdens. Als Betrachtende kennen wir diese Szene aus unzähligen Kinofilmen. Eine schemenhafte Figur mit Revolver in der Hand steht vor uns, wie bei einem Westernduell. Die Figur kippt dann ›getroffen‹ in sich zusammen und fällt zu Boden. Diese Szene wiederholt sich in der Wiederholungsschleife der Videomontage unendlich, so wie Mroué die Filme der Handyschützen unendlich angeschaut zu haben scheint.
Die Auslegeordnung der Bilddokumente in der Installation rekapituliert die Recherchearbeit des Künstlers und bezieht diese im Raum der Installation aufeinander. Die Auslegeordnung zeigt die Ergebnisse seiner Untersuchung und deren Zusammenhänge als Darstellung und macht sie damit für die Betrachtenden als Analyse nachvollziehbar und als Darstellung sinnhaft. Eine »analytische Relation«2 nennen Kress und van Leeuwen in ihrer »visuellen Grammatik« diese Struktur der bezugnehmenden Einzelelemente bei dreidimensionalen ästhetischen Phänomenen. Die analytische Relation generiert sich als Zusammenfügung von verschiedenen Elementen. Als zusammengefügtes Ganzes ergeben die Relationen ein kombiniertes Sinngebilde. Die Zusammensetzung entspringt einem »flexiblen Set an Quellen«, das die »Zeichen-Macher« zu gebrauchen wissen, so Kress und van Leeuwen.3 Mroué greift auf ein Set an Abständen und Nähen, Lichtbezügen oder relativen Größenordnungen zurück und wendet es lokal an. Durch die topische, die dimensionierte sowie die belichtete Anordnung der Elemente im Rahmen der Installation wird eine Beziehung zwischen ihnen hergestellt, die als Darstellung dann eine Aussage zu formulieren scheint. Der Handyfilm, der als Daumenkino in seine Einzelteile zerlegt ist, wird in Korrespondenz zur Bildästhetik der Einzelaufnahmen gestellt, die in großformatigen Ausdrucken die Wand besetzen, und beide beziehen sich auf die massenmedialen Sehgewohnheiten, welche durch die Videomontage thematisiert werden. Mroué erzählt uns diese Aussage über die Zusammenhänge von Sehgewohnheiten, Pixelästhetik und Filmproduktion sicherheitshalber noch einmal verbal und begrifflich in seinem Videovortrag. Denn wir sind als Betrachtende häufig noch ungeübt im Mustern und Erkennen von Bildbezügen, die als künstlerische Artikulationen Rechercheergebnisse kommunizieren. Es bedarf – wie beim Lesen wissenschaftlicher Texte – einer gewissen Expertise, um die Elemente der Auslegeordnung in ihrem syntaktischen Beziehungsgeflecht als Sinngebilde zu identifizieren und deren Gehalte als künstlerische Einsichten wahrzunehmen. Die Auslegeordnung ist in ihrer Erscheinung dabei einerseits »dicht« hinsichtlich ihrer Deutungsmöglichkeiten aber andererseits nicht beliebig. Sie weist eine Syntaktik auf, die eine Fülle an Interpretationsmöglichkeiten zulässt aber zugleich vollkommen positioniert in der topografischen Konstellation der angeordneten Elemente ist. Videomontage, Daumenkino, vergrößerte Ausdrucke, Vortragsvideo, abgedunkelte Zwischenräume. Durch Lichtsetzung erscheinen alle Elemente der Installation verhältnismäßig gleichpräsent und damit gleichbedeutsam fokussiert. Durch die Akustik bündelt der Videovortrag von Mroué in der Installation zunächst die primäre Aufmerksamkeit. Wir gehen zuerst dorthin und mustern danach die weiteren Elemente in unserem Weg durch die Installation. Die Videoprojektion von Mroués lecture performance wirkt entsprechend wie eine ›Einleitung‹, der durch ein temporales ›daraufhin‹ die weiteren Installationselemente im Raum folgen, die durch ein additives ›und‹ verbunden sind. Wir sehen auf den vergrößerten Videostandbildern aus den Handybildern, dass wir nichts erkennen – und – wir erfahren mit dem Daumenkino, dass wir aktiv am Sehprozess teilhaben – und – wir erinnern uns angesichts der sich wiederholenden Filmszene in der Videoschleife daran, dass wir das Erschossen-Werden als formale Figuration durch massenmediale Sehgewohnheiten zu bewerten gewohnt sind. Mittels des topischen Nebeneinanders sind diese Teile der Installation in ihren Einzelbedeutungen miteinander zu einer sich ergänzenden Aussage verknüpft, die Zusammenhänge herstellt: Die Sehgewohnheit hängt mit dem Filmen und der Film mit der Bildästhetik und die Bildästhetik wiederum mit den Sehgewohnheiten zusammen. In dieser referentiellen Schleife finden sich die nachvollziehenden Installationsbetrachenden im Raum ebenso wieder wie die Handyfilmenden in ihrem Erfahrungshorizont. Die Konstellation im Raum aber verhilft der ästhetischen Syntaktik der Installation zu den sinnkonstituierenden Relatoren – jenen Verbindungsstücken, die im verbalen Zeichensystem den Zusammenhang zwischen den Symbolen schaffen. Durch Relatoren werden in der verbalen Grammatik Worte zusammengeschnürt. Sie werden dabei auch in Wertverhältnisse gesetzt. Gleichberechtigung erzeugendes ›und‹, Rang ordnendes ›indem‹ oder ›weil‹, temporales ›dann‹. Parallel scheinen in der Installation ein geometrisches Nebeneinander oder Übereinander, ein zeitliches Nacheinander der Elemente im Raum als ästhetische Relatoren zu wirken. Durch topische Lagestrukturen und temporale Folgen entstehen Verknüpfungen, die als ästhetische Syntaktik erfahrbar werden.
Doch entfalten die raum-zeitlichen Verknüpfungen eher eine optionale und komplexe Syntaktik, anstelle einer regelgeleiteten Syntax wie im verbalen System, weil ein bisschen mehr oder weniger Ferne oder Nähe, Höhe oder Tiefe, kurzzeitige oder langfristige Abfolge im installativen Raum ein je anders gewichtiges ›und‹ oder ›dann‹ zu kommunizieren in der Lage ist. Etwa ein dichteres oder abständigeres ›dann‹ in einer Narration, die aus ästhetischen Einzelzeichen besteht und verbunden wird durch die Logik einer besonderen Auslegeordnung.
Die Logik der Auslegeordnung oder eine enzyklopädische Visualität
Künstlerische Artikulationen bestehen aus Elementen, die einen komponierten Zusammenhang ergeben. Aber hilft uns diese Beobachtung bei der Frage weiter, inwiefern die Zusammenhänge ikonischer Elemente eine ästhetische Syntaktik bilden? Bedeuten unterschiedliche Abstände und Abläufe zwischen ästhetischen Elementen je andere Bezüge? Ist Lagebeziehung die Grammatik der Kunst? Und welches Verständnis liefern uns die grammaphilen Analogien, entlang derer wir uns bisher bewegen, um aus dem Vergleich zwischen verbalen und ästhetischen Strukturen eine ästhetische Syntaktik zu destillieren? Was haben die ›und‹s oder ›dann‹s mit ästhetischen Weisen des Bedeutens zu tun, die sich aus Lagebeziehungen entfalten? Wird die ästhetische Auslegeordnung überhaupt durch die Anwendung linguistischer Termini in ihrer Wirkungsweise verständlich und was haben wir durch das Eintragen von Quasi-Konjunktionen und Quasi-Präpositionen in ästhetische Bedeutungssysteme gewonnen? Ästhetische Sinngebilde vermitteln sich durch das Zusammenspiel ihrer sinnlich wahrnehmbaren Elemente als bedeutsame Entitäten – durch die Choreografie einer Performance, wie bei der Gruppe LIGNA, oder die Anordnung von Objekten, Bildern und Videos, im Fall der Rauminstallation von Rhabi Mroué. Jedoch kommen wir dem Charakter der Bezüge in diesem Spiel der Elemente zeichentheoretisch doch nur metaphorisch näher, wenn wir eine topische Relation für eine verbale nehmen – eine flächige Nähe für ein ›und‹ oder einen räumlichen Abstand für ein ›darüberhinaus‹.4 Auf den ersten Blick scheinen die ästhetischen Elemente in Installationen oder Performances tatsächlich ebenso kopulativ wie die verbalen Worte verknüpft zu werden und unterscheiden sich darin auch nicht von Verknüpfungen in einem mathematischen Zeichensystem, wo Zahlen durch das ›+‹ oder ›-‹ verbunden werden. Doch das verbale ›und‹ bildet Wortserien, während das mathematische ›+‹ Ergebnisse akkumuliert. Beide lassen sich als Relatoren beschreiben, beide zeigen ›egalitäre Hinzufügung‹ an, beide generieren Sinn durch die syntaktische Funktion, die sie im jeweiligen Symbolsystem innehaben und beide sind doch nicht durcheinander erklärbar. Die Korrelation zwischen dem verbalen ›und‹ und dem mathematischen ›+‹ bleibt metaphorisch in der Ähnlichkeit einzelner Aspekte, wie dem Anzeigen einer Hinzufügung. Beide Relatoren binden unterschiedliche Marken wie Worte oder Zahlen zu Sinngebilden zusammen und erschaffen durch diese verbindende Operation aussagefähige Strukturen – nur eben jeweils anders ›sagend‹. Wie ein ›und‹ oder ein ›+‹ so enthalten offenbar auch die ästhetischen Symbolsysteme additive Relatoren, mit denen egalitäre Verknüpfungen erstellt werden können. Doch anders als in einem verbalen oder numerischen Symbolsystem, entfaltet sich die Hinzufügungsanzeige in ästhetischen Sinngebilden nicht durch ein eigenes Zeichen, sondern durch das je unterschiedliche Dazwischen der bedeutsamen Elemente. Entsprechend existieren im ästhetischen Symbolsystem auch keine wohldefinierten Bestände an einsatzfähigen syntaktischen Elementen. Es gibt keine Liste aus Verbindungsanzeigen. Es existieren lageabhängige, fließende Übergänge zwischen zusammenhangsbildenden Nähebeziehungen. Diese situativen ästhetischen Relatoren entfalten syntaktische Einheiten, die anders wirken, als die immer gleichen Relatoren im numerischen oder verbalen System: Ein ›und‹ ist ein ›und‹ ist ein ›und‹. Seine Bedeutung und syntaktische Wirkung ist definiert. In ästhetischen Gebilden gibt es dagegen eine unendliche Fülle möglicher analoger – das heißt ineinander übergehender – Lagebeziehungen. So wenig ein Fundus an Buchstaben oder Zahlen existiert, aus dem sich das ästhetische Symbolsystem kombinatorisch entfaltet, sowenig webt es seine Bezüge aus einem definierten Repertoire zusammenhangsbildender Verbindungsstücke. Bilderserien, performative Interventionen, Collagen oder Installationen erschaffen spezifische Beziehungen durch die ihnen eigenen und eigens geschaffenen kombinierten Binnenstrukturen in ihrer Praxis des ›Kunstens‹ und ›Bilderns‹. Die ästhetische Syntaktik erweist sich als ein Effekt ästhetischer Kompositionskunst und nicht als Ergebnis regelnder Signale. Die ästhetische Syntaktik ist daher eine situative und optionale ›Taktik‹ der Sinnproduktion. Sie ist darin eine explizite Praxis. Ästhetische Syntaktik muss taktisch getan werden. Der Möglichkeitsraum dieser optionalen und praxischen Syntaktik scheint reichhaltig und je spezifisch artikulierbar. Dabei hängt die Wirkungsweise der Syntaktik wesentlich auch von den Verständnishorizonten der Betrachtenden ab. Wir haben uns den konventionellen Charakter ästhetischen Bedeutens in einem, die ikonische Semantik betreffenden Ansatz schon an den Nierenformen in Renaissancegemälden klar gemacht. Aber innerhalb dieses Möglichkeitsraumes an vorstellbaren, konventionellen, ikonischen Weisen des Bedeutens spielen ästhetische Syntaktiken mit Nuancen und Verschiebungen, die durch das jeweilige ästhetische Sinngebilde situativ positioniert werden, eine Rolle. Das ästhetische Symbolsystem, das eine künstlerische Arbeit sein kann, erschafft seine ›Grammatik‹ im praktischen Prozess der Setzung als Syntaktik. Positioniert werden dabei nuancenreiche syntaktische Einheiten – das ist, was Goodman in seinen »Sprachen der Kunst« mit dem Term der »syntaktischen Dichte« zu beschreiben beanspruchte. Schauen wir dazu eine weitere Installation als Beispiel für künstlerisch artikulierte Syntaktik an:
Hanne Darbovens »Kulturgeschichte 1880-1983« besteht aus einem enzyklopädischen Bestand von 1590 Einzelblättern, die in hölzernen Rahmen positioniert, aneinander sowie übereinander gereiht, Wände füllende geometrische Raster bilden. Eine monumentale Installation oder – im Sinne der Kunst als einer aussagenden Artikulation – ein ›sehr dickes Buch‹. In den einzelnen Bilderrahmen der großen Installation befinden sich unterschiedliche Präsentationsmaterialien wie Postkarten, Fotos von Hauseingängen, Poster posierender Popstars, Titelseiten von Nachrichtenmagazinen, Seiten aus einem Kunstkatalog, Blätter mit numerischen oder handschriftlichen Zeichenreihen aus früheren Arbeiten der Künstlerin und so weiter. Ein – wie es scheint – unzusammenhängender Fundus diverser visueller Materialien. Durch ästhetische Eingriffe ins Material hat Darboven aber eine gleichberechtigte Struktur der Einzelelemente untereinander erschaffen, mittels derer sie diese Elemente an der Wand dann zu additiven Sinngebilden arrangiert. »Darboven«, so beobachtet der Kunsthistoriker Dan Adler in seinem Buch über die enzyklopädische Arbeit der deutschen Konzeptkünstlerin, »unterwirft ihr Material einem Prozess der Rahmung, welcher die Logik des Archivs aufgreift. Die Anwendung standardisierter hölzerner Rahmen sowie roter, weißer oder schwarzer Papier-Passepartouts referiert auf archivierende Prozesse und ordnende Verfahren, welche sowohl visuell wie auch strukturell egalisierend auf das gesammelte Material einwirken, unabhängig davon, ob es readymade ist oder eigenhändig geschaffen wurde.«5
Darboven neutralisiert die kulturelle Wertigkeit so unterschiedlicher Materialien wie alltäglicher Urlaubspostkarten, medial vermittelter Politereignisse oder künstlerischer Produkte durch eine zweifache, rasterartige Rahmung – durch farbiges Papier, in dem das Material positioniert ist und durch hölzerne Rahmen, welche das Material in immer gleicher Größe umschließen. Durch dieses ästhetische Verfahren im Umgang mit den Materialien entstehen in der Arbeit Darbovens gleichgroße, gleich gerahmte, gleich farbig markierte Bildprodukte, innerhalb derer die unterschiedlich großen, verschieden farbigen und ästhetisch diversen Einzelbildnisse unterkommen wie ungleiche Nachbarn in einer Reihenhaussiedlung. Zur Siedlung wird diese ungleiche Schar verschiedener Relikte der Kulturgeschichte durch das Arrangement der Rahmen an der Wand in Form von gleichmäßig gerasterten, flächigen Tableaus. Vom Boden bis zur Decke, von Ecke zu Ecke und von Raum zu Raum hängen aneinanderstoßend Holzrahmen an Holzrahmen. Darin thematisch gruppiert die verschiedenen Materialien aus den Jahren 1880-1983. Unterschiedliche Bildtypen sind einerseits gebündelt in Themengruppen und zugleich neutralisiert in der Gleichheit der Rahmung. Sie hängen aber auch aneinander mittels der Stoßdichte, mit der alle Holzrahmen beieinander liegen. Durch diese Bearbeitung der Materialien und diese Auslegeordnung der Installation entfaltet sich der beschriebene Effekt einer Egalisierung und Addierung. Was Adler als Prozess des Archivierens beschreibt – das Gleichmachen historischer Dokumente durch das Einordnen in gleichförmige Aufbewahrungsordner – lässt sich tatsächlich als Erzeugen einer ästhetischen Syntaktik identifizieren, mit der es nicht um das archivarische Aufbewahren, sondern um öffentliche Aussagen zur Kulturgeschichte geht. Die Installation veröffentlicht als Ausstellung eine besondere Konstellation historischer Materialien, die darin als Kulturgeschichte behauptet und darlegt werden. Die Darlegung, die der Logik einer Egalisierung bei gleichzeitiger Parallelisierung des Materials folgt, legt durch dieses künstlerische Verfahren Zeugnis ab von einer subalternen und demokratisierenden Sicht auf Geschichte. So unterschiedliche Präsentationsmaterialien aus verschiedenen historischen Momenten wie private Postkarten, dokumentarische Fotos von Hauseingängen, massenmediale Poster posierender Popstars, politische Titelseiten von Nachrichtenmagazinen, kunsthistorisch relevante Seiten eines Katalogs, eigene Arbeiten der Künstlerin aus unterschiedlichen Phasen ihrer Entwicklung werden als gleichgewichtig behauptet durch das ästhetische Gleichmachen ihrer primären Anmutung und als zusammenhängend und damit enzyklopädisch gezeigt durch ihre regelmäßige und raumgreifende Aneinanderreihung. Im Modus der metonymischen Anbindung – dem modularen Nebeneinander – etabliert sich ein Bild von Kulturgeschichte – oder genauer gesagt, wird in der künstlerischen Darstellung der Installation eine Kulturgeschichte nachvollziehbar gemacht, die aus ebenso privaten wie öffentlichen, ebenso bedeutsam wie unbedeutenden Zeugnissen besteht. Die Gesamtheit dieser Zeugnisse behauptet als monumentale Installation einen enzyklopädischen Zugriff auf Geschichte. Zugleich ist die zeitliche Signatur dieser Geschichte nivelliert. »Die Konzeptkünstlerin Hanne Darboven« so die Kunsttheoretikerin Bippus, »sammelt in obsessiver Fleißarbeit Bildmaterial, Texte sowie kunstgewerbliche Objekte und stellt diese in ihrer Kunst zusammen. Diese Medien, Träger von Kulturgeschichte, bindet die Künstlerin in ein von ihr entwickeltes Zeitmodell ein, in dem Vergangenheit und Zukunft in einem [von Darboven durchgestrichenem]›heute‹ nebeneinandertreten.«6
Diese künstlerische Behauptung über das Nebeneinandertreten von Vergangenheit und Zukunft schöpft seine Aussagekraft nicht aus der ikonischen Semantik der einzelnen Bildmaterialien. Nicht die Bildgehalte vermitteln für sich genommen die künstlerisch artikulierte Position zur Zeitlichkeit der Kulturgeschichte und Egalität ihrer Relikte, die hier von Darboven vertreten und vollzogen wird. Es ist die ästhetische Auslegeordnung, welche die Beziehung der Elemente der Installation organisiert und darin deren Wertigkeit zueinander etabliert. Die gleichmäßig und gleichförmig aneinander gekachelten Bilder stehen im Modus der hoch verdichteten Hinzufügung beieinander – diese Hinzufügung zeigt weder eine historische Abfolge noch eine hierarchische Ordnung an. Dabei bildet die ästhetische Syntaktik eine Form der Hinzufügung aus, welche die verbale Syntax nicht auszudrücken in der Lage ist, weil in der Linguistik der Übergang zwischen einer verdichteten oder lockeren Addition ebenso wenig artikuliert werden kann, wie eine Addition, die vier gleichdichte Seiten kennt: nach oben und unten und nach rechts und nach links. Die flächige Auslegeordnung zur Kulturgeschichte ist durch eine sehr nahe, sehr beziehungsreiche, sehr gleichförmige, dabei aber ›rahmentlich‹ voneinander getrennte Bezugnahme unterschiedlicher historischer Relikte gekennzeichnet. Diese spezifische Bezugnahme bildet die Installation durch das positionierende Arrangement ihrer Elemente, das als Syntaktik ›spricht‹. Dieses syntaktische ›Sprechen‹ der Installation ist tatsächlich aber ein ›Darstellen‹ der beteiligten Elemente – eine Praxis der Stellung des ›Da‹.
Raumgreifende Installationen, wie diese von Darboven, weisen die Disponiertheit ihrer Darstellungsweise auch topisch aus: In ihnen müssen sich die Betrachtenden bewegen. Die Rezipienten sind im Artikulationsraum des ästhetischen Gebildes unterwegs und nehmen notwendig auf ihrem Weg des Musterns unterschiedliche Positionen ein. Auch die Installation von Darboven zwingt den Betrachtenden verschiedene Gesichtspunkte auf und behauptet damit nicht nur eine Kulturgeschichte, sondern stellt Ansichten hinsichtlich der Zusammenstellung kulturgeschichtlichen Materials dar, die von möglichen Positionen im Raum in unterschiedlicher Dichte und Fülle überschaubar werden. Diese Disponiertheit gegenüber dem Dargestellten – diese Gestelltheit des ›Da‹ – wird in der ›Kulturgeschichte‹ von Darboven darüber hinaus auch durch einzelne, positionierte Objekte im Raum visualisiert und damit offengelegt. Diese Objekte beziehen im Modus des ›darüberhinaus‹ je spezifische Stellungen – sie sind über die Reihenhausordnung an der Wand hinaus in den Raum der Installation hinein verstreut: Ein altes Karussellpferd, ein kantiger Roboter, zwei Schaufensterpuppen in Jogginganzügen, ein großes Kreuz, kleine Figurinen unterschiedlicher kultureller Herkunft auf Podesten, ein hölzerner Schwan, eine von der Decke hängende Mondsichel, ein Buch auf einem Sockel und einige andere Dinge. Insgesamt bevölkern, gemessen an der Menge von Wandmaterial, nicht sehr viele Objekte als ›Gesichtspunkte‹ den Raum. Aber in ihrer vereinzelten Stellung beziehen sie Position gegenüber der Wandanordnung. Die Positionierung der Objekte im Raum artikuliert eine, über das additive Darstellen von historischen Materialien hinausgehende syntaktische Lagebeziehung. Während sich die vielen Holzrahmen an den Wänden und ihre diversen Inhalte sequentiell und flächig aneinanderdrängen, etablieren die Objekte im Raum Stellungen der Übersicht. Sie stehen, wie Betrachtende, den Wandgebilden aus unterschiedlichen Perspektiven gegenüber und bündeln situative Zusammenhänge. Die ästhetische Syntaktik zeigt sich – wenig verwunderlich für eine Rauminstallation – nicht alleine als flächig und sequentiell, sondern auch als mehrdimensional und gleich präsent. Während das Wandmaterial im Modus der Hinzufügung Kulturgeschichte als demokratische Konstellation anhäuft, behaupten die Objekte im Raum durch ihre darüber hinaus gehende Stellung eine Disponiertheit von Ansichten. Die überblickende Disposition ermöglicht eine situative Gleichpräsenz des Nachträglichen: das, was davor und danach war, ist ausschnitthaft aus unterschiedlicher Position aber gleichzeitig da. Die von Darboven behauptete Fusion des Vergangenen und Zukünftigen im Heutigen wird visuell und performativ – im tätigen Durchschreiten der Installation – nachvollziehbar.
Welchen Wahrheitswert hat nun diese, syntaktisch offenbar geformte, dabei aber disponierte künstlerische Artikulation? Welche Sorte von Aussagen sind ästhetische Gebilde in der Lage zu treffen? Die Bestimmung des Aussagencharakters von künstlerischen Artikulationen beginnt schon dort problematisch zu werden, wo ästhetische Gebilde eben nicht ›Aussagen treffen‹, sondern ›Dar-stellungen zeigen‹. Das ›Sprechen‹ der Installation führt zu einer Darstellung, die mitvollziehbar im Modus des aufmerksamen und aktiven Musterns von Betrachtenden ist, welche die Installation durchschreiten, um deren gezeigte syntaktischen Lagebeziehungen und semantische Materialfülle als eine optionale ›Stellung‹ des ›Da‹ einzusehen. Nichts ›trifft‹ in diesem ästhetischen Sinngebilde bestimmend auf nur einen Aussagepunkt. Mittels der möglichen Fülle ineinander übergehender Lagebeziehungen und daraus resultierender Bedeutungsvarianten ergibt sich nicht ein bestimmter Wahrheitswert, sondern es ergeben sich Einsichtswahrscheinlichkeiten. Ein ästhetisches Gebilde »besitzt im Regelfall eine Vielzahl von möglichen syntaktischen Strukturen und eine dementsprechend meist noch größere Vielfalt möglicher Deutungen,«7 diagnostiziert Peter Schreiber in einem Text, der die charakteristischen Unterschiede zwischen Bild und Text aus der Perspektive des Mathematikers zu bestimmen beansprucht. Schreibers analytische Beobachtungen über die Weisen des Bedeutens bei Bildern in der Differenz zu Texten helfen uns hier, das Wahrsprechen künstlerischer Artikulationen als ›wahrscheinliche Einsichten‹ zu verstehen. Wir bewerten ästhetische Aussagen mit Wahrscheinlichkeiten, so Schreiber. Der Mangel an Eindeutigkeit ist dabei ein Gewinn an Flexibilität und Fülle im Verstehen von Welt. Ein notwendiger Gewinn aus der Perspektive des Mathematikers, welcher darin auch einen Fortschritt für die formale Logik vermutet: »Die klassische formale Logik hat sich […] lange auf den Fall beschränkt, […] dass Aussagen entweder wahr oder falsch sind«, so Schreiber. »Die Bewertung der Wahrheit von Aussagen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit und die sich daraus ergebende Notwendigkeit einer Wahrscheinlichkeitslogik wird nach schwächlichen früheren Ansätzen erst im Rahmen der ›künstlichen Intelligenz‹ interessant und praxiswirksam.«8 Die optionale und situative Syntaktik von künstlerischen Artikulationen korrespondiert hier mit einer, als ebenso unstet wie unscharf vermuteten Welt, deren Einsicht zur Disposition gestellt wird. Auch die formale Logik musste demnach eine Wahrscheinlichkeitslogik etablieren, weil etwa das Phänomen künstlicher Intelligenz nicht mittels der Kategorien von wahr oder falsch zu beschreiben sein wird.
Der Aussagenkosmos ästhetischer Gebilde wird aus einer optionalen Syntaktik gebildet, welche mithin Bereiche größtmöglicher Wahrscheinlichkeit von Einsicht organisiert. Die ästhetische Syntaktik oszilliert darüber hinaus zwischen situativen Gesichtspunkten und erschließenden Ansichten: Die Disponiertheit erschließt sich aus unterschiedlichen Betrachtungswinkeln. Gleichzeitig ist die »Makroinformation« wie Schreiber es nennt, von ikonischen Gebilden im Gegensatz zu Texten, welche sequentiell zur Kenntnis genommen werden, sofort präsent. Bei einem Text »wird Wort für Wort und Satz für Satz Mikroinformation rezipiert, und erst am Ende des Prozesses hat man (im günstigsten Fall) die Makroinformation, was der Sinn des gesamten Textes war […] Beim Betrachten eines Bildes hat man in der Regel als erstes und sofort die Makroinformation und kann sich danach, soweit man möchte oder muss, in die Details vertiefen…«9 Diese spontane Einsicht in die Makroinformation ist aber eben auch eine ›hinblickliche‹. Sie ist eine überblickende Information in Hinblick auf den betrachtenden Gesichtspunkt. Darbovens enzyklopädische ›Kulturgeschichte‹ exemplifiziert und artikuliert diese Zwitterhaftigkeit der spontanen und zugleich relativen Einsicht, indem sie diese beiden Facetten des ästhetischen Einsehens nicht nur syntaktisch beinhaltet, sondern auch als Aussage zur Geschichtsbildung semantisch hervorkehrt. Die verschiedenen Positionen gegenüber einer umfassenden Kulturgeschichte, welche das Alltägliche und das Herausragende, das Private und das Öffentliche parallelisiert, sind mit dem Standort des Roboters, dem Platz des hölzernen Schwans oder der Perspektive des Kreuzes syntaktisch-topisch präsent und semantisch bedeutet. Wir mustern mit der ›Kulturgeschichte‹ eine zeichentheoretisch reflexive Installation, deren Rückbezug auf die Modi des ikontischen Bedeutens sicherlich auch durch den monumentalen Anspruch provoziert wird, nichts geringeres als ›Kulturgeschichte‹ mit den Mitteln künstlerischer Verfahren analysieren und als dezentriert darlegen zu wollen.
Nun tendieren allerdings unsere Untersuchungen zur Wirkungsweise und Bauart ästhetischer Syntaktiken insgesamt auffallend dazu, raumfüllende und grundlagenforschende Installationen wie die von Hanne Darboven oder Rabih Mroué zu dechiffrieren. Die Fülle an Einzelgestalten solcher, groß angelegter Installationen macht es bestechend einfach, deren innere Lagebeziehung als ästhetische Syntaktik zu klären. Große Installationen sind umfassende Sinngebilde mit einem vielschichtigen, mehrdimensionalen Beziehungsgeflechten ihrer Elemente bei gleichzeitiger Rahmung im Raum. Sie sind relativ volle Zeichencluster und etablieren daher komplexe Bedeutungsgewebe. Sie sind die ›dickeren Bücher‹ unter den künstlerischen Artikulationen und sie erfordern einen aktiven Modus des Nachvollziehens von den Betrachtenden, die sich in ihnen bewegen müssen. Sie provozieren die Kenntnisnahme der syntaktischen Lagebeziehungen und des Wahrnehmungsraums zwischen ästhetischen Dingen sowie zwischen Dingen und Publikum. Bippus macht in einem Text, der das »Installieren« als künstlerisches Forschungsverfahren diskutiert, entsprechend darauf aufmerksam, dass »die Künstler der russischen Avantgarde den Übergang vom Bild in den Raum vollzogen, um auf die Rezeptionshaltung der Betrachter Einfluss auszuüben und die statischen Bildelemente zu dynamisieren. El Lissitzky öffnete und aktivierte mit seinen Proun-Bildern den Raum zwischen Kunstwerk und Betrachter. Die Oberfläche des Gemäldes wurde nicht als Grenze, sondern als Übergang verstanden.«10 Und Bippus konkludiert: »Kunst sollte [im Medium der Rauminstallation] zum Ausgangspunkt der Reflexion aktueller Entwicklungen und Fragen werden, das heißt zu einem Erkenntnismedium.« Rauminstallationen bieten sich offenbar als hervorragende epistemische Gebilde an. Sie ragen aus der Fülle möglicher ästhetischer Artikulationsweisen als besonders vielsprechend – oder besser formuliert – als besonders dicht darstellend hervor. Relevant für die epistemologische Ästhetik ist daher nicht nur die Vorzüglichkeit, mit der sich Installationen zur Analyse ästhetischer Syntaktik eignen, sondern auch ihr Stellenwert als epistemisch dichte Artikulationen. Sie ›sagen‹ mehr, als tausend Einzelobjekte, weil sie ›Wege‹ zwischen den ikonischen Einzelelementen anbieten und die Oberfläche der Einzelobjekte für Bezüge öffnen. Die Wegestruktur und Lagebezüglichkeit der Installationen etablieren jene Mitvollziehbarkeitsebene, die dem Forschen generell als verhandelbarem, intersubjektivem Geschäft besonders entgegenkommt. Die Betrachtenden werden durch Installationen nicht auf Distanz gehalten, sondern auf den Weg gebracht, um einer Folgerichtigkeit der installativen Behauptung vermittels der Konstellation ihrer Bezüge nachzugehen.11 Die Sinnbehauptung einer Installation erweist sich dabei zugleich als offenporig und wandelbar, denn sie entfaltet sich in der jeweiligen Aktualisierung der syntaktischen Bezüge durch die Betrachtenden, die sich in einem zwar überschaubaren und damit gerahmten Bezugssystem bewegen, nicht aber in einer definierten Algorithmik das Dargestellte abarbeiten. Auch für die Position zur ›Kulturgeschichte‹ von Darboven gilt, so Bippus: sie »muß von den Betrachtern gleichsam durchquert werden. Insofern sich dabei Eindrücke, Bilder und Informationen überlagern und in ihren wechselseitigen Beziehungen je unterschiedliche Bedeutungen erhalten, sind die Materialien offen für verschiedene Sinnbildungen…«12 Verkettungen werden perspektivisch wahrgenommen. »Das künstlerisch-installative Verfahren fordert nicht dazu auf, ein vorhandenes Wissen zu reproduzieren«, so Bippus, »sondern stellt dieses mittels ästhetischer Praktiken unter Reflexion«.13 Diese epistemische Vorzüglichkeit der Installation als einem ›dickeren Buch‹ sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch ›dünnere Bücher‹ auf der Grundlage ästhetischer Syntaktik Sinn erzeugen.
Rahmen und Abweichungen – vom Anfang und Ende der Syntaktik
Wie geht die Syntaktik von einzelnen Bildern? Gegenüber den vielschichtigen und beziehungsreichen Installationen muten singuläre Gemälde oder Skulpturen auf den ersten Blick eindimensional an. Das Farbenensemble eines einzelnen Bildes oder die Liniendichte einer Skizze scheinen vergleichsweise arm an syntaktischen Lagebeziehungen, während demgegenüber vielgestaltige Installationen als epistemisch volle Artikulationen der künstlerischen Forschung durch Komplexität und Perspektivität entgegenkommen. Aus der Sicht des Mathematikers Peter Schreiber, der die Unterschiede zwischen Bildern und Texten untersucht, kann aber auch beim Betrachten eines einzelnen Gemäldes der Wahrnehmungsprozess beliebig weit in die Tiefen gehen. Und für den Philosophen Hans-Georg Gadamers ist jedes einzelne Kunstwerk ohnehin als ein Spiel bestimmt, welches durch die Vielheit von miteinander in Beziehung stehender Farben existiert. Auch singuläre ikonische Produkte können als facettenreiche Gebilde verstanden und auf ihre Syntaktik hin untersucht werden. Und wir können dieser Untersuchung von Syntaktik im Einzelbild in einem weiteren Fall von ›Kulturgeschichte‹ nachgehen: Der afroamerikanische Künstler Kehinde Wiley gestaltet Portraitstudien, die sich zu einer postkolonialen Kritik an historischen Darstellungen verdichten und er behauptet damit einen anderen Typus von Kulturgeschichte als Hanne Darboven, die sich in enzyklopädischer Form einem abendländischen Verständnis von Kulturgeschichte widmet. Während Darboven Bilder und Objekte zu Rauminstallationen versammelt, erzeugt Wiley einzelne Artefakte.
Wir sehen gerahmte Tafelbilder, aufgesockelte Marmorbüsten oder ornamentale Wandteppiche. Es sind singuläre ikonische Produkte, die Wileys uns zeigt. Deren Gehalt aber ist durch ein syntaktisches Beziehungsgeflecht der inneren Bildelemente zueinander organisiert. Wie lässt sich dieses Beziehungsgeflecht dechiffrieren? In der dichten Analyse dieser Bildelemente als Marken eines Symbolsystems: Auf einem der Gemälde von Wiley ist ein sich aufbäumender Apfelschimmel zu sehen. Mähne und Schweif sind von dynamischer Bewegung lockig bewegt, die Ohren gespitzt, die Nüstern geöffnet, die Augäpfel wild. Das Tier ist halb von hinten gezeigt. Auf dem vordergründigen Pferdehintern liegt ein Leopardenfell, das als Satteldecke dient und dessen Raubtierkatzenkopf kurz über dem Schweif des Apfelschimmels dem Betrachter des Bildes zugewandt ist. Die Leopardenfelldecke korrespondiert cremefarben-getupft mit dem goldschwarzen Zügelhalfter des Pferdes sowie dem ockerbraunen Grund der Szene und der beigegoldenen Farbe der ornamental sich rankenden Muster, die wie surreale Supergewächse über den ganzen Hintergrund des Gemälde ausgebreitet sind und die Szene auf eine Weise schmücken, wie sonst Ranken wertvolle Tapeten in luxuriösen Räumen verzieren. Die weiße Fellfarbe des Pferdes wiederholt sich im weißen Unterhemd des Reiters, der auf dem sich bäumenden Pferd aufrecht sitzt. Des Reiters muskulöse Pobacken treten oberhalb der Gürtellinie nackt hervor. Er hat die Zügel ebenso souverän im Griff wie den Betrachter des Bildes im Blick. Sein Oberkörper ist mit der Bewegungsdynamik des Pferdes aufrecht nach hinten gewendet. Am langen Arm schwingt der Reiter ein gezücktes Sichelschwert. Er trägt neben dem weißen Unterhemd, eine blaue Jeanshose, Turnschuhe und hat eine dunkle Haut. Diese unerwarteten Attribute des Reiters – die urbane Straßenbekleidung und dunkle Hautfarbe – komponieren innerhalb des Gemäldes einen semantischen Kontrapunkt zu den heroischen Posen und herrschaftlichen Insignien der dargestellten Kulisse. Den mittigen Vordergrund des Gemäldes besetzt das offen geschwungene Schwert wie eine Drohung gegenüber den Wahrnehmungsgewohnheiten des Publikums von Historienbildern. Der Hintergrund wird von einem rot verlaufenen Himmel gebildet, der durch einen Silberstreifen am Horizont vom ockerfarbenen Grund getrennt ist. Die Komposition der Weißtöne im Gemälde lässt ein aufrechtes Zeichen auf rotgelbem Grund erscheinen. Die Konstellation der figurativen Elemente – der gestreckte Arm, das geschwungene Schwert, die aufgebäumte Pferdebrust und wallende Mähne – bildet einen dynamischen Kreis, durch dessen Mitte der Körper des Reiters geht. Die abendländische Kulturgeschichte wird mit diesem Bildnis eines schwarzen Straßenjungen im herrschaftlichem Portraitsujet gegen den hegemonialen Strich gebürstet. Wileys ikonische Darstellung scheint sich der diskriminierenden Struktur tradierter Geschichtsbilder zu widmen. Das Gemälde artikuliert eine kritische Negation – ein Nein, das behauptet, dass die europäische Kulturgeschichte so nicht aussah. Diese Negation wird in Szene gesetzt, indem das Bild in der Darstellung seiner Elemente auf etablierte symbolische Ordnungen zurückgreift und diese durch die Hinzufügung des historisch Abwesenden konterkariert. Der schwarze Reiter in Jeanshose ist die Negation des Bekannten und offenbart durch die Anwesenheit im Bilde seine Abwesenheit im traditionellen Verständnis von Kulturgeschichte. Als eine im-Bild-positionierte Negation etabliert sich dieser portraitierte Afroamerikaner zugleich als Position – mit Muskeln und Tatenkraft, wie es sich für ein souveränes Geschichtssubjekt gehört. Die Gemälde von Wiley vermitteln – mittels ihrer Komposition – eine Idee von dem, was sein könnte und damit eine Infragestellung dessen, was bisher verzeichnet wurde. Wileys Tafelbilder, Wandteppiche oder Marmorbüsten sind wie Einhörner – Zusammenstellungen von Elementen, bei denen man aus bloßer Gewohnheit und Wahrnehmungserbe davon ausgeht, dass sie nicht zusammengehören. Die Zusammenstellung der fremden Elemente im Bild aber generiert einen Möglichkeitsraum – im Fall der schwarzen Reiter auf den Rössern der europäischen Feldherren einen Möglichkeitsraum zu einer anderen Herrschaftsgeschichte.
Was aber hier im Textverlauf als verbale Beschreibung des pikturalen Gebildes im Modus des Nacheinanders, Farbe für Farbe, Figur für Figur ausbuchstabiert ist, das komponiert sich im Gemälde durch die ästhetisch-topische Nähe der Farben und Formen zueinander. Tapetenornamente, Reiterpose und dunkle Hautfarbe bilden syntaktische Figuren des sich überlagernden Beieinanders. Wir erkennen Lagebeziehungen, wie bei den Installationen, und wir sehen ästhetische Relationen, basierend auf Formen und Farben. Die sich überlagernden Figuren wirken wie eine Assemblage von Bildquellen aus unterschiedlichen Zeiten und Weltregionen. Die semantischen Codes kollidieren in ihrer syntaktischen Überlagerung im Bilde. Durch diesen Aufprall werden Formeln von Herrschaft und Unterwerfung kenntlich und zugleich torpediert. Das syntaktische Übereinander unterschiedlicher Codes – die Lagebeziehung der Bildelemente – wird zusammengeschnürt durch ein räumliches Arrangement, bei dem Bildelemente beieinanderliegen oder sich flächig überlagern. In diesem ästhetischen Symbolsystem treffen wir die gestalterische Praxis des Arrangierens von Formen und Farben an. Die Ikontik – die Kunst des Bildlichen – organisiert auch im Einzelbild die Wirkungsweise syntaktischer Bezüge im topischen Dazwischen gruppierter, ästhetischer Elemente. Syntaktische Bezüge entstehen auch bei diesen ikonischen Sinngebilden durch die Praxis des Ins-Verhältnis-Setzens von ästhetisch wahrnehmbaren Formen und Farben. Und diese Verhältnishaftigkeit trifft am Bild hervor durch die Haltung der Betrachtenden, die gewillt sind, ästhetische Zusammenhänge als bedeutsame Lageverhältnisse anzuerkennen. Wie aber kommen wir zu dieser ästhetischen Haltung? Oder anders gefragt – was schnürt die Bildelemente so aneinander, dass wir im Betrachten bereit sind, den Eindruck ihrer Verknüpftheit anzuerkennen? Das Beieinander, Zwischeneinander, Übereinander der bedeutsamen Elemente in den Bildern und Skulpturen von Wiley erhält seinen ›Einander-Charakter‹ durch die versammelnde Kraft einer Umhegung, die traditionell von Rahmen, Sockeln, Monitoren oder Bühnen gestiftet wird oder durch das physische Ende des Trägermediums. Diese Fassung ästhetischer Gebilde markiert die Grenze zwischen Ikontik und Trivialität, zwischen belangloser Fläche und bedeutsamer Formationen. Sie dient als Einfallstor ins spürsinnige Mustern. Bilder oder Objekte entfalten intrinsische Syntaktik im Rahmen ihrer Rahmungen und auf der Grundlage ihrer Trägermedien. Diese Einhegungen fungieren wie großgeschriebene Buchstaben am Anfang und Punkte am Ende der Sätze. Wileys Gemälde und Büsten gebrauchen nun ihrerseits nicht einfach und trivial diese Konvention der formulierenden Rahmung, sondern setzen ostentativ den Bedeutung-inaugurierenden Charakter von Einfassungen der Sinnproduktion in Szene. Als wären die heroischen Portraitstudien und Zitate der Historienmalerei nicht schon genug der Inwertsetzung, finden sich um die Gemälde Wileys herum goldene, durch Schnitzwerk verzierte Rahmen. Die Grenze zwischen belangloser Fläche und bedeutsamen Formationen wird ästhetisch inszeniert und die subalternen Reiter finden sich demonstrativ im Gehaltvollen positioniert. Der Anfang und das Ende von ästhetisch bedeutsamen Gebilden wird hier nachdrücklich zum Zeichen gemacht und weist sich als Wertsteigerungswerkzeug aus. Mit dem Werkzeug der Rahmung vollzieht sich ein Wechsel vom Profanen zum Auratischen, innerhalb dessen unerhebliche Objekte zu erheblichen werden – in der semantischen wie der sozialen Zurkenntnisnahme.14
Bilderrahmen oder Leinwände, Papierblätter, Monitore, Bühnen oder Sockel markieren ästhetische Sinngebilde und lassen syntaktische Lagebeziehungen kenntlich werden. Wie aber verhält es sich mit dem Anfang und Ende von enzyklopädischen Installationen oder performativen Interventionen? Was markiert den Anfang und das Ende eines ästhetischen Sinngebildes, das keine goldenen Rahmen aufweist? Wie werden sockellose Sachen in ikonischen Wert gesetzt? Wir haben uns bei der Performance der LIGNA-Gruppe gefragt, wo das ästhetische Geschehen beginnt? Warum werden bestimmte Handlungen unter so vielen Tätigkeiten im öffentlichen Raum als Performance wahrnehmbar? Die bühnenlose Performance hilft bei der Klärung der Frage nach dem Anfang und Ende ästhetischer Sinngebilde, weil ihre Brisanz in ihrem zwielichtigen Charakter liegt. Erst allmählich tritt aus dem gewöhnlichen Handlungsfeld des öffentlichen Raums das performative Tun hervor. Wir waren erstaunt über das choreografische Zusammenspiel von Personen. Die Erfahrung dieses Staunens machte uns zu ästhetischen Beobachtern auf der Suche nach Sinn. Wir begannen das Sichtbare zu mustern, weil es durch seine Differenz zum Gewöhnlichen als Konstellation kenntlich wurde.
Die Abweichung vom Gewöhnlichen markiert das ästhetische Schauspiel – die »Verklärung des Gewöhnlichen«, wie der Kunsttheoretiker Arthur Danto es nennt. Im Kunstraum stellen Rahmen, Monitore oder Sockel diese Abweichung figurativ her. Wir wissen, wann ein ästhetisches Symbolsystem beginnt und wo es aufhört, denn eine Grenze liegt zwischen ihnen und dem Gewöhnlichen – gebildet aus Holz, Bronze, Glas oder Staunen. Das Innere der Gemälde trennt sich vom Äußeren der Wand. Das Gewöhnliche der Alltagshandlung weicht ab vom Gehaltvollen einer Inszenierung. Und deshalb weichen wir zurück vor den imaginären oder materiellen Schwellen und fallen in einen Modus der musternden Betrachtung. Es ist diese ästhetische Haltung, die wir einnehmen, wenn uns die Szene als ausreichend abweichend vorkommt – ein Wille zur Einsicht ins Außergewöhnliche angesichts einer Differenz zum Trivialen. Die Performance der Gruppe LIGNA verdeutlicht diese Ebene der ästhetischen Haltung, die Bedeutsames erkennen will, besonders einsichtig, weil sie es sich als Performance zur Aufgabe gemacht hat, die Grenze zwischen den normalen und den devianten Gesten zu verwischen. Die Grauzonen zwischen erlaubten und unerlaubten Handlungen im öffentlichen Raum sind auch die Grauzonen zwischen zeichenhaftem Theater und bloßen Verhalten, zwischen dem Willen musternd zu sehen oder unwillkürlich wegzuschauen. Man muss die Abweichung erkennen wollen, um sie zu beurteilen – so die gesellschaftskritische Botschaft der performativen Intervention – man muss ästhetische Gebilde mustern wollen, um sie lesen zu können – so die ikontische Einsicht durch die Performance.
In den herkömmlichen Kontexten der Kunst finden wir weniger ikontische Grauzonen. Häufig begegnen uns präzise platzierte Ausrufezeichen, die uns auffordern, unseren musternden Scharfsinn zum Einsatz zu bringen. Konventionelle Kunstmarkierungen verwandeln das gewöhnlich Sinnliche in ästhetisch Gehaltvolles und innerhalb dieser Markierungen treten ikonische Zeichen und syntaktische Relationen in Erscheinung. Ausgewiesene Kunsträume – Galerien, Museen, weiße Kuben – bilden die ästhetischen Kontexte, innerhalb derer im Allgemeinen ästhetisch Gehaltvolles erwartet und als solches gemustert wird. Sockel, Rahmen, Monitore, Leinwände, Papier, Lichtkästen oder Bühnen weisen im Besonderen die Einzelfälle von Kunst aus und differenzieren ein Bild von der Wand, eine Skulptur von Zeug, eine Inszenierung vom Alltag. Die »Kulturgeschichte« Darbovens hat ihren Anfang und ihr Ende nicht in der Inventarliste der Künstlerin, nicht in der ästhetischen Qualität der ikonischen Materialien oder der Menge der Bildnisse, sondern in der Kunstraumarchitektur. Zwischen dem Kassentresen zu Beginn und dem angenommenen Café zum Abschluss der Ausstellung breitet sich ein Aussagenkosmos mit Sinnbezügen mittels der disponierten Struktur der dargebotenen Elemente der Installation aus. Es handelt sich um einen vergleichsweise offensichtlichen, weil üppigen Fall syntaktischer Fülle, in einem vergleichsweise einfachen, weil wohldefinierten künstlerischem Erkennungsraum – einer bekannten Galerie.
Ästhetische Gebilde sind durch diese Träger, die Rahmen, Sockel, Bühnen und Wände eingefasst und damit begrenzt, dabei aber zugleich nach »innen beliebig abbaubar« – wie Schreiber es formuliert. Beliebig abbaubar meint die potentiell unendliche Menge an syntaktischen Verknüpfungen und semantischen Gehalten, die ästhetische Gebilde in ihrem inneren Möglichkeitsraum aufbewahren können. Immer kann differenzierter nachgefragt werden, ob nicht doch die Facette von Gelb etwas im Verhältnis zum angrenzenden Rot bedeutet oder sogar jene Schnitzarbeit des Rahmens im syntaktischen Verhältnis steht zur gemalten Ornamentik im Gemälde? Texte sind dagegen nach »innen durch das gegebene System der Grundzeichen begrenzt« – so Schreiber. Ein A ist ein A ist ein A und die Dicke seiner Linien, die Größe seiner Figur, die Farbübergänge seiner Ränder erweisen sich als irrelevant für den Prozess des Textverstehens. Texte können beliebig lang sein und unbegrenzt ist die Anzahl der möglicherweise aneinander gereihten Buchstaben, die sich dabei jedoch nicht unterteilen in bedeutungshaltige Nanoteilchen. Während die definierten Figuren der Buchstaben als intrinsische Bestimmungen die Textlichkeit kennzeichnet, markieren Rahmen, Sockel, Wände die ästhetischen Sinngebilde als Kapseln von außen. Der Kapselcharakter der Kunst disponiert die musternde Haltung der Betrachtenden – auch wenn die Uneindeutigkeit von performativen Ereignissen im öffentlichen Raum mitunter mit der Erkennbarkeit der Kunstkapsel provokativ spielt, weil die Provokation von Grenzüberschreitungen eben das Thema mancher künstlerischer Positionen ist.
Glückliche Ästhetiker – oder das Machen ästhetischer Symbolwelten
Malen wir jetzt also Bilderrahmen an beliebige Wände, um das darin Sichtbare als ästhetischen Aussagenkosmos zu begreifen und die Nuancen der Wandfarbe als syntaktische Lagebeziehungen zu mustern. Hängen wir schwarze Rechtecke in eine Galerie, um die Rahmung der Kunst als konstitutiv für die Sinnbildung zu thematisieren – wir kennen diesen berühmten Fall des schwarzen Quadrats und anerkennen seinen Wert hinsichtlich der Infragestellung dessen, wie Kunst bedeutet. Die kritische Ironie – oder gleichsam der schwarze Humor – dieser berühmt gewordenen künstlerischen Geste der Selbstbefragung von Sinnproduktion durch Kasimir Malewitsch sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Gestische daran selber insofern relevant ist, als es die kritische Selbstbefragung erst möglich macht. Monochrome schwarze Flächen sind gestaltet, gefärbt und im Kunstraum arrangiert – mithin der Effekt einer produktiven Praxis des Formierens von ästhetischen Beziehungen. Die komponierte Ensemblehaftigkeit, mittels derer die Bedeutung der Bedeutungslosigkeit von ästhetischen Gebilden durch das Darstellen eines schwarzen Quadrats darstellbar wird, ist der Effekt einer Gestaltungspraxis, mit der sich triviale Farbflächen in sinnhaften Farbflächen verwandeln. Das ikonische Geschäft, das Arrangieren von ästhetischen Lagebeziehungen ist ein praxisches. Es ist die Praxis des Komponierens – des com ponere – als einem Zusammen - Setzen - Stellen - Legen von Bildelementen, das die semantischen Gehalte entfaltet – auch die der ironischen Selbstbefragung von Kunst. Ästhetische Symbolwelten werden gemacht, gebildet, formiert, erfunden, gestaltet im Rahmen eines Tätigseins, das durch den Gebrauch von sinnlich wahrnehmbaren Dingen Einsichten darstellen will. Wir sind zurück in der Praxologie der Kunst, nach unserem Ausflug in die ästhetische Zeichentheorie. Dieser Ausflug war nötig geworden, weil mit der Kunst als Praxis und der Praxis ästhetischen Forschens die Frage nach den Weisen des ästhetischen Bedeutens von praxisch entwickelten Einsichten auftauchte. Nun aber bemerken wir, dass eben jene Weisen des Bedeutens durch die Praktiken des Kunstens zur Darstellung kommen und wir erinnern uns daran, dass sich materielle Sachen im Prozess des Bearbeitetwerdens zu Kunst als einer Position arrangieren. Wir können uns Kehinde Wiley jetzt vorstellen, wie er Kulturgeschichte ästhetisch bearbeitet und seine Gemälde in der ›Ausdrucksbewegung‹ des Malens ›formuliert‹ – wie Pferdelocken und Rankenmuster arrangiert werden und Farben erprobt. Die Figur der Kunst-Tuenden scheint dabei die von prüfenden Erfindern zu sein. Das gestalterische Bearbeiten und Arrangieren von ästhetischen Lagebeziehungen korrespondiert mit einer Fülle an testend wahrnehmenden Tätigkeiten im Austausch mit Welt – dem Hören von Geschichten und Wittern von Positionen, dem Fern- und Nahsehen kultureller Produkte und Alltagskulturen, dem Ergreifen und Ergriffensein von Historienbildern, dem Lesen in kulturellen Traditionen und Ermessen von gesellschaftlichen Räumen, dem Kommunizieren durch das Skizzieren oder Fotografieren, dem Austauschen von Bildern oder Agieren im Kontext. Vielleicht hat Wiley zunächst die Pathosformeln der abendländischen Kulturgeschichte als Museumspostkarten gesammelt und mit den Fotos seiner Modelle collagenartig arrangiert und dabei die Komposition des Aufpralls der Kulturen taxiert. Vielleicht hat er gemeinsam mit den Modellen die Posen am Historiengemälde ausprobiert und dabei die Spannung entwickelt, die sich als Einsicht seiner Bilder kommuniziert. In künstlerischen Verfahren formieren sich mit den ästhetischen Sachen die ästhetischen Sinngebilde durch das Erstellen, Prüfen, Herausstellen, Verwerfen, Entwickeln, Arrangieren, Modifizieren, Verbinden und Präsentieren von Darstellungselementen. Und so schält sich nicht nur durch den enzyklopädischen Umgang mit Bildmaterial wie bei Darboven oder das Sammeln und Ordnen von Werbeanzeigen wie beim Künstlerduo Fischli/Weiss der Eindruck heraus, dass Künstlerinnen und Künstler beim Machen von ästhetischen Sinngebilden als investigative Bildjongleure agieren. Durch das Spiel mit Dingen werden in der ästhetischen Praxis Einsichten gewonnen und in die Form der Formulierung gebracht. Alexander Gottlieb Baumgarten nennt im 18. Jahrhundert diese einsichtige Formulierungspraxis die »Dichtungskraft«. Und wir widmen uns jetzt noch einmal den Gedanken dieses frühen Ästhetikers, um die Aussagekraft ästhetischer Gebilde als Manifestationen einer zugleich vergegenwärtigenden und erfinderischen Untersuchung von Welt zu verstehen. Ästhetische Gebilde sind nicht nur in der Lage Aussagen als Darstellungen zu formulieren. Sie sind auch als Formulierte der Effekt eines gestalterischen Tuns. Dieses Tun ist eine Praxis, welche Welt nicht nur darstellen, sondern auch verstehen will und die dieses Verstehen mittels des ästhetischen Tuns vollzieht. Die Ikontik der epistemologischen Ästhetik verknüpft sich hier mit der Praxologie des Kunstens und dem künstlerischen Machen als einem ästhetischen Forschen. Für Baumgarten ist die Dichtungskraft – facultas fingendi – ein tätiges Erkenntnisvermögen. Dieses Vermögen ist in der Lage »Einbildungen miteinander zu verbinden und abzusondern«. Diese facultas fingendi – diese fingierende Fähigkeit – wird durch die »Kraft der Seele, sich die Welt zu vergegenwärtigen, in Tätigkeit gesetzt«.15 Wenn wir dichten oder ›kunsten‹ vergegenwärtigen wir uns Welt. Für Baumgarten erschließt sich das Erkennen als eine aktive Tätigkeit der Seele in der Form einer produktiven »Absonderung«. Nicht kontemplativ distanzierte Betrachtung oder nicht involvierte Untersuchung führen zu ästhetischer Einsicht, sondern die Aktivität einer fähigen Seele, die ihren Köper gegenüber den wahrzunehmenden Dingen positioniert, die Vorstellungen bildet und die diese Einbildungen in einem sinnlich wahrnehmbaren Gewebe in Form bringt. Künstlerische Positioniertheit und produktive Praxis liegen in der Natur ästhetischer Einsicht, so könnte man aktuell gesprochen Baumgartens Ästhetik zusammenfassen und damit verständlich machen, warum diese Ästhetik eine Wissenschaft von der (disponiert) sinnlichen Erkenntnis und eine Theorie der (praktisch) schönen Künste sein will. Für die »fähige Seele« aber, die sich mit Vorstellungskraft und physischer Disposition ins dichtende Verhältnis zu den mannigfaltigen Erscheinungen bringt, prägt Baumgarten den Begriff des »glücklichen Ästhetikers«.
Der »glückliche Ästhetiker« ist kein terminologischer Unfall in Baumgartens Schrift, sondern der Hinweis darauf, dass ästhetische Einsicht – also in Baumgartens Terminologie schöne Erkenntnis – personal situiert ist. Das Schöne und das Disponierte kommen in der Figur des Ästhetikers zusammen, der glücklich ist, weil seine Dichtungspraxis ›Schönes‹ erkennt. Von diesem glücklichen Ästhetiker, der aus freudigem Interesse an den mannigfaltigen Erscheinungen für das schöne Erkennen auch dichtet, führt bei Baumgarten der Gedankenweg konsequent zum »praktischen Ästhetiker«, der das Dichtungsvermögen im Rahmen der sinnlichen Erkenntnis in die Vollkommenheit führt. Denn mit dem »Dichtungsvermögen« gestaltet der glückliche Ästhetiker als praktischer Ästhetiker vermittels ästhetischer Dinge bedeutsame Kunst. Der praktische Ästhetiker ist eine Figur, welcher Baumgarten ein Drittel seiner Ästhetik gewidmet hätte, wenn diese nicht Fragment geblieben wäre. Doch nur die Heuristik wurde veröffentlicht. Die Methodologie und die praktische Ästhetik blieben Projekt. Was im Rahmen dieser praktischen Ästhetik vermutlich im Zentrum der Aufmerksamkeit gestanden hätte, nämlich die Praxis des Bildens von ästhetischen Dingen in Übereinstimmung mit dem Vermerken und Vorstellen von »ästhetikologischen Wahrheiten«, wird immerhin im von Baumgarten formulierten Erkenntnisvermögen des »Scharfsinns« unter dem Hinweis auf die Notwendigkeit tätiger Übung schon antizipiert. Und immerhin verzahnt sich schon beim glücklichen Ästhetiker wegweisend das Schaffen ästhetisch bedeutsamer Objekte mit dem Einsehen als Praxis. Die »glücklichen Ästhetiker« sind nämlich zunächst in ihrer fortwährenden Übungspraxis nur Nachäffer gegenüber den ästhetischen Zeichenformationen, die sie zu verstehen beanspruchen. Die glücklichen Ästhetiker vollziehen »nachahmend auf schöne Weise denkend« die ästhetischen Weisheiten nach, die andere schön dichtend abgesondert haben. Die nachvollziehend Erkennenden und die dichtend Erkennenden kommen in der Sache des schönen Denkens dabei zueinander und bestätigen sich gegenseitig die Trefflichkeit ihrer jeweiligen schönen Einsichten im aneinander eingeübten Nachvollzug. Im musternden Nachvollzug üben sich mithin die glücklichen Ästhetiker an den mannigfaltigen Erscheinungen wie auch den Ergebnissen des schönen Denkens anderer glücklicher und praktischer Ästhetiker und eignen sich die Einsicht in beide – Erscheinungen wie Ergebnisse – wiederum schön schaffend an. Mit diesem nachäffenden Habitus der glücklichen Ästhetiker wird aber auch einsichtig, inwiefern das schöne Erkennen ein nachvollziehender praktischer Prozess ist. So erkennen die Ästhetiker auch untereinander ihre Einsichten praxisch nachvollziehend. Ein Kollegium glücklich praktischer Ästhetiker wird vorstellbar, dass sich gleichsam auf Augenhöhe untereinander und die Welt in der ästhetischen Praxis des Musterns und Schaffens erkennt. Mehr als 100 Jahre, bevor mit dem humboldtsche Forschungsideal im 19. Jahrhundert Erkenntnis als Effekt der Selbst-Bildung des Subjekts gedacht wird und mit dem Prozesshaften dieser Bildung tatsächlich die Idee von ›Forschung‹ als Praxis des Erkennens ins Zentrum des epistemischen Paradigmas rückt, lange bevor also Erkenntnisvermögen als Bewegung und Übung des Subjekts vorgestellt wird, lange bevor sich peer-groups als kollegiale und gegenseitig erkennende Forschergemeinden etablierten, versteht Baumgarten die sinnliche Erkenntnis mittels der ästhetischen Praxis der Übung von Vermögen und der Lehre »schöner Gelehrsamkeit« als Bildungsprozess glücklich praktischer Ästhetiker.16 Es scheint, als bildete sich mit den glücklichen Ästhetikern bei Baumgarten im 18. Jahrhundert schon eine wegweisende Idee zu einer ästhetischen Forscher-Gemeinde schön Denkender heraus, welche sich aneinander im Nachvollzug ihrer Artikulationen ästhetischer Erkenntnis üben und durch diese rezeptiven und produktive Erkenntnisvermögen ihre Einsichten überprüfen und sich gegenseitig bilden.
Was haben also wir mit der Ästhetik des neuzeitlichen Philosophen Baumgarten für die Theorie im 21. Jahrhundert zur ästhetischen Darlegungspraxis und künstlerischen Forschung gewonnen? Baumgarten ist ein Denker, der die ästhetische Erkenntnis etablieren will und diese doch zugleich als dunkle Einsicht der unteren Erkenntnisvermögen im Gegensatz zur klaren Erkenntnis der Vernunft begreift. Baumgarten will die ästhetische Sprache der Dinge verstehen und legt mit seiner Analyse des wahrsagenden Bedeutens den Grundstein für eine Ikontik der Kunst. Doch hat Baumgarten mit dem Dichtungsvermögen am Ende nicht die visuellen oder darstellenden Künste und deren Formulierungsmaterialien im Blick, sondern nur die poetischen Dichtungskünste. Auf der Suche nach den ästhetischen Erkenntnisvermögen behauptet er zwar die Verknüpfung der Dichtungsvermögen mit den oberen Erkenntnisvermögen der Vernunft und benennt mit der »ästhetikologischen Wahrheit« eine ebenso rationale wie sinnliche ästhetische Einsichtskategorie, schenkt aber dann vor allem den »süßlichen Gemütsbewegungen« der sinnlich wahrnehmenden Ästhetiker sein ernstes Interesse. Nur mittelmäßig anspruchsvolle Gegenstandsbereiche gelten ihm als für die ästhetische Erkenntnis brauchbar. Kurzum ein Philosoph, der meint, mit der ästhetischen Erkenntnis gehe es um jene Dinge, »die ein mittelmäßiger ästhetischer Geist nicht aus der höheren deutlichen und adäquaten Erkenntnis der Wissenschaften an jenes schöne Licht hinabführen kann, das rosafarbene Licht, das den Augen des Analogons der Vernunft und den unteren Erkenntnisvermögen gefällt und sie nicht blendet.«17 Diese rosafarbene Ästhetik aus der Mitte des 18. Jahrhunderts liefert gleichwohl unter formalen Gesichtspunkten den Hinweis auf die Möglichkeiten einer ästhetischen Epistemologie. Sie sensibilisiert die Aufmerksamkeit für den Zeichencharakter der Dinge. Sie schlägt vor, unter dem Stichwort der »durchringenden Einsicht« eine differenzierende und verknüpfende, gleichsam syntaktische Ebene in das Verstehen ästhetischer Sachen einzutragen, mit der die Frage nach dem Forschungscharakter künstlerischer Darstellungen weiterverfolgt werden kann. Und sie begreift das »Dichtungsvermögen« als eine zugleich erkennende und produktive Fähigkeit, so dass die künstlerische Forschung als gestalterische Einsichtspraxis im Darstellen absehbar wird.
1Vgl. im Original: »Just as grammars of language describe how words combine in clusters, sentences and texts, so our visual ›grammar‹ will describe the way in which depicted elements – people, places and things – combine in visual ›statements‹ of greater or lesser complexity and extension.« Kress, Leeuwen: Reading Images, 2006, S. 1, übersetzt von A.H.
2Vgl. Kress, van Leeuwen: Reading Images, 2006, S. 243.
3Vgl. Kress, van Leeuwen: Reading Images, 2006, S. 266.
4… obwohl – bei genauer Betrachtung – ein ›darüberhinaus‹ eine räumliche Beziehung und nicht eine konjunktive benennt.
5»…Darboven subjects her materials to a process of framing that participates in a logic oft he archive. The employment of standardized wooden frames and paper borders in red, black or white refers to archival processing and filling procedures that function, both visually and structurally, to equalize the assembled materials whether readymade or handmade, original or reproduced.« Adler: Hanne Darboven. Cultural History 1880-1983; 2009, S. 39, übersetzt von A.H.
6Bippus: Erinnern und Vergessen, in: Zdenek (Hg.): Hanne Darboven: ein Reader, 1999, S. 128.
7Schreiber: Bild und Text als Informationsträger – Gemeinsamkeiten und charakteristische Unterschiede, in: Nortmann, Wagner (Hg.): In Bildern Denken, 2010, S. 108.
8Schreiber: Bild und Text als Informationsträger in: Nortmann, Wagner: In Bildern Denken, 2010, S. 107.
9Schreiber: Bild und Text als Informationsträger in: Nortmann, Wagner: In Bildern Denken, 2010, S. 110/111.
10Bippus: Installieren, in: Badura, Dubach, Haarmann et al. (Hg.): Künstlerische Forschung: Ein Handbuch, 2015, S. 152
11Diesen körperlich ›nachgehenden‹ Nachvollzug haben wir auch bei der Rauminstallation von Fischli/Weiss schon beobachtet.
12Bippus: Erinnern und Vergessen, in: Zdenek (Hg.): Hanne Darboven: ein Reader, 1999, S. 133.
13Bippus: Installieren, in: Badura, Dubach, Haarmann et al. (Hg.): Künstlerische Forschung: Ein Handbuch, 2015, S. 153.
14Wir erinnern uns hier, wo die mutwillige Inwertsetzung eines Gemäldes durch einen Künstler als Teil seiner künstlerischen Artikulation verstanden werden muss, an Marcel Duchamp und dessen Erklärung, wie aus einem gewöhnlichen Urinal bedeutungsvolle Kunst wird: »He CHOSE it. He took an ordinary article of life, placed it so that its useful significance disappeared under the new title and point of view – created a new thought for that object.« Das Porzellanobjekt durch die Signatur eines Künstlers gerahmt, wird durch diesen Akt der Verschiebung vom Nützlichen zum Gedanklichen als Kunst positioniert und damit gehaltvoll.
15Baumgarten: Metaphysik, in: Texte zur Grundlegung der Ästhetik, 1983, §589 und vgl. darüber hinaus auch Baumgarten: Ästhetik, 2007, S. 29, §31.
16Vgl. Baumgarten: Ästhetik, 2007, Die ästhetische Lehre: § 62ff Abschnitt IV.
17Baumgarten: Ästhetik, 2007, S. 99 § 121.