Produktivität
Wenn also die Wissenschaft als produktive Gestaltungspraxis anzuerkennen wäre, sollte es insbesondere der Kunst nicht schwerfallen, diese Produktivität und Gestaltungsarbeit in ihrer eigenen Forschungspraxis an den Tag zu legen. Wahrscheinlich ist jedoch der Zusammenhang von Produktivität, Kunst und Forschung besser in einer anderen Verteilung der argumentativen Schwerpunkte zu formulieren: Gerade weil wir im argumentativen Durchgang durch die kritische Epistemologie nicht nur das relative, sondern auch das produktive Element des wissenschaftlichen Forschens herausarbeiten können, wird sinnfällig, warum es im Kontext der Kunst naheliegt, deren Einsichtspraxis auch Forschung zu nennen. Zu Beginn der Überlegungen war es noch unerträglich gewesen, der Kunst den Begriff der Forschung zuzumuten, weil dieser Begriff nach Naturwissenschaft klang und damit nach einer strengen, fantasielosen, regelgeleiteten Disziplin. Jetzt aber stellt sich heraus: So schöpferisch heiter wie die Kunst ist eigentlich auch die strenge Forschung. Und mehr noch: Sensibilisiert für die produktiv laborierende Dimension des Forschens fangen wir an, auch die historischen Vorläufer naturwissenschaftlicher Forschungspraktiken als Inspirationsquellen für die künstlerische Forschung zu erkennen.
Schon das Forschen im 16. Jahrhundert wurde als eine dynamische, nicht fantasielose Aktivität begriffen. Anders formuliert: In seinen neuzeitlichen Anfängen war das wissenschaftliche Forschen ganz offensichtlich eine konstruktive, gestaltende Tätigkeit. Das Spezifische der neuzeitlichen Forschung war ihre handgreiflich laborierende Dimension, mit der sie sich von der philosophischen Spekulation abgrenzte. Philosophie kontemplierte (nur) passiv, so lautete in der frühen Neuzeit mitunter die epistemologische Abgrenzungsgeste, die das traditionsreiche Geschäft der Naturphilosophie als unzureichend für das Verständnis der natürlichen Phänomene abqualifizierte. Das naturwissenschaftliche Forschen wurde im Gegensatz zum naturphilosophischen Nachdenken als eine aktive Tätigkeit begriffen. Eine aktive Tätigkeit, die es im Selbstverständnis der neuen empirischen Wissenschaften tatsächlich auch brauchte, um die Welt konkret untersuchen zu können, statt sie nur abstrakt zu verstehen. Experimente, Analysen, Feldversuche – alle diese Aktivitäten, die das naturforschende, empirische Erkenntnisprozedere der Neuzeit charakterisieren und von der philosophischen Kontemplation differenzieren – basieren auf der Annahme, dass wir uns bewegen müssen, um zu erkennen, dass wir unser Umfeld organisieren und damit verändern müssen, um Einsichten zu erlangen, dass Instrumente und Kontexte erzeugt, und die Gegenstände der Erkenntnis traktiert werden müssen, um aus diesen Modifikationen und Konstruktionen von Welt schließlich Wissen zu destillieren – so der Grundgedanke der Naturwissenschaft als Erfahrungswissenschaft. Um Erfahrungen zu machen, muss man Veränderungen am Bestehenden vornehmen und dabei sich selbst oder das Umfeld bewegen. Erkenntnis ist weder einfach da noch überliefert gegeben – so die Einstellung der neuzeitlichen Forschung in Abgrenzung zur Scholastik. Wissen muss in einem Erkenntnisprozess herausgearbeitet werden oder durch eine Bewegung des Erkenntnissubjektes ins Sichtfeld geraten. Erkenntnis ist ein Ergebnis von kontrollierter Modellierung von Welt und explorativer Bewegung der Forschenden, so das Axiom wissenschaftlichen Forschens in Abgrenzung zu philosophischem Denken im Archiv der Traditionen. Und so ist es kein Zufall der Kulturgeschichte, dass ausgerechnet in der frühen Phase naturwissenschaftlichen Forschens ein Galileo Galilei sowohl auf Türme stieg, an Geräten bastelte wie auch schöpferisch probierend zeichnete, um den Kosmos zu verstehen, ein Leonardo da Vinci sich als Ingenieur und Anatomieforscher verstand, um malen zu können, und malte, um die Welt zu verstehen, oder ein Alexander von Humboldt sich als Forschungsreisender auf den Weg machte, ausgestattet mit Instrumenten aller Art, um Dinge anzueignen, aber auch Zeichnungen und Skizzen anfertigte, um die Kräfte der Natur zu verstehen. Diese Forschenden waren konstruierend, ver-zeichnend und mobil auf der Suche nach einer empirischen Wahrheit der Natur, von der sie annahmen, dass sie aus der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen herausgearbeitet werden müsse, wie Skulpturen aus dem Marmor, oder dass sie hinter den offensichtlichen Annahmen hervorgezogen werden konnte, wie Requisiten hinter den Vorhängen einer Bühne – nicht ohne bei solchen Maßnahmen des Herausarbeitens und Hervorziehens auch eine aktuelle Inszenierung der Wahrheit von Natur im Scheinwerferlicht der Erkenntnis zu erzeugen.
Vor dem Hintergrund dieser ursprünglich aktiv und produktiv gedachten Dimension des verzeichnenden wissenschaftlichen Erkennens von Welt, scheint das »Forschen« tatsächlich eine mehr als angemessene Vokabel auch für den künstlerischen Einsichtsprozess zu sein, weil beim Forschen hinter dem Mythos der Regelhaftigkeit eine Praxis der Produktivität steht. Auf der Zurkenntnisnahme dieser Produktivität pocht die kritische Epistemologie des 20. Jahrhunderts, indem sie Forschungsverfahren in Hinblick auf deren konstruktive Maßnahmen und Tatschen als generierende Experimentalsysteme seziert. Wir können aber auch einen Blick in die Geschichte der neuzeitlichen Vorstellung von Forschung werfen, um den verwandten Geist ästhetischer Einsichtsprozesse und empirischer Wissenschaften darzulegen.
Entdeckung des Forschens als Praxis des Wissens
»Alles, was zur Bewegung anregt, möge die bewegende Kraft sein, welche sie wolle, Irrtümer, unbestimmte Mutmaßungen, instinktmäßige Divinationen, auf Tatschen gegründete Schlußfolgerungen, führt zur Erweiterung des Ideenkreises, zur Auffindung neuer Wege für die Macht der Intelligenz.«1 Mit diesen Worten identifiziert Alexander von Humboldt die beiden Zutaten, derer es bedarf, um Erkenntnisse zu gewinnen: Kraft und Bewegung. Bewegen muss sich das Erkenntnissubjekt zur Erweiterung des Ideenkreises. Bewegt aber wird es durch die Kräfte der Irritationen oder der Mutmaßungen, die seine Neugier wecken. Es war der große Irrtum des Christoph Kolumbus, dass sich der asiatische Kontinent weit nach Osten erstrecke und ergo nicht so weiter hinter dem westlichen Horizont läge, der Kolumbus aufbrechen ließ, um über den westlichen Weg den vermeintlich naheliegenden asiatischen Kontinent anzutreffen. Und auch wenn der von Kolumbus im 15. Jahrhundert daraufhin gefundene Landstrich dann gar nicht das asiatische Festland war, so führte doch dieser Irrtum bei gleichzeitiger Erweiterung des Ideenkreises zur Auffindung neuer Wege des Wissens. Mit dieser Einstellung, dass Irrtümer und Missverständnisse die Neugier bewegen und aus dieser Neugier neue Erkenntnisse gefunden werden können, machte sich auch Alexander von Humboldt zum Ende des 18. Jahrhunderts auf den Weg, um jenseits des Atlantiks einen Überblick über die tropische Natur zu gewinnen und Beweise vom Zusammenwirken der natürlichen Kräfte zu sammeln. Der für uns bedeutenden zwei Aspekte der berühmten Forschungsreise von Humboldt mit seinem Kollegen Aimé Bonpland sind folgende: Der künstlerische Anspruch, mit dem die beiden die Natur des neuen Kontinents nicht nur in ihren Details vermessen, sondern auch in ihrem Ganzen verzeichnet haben. Und der konstruktive Anspruch, mit dem sich die beiden Forscher auf den Weg gemacht haben und im Verlauf der Expedition Dinge und Daten akkumuliert und zu neuen Arrangements versammelt und gruppiert haben.
Bleiben wir zunächst bei diesem zweiten, konstruktiv gestaltenden Anspruch, der darin besteht, dass durch das sich Bewegen und das Sammeln, Ordnen und Bearbeiten von Dingen und Daten der Erkenntnis von Welt ein Stück näher zu kommen ist. Humboldt macht sich auf den Weg. Selbstorganisiert, selbst finanziert, selbst beauftragt reist er mit seinem Forscherkollegen Bonpland trotz der Kriegshindernisse in Europa und damit verbundener Seewegblockaden in die westlichen Tropen – nach Südamerika. Humboldt und Bonpland wollen die tropische Natur erforschen und sie bleiben dazu nicht auf den sicheren Schiffen der Europäer, sondern durchforsten und durchlaufen das fremde Land. Sie scheuen keine Mühen, um auf Vulkane zu gelangen, Flussläufe zu erkunden oder ferne Gegenden kennenzulernen und arbeiten sich an den Widrigkeiten des Erkennens und Durchschauens ab. Sie klettern auf unsichere Dämme in tosenden Urwaldgewässern, um Fels- und Höhlenformationen zu erkunden und »fanden zufällig Gelegenheit diese große Naturszene länger, als wir wünschen konnten, zu genießen. Die Indianer hatten uns mitten in der Katarakte verlassen. […] Die Nacht brach ein; wir suchten vergebens Schutz zwischen den klüftigen Granitmassen. Die kleinen Affen, die wir monatelang in geflochtenen Käfigen mit uns führten, lockten durch ihr klagendes Geschrei Krokodile herbei, deren Größe und bleigraue Farbe ein hohes Alter anzeigten…«2
Humboldt und Bonpland fallen, unfreiwillig auf der Flussinsel gestandet, den Krokodilen nicht zum Opfer und sie erfrieren nicht auf den Vulkanen, die sie mühsam besteigen. Aber sie setzten sich auf der Suche nach den Wahrheiten der Natur deren Kräften aus. Humboldt und Bonpland haben sich im Modus der Forschung auf den Weg gemacht und als Subjekte der Forschung dabei verändert. Die Erfahrungen haben sie zu anderen gemacht und diese Anderen ihrer Selbst waren schließlich angereichert durch die gesammelten Einsichten. Gesammelt aber werden nicht nur Erfahrungen und Einsichten, sondern auch konkrete Affen und Blätter verschiedener Pflanzen, Geschichten der Anwohner und Messdaten, Gesteinsbrocken und Flussverläufe. Bonplands und Humboldts penetrantes Unterwegssein und neugieriges Vorgehen führt diese zu diversen lebendigen und physikalischen Dingen und Daten, die vorgefunden, ermessen, eingesammelt oder eingefangen werden. Im Modus des Ansehens und Aneignens sammeln die beiden Forscher die auffindlichen Sachverhalte der tropischen Natur in deren Einzelteilen, derangieren dabei die Objekte ihres Erkenntnisinteresses, um diese dann zu konservieren, zu sortieren oder zu kategorisieren und damit in einer Ordnung der Einsicht zu re-arrangieren. Erkenntnistheoretisch relevant ist hier dieser zweifache Modus der Konstruktion: Eine neue Weltsicht wird erzeugt durch die Bewegung des Erkenntnissubjekts, das sich auf dem Tableau der Phänomene in eine bisher unbekannte Situation und damit in eine neue Perspektive gegenüber der Welt begibt. Und eine neue Welt wird erzeugt durch das Aufnehmen, Bearbeiten und Formieren von Dingen der Natur. Bonpland und von Humboldt gestalten eine einsichtige Welt mittels der figurierenden Arbeit an den Dingen der Natur. Tiere werden ausgestopft und nach Europa gebracht, Mineralien aufgelesen und geordnet, 60.000 Pflanzen sollen die beiden auf ihrer Reise durch den amerikanischen Kontinent gesammelt haben, unzählige davon im Ganzen oder in Teilen getrocknet, gepresst oder gezeichnet in jedem Fall aufbereitet für die intersubjektiv prüfende Forschergemeinde. Keine der neu entdeckten über 6000 Pflanzenarten wäre in der Welt der Forschung anerkannt worden, hätten sie nicht die Transformation der Deplatzierung und Haltbarmachung durchlaufen, um damit beispielhaft Ikone, Zeichen, Referent ihrer Sorte zu werden. Man muss nicht die gesamte Population einer Art konservieren, um deren Dasein zu dokumentieren, aber eine Probe exemplifiziert die Gattung. Ein Grashalm verwandelt sich als Muster von Gras einerseits in einen abstrakten Repräsentanten von tausenden anderen Gräsern seiner Art und andererseits in einen konkreten Referenten. Der konkrete Referent – das Referenzgras – ist das getrocknete, geplättete, verzeichnete Exemplar seiner Gattung, das im Regal eines naturkundlichen Archivs einsortiert lagert, so dass auf es – wie in einer Fußnote – als Quelle und Garantie für die Wahrheit und Existenz der Grassorte zurückgegriffen werden kann. Bruno Latour, der die Urwaldforscher des 20. Jahrhunderts bei ihrer Arbeit verfolgte, wie er auch Humboldt hätte verfolgen können, schält in dichter Beschreibung die Verwandlung eines Pflanzenstücks in einen material-semiotischen Referenten heraus. »Wir vergessen immer,« bemerkt Latour, »daß das Wort ›Referenz‹ vom lateinischen Verb referre abgeleitet ist, was soviel wie ›herbeischaffen‹ heißt. Ist der Referent das, worauf ich mit dem Finger zeige und was außerhalb des Diskurses bleibt, oder das, was ich in den Diskurs hineinhole?«3 Sind die konservierten Exponate von neuzeitlichen oder auch modernen Feldforschern Beutestücke des Realen oder sind sie zu Zeichen geworden und damit als reale Dinge auch imaginär? Sind die Pflanzenproben material-semiotische Zeichen, die wie künstlerische Artefakte als Muster das Wirkliche exemplifizieren? Sind es Zeichen, die wie Kunstwerke von Menschenhand bearbeitet und geformt wurden, um als Verhandlungsangebote über Wirkliches zu fungieren? Es sind Beutestücke, die auf jeden Fall durch einen produktiven Prozess der Deplatzierung, Bearbeitung, Formung und Sortierung gegangen sind, um einen Verweisungszusammenhang »herbeizuschaffen«. Die ausgestopften Affen, getrockneten Pflanzenblätter oder sortierten Mineralien sind die produktiv gestaltete, erforschte tropische Natur des Alexander von Humboldt. Die Forschungsreise Humboldts und Bonplands in ferne Kontinente inspiriert unser Nachdenken über die produktive Praxis des Forschens – und damit bewegt sie unser Nachdenken über die forschende Praxis der Kunst. Das tätige Unterwegssein und arrangierende Sammeln der beiden Naturforscher exemplifiziert die Produktivität und Aktivität des Forschungsprozesses. Wir haben hier einen aktiven Forschungsprozess im Blick, der Erkenntnisse als Werkprozesse generiert. Doch die humboldtsche Forschungsreise weist neben der neugierigen Agilität und formierenden Produktivität noch eine weitere Besonderheit auf. Diese Besonderheit führt nicht nur erkenntnistheoretisch, sondern auch medial ins Zentrum ästhetischen Forschens.
Vom Detail der Daten und dem Ganzen der Gemälde
Humboldt und Bonpland reisten nicht nur, um Daten und Dinge der Natur zu sammeln, sondern auch, um ästhetische Zusammenhänge zu verzeichnen. Es geht ihnen um das Sammeln – und – das Zeichnen. Es geht um Empirie und Ästhetik. Für Humboldt stehen das übersichtliche Allgemeine und das detaillierte Besondere der Natur in einem Verweisungszusammenhang zueinander und ergeben erst gemeinsam einen Erkenntnisraum. Humboldts Erkenntnisanspruch war nicht der eines Buchhalters alleine, der einen umfassenden und sortierten Bestand an Vorhandenem anstrebte, sondern auch der eines Ästheten, der einen angemessenen Gesamtzusammenhang der Kräfte der Natur verstehen und vermitteln wollte. »Obwohl sein erklärter Anspruch der eines ›wissenschaftlich Reisenden‹ war«, so die Wissenschaftsforscherin Anne Buttimer über Humboldt, war ihm doch zugleich »kontinuierlich der humane Zugang seines Naturstudiums bewusst, den er sich durch seinen Dialog mit Goethe klar gemacht hatte. Anders als im Rahmen eines konventionellen ›naturwissenschaftlichen‹ Anspruchs, der für wissenschaftliches Wissen beansprucht, Objektivität und verifizierbare Verallgemeinerungen zu generieren, versuchte Goethes ›Weg des Wissens‹ die Spalte zwischen Subjekt und Objekt zu überwinden, indem die Figur des Wissenden und der Prozess der Entdeckung hervorgehoben wurden…«.4 Erst im Verbund der (objektiv) numerisch-faktischen und der (subjektiv) ästhetischen Zusammenhänge vermögen wir die Natur und ihre Kraft zu erkennen, so die Grundannahme Humboldts. Die mannigfaltigen Erscheinungen der Natur bedürfen sicherlich der Ansammlung von Messdaten und Beweisstücken aller Art. Diese Anhäufung von Dingen und Daten trägt allerdings nur die Details zusammen, nicht aber den Zusammenhang von Natur in sich. »Reichtum der Natur veranlaßt Anhäufung einzelner Bilder. Und Anhäufung stört die Ruhe und den Totaleindruck des Gemäldes«5, so die wissenschaftstheoretische Position des neuzeitlichen Feldforschers.
Zur Sammlung und Ordnung von Dingen und Daten müssen demnach künstlerische Produkte hinzukommen, um Natur in ihrer Gänze zu begreifen. Denn »der Totaleindruck des Gemäldes« ist bei Humboldt nicht als Metapher gemeint, sondern wörtlich zu nehmen. Sein »Naturgemälde« verknüpft den Datensatz der numerischen Forschung mit der Poesie des Reiseberichts und mit der Darstellung im Bild. Neben den Tagebucheintragungen, Notizen, Geschichten, Messungen und Sammlungen haben Humboldt und Bonpland skizzenhafte Zeichnungen angefertigt von Tieren, Pflanzen und Gegenden. Nach ihren Schilderungen und Skizzen wurden im Anschluss an die amerikanische Forschungsfernreise in Europa kolorierte Stiche gefertigt, welche Pflanzen, Tiere, Menschen in Trachten sowie ganze Landschaftsszenarien zeigen. Diese Landschaftsgemälde vermitteln ein Wissen über die tropische Natur hinsichtlich ihrer – von Humboldt und Bonpland so erfahrenen – atmosphärischen Wahrheit. Humboldt hatte ein holistisches Verständnis von der Naturforschung.6 Es ging ihm darum, das Zusammenwirken der natürlichen Kräfte als Gesamtbild der empirischen und ästhetischen Wissensformen und Darstellungsweisen zu verstehen. Dieser vielleicht überbordende Idealismus über die volle Wahrheit des Gesamtzusammenhangs bei Humboldt muss uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine Naturforschung tatsächlich zeigt, inwiefern im Ästhetischen eine Erkenntnisform liegen kann. Die ästhetische Einsicht über die tropische Natur ist für Humboldt von fundamentaler Relevanz neben der empirischen Sammlung von Dingen und Daten, denn mit ihr stellt sich ein spezifisch präzises Verstehen ein: In heller Lichtigkeit steht dann beispielsweise der Chimborazo-Vulkan auf dem Tapia-Plateau im gemalten Bilde der Einsicht. Der Himmel auf diesem Landschaftsgemälde ist von blassem Cyan, leichte Beigetöne prägen die Gegend. Der Boden der Ebene ist braungelb. Auch die wenigen Pflanzen dieser trockenen Gegend sind in lichtem Grün gezeichnet. Das Plateau vor dem Vulkanberg zeigt sich offen. Die wenigen Menschen sind klein und fast zu übersehen angesichts der Mächtigkeit des schneebedeckten Vulkans. Der Totaleindruck dieser fernen Gegend ist von diesiger Durchsichtigkeit geprägt. Ein ästhetischer Eindruck, der zugleich ein Wissen über die topografische Höhe bei gleichzeitiger Nähe zum Äquator dieser Landschaft in sich trägt. So duftig licht und gleichzeitig hell und warm sind hoch gelegene tropische Orte. Die Luft ist dünn, die Sicht milchig weit und die Sonne intensiv. Diese Wahrheit der Gegend wird von keinem eingetrockneten Pflanzenzweig oder reiner Numerik der errechneten Höhenmeter vermittelt. Gesteinsbrocken können etwas über die Bauart der Berge verraten, zugleich sind Berge und Brocken von fundamental anderer Anmutung, wenn sie in verschiedenen Weltgegenden vorkommen: »Was der Maler mit den Ausdrücken: schweizer Natur, italienischer Himmel bezeichnet, gründet sich auf das dunkle Gefühl dieses lokalen Naturcharakters. Luftbläue, Beleuchtung, Duft, der auf der Ferne ruht, Gestalt der Tiere, Saftfülle der Kräuter, Glanz des Laubes, Umriß der Berge, alle diese Elemente bestimmen den Totaleindruck einer Gegend. Zwar bilden unter allen Zonen dieselben Gebirgsarten: Trachyr, Basalt, Porphyrschiefer und Dolomit, Felsgruppen von einerlei Physiognomie. Die Grünstein-Klippen in Südamerika und Mexiko gleichen denen des deutschen Fichtelgebirges […] bei aller dieser Übereinstimmung in den Gestalten, bei dieser Gleichheit der einzelnen Umrisse nimmt die Gruppierung desselben zu einem Ganzen doch den verschiedensten Charakter an.«7 Zwischen messgenauem Wissen und atmosphärischer Ansicht zeigen sich für Humboldt jene Kräfte der Natur, um deren Erkenntnis es ihm mit seiner Feldforschung auch ging. Korrelativ zu den Zahlenkolonnen und Vermessungsaktivitäten legte er ästhetische Verzeichnisse im Kleinen und Großen von den der tropischen Welt an, die er bereiste, bestehend aus Notizen und Skizzen, Karten, Poesie und Stichzeichnungen. Anders formuliert und mit Blick auf die Genealogie ästhetischer Forschungspraxis: »Humboldts Zeichnungen und Stiche von Werkzeugen und Kultobjekten, Alltagsszenen und Stadtansichten aus Süd- und Mittelamerika erfüllen eine Funktion, die in der visuellen Anthropologie später der Photographie und dem Film zukommen wird: fremde Lebenswelten nicht nur sprachlich und statistisch durch Worte und Zahlen, sondern auch bildlich zu dokumentieren und erforschbar zu machen.«8 Oliver Lubrich macht sich als vergleichender Literaturwissenschaftler anhand der ästhetischen Forschungspraxis von Humboldts klar, dass auch die Bilder in Korrelation zu den Begriffen und Nummern in unserer Kommunikationspraxis eine kognitive Erkenntnisfunktion zu entfalten in der Lage sind: »Als Denkbilder machen sie etwas greifbar, fasslich, verständlich«, so Lubrich. »Sie verdichten eine Erkenntnis, eine historische Erfahrung, ein Bildwissen.«9
Aber noch eine andere produktive Dimension des neuzeitlichen Forschens wird in den Gemälden sichtbar, die den Reisen des Alexander von Humboldt entspringen: Nicht nur die schöpferische Dimension, die es braucht, um im Gemälde die Wahrheit eines tropischen Vulkanplateaus zu erkennen, sondern auch die instrumentelle Kreativität, die das Forschen begleitete: Das Gemälde des Dschungellabors von Eduard Ender aus dem Jahr 1850 zeigt »Alexander von Humboldt und Aimé Bonpland in der Urwaldhütte« umgeben von Dingen der Feldforschung. Messgeräte und Aufbewahrungskisten für Sammelstücke sind zu sehen, verschiedene Pflanzenteile liegen herum, ein Strohhut befindet sich unter dem Tisch, ein geflochtener Tragekorb lehnt an einer Holzkiste, ein abgelegter Gürtel mit Uhren und anderen Instrumenten ist zu Füßen der Forscher zu sehen, Schachteln, Schalen, Lupen, Bücher befinden sich auf dem Tisch übereinandergestapelt sowie ein Schriftstück in Humboldts Schoss, der sitzend an die Tischkante gelehnt gleichsam in die Kameralinse dieses gemalten Schnappschusses blickt, während Bonpland hinter Humboldt am Tisch stehend und an einem Pflanzenstück nestelnd seinen Kollegen ansieht. Die Hütte ist ein halb offener Unterstand, der den Betrachtern des Gemäldes hinter Bonpland im Ausschnitt eine Aussicht auf die helle, tropische Landschaft mit Palmenwedeln und fernen Karstfelsen freigibt, während sich die Forschenden selber im Halbdunkel des Schattens im Innern aufhalten. Durch diesen Schatten im Innern der Hütte fällt ein unwirklicher Lichtstrahl auf Humboldt und hebt diesen im hellen Gelb seiner Kleidung und dem lichten Hautton hervor. Eine Bühne der Forschung wird hier gemalt, die den Helden der neuzeitlichen Feldforschung im imaginierten Scheinwerferlicht markiert, umgeben von Requisiten und abgehoben vom Bühnenraum des Dschungellabors. Dem Publikum zugewandt zeigt Humboldt das Schauspiel, dessen Protagonist er ist: eine sorgfältig drapierte Momentaufnahme der tätigen Eingelassenheit in die Mannigfaltigkeit der Natur und zugleich würdevollen Abgehobenheit vom Dschungel der tropischen Wahrheiten. Die Gemälde, die Humboldt und Bonpland auf ihrer Reise durch Südamerika zeigen, entstanden in Europa auf der Grundlage von deren Schilderungen, angereichert vielleicht durch die Fantasie des Malenden. Doch wird hier eine bemerkenswert inszenierte und zugleich überbordende Szene gezeigt. Im Durcheinander von Früchten, Blättern, Sextanten und Schriftstücken ist nicht die Ordnung der Naturanalyse zu erkennen, sondern eine chaotische Gemengelage aus Utensilien und Fundstücken, Unterlagen und Forschern, denen offenbar an der Inszenierung der Feldforschung als abenteuerlicher Praxis lag und die zugleich in ihrer Inszenierung die tätige Praxis als ästhetische Signatur des Forschens offenbaren.
Das Theater der Forschung
Dass das Forschen eine produktive und zugleich ästhetische Praxis ist, in welcher Schmetterlingskescher, Mikroskope, Sextanten, Assistenten, Lastentiere sowie Herbarien oder Zeichenstifte eine ebenso eminente Rolle für den Weg des Wissens spielen wie deren gekonntes Arrangement. Diese Einsicht, die für empirische ebenso wie die künstlerische Forschung vermutet werden darf, lässt sich nicht nur auf dem neuzeitlichen Porträt des südamerikanischen Dschungellabors mit Alexander von Humboldt und Aimé Bonpland erkennen, sondern auch anhand der aktuellen Installationen des Künstlers Marc Dion verstehen. Mit Dion untersucht die Kunst, indem sie sich selber als Untersuchung der Wissenschaft inszeniert, auch sich selbst als ästhetische Forschung. Dion nimmt im 21. Jahrhundert die Tätigkeit der neuzeitlichen Naturforscher ins Visier und auch die Forschungspraxis der modernen Archäologen.10 Mit seinen künstlerischen Arbeiten werden diese beiden unterschiedlichen Formen der Inszenierung von Forschung thematisiert, welche unterschiedliche instrumentelle oder aber selektierende Aspekte des wissenschaftlichen Arbeitens visualisieren: Die Installationen des Künstlers Dion sind zum einen bildhafte Auseinandersetzungen mit dem, was als Bühnenbild der Forschungsreise bezeichnet werden kann – ein Bühnenbild, wie es im Gemälde vom humboldtschen Urwaldlabor schon aufscheint. Die Performanceprojekte von Dion können demgegenüber als aktiv handelnde Re-Inszenierungen von archäologischen Forschungshandlungen verstanden werden. Widmen wir uns zunächst den installativen Bühnenbildern – das Bild des humboldtschen Dschungellabors noch vor Augen.
Der Künstler Dion hat seine Rauminstallationen als Szenarien aufgebaut, die wie dreidimensionale Stillleben zum Thema der neuzeitlichen Forschungsreise wirken. Der Auftritt des Forschers auf diesem Schauplatz der Dinge der Naturwissenschaft scheint unmittelbar bevorzustehen. Es sind eingefrorene und zugleich arrangierte Momentaufnahmen, die in den installativen Bühnenbildern Dions gezeigt werden – etwa beim Entladen der wissenschaftlichen Utensilien vom Schiff auf das zu beforschende Land oder beim Aufbauen einer Forschungsstation am Flussufer im Urwald. Die Patina der arrangierten Gegenstände in der Installation ruft Fantasien von konkreter Dichte auf: Koffer, Fässer, Taue, Körbe, die der mobilen Vorratshaltung und Handhabung von Fortbewegungsmitteln dienen, verweisen auf die Reisesituation der Forschenden. Der Forschungsanspruch wird mittels ausgewiesener Instrumente, Fangkescher, Glaskolben mit Präparaten in Formaldehydlösung oder Notizzettel dargestellt, die dem Sammeln, Schauen, Notieren und Konservieren dienen. Garniert wird das Bühnenbild der Feldforschung durch Spuren menschlichen Alltagslebens, welche die Kontingenz der Forschungssituation in Szene setzen. Das metonymische Nebeneinander von Dingen des täglichen Gebrauchs, wie Wäschestücke, Rasierutensilien und Brillenschachteln sowie Dingen der Reisetätigkeit und Objekten der Wissenschaft unterminiert jede Vorstellung von reinen, nur an den wissenschaftlichen Fakten entwickelten, unverfälschten Forschungsergebnissen. Man imaginiert beim Betrachten dieser Szenerie das verschwitzte Leinentuch als Bestandteil im Präparat und das Begehren nach sauberem Wasser in der Jagd nach dem Schmetterling. Die Dinge im Arrangement exponieren als künstlerische Installation die situative Wahrheit des Forschungslagers als einer Vermischung. Vermischt sind Dinge, Patina, Forschungsansprüche, Lebensweisen und Instrumententechnik mit dem Untersuchungsgegenstand.
Das installative Arrangement von Objekten in dieser künstlerischen Arbeit hat den Charakter einer künstlerischen Behauptung über die Forschung als Praxis. Behauptet wird in der Setzung der Installation, dass die Forschungssituation der frühen Naturwissenschaftler ein ziemliches Durcheinander war. Dion beschreibt dabei in seiner künstlerischen Arbeit diese These nicht begrifflich. Er zeigt durch die Sichtbarmachung des dichten Nebeneinanders von semantisch gehaltvollen Dingen, dass Feldforschungen immer auch Reisen von lebenden Menschen gewesen sind und dass sich diese Faktoren – der Faktor Reise und der Faktor Mensch – wie unbedachte Variablen in einer Gleichung auf das Ergebnis der Forschung durch den schlichten Sachverhalt auswirken, dass sie da sind. Die Installationen von Dion »exemplifizieren«, wie der Symboltheoretiker Nelson Goodman diese Weisen des symbolischen Bezugnehmens charakterisieren würde, das Dasein der vielen Dinge in einer Situation der Fülle als unhintergehbarer Realität forschender Situationen. Die Installationen behaupten damit im Modus der Darstellung, dass die sezierten Präparate unter dem Mikroskop keine Konzentration auf das Wesentliche sind.
Der Erfolg von Dions Installationsarbeiten in der Kunstwelt und weniger in der Welt der Wissenschaftssoziologie korrespondiert allerdings mit der charmanten Altertümlichkeit der inszenierten Szenen und einer damit aufgerufenen historisierenden Romantik. Wie entzückende Kinderbilder in wackeligen Super-8-Filmen aus alten Tagen wirken diese Installationen der Gegenwartskunst mit ihren brüchigen Lederkoffern, verbeulten Metallrohren für optische Geräte oder krummen Schmetterlingskeschern gegenüber den Erwartungen an Laborsituationen des 21. Jahrhunderts. Dion scheint einen Teil der forschungspolitischen Brisanz einzubüßen, die seine künstlerische Arbeit haben könnte, indem er durch die Patina vorangegangener Jahrhunderte die Relevanz des artikulierten Forschungsrelativismus zeitgeschichtlich abschwächt. So irritieren die künstlerischen Installationen von Marc Dion den Glauben an Fortschritt und Objektivität in der Wissenschaft zunächst nicht nachhaltig, denn in der Ansicht, dass die Forschungsreisenden des 18. und 19. Jahrhunderts nicht in der Lage waren, objektiv und sauber zu arbeiten, weil mit ihnen die Wissenschaft noch in den Kinderschuhen steckte, liegt anscheinend nichts, was den methodischen Charakter der Feldforschung an sich träfe. Die Objekte der Installationen kommen aus den neuzeitlichen Anfängen wissenschaftlicher Forschungsgeschichte und nichts an diesen Arbeiten von Dion deutet daraufhin, dass die Reinheit der Forschung ein tatsächlich systematischer Mythos ist und kein zeithistorischer Zwischenstand, der sich mit der allmählichen Verfeinerung der Instrumente verflüchtigt. Es entsteht der Eindruck, dass die Betrachtung einer Dion-Installation dem Betreten eines Antiquitätengeschäfts für romantisch veranlagte Alexander von Humboldt Fans ähnelt, wo es zu einem wesentlichen Teil um den dekorativen Aspekt und die kunsthandwerkliche Haptik der ausgestellten Objekte geht. Diese Kunst hat einen Werkcharakter, der auf die Erfahrung von Materialität setzt und den für die epistemologische Ästhetik interessanten Zeichencharakter des Arrangements nur beiläufig streift. Doch Dion nimmt sich in einer Reihe performativer Ausgrabungsprojekte seines Themas der Feldforschung auch weniger werkhaft und vielmehr handelnd an.
Schauen wir daher nun auf die performativen Arbeiten: Bekannt geworden ist das 1997 in Venedig zur Biennale realisierte ›Raiding Neptune’s Vault: A Voyage to the Bottom of the Canals and Lagoon of Venice‹. In dieser performativen Arbeit wurde aus den Kanälen und der Lagune Venedigs an verschiedenen Stellen der Bodenschlamm gebaggert und in Container gefüllt. Im weißen Kittel und mit Handschuhen ausgestattet durchsuchte Dion dann den Schlamm nach Dingen im weitesten Sinne. Algen, Krebstiere und Würmer wurden dabei ebenso eingefangen wie Plastikteile, Keramikscherben oder Metallstücke. Alles, was sich vom Schlamm als Sache unterschied, fand unabhängig von seinem kategorialen Status als Natursache oder Kulturprodukt, lebendiger oder toter Materie, historisch wertvollem Kulturzeugnis oder billigem Plastikmüll Eingang ins laboratory, einem kleinen Raum, wo die Sachen gereinigt und nach den unterschiedlichsten Kriterien sortiert wurde. Ein Teil der Objekte wurde schließlich im treasure cabinet präsentiert aber auch das laboratory war Teil der Ausstellung und zeigte die Fundstücke in unterschiedlich Stadien des Prozesses des Reinigens, Bündelns, Sortierens, Präsentierens. Der ›Raubzug in Neptuns Gewölbe‹ präsentiert sich durch seinen performativen Zuschnitt als ein Verfahren oder als ein Prozess, als eine Handlungsabfolge oder Bearbeitung. Die Performance stellt eine Bearbeitung dar, in deren Folge aus dem amorphen Schlamm der Lagune figurierte Utensilien destilliert und in Präsentationsobjekte verwandelt werden. Dion inszenierte in Venedig eine Metamorphose, bei der nicht alleine die Objekte der archäologischen Begierde sichtbar werden, sondern sich vor allem die konstruktive Tätigkeit zur Schau stellt, derer es bedarf, damit aus Urschlamm zunächst ein Gegenstand und dann ein ausgewähltes Forschungsobjekt wird. Zentraler Aspekt in diesem Tätigkeitsspektrum archäologischen Erzeugens von Objekten, ist neben dem Säubern, als einem Prozess des Trennens von Dazugehörigem und Überflüssigem, die Inwertsetzung durch Kategorisierung. Die Stufen der Wertigkeit sind im Übergang vom laboratory zum treasure cabinet als Verfahren der Entscheidung ablesbar. Die archäologische Forschung ist eine produzierende Arbeit, so das einsichtige Ergebnis der künstlerischen Arbeit, die dieses Raffinieren von Verschmutztem zu Sauberem, von Chaotischem zu Geordnetem auf die performative Bühne und damit in die Sichtbarkeit hebt. Ähnlich wie ein Chemiker in einer Laborsituation, reproduziert Dion einen angenommenen Vorgang und weist darin dessen Vorhandenheit nach. Wirklich vorhanden ist die Forschung mithin als Tätigkeit, die nicht Fakten entdeckt, sondern im Prozess des an-den-Fakten-Arbeitens diese als relevante erzeugt. Die Ausgrabungsperformance belegt, wodurch die Wertigkeit der epistemischen Fakten entsteht. Denn ähnlich der Wertigkeit von Kunstobjekten, erklärt sich die Wertigkeit von wissenschaftlichen Dingen durch den Zeichencharakter, den sie als Fundstücke in Sammlungen erhalten. Als Sammlerstücke stehen die Dinge – pars pro toto – für ein abstraktes Ganzes, dessen Spur oder Abdruck sie sind und dessen Bedeutung anhand ihrer verständlich gemacht werden kann oder soll. Kein wissenschaftliches Ding, das aus einem tätigen Forschungsprozess heraus geworden ist, steht für sich selbst und seine profane singulären Materialität, sondern es verweist auf ein System von Bezügen und Bedeutungen – es ist abstrakt geworden durch die Eingemeindung in die Familie der wissenschaftlichen Fundstücke und Untersuchungsgegenstände. Das gemusterte Porzellanstück etwa bezeichnet die Porzellankultur und handwerkliche Entwicklungsstufe einer Epoche. Das verdichtete Sedimentstück verweist auf die Klimasituation zum Zeitpunkt seiner Entstehung. Es sind Dinge – wie Kunstdinge – welche durch die Tätigkeit des Forschens – wie durch die Tätigkeit des Kunstens – zu Zeichen mit Referenz geworden sind. Forschen ist offenbar eine Praxis der Erzeugung von Zeichen und Werten und darin auf einem ähnlichen Terrain tätig wie die Kunst – eine Kunst, die diese praxische und zeichenproduzierende Dimension des Forschens daher paradigmatisch im performativen Wiederholen der Praxis des Forschens als Kunst inszenieren und darin aufweisen kann.
Was bedeuten nun diese Erwägungen für die Frage nach der Kunst als Praxis, der künstlerischen Praxis als Forschung und der Forschung als Weltverstehensprozess? Sie zeigen, dass wir unter den Bedingungen der kritischen Epistemologie die künstlerische Praxis als künstlerische Forschung und die Forschung als künstlerische Praxis rekonstruieren können. Während wir die Kunst als Forschung herausarbeiten – und damit überhaupt aus dem Schlamm der Praktiken hervorholen wollen – hat die Kunst ihrerseits schon die Forschung selber dem Zustand der stetigen Verschlammung überführt – und damit in einer sich überkreuzenden Konsequenz sich selber als forschende Praxis gleichsam verunreinigt. Dekonstruktion und Rekonstruktion haben sich verhakt. Unsere Erwägungen zeigen mit den ethnografischen, wissenshistorischen und künstlerischen Analysen über die Situiertheit der Wissensproduktion, dass es nicht darum gehen kann, nachzuvollziehen, wie aus methodisch reinen künstlerischen Praktiken epistemisch wahre künstlerische Einsichten entspringen, sondern dass die künstlerische Praxis in ihrer Wissensgenese so zu untersuchen sei, dass der vermischte Charakter der künstlerischen Einsichtspraxis als konstitutiver Aspekt sichtbar bleibt. Das ist das heitere Moment in der Einsicht, dass sie sich methodisch ernsthaft entdecken muss und zugleich als selbst erfüllende Praxis-Erkenntnis-Relation ironisiert.
1Von Humboldt: Die Entdeckung der Neuen Welt, 2009, S. 23.
2Von Humboldt: Über die Wasserfälle des Orinoco, in: Alexander von Humboldt: Ansichten der Natur, 2015, S. 48/49.
3Latour, Zirkulierende Referenz. Bodenstichproben aus dem Urwald am Amazonas, in: Latour: Die Hoffnung der Pandora, 2002, S. 45ff.
4Buttimer: Alexander von Humboldt and planet earth’s green mantle, in: Cybergeo: European Journal of Geography Epistémologie, Histoire de la Géographie, Didactique 2012 (https://cybergeo.revues.org/25478 Aufruf Sept. 2018). Übersetzung von A.H. der Originaltext lautet: »While his avowed purpose was that of ›scientific traveller‹, Humboldt was constantly aware of the humanistic approaches to nature study which he had gleaned through his dialogue with Goethe (Buttimer, 2001). Unlike conventional ›natural science‹ approaches which sought objectivity and verifiable generalizations in scientific knowledge, Goethe’s ›Way of Science‹ tried to transcend the rift between subject and object, placing emphasis on the knower and processes of discovery …«
5von Humboldt: Ansichten der Natur, 2015, S. 5.
6Vgl. dazu auch das Nachwort von Adolf Meyer-Abich zu Humboldts »Ansichten der Natur«, 2015, S. 163.
7von Humboldt: Ansichten der Natur, 2015, S. 74/75.
8Lubrich: Humboldts Bilder: Naturwissenschaft, Anthropologie, Kunst, in: von Humboldt. Das graphische Gesamtwerk, 2014, S. 10.
9Lubrich: Humboldts Bilder: in: Von Humboldt. Das graphische Gesamtwerk, 2014, S. 21, (Kursivierungen im Original).
10Vgl. zu den Arbeiten von Marc Dion die umfassende Analyse von Christine Heidemann: Dilettantismus als Methode: Mark Dions Recherchen zur Phänomenologie der Naturwissenschaften, Gießen 2005, Onlinepublikation: http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2006/3803/index.html bzw. http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2006/3803/pdf/HeidemannChristine-2005-12-16.pdf (Aufruf Sep. 2018).