Der ästhetische Weg des Wissens
Braucht es am Ende eine Methodologie für die Kunst als Forscherin? Über viele Seiten und unter verschiedenen Gesichtspunkten haben wir im Einzelnen erwogen, inwiefern Bilderserien – wie bei Cindy Sherman – einen Beitrag zum Verstehen der visuellen Kultur leisten können, wie performative Interventionen – wie bei der Gruppe LIGNA – den öffentlichen Raum untersuchen, wodurch Gemälde – wie bei Kehinde Wiley – in der Lage sind, die Herrschaftsgeschichte zu dechiffrieren, oder durch welche Mittel Installationen – wie beim Critical Art Ensemble oder dem Künstler Marc Dion – Forschungskontexte visualisieren, um nur einige der künstlerischen Forschungsverfahren und Untersuchungsfelder aufzurufen. Eine Art Bilderkammer ästhetischer Forschung hat sich Fall für Fall, Beispiel für Beispiel, Kapitel für Kapitel aufgetan und ästhetische Einsichten für die wissenschaftliche Debatte vorgeschlagen – eingebettet in die jeweils diskutierten Fragen nach der Praxologie, der Genealogie, der Ikontik oder der Epistemologie der künstlerischen Forschung. Durch alle diese Kapitel hindurch haben wir die einzelnen künstlerischen Arbeiten Fall für Fall unter epistemologischen Geschichtspunkten dechiffriert.
Aber – gibt es auch eine generelle Begründung der wissenschaftlichen Nachvollziehbarkeit künstlerischer Praktiken? Wie vermittelt sich im Allgemeinen die ästhetische Schrittigkeit künstlerischer Verfahren? Welche ›Wege des Wissens‹ sind es wert, ›ästhetische Methoden‹ genannt zu werden – und warum? Braucht also die Kunst als Forscherin eine eigene Methodologie, um diese Fragen beantworten zu können? Oder ergeben sich Methoden und deren Stringenz aus der Faktizität des forschenden Tuns? Wie ist eine Lehre von den forschenden Verfahren der Kunst zu denken, welche die methodische Nachvollziehbarkeit in der Kunst bestimmt – ohne sie zu bestimmen? Wie wäre also eine ästhetische Methodik zu definieren ohne, dass sie präjudizieren täte?
Den Methoden nachdenken
Eine Methodologie kann unterschiedlich verstanden und in Gebrauch genommen werden – als Belehrung oder Aufklärung – und das macht ihre Brisanz aus. Sie kann als Grundlegung eines Regelkanons konkreter wissenschaftlicher Methoden verstanden werden oder als Nachdenken über die fallspezifischen Bedingungen einzelner epistemischer Verfahren. Eine regelnde Methodologie in erster Hinsicht fungiert für das wissenschaftliche Arbeitsfeld als Anleitung. Eine nachdenkliche Methodologie in zweiter Hinsicht klärt im Nachhinein der Forschung über deren besondere Methodik als einen dann plausiblen Weg des Wissens auf. Eine regelnde Methodologie in erster Hinsicht koordiniert im Allgemeinen die Verfahren des Forschens. Eine nachdenkliche Methodologie in zweiter Hinsicht rekapituliert fallspezifische Praktiken als nichtidentische Methoden. Die regelnde Methodologie wird für die künstlerische Forschung insbesondere aus dem Diskursfeld der Kunst heraus als unangemessene Festlegung, Einengung und Disziplinierung abgelehnt. Doch die nachdenkliche Methodologie wird aufgrund der Faktizität des künstlerischen Forschens schlicht notwendig werden und zwar gerade, um einer drohenden Disziplinierung durch die erste, die regelnde Methodologie zu entgehen.
Wir werden uns auf eine nachdenkliche Lehre von den Wegen des Wissens einlassen und die ästhetischen Methoden von den spezifischen Praktiken der Künste her verstehen lernen müssen, um aus den ästhetischen Verfahren heraus zu bestimmen, was methodisches Forschen im Feld ästhetischen Tuns bedeutet und von woher es beurteilt werden kann. Wir werden eine nachdenkliche Methodologie des Ästhetischen behaupten müssen, um die forschende Kunst von den externen Standards der Wissenschaftlichkeit zu befreien. Denn Mangels historischer Erfahrungen oder epistemischer Expertise werden fremde Methodenstandards an die künstlerische Forschung angelegt. Künstler und Künstlerinnen werden angehalten, geisteswissenschaftliche Texte zu schreiben, die sich den methodischen Anforderungen der Argumentation unterwerfen. Oder es wird von forschenden Künstlerinnen und Künstlern erwartet, sich in Laborgruppen einzufügen, wie es den naturwissenschaftlichen Forschungsszenarien entspricht. Kunstschaffende orientieren sich sogar selber an Interviewtechniken oder Feldforschungspraktiken, wie sie in den Sozialwissenschaften erprobt sind. Alle diese Adaptionen finden statt, um durch tradierte Forschungsmethoden die Wissenschaftlichkeit der Kunst zu imitieren. Da es sich bei der künstlerischen Forschung – zumindest als akademischer Disziplin – um eine noch sehr junge und wenig etablierte Fachrichtung handelt, suchen darüber hinaus in den Institutionen die Konstrukteure von Studienordnungen und Förderrichtlinien, die sich der faktischen Implementierung der Kunst als Forschung in die Hochschulen und Förderprogramme widmen, nach etablierten und kanonisierten Verfahren und festlegbaren Kriterien, um eine Vergleichbarkeit, Überprüfbarkeit, Beurteilbarkeit von künstlerischen Forschungsszenarien zu erhalten und damit Abschlüsse und Finanzierungen zu legitimieren. Die künstlerische Forschung befindet sich tatsächlich im beginnenden 21. Jahrhundert noch in der frühen Entwicklungsphase auf dem Weg zu einer »Normalwissenschaft«. Eine »Normalwissenschaft«, wie der Wissenschaftstheoretiker Thomas Kuhn es nennt, beschreibt den Zustand einer etablierten Disziplin, die sich um ihre methodischen Standards keine Gedanken mehr machen muss, weil sie als Wissenschaft nicht mehr in Frage gestellt wird. Die kontinuierlich geführte Debatte um die Kunst und ihre Methoden zeigt, dass die künstlerische Forschung noch weit vom Zustand der selbstverständlichen Normalwissenschaft entfernt ist.
Doch jenseits von epistemologischen Grundsatzdebatten und methodischen Adaptionen wird die Rede von der künstlerischen Forschung nur dann wirklich sinnvoll, wenn tatsächlich originär künstlerische Praktiken und ästhetische Methoden für die Einsichtspraxis in der Kunst als ausreichend und selbstverständlich erachtet werden und sich von den naturwissenschaftlichen, sozialwissenschaftlichen oder geisteswissenschaftlichen Methoden unterscheiden. Diese Differenzierungsarbeit hinsichtlich der unterschiedlichen methodischen Verfahren kann tatsächlich eine Methodologie leisten, die sich den mannigfaltigen Kriterien der Plausibilität verschiedener Methoden in den unterschiedlichen bestehenden Disziplinen mit dem Ziel widmet, Spezifika herauszuarbeiten und eine Methodenpluralität als Grundlage für die epistemische Andersartigkeit der künstlerischen Forschungsmethoden auszuweisen. Eine vergleichende Methodologie ist an sich nichts neues. Nur wird sie sich neu der Kunst als Forscherin widmen müssen. Eine vergleichende Methodologie hat seit dem Aufkommen der Naturwissenschaften und deren Abgrenzung von der Philosophie eine lange Tradition. So differenziert Francis Bacon im Übergang vom 15. ins 16. Jahrhundert zwischen der experimentellen Methode der neuen »empirischen Philosophie« auf der einen Seite und der schlussfolgernden Methode der traditionellen, argumentativen Philosophie auf der anderen, wobei er verlangt, »dass man einstweilen sich von seinen Begriffen befreie, und versuche, mit den Dingen selbst vertraut zu werden«.1 Bacon will die Methoden in der Differenzierung dabei nicht nur verstehen und auseinanderhalten, sondern geht auch davon aus, dass für diese Differenzierungsarbeit ein neuer Blick auf das Forschen von Nöten ist, um den epistemischen Gehalt der unterschiedlichen Wege des Wissens wirklich zu sehen. Diese Forderung, sich von den alten Begriffen zu befreien und mit den »Dingen selbst« vertraut zu machen, kann auch für die künstlerischen Forschung aufgegriffen werden. Wilhelm Dilthey etabliert im 19. Jahrhundert die Kategorie der Geisteswissenschaften und bestimmt deren Unterschied zu den Naturwissenschaften entlang der Begriffe des »Verstehens« auf der naturwissenschaftlichen Seite und des »Erklärens« auf der geisteswissenschaftlichen Seite. Hans Georg Gadamer greift im 20. Jahrhundert diese Differenzierung auf und schlägt vor, das Verstehen und Auslegen von Texten in den historisch-philosophischen Disziplinen in Abgrenzung zu den neuzeitlichen Wissenschaften von der Natur als »Welterfahrung« zu bestimmen.2 Vor dem Hintergrund dieser langen und aufmerksamen Geschichte vergleichender Methodologie steht eine vergleichbare Differenzierungsarbeit auch für die »ästhetische Philosophie« an, wie man in Anlehnung an die baconsche Rede von der »empirischen Philosophie« für die aufkommende Naturwissenschaft die forschende Kunst auch nennen könnte, um damals wie heute epistemische Augenhöhe herzustellen.
Bei detaillierter Betrachtung der bestehenden wissenschaftlichen Disziplinen, die nicht mehr nur in zwei Hauptgruppen der »argumentativen oder empirischen Philosophie« aufgeteilt sind, tut sich ohnehin für die vergleichende Methodologie eine vielschichtige Wunderkammer unterschiedlicher, nebeneinander her bestehender, historischer, soziologischer, philosophischer, physikalischer, ingenieurwissenschaftlicher, psychologischer und anderer Verfahren des Suchens nach Erkenntnissen auf. Verfahren, die mit unterschiedlichen Medien wie Zahlen, Worten oder Bildern operieren und sich im Innern der Wissenschaften jeweils weiter ausdifferenzieren. In den historisch-philosophischen Disziplinen hat sich etwa mit der Diskursanalyse eines Michel Foucault ein anderes Analyseinstrument etabliert, als mit der spekulativen Dialektik eines Georg Wilhelm Friedrich Hegel, den narrativen Dialogen eines Platon oder der Phänomenologie eines Edmund Husserl. Digitale Simulationen unterscheiden sich in den Naturwissenschaften von empirischer Laborarbeit, explorativer Feldforschung oder theoretischer Mathematik. Qualitative oder quantitative Interviewtechniken gehen anders mit sozialer Welt um, als die teilnehmende Beobachterperspektive. Immer wieder haben sich Methoden neu etabliert oder gegenüber dem Verdacht der Unwissenschaftlichkeit erst durchsetzen müssen. Nichts spricht also vor dem Hintergrund dieser Methodenpluralität dagegen, dass auch ästhetische Praktiken begründet und in die Liste anerkannter oder statthafter methodischer Verfahren eingereiht werden können.
Bei aller Vielfalt methodischer Verfahren herrscht gleichwohl ein ausdrücklicher Konsens darüber, dass Forschung generell im Rahmen nachvollziehbarer Praktiken stattfinden müsse, um akzeptabel zu sein und dass Methoden diese nachvollziehbaren Praktiken sind. Der Pluralität der forschenden Verfahren liegt diese gemeinsame Forderung nach der Nachvollziehbarkeit, Verhandelbarkeit, Falsifizierbarkeit zugrunde. Aber was genau ist Nachvollziehbarkeit und wie funktioniert sie divers? Nachvollziehbarkeitsverläufe vollziehen sich in argumentativen Satzgeflechten anders als in berechnenden Beweisführungen oder messbaren Experimenten. Von epistemischer Relevanz ist aber, dass sich etwa die berechnende Beweisführung historisch gegenüber der spekulativen Begriffsklärung zunächst beweisen musste, um als nachvollziehbare Methode der Erkenntnisgewinnung anerkannt zu werden. Der Anfangsverdacht mangelnder Nachvollziehbarkeit und epistemischer Relevanz trifft offenbar nicht nur die gegenwärtige Kunst als Forscherin, sondern scheint zur epistemologischen Debatte dazuzugehören. Die Wissenschaften sind ein langer historischer Verhandlungsverlauf über das Dazugehörige oder Zurückzuweisende, bei dem es ebenso um das Recht zu Behaupten und zu Sprechen geht, wie um die Plausibilität und Überzeugungskraft der Methoden.
Eine Methodologie der Kunst als Wissenschaft scheint also für die künstlerische Forschung notwendig auch, um deren ästhetische Nachvollziehbarkeitsstrategien ihrerseits nachvollziehbar zu machen und durchzusetzen. Und doch wird aus Sorge um die Autonomie der Kunst eine ebensolche Methodologie häufig abgelehnt. Die verbreitete Ablehnung einer ästhetischen Methodologie hat aber mit dem fixierenden Verständnis eines regelnden methodologischen Ansatzes zu tun, der einen Kanon wissenschaftlicher Verfahren festsetzt, statt einen nachdenklichen methodischen Ansatz anzustreben. Doch Nach-vollziehbarkeit bedeutet nicht Vor-schrift. Die Forderung nach einer nachvollziehbaren Methode muss nicht mehr und nicht weniger heißen, als dass der tatsächliche Weg des Wissens mitunter in seiner zielführenden Systematik und Konsequenz erst im Nachhinein und im konkreten Vollzug kenntlich wird. »Post-modo« nennt Jean-François Lyotard diese Vorzukünftigkeit des nachträglichen Vorwissens über die Regeln des Erkennens.3 Post-modo zu forschen bedeutet, in der Vorannahme einer sich entwickelnden Konsistenz tätig zu sein und im Nachhinein deren Durchführung als konsistent zu erkennen. Wir kennen eine solche nicht-vorwegzunehmende Arbeit an der methodischen Konsistenz im Prozess des Erkennens aus anderen Disziplinen. So lassen sich auch für die Philosophie keine festen Sets an maßgeblichen Forschungsmethoden und kein Kanon feststehender Reflexionsverfahren im Vorweg des Denkens bestimmen. Philosophien entwickeln immer wieder neue, systematisch methodische Antworten auf unterschiedliche Fragestellungen und Problemfelder. Entscheidend dabei ist der sich selbst reflektierende und justierende Prozess der Praxis des Forschens. Eine reflektierende und justierende Praxis bedeutet, dass sich die Methoden und ihre jeweilige Konsistenz im Vollzug des fragenden und forschenden Prozesses und dessen situativer Genese als folgerichtig entfalten.
Für die künstlerische Forschung kann entsprechend vorgeschlagen werden, dass die Grundanforderung an eine präzise, reflektierte, konsequente und nachvollziehbare Methode tatsächlich als Nach-Wirkung oder als Effekt der Praxis – nicht aber als vorgängiges Regelwerk – zu bestimmen wäre. Am Horizont einer nachdenklichen Methodologie zeichnet sich ab, dass das Forschen in der Kunst einer sich methodisch konsolidierenden Praxis folgt und im Nachhinein – nach-denkend – auf die Nachvollziehbarkeit der angewendeten Verfahren diskutiert werden kann. Das bedeutet, auf nachvollziehbare, verhandelbare, falsifizierbare ästhetische Methoden zu setzen, die innerhalb der künstlerischen Forschung erst entwickelt und plausibilisiert werden – und das bedeutet Nachdenklichkeit sowie Nachträglichkeit in die Erkenntnistheorie einzutragen. Es geht darum, eine Lehre von den Wegen des künstlerischen Wissens anzustreben, die nicht vorschreibt, sondern nachvollzieht.
Die Sorge vor einer Disziplinierung des Künstlerischen, eingeleitet durch die Frage nach deren methodischen Standards, scheint also zumindest methodologisch unbegründet.4 Eine Methodologie des künstlerischen Forschens läuft auf die Begründung der Nachträglichkeit des Methodischen heraus und auf eine Sammlung von Fällen, innerhalb derer die Stringenz und Notwendigkeit der jeweiligen künstlerischen Verfahren in Hinblick auf ihre Themen und Fragestellungen herausgearbeitet wird. »Was aus einer methodischen Reflexion folgen würde«, so schlagen konsequenterweise die Künstlerinnen und Künstler Victoria Peréz Royo, José A. Sánchez, Cristina Blanco vor, wäre »ein Katalog, ein praxisnahes Handbuch, das aufbauend auf vorherigen Erfahrungen Forschung ermöglicht. Dies würde, angewandt auf künstlerische Praxis, zur Erschaffung einer zuvor nicht existenten Geschichte von Verfahren führen, anstatt zu einer Methode.«5 Die Praktiken, Verfahren und Strategien der künstlerischen Prozesse können auf ihre investigativen und Wissen generierenden Effekte hin reflektiert werden und als situative Antworten auf die Frage fungieren, ob es jeweils eine spezifische Methode künstlerischen Forschens gibt. Es wird sinnvoll sein, von einzelnen Praktiken zu sprechen und von dort her ihre Einsichten generierenden Effekte zu erkennen – nicht von allgemein gültigen Methoden.
Ästhetisches Folgern – eine epistemische Imagination
Die Methodologie der forschenden Kunst läuft also auf eine Begründung der Nachträglichkeit des Methodischen hinaus. Die den Methoden nachdenkende Lehre bringt damit letztlich nicht mehr und nicht weniger als eine Sammlung von Forschungsfällen auf den Weg. Für diese Sammlung ist die Stringenz der jeweiligen künstlerischen Verfahren post-modo herauszuarbeiten. Wie aber weist die Kunst diese Stringenz ihrer Methoden im einzelnen Fall dann aus? Was sind die Merkmale, nach denen ästhetisches Folgern beurteilt werden kann? Was sind die Kriterien, nach denen singuläre Wege in der künstlerischen Praxis vorzukünftig und im Nachhinein als sinnvolle Methode erscheinen und sich erkennen lassen? Warum lässt sich manche ästhetische Praxis als methodische Forschung rekonstruieren? Und was ist der Rahmen, innerhalb dessen sich im Prozess künstlerischen Tuns eine Vorzukünftigkeit des nachträglichen Vorwissens – mithin eine Ahnung über die Methoden des Erkennens – entfalten kann? Mit anderen Worten: Wie entfaltet sich das methodische ästhetische Forschen?
»Imagination« ist für die Performerinnen und Performer Victoria Peréz Royo, José A. Sánchez und Cristina Blanco der Schlüsselbegriff, welcher die künstlerische Praxis als Forschung und die Ahnung vom richtigen Weg des Wissens animiert. Mit »Imagination« meinen sie nicht das beliebige Fantasieren. Die »Imagination«, welche die künstlerische Forschung inspiriert, stellt sich ihnen in zwei Unterarten als eine Fertigkeit dar, die zur ästhetischen Methodik führt: eine dekonstruktive und eine projektive Imagination. Die dekonstruktive »Imagination zerlegt reale Verbindungen und setzt die Dinge neu zusammen« und die projektive Imagination »ermöglicht uns, eine alternative Realität im Sinne einer Perspektive zu imaginieren. […] Diese Art von Imagination produziert Wissen durch den Versuch, Wirklichkeit zu transformieren.«6 Während das dekonstruktive Verständnis von Imagination in enger Beziehung zu dem steht, was für den Philosophen Immanuel Kant die Vorstellungskraft ausmacht oder beim Begründer der philosophischen Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgarten mit dem Begriff der Einbildungskraft das Vermögen durchdringender Einsicht benennt, artikuliert sich mit der projektiven Imagination ein Aspekt spekulativer Kunstpraxis, der an das erinnert, was der Kunsttheoretiker Konrad Fiedler die Ausdrucksbewegung nannte. Im Rahmen der ersten – der dekonstruktiven Imagination – antizipiert das forschende Künstlersubjekt Kraft der Vorstellung die in den Sachen liegenden Möglichkeiten und jongliert mit diesen. Man kann sich diese zerlegende und verbindende Kraft der durchdringenden Einsicht auch anhand des Geschäfts der Chemiker klar machen, die in den Laboren eine Ahnung von den Anteilen der Moleküle und deren Rekombinierbarkeit haben müssen, um Stoffe zu zerlegen oder zu verbinden und auf diese Weise zu erkennen. Im Grunde kann man sich klar machen, dass jede Forschungshypothese – als wesentlicher Bestandteil der Wissenschaft insgesamt – eine jonglierende Imagination ist. Jede Forschungshypothese entspringt der antizipierenden Einbildungskraft der Forschenden. Sie hat dabei nicht den Charakter einer Ausgeburt beliebiger Ideen, sondern ergibt sich aus dem Feld des Bekannten und ventiliert dessen Möglichkeiten. Es bedarf beim Forschen generell jenes Möglichkeitssinns, den die Künstler »Imagination« nennen, um im Horizont des Bekannten das Unbekannte zu ahnen und zu antizipieren, was verborgen ist, oder was durch Zusammensetzung erschaffen und verstanden werden könnte. Methodisch und systematisch – im Sinne der Nachvollziehbarkeit – wird diese forschende Vorstellungskraft in der Folge ihrer Entwicklung dann aus sich selbst heraus, weil das mit ihr verbundene ästhetische und forschende Tun durch den Fokus auf das Erahnte geleitet und damit systematisiert wird. Die dekonstruktive Imagination, von der die Künstler schreiben und auf deren Grundlage die Wissenschaft insgesamt ihre Thesen formuliert, ist eine gerichtete. Sie hat den Charakter einer konzentrierten Witterung, die ein spezifisches Etwas antizipiert, um diesem gezielt, wenn auch suchend und jonglierend nachzugehen.
Die zweite – die projektive Imagination – geht einen anderen Schritt. Sie ist erfinderisch. Es handelt sich bei ihr um jenes Einbildungsvermögen, das es ermöglicht, alternative Realitäten zu imaginieren und Einsichten durch den Versuch der Transformation von Wirklichkeit zu gewinnen. Diese zweite Sorte der forschenden Imagination scheint besonders eng mit der Kunst verbunden zu sein. Sie beansprucht im Schaffen zu erkennen und Wissen durch Werkformulierungen zu entfalten. Sie führt in eine künstlerische Bewegung des Ausdrucks, mit der im Durcharbeiten und Gestalten der Materie ein Prozess des erschaffenden Verstehens einhergeht. Diese Diagnose zum projektiven Typ ästhetischen Imaginierens und Forschens erinnern an Konrad Fiedlers Behauptung, dass ein Erkennen von Welt durch ein Erschaffen von ästhetischen Produkten möglich sei – ja sogar dass das ästhetisch entfaltende Durcharbeiten von Welt in deren Mannigfaltigkeit, eine Voraussetzung für eine Erkenntnis ist, die nur mittels der künstlerischen Tätigkeit von statten gehe – eine Tätigkeit, welche Fiedler die »Ausdrucksbewegung« nennt. Die These ist nun – beim Kunsttheoretiker Fiedler wie bei den ästhetischen Praktikerinnen und Praktikern Peréz Royo, Sánchez und Blanco – dass im Prozess des schaffenden Gestaltens Einsichten entborgen werden. Die spekulative Kraft der Imagination animiert dabei nicht nur den epistemischen Schaffensprozess, sondern figuriert und strukturiert ihn auch. Denn wie bei der dekonstruktiven Imagination, so handelt es sich auch bei der projektiven Imagination – oder spekulativen Vorstellungskraft – nicht um Phantasmen, sondern um figurierende Ahnungen dessen, was sein könnte und werden wird. Mit dieser spekulativen Antizipation einer alternativen Realität wird die künstlerische Praxis nicht reguliert oder vorbestimmt wohl aber ausgerichtet. Und diese Richtung des ästhetischen Tuns kann im Nachhinein in seiner Schrittigkeit hinsichtlich des Wegs des Werks nachvollzogen werden. Ästhetisches Folgern – als ein künstlerisch schrittiges Vorgehen – scheint sich der suchenden Richtung entsprechend zu entfalten, welche die Vorstellung dem Tun nahelegt und anhand derer es im Nachhinein auf die Plausibilität der Annahme und die Stringenz des Wegs der Gestaltung hin gemustert und verhandelt werden kann.
Die dekonstruktive und die projektive Imagination – wie es die Künstler nennen – oder die jonglierende und spekulative Vorstellung – wie es heißen könnte – diese Phänomene charakterisieren eine grundsätzliche Ebene ästhetischer Methodik. Mit dieser Charakterisierung werden Grundeigenschaften der ästhetisch forschenden Praxis und ihrer Motivation als zugleich suchend unvorhersehbaren sowie zielgerichtet strukturierenden beschreibbar. Unterhalb dieser systematischen Beschreibung eines ästhetischen Tuns, das Kraft seiner gerichteten Imagination zum methodischen Forschen werden kann, lassen sich nun die konkreten Praktiken in ihrer methodischen Konsequenz im Einzelnen und im vollzogenen Konkreten nachzeichnen. Und hier – auf dieser Ebene konkreter vollzogener Kunsttaten – zeigt sich, dass es bereits eine Fülle von nachgezeichneten Einzelfällen im Katalog des künstlerischen Forschens gibt. Wir haben schon über Fälle von Jongleuren, Sammlern und Archivaren oder Spekulateuren nachgedacht: Zu den Spekulateuren gehört die Gruppe LIGNA mit ihren transformativen Eingriffen in den öffentlichen Raum. Zu den Jongleuren, Sammlern und Archivaren zählen das Künstler-Duo Fischli/Weiss oder die Konzeptkünstlerin Hanne Darboven. Aber wir können uns im Rahmen der Methodologie der künstlerischen Forschung nun noch einmal genauer fragen: Was haben diese Tätigkeiten mit einer produktiven oder dekonstruktiven Imagination mithin einer forschenden Vorstellung zu tun und lassen sich die angewendeten künstlerischen Praktiken tatsächlich methodisch als epistemische Verfahren beschreiben? Was machen die künstlerischen Tätigkeiten der Spekulateure, der Sammler, Archivare und Jongleure zu epistemischen Praktiken?
Die Gruppe LIGNA will mittels einer Performance den öffentlichen Konsumraum und dessen Strukturen untersuchen und dabei verändern.7 Die ästhetische Arbeit der Gruppe basiert auf der Annahme von der Möglichkeit einer besseren Welt. Einer Welt, in welcher der öffentliche Raum nicht warenförmig organisiert ist. Die Künstler produzieren Einsichten durch den Versuch, Wirklichkeit zu transformieren. LIGNAs Imagination ist die von einer Welt des Öffentlichen, die ohne Ausschlussmechanismen gegenüber Obdachlosen, Bettlern oder Spielenden auskommt. Die Gruppe antizipiert diese alternative Realität und überprüft mittels ästhetischer Interventionen die Wahrheit der bestehenden Wirklichkeit – eine Wirklichkeit voller Ausschlussmechanismen, welche sich im Normalmodus konsumorientierten Verweilens im öffentlichen Raum gerade nicht zeigen. Diese Wirklichkeit muss mithin herausgefordert werden, um sich zu zeigen – durch eine Transformation in Richtung einer anderen möglichen Wirklichkeit. Das künstlerisch forschende Verfahren nimmt den Charakter einer performativen Herausforderung an. Solche Interventionen sind Eingriffe, die verändern. »Sie stellen in diesem Sinne Tests oder Experimente mit offenem Ausgang dar« und für Frahm »können sie durchaus zuvor nicht sichtbare Machtmechanismen nachweisen, wie sie in (öffentlichen) Räumen, Medien und Diskursen herrschen«8, diagnostiziert Ole Frahm als Mitglied der Gruppe LIGNA. Diese provokative Strategie des performativ intervenierenden Nachweises erweist sich als nachvollziehbare ästhetische Praxis, gerade weil im Sinne einer produktiven Imagination beansprucht wird, »mit künstlerischen Mitteln gesellschaftlich und politisch zu wirken und damit die bestehende Situation zumindest kurzfristig oder dauerhaft zu verändern.«9 Die spekulative Intervention im Fall der Gruppe LIGNA ist eine erschaffende ästhetische Auffindetechnik, die das Wirkliche durch Veränderung herausfordert, um es zu zeigen und als Aufgezeigtes veränderbar zu machen. Denn für Frahm machen Interventionen »zum einen die immer schon stattfindende, für gewöhnlich jedoch unsichtbare Bejahung der normierten und im Raum vorherrschenden Handlungen deutlich. Zum anderen ermöglichen sie aber auch ganz andere Handlungsweisen, die sich den gängigen Mustern entziehen.«10 So intervenieren diese ästhetischen Spekulateure namens LIGNA mit dem Effekt, Einsichten und Aussichten durch gerichtete Provokationen zu gewinnen. Sie agieren dabei provokativ nicht im Sinne der verbalen Herausforderung, sondern gestisch performativ, indem sie die Choreografie des öffentlichen Verhaltens projektiv verändern.
Die künstlerischen Verfahren des Sammelns, Sortierens und Archivierens dagegen sind rekursiv. Sie sichten den Bestand des Vorfindlichen. Fischli/Weiss entwickeln vor dem Hintergrund einer dekonstruktiven Imagination zum ikonischen Verhältnis von Werbebildern und menschlichen Lebensentwürfen eine künstlerische Praxis des Sammelns, Sortierens und Darstellens von vorgefundenen Bildprodukten.11 Darboven mit ihrer monumentalen Bilderwelt zur visuellen Kulturgeschichte ist eine Archivarin, die mit dem Bilderbestand der Gegenwart jongliert, um ihn neu zu gruppieren und aus dieser Neugruppierung eine Einsicht zu gewinnen.12 Die Sammler und Jongleure unter den Kunstschaffenden sind ikonische Feldforschende. Das Feld der visuellen Kultur liegt vor ihnen und ist angefüllt mit ikonischen Artefakten, die nicht neu gebildet, sondern neu gesehen werden wollen. Zu ihrer Forschung im vorfindlichen Feld der Bilderwelten benötigen die Jongleure, Sammler und Archivare eine Ahnung von dem, was an Einsichten im Bestand liegen könnte und sie werden dabei zu inspirierten Suchenden. Sie sammeln Werbebilder – wie Fischli/Weiss – Postkarten, Zeitungsausschnitte und Kunstkataloge – wie Darboven – und arrangieren diesen Bestand Kategorien bildend neu. Fischli/Weiss bilden Reihen von Bilderfundstücken auf Installationstischen oder in Büchern. Darboven bildet Cluster von Bildgruppen an Wänden. Sie alle durchlaufen dabei eine Arbeit des Sichtens und Sortierens als identifizierende Praxis und stellen arrangierend dar. Produkte der visuellen Kultur werden vorgefunden, angeeignet, gruppiert und in ein neues Gesamtbildverhältnis gebracht. Epistemisch entfalten die Künstlerinnen und Künstler im Zuge ihrer Praxis des Sammelns, Sichtens und Sortierens eine ästhetische Einsicht, die sich dann gegenüber den Betrachtenden als eine ästhetische Argumentation realisiert. Der arrangierende Charakter ihrer ästhetischen Praxis macht diese künstlerische Arbeit als methodische Darlegung beschreibbar. Die Sammler und Archivare ordnen ikonisch einen Prozess an, der als Einsichtsprozess mittels der arrangierten Bildergruppen lesbar wird. Die dargelegten Bilderreihen verlangen von den Betrachtenden das visuelle Nachvollziehen im Abschreiten. Die künstlerische Praxis entfaltet mithin eine Methode, der es um Zusammenhänge durch Anordnen geht. Das Reihen oder Ausbreiten der angesammelten und angeordneten Artefakte ist dabei von epistemischer Bedeutung, insofern es eine Bezugsebene arrangiert. Die Bilderreihen von Fischli/Weiss zeigen, dass sie als Serie komponiert sind und aus ihrer Abfolge ein bezüglicher Sinn entsteht. Die Bildercluster von Darboven bündeln im Zusammen ihrer Hängung Zusammenhänge. Darboven antizipiert dabei in ihrer dekonstruktiven Imagination, dass mittels des Sammelns, Durcheinanderwerfens und neu Sortierens von Bildprodukten ein neues Wissen über Geschichte entfaltet werden könne. Die Komposition der Hängung ermöglicht es, wie bei der Auslegeordnung von Fischli/Weiss, Bezüge und Differenzen sichtbar werden zu lassen. Das Ordnen und Sortieren, Kategorisieren und Montieren zeigt sich als eine Untersuchung am ikonischen Gehalt des Bildbestandes. Ausprobierend und ›hängend‹ wird nach dem Zusammen der Artefakte gefahndet oder es werden Unterschiede entdeckt und ›legend‹ dargelegt. Die zusammenhangsbildende und darlegende Arbeit der Untersuchung am schon vorhandenen Bildbestand sedimentiert sich als Nachvollziehbarkeit des künstlerischen Prozesses im Neuarrangement der Bildprodukte. So sortieren und arrangieren die ästhetischen Jongleure mit dem Effekt, Einsichten in den Bildbestand der Gegenwart durch Rekombination zu gewinnen. Ihre spezifischen Tätigkeiten reichern sich als Methoden im Katalog der Fälle von ästhetischer Forschung an. Durch die sich anhäufende Sammlung von Fällen wird deutlich, unter welchen Gesichtspunkten, bei welchen Rahmenbedingungen und welchen Tatbeständen das Sortieren, Re-arrangieren oder spekulative Inszenieren epistemische Qualitäten aufweisen.
1Bacon: Neues Organon, 1990, Aphorismus 36.
2Vgl. Gadamer: Wahrheit und Methode, 1986. Gadamer nennt den Erkenntnistypus der Naturwissenschaften »Methode«, während der Erkenntnistyp der Geisteswissenschaften durch die Erfahrung des »hermeneutischen Verstehens« in Erscheinung tritt und nicht eigentlich Erkenntnis, sondern »Wahrheit« hervorbringt.
3Vgl. Lyotard, Was ist postmodern? in: Postmoderne und Dekonstruktion, 1993, S. 33-48.
4… was nicht heißt, dass diese Disziplinierung wissenspolitisch nicht durchaus immer wieder versucht würde.
5Peréz Royo, Sánchez, Blanco: In-definitions. Forschung in den performativen Künsten, in: Peters (Hg.) Das Forschen Aller, 2013, S. 38.
6Peréz Royo, Sánchez, Blanco: In-definitions, in: Peters (Hg.) Das Forschen Aller. 2013, S. 3.
7Vgl. Kapitel zur ikonischen Semantik.
8Frahm/LIGNA: Intervenieren, in: Badura, Dubach, Haarmann et al. (Hg.): Künstlerische Forschung: Ein Handbuch, 2015, S. 166 (Klammer im Original).
9Ebd.
10Frahm/LIGNA: Intervenieren, in: Badura, Dubach, Haarmann et al. (Hg.): Künstlerische Forschung: Ein Handbuch, 2015, S. 167.
11Vgl. Kapitel zum Zeitalter des massenmedialen Dispositivs.
12Vgl. Kapitel zur ästhetischen Syntaktik.