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Zeitschrift für interkulturelle Germanistik – 15. Jahrgang, 2024: Verschollene Zwillinge. Zur Dekonstruktion binärer Identitäten in den Romanen Außer sich von Sasha Marianna Salzmann und 1000 Serpentinen Angst von Olivia Wenzel (Alessandra Goggio)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik – 15. Jahrgang, 2024

Verschollene Zwillinge. Zur Dekonstruktion binärer Identitäten in den Romanen Außer sich von Sasha Marianna Salzmann und 1000 Serpentinen Angst von Olivia Wenzel (Alessandra Goggio)

Verschollene Zwillinge

Zur Dekonstruktion binärer Identitäten in den Romanen Außer sich von Sasha Marianna Salzmann und 1000 Serpentinen Angst von Olivia Wenzel

Alessandra Goggio

Abstract

This article analyses the striking similarities between two recent novels, Außer sich (2017) by Sasha Marianna Salzmann and 1000 Serpentinen Angst (2020) by Olivia Wenzel, both of which draw on the Doppelgänger motif in order to deconstruct a binary conception of society. Both novels’ plots concern twin siblings, both have a queer protagonist and in both novels the protagonist’s twin brother disappeared (Salzmann) or even died (Wenzel). Through a close reading of both books, I argue that the loss of the physical counterpart or Other, albeit painful, enables the symbolic integration of the protagonist’s identity, since binary oppositions such as woman/man, native/foreign, and one/many are overcome. This deconstruction does not only take place on a thematic or plot level, but also has an effect on the narrative logic of both books, leading to a fusion of the twins’ voices and the creation of a polyphonic and queer narrative. Furthermore, both texts may be interpreted as a ›modernisation‹ of the literary tradition, as the romantic Doppelgänger motif is adapted to a post-migratory and queer/dysphoric present, thus at the same time contributing to the deconstruction and ›des-integration‹ of the German literary canon.

Title

Lost Twins. On the Deconstruction of Binary Identities in the Novels Außer sich by Sasha Marianna Salzmann and 1000 Serpentinen Angst by Olivia Wenzel

Keywords

twin; Doppelgänger; queer; deconstruction; narrative

In der postmigrantischen Gesellschaft der Gegenwart gewinnen queere, ›dysphorische‹1 Identitäten, die »Lebens- und Denkweisen, die der Normativität zuwiderlaufen« (Henschel 2022: 273; Übers. A.G.) und binäre – d.h. hierarchische2 – Vorstellungen bzw. Oppositionen sprengen,3 immer mehr an Bedeutung, wie die Beispiele Conchita Wursts oder Kim de l’Horizons zeigen. Solche offenen Identitätsmodelle, die aus Hybridisierungsprozessen entstehen und sich jeglichem binären Oppositionsmodell entziehen, insbesondere dem herrschenden System der Heteronormativität, werden allerdings oft von der sogenannten Mehrheitsgesellschaft als Gefahr und Verunsicherung für die bestehende gesellschaftliche und kulturelle Ordnung4 angesehen und demzufolge abgelehnt, sozial sanktioniert oder sogar aus dem gesellschaftlichen Narrativ ausgeschlossen (vgl. Butler 2005).

Literatur spielt in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle. Als Medium, das im Stande ist, Welten und Charaktere zu erzeugen und deren Erzeugungsprozess zugleich widerzuspiegeln, ist sie besonders geeignet, Identitäten, die in der Gesellschaft existieren, aber unterdrückt oder verworfen werden, eine Stimme zu geben. Anhand der inhaltlichen Thematisierung von identitären Transformations- und Hybridisierungsprozessen und der performativen Inszenierung von queerness (vgl. Schöll 2012: 543) – z.B. durch queere Erzählinstanzen – entsteht eine ›Trans-Ästhetik‹, die über die Norm hinausgehende und fluide Vorstellungen von Geschlecht, Gender, Sexualität, Rasse und Klasse nicht nur reflektiert, sondern diskursiv hervorbringt (vgl. Horváth 2016: 29).

Diese Trans-Ästhetik birgt ein Innovationspotential, das einerseits zur Vermittlung und Naturalisierung von queeren Identitätsmodellen – nicht nur in der literarischen Fiktion – beitragen kann, andererseits zur Infragestellung und Enthierarchisierung von Erzähl- und Gattungskonventionen sowie zur Dekonstruktion und Dekolonialisierung der literarischen Tradition bzw. des (nationalen) Kanons führen könnte. Da das literarische Feld freilich von (binären) Machtmechanismen beherrscht wird, die seine hierarchische Struktur aufrechterhalten, Neuerungen allerdings als essentiell für seine Entwicklung betrachtet werden (vgl. Bourdieu 1999), wird die subversive Kraft dieser Ästhetik am schöpferischsten, wenn sie herkömmliche Gattungen und Motive ›besetzt‹. Damit werden Tradition und Innovation so vermischt, dass es zu einer (Des)Integration5 des Kanons kommt, welche die Alternative zwischen Anpassung und Ausschluss aus der Dominanzkultur unterläuft und Letztere stillschweigend ›verqueert‹. Diesbezüglich lohnt es sich, einen Blick auf jene Texte – insbesondere der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur6 – zu werfen, die gerade durch die strategische Ausnutzung und die De- bzw. Rekonstruktion von traditionellen Gattungen, Motiven und Erzählverfahren queeren Identitäten einen Ausdrucksraum schaffen und unterdessen den Gegensatz zwischen einer ›(ur)deutschen‹ und einer anderen, ›nicht deutschen‹ Literatur überwinden und zur Herausbildung eines des-integrierten Kanons beitragen.

1. Das neue, queere Leben des Doppelgängermotivs

Dass das Motiv des Doppelgängers,7 wie Webber in seiner einschlägigen Studie bemerkt, »die anspruchsvolle Funktion eines Testfalls für die Behandlung der Subjektivität in der deutschen Literatur seit der Romantik« (Webber 1996: 5; Übers. A.G.) übernehmen kann, scheint sich hinsichtlich seiner erstaunlichen Wiederkehr in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zu bestätigen. Gerade weil die »Kategorie der Doppelung« – sprich »Doppelungen auf allen Textebenen: in der Zeitstruktur (Analepse, Prolepse), auf der Figurenebene (Doppelgänger), bei der Raumgestaltung (Mischorte)« (Hausbacher 2019: 193) – zu den wesentlichen Merkmalen der transkulturellen Literatur gehört, wo sie dazu dient, »Fixierungen, Stabilitäten sowie eine transparente Selbstidentität zu unterlaufen« (Horváth 2016: 41f.), haben Doppelgängerfiguren, oft in Form von Zwillingen, heute wieder Konjunktur.

Bevor es zur Evaluierung der Bedeutung kommt, die dem Doppelgängermotiv in der Gegenwartsliteratur beigemessen werden kann, soll kurz auf dessen charakteristische Merkmale und Funktionen hingewiesen werden. Doppelgängerkonfigurationen beruhen stets auf dichotomischen Konstruktionen, die bei aller Ähnlichkeit der Subjekte identitäre Spaltungen bzw. Doppelungen (vgl. Bär 2005: 21) sowie Macht- und Abhängigkeitsstrukturen (vgl. Frey 2006: 17) betonen. Zudem gelten Zwillinge oft als Inbild der »Dichotomie« (ebd.: 50) oder gar als »Irrtümer« der Natur (ebd.: 89), die durch ihre Abweichung von der Norm gesellschaftliche Irritationen auslösen können (vgl. ebd.: 13). Schließlich dürfen Doppelgänger- bzw. Zwillingsfiguren ebenfalls als »personifizierte Erfüllungsphantasie[n]« (Bär 2005: 15) interpretiert werden, die »ein Begehren nach einem/dem anderen Ich« (Greber 2008: 214) verkörpern. In einem solchen Rahmen dient der Doppelgänger bzw. der Zwilling als der Andere im Sinne Lacans, d.h. als ein Anderer, der »als der Ort [verstanden werden muss], an dem das Ich, das spricht, sich konstituiert« (Lacan 1997: 322). Entsprechend stellt die Tatsache, dass im Doppelgänger »Selbstsein als metaphysische Gegebenheit […] aufgegeben und einem Identitätsinszenierungsprozess unterzogen [wird], der immer durch das andere Selbst bestimmt wird« (Webber 1996: 3; Übers. A.G.), was schließlich zur Verletzung und Überschreitung der binären Grenzen der Heteronormativität führen kann, jenes subversive Potential einer Doppelgänger- bzw. Zwillingsnarration dar, das sie für die Darstellung und Inszenierung von nicht-binären, queeren Identitäten besonders geeignet macht.

Unter den zahlreichen Texten, die in den letzten Jahren insbesondere von Schriftsteller*innen mit Migrationshintergrund verfasst wurden und das Doppelgängermotiv variieren und aktualisieren, lassen sich zwei Romane anführen, die sowohl auf inhaltlicher als auch auf erzählstruktureller Ebene das Zwillingsmotiv ausnutzen und damit ein ähnliches Modell für die literarische Gestaltung und Inszenierung von nicht-binären, queeren und intersektionalen Identitäten entwerfen. Es handelt sich um Außer sich, den 2017 erschienenen ersten Roman von Sasha Marianna Salzmann,8 und 1000 Serpentinen Angst, den 2020 veröffentlichten Debütroman von Olivia Wenzel.

Darin, dass in beiden Romanen anhand der Geschichte von zwei nicht gleichgeschlechtlichen Zwillingen der Identitäts(um)bildungsprozess der queeren Protagonistinnen inszeniert wird, liegt allerdings nicht ihre einzige Gemeinsamkeit. Beide Texte können zudem sowohl als Familienromane (bzw. als Absage an diese Gattung; vgl. Roca Lizarazu 2020: 10) als auch als Autofiktionen (vgl. May 2017; Wenzel/Schelander 2020) betrachtet werden. Ferner besitzen beide Autor*innen einen mehrfachen Migrationshintergrund und eine queere Identität: Salzmann kam mit 10 Jahren als jüdische*r Kontingentflüchtling*in von Russland nach Deutschland und beschreibt sich als nicht-binäre Person; Wenzel wurde in der DDR als Kind einer ostdeutschen Frau und eines Vertragsarbeiters aus Sambia geboren und gehört zu der oft unsichtbaren Community der queeren (Ost)Deutschen of Color.

Ihre mosaikartigen Identitäten und persönlichen Erfahrungen fließen laut Selbstaussage der Autor*innen in die Figuren ihrer Werke ein: Alissa, oft nur Ali genannt, die*der Protagonist*in von Salzmanns Roman, ist ebenfalls ein*e ehemalige*r jüdische*r Kontingentflüchtling*in aus Russland und wird sich während eines Aufenthaltes in Istanbul ihrer*seiner nicht-binären Identität (immer mehr) bewusst; die namenlose Ich-Erzählerin in 1000 Serpentinen Angst hat eine fluide sexuelle Orientierung und kommt aus einer ähnlichen Familienkonstellation wie Wenzel, wobei sie täglich, sei es in Deutschland oder auf Reisen, mit ihrem Schwarzsein in einem wohlhabend-kapitalistischen Land konfrontiert wird. Beide Hauptfiguren verfügen also über eine Identität, die Oppositionen wie deutsch/nicht deutsch, männlich/weiblich, weiß/schwarz, hetero-/homosexuell nicht als Entweder-oder versteht, sondern als dynamische, fließende und intersektionale Lebenskategorien erfasst, die gleichzeitig und ohne Zwang erlebt werden können.9

Freilich werden diese Identitäten in den beiden Romanen nicht a priori gegeben; ihr Entstehungsprozess wird diskursiv sowie performativ veranschaulicht, und zwar, wie früher schon erwähnt, durch die Anwendung des Doppelgänger- bzw. Zwillingsmotivs, das, wenn auch gerade auf binären Vorstellungen beruhend, hier jedoch als Grundlage für eine queere, polyphonische Narration dient. Diese narrative Polyphonie ist überdies der langjährigen Beschäftigung beider Autor*innen mit dem Theater zu verdanken und führt zu einer Aufwertung der mündlichen Erzähltradition (Wenzel) sowie zur Anwendung von dramaturgischen Strukturen, wie z.B. der Auflistung der Romancharaktere als Dramatis Personae oder der Einteilung des Romans in zwei Hauptteile bzw. Akte (Salzmann).

Im Folgenden wird also auf beide Romane sowie auf deren Inhalt und Struktur näher eingegangen, um den Beitrag solcher Narrationen zur literarischen Dekonstruktion von binären Identitätsvorstellungen und -modellen sowie bei der Dekonstruktion bzw. ›Verqueerung‹ des Kanons hervorzuheben.

2. Verschollene Zwillinge, queere Identitäten

In beiden Romanen wird die Funktion und Bedeutung der Doppelgänger-/Zwillingsfigur gleichzeitig erfüllt und gesprengt, da der Status des jeweiligen Zwillings höchst ambivalent bzw. fluide ist und ausgerechnet dessen Instabilität zum Prozess von De- und Rekonstruktion der Identität der Hauptfiguren beiträgt. Beide haben einen Zwillingsbruder, der ihnen, wenn auch auf verschiedene Weise, irgendwann abhandenkommt und dessen Identität sowie dessen (fiktionale) Existenz die ganze Zeit prekär bzw. unklar bleibt.

In Außer sich ist die queerness der Zwillinge Alissa und Anton schon von ihrer Kindheit an gegeben: Während Ali »mehr Junge als Anton« sein möchte (Salzmann 2017: 91), hat der Bruder kein Problem damit, ein goldenes Kleid mit Puffärmeln anzuziehen (vgl. ebd.: 36). Zudem pflegen die beiden eine sehr enge, fast inzestuöse Beziehung zueinander (vgl. ebd.: 86, 99, 104), bis eines Tages Anton spurlos verschwindet und erst nach einiger Zeit eine Postkarte aus Istanbul schickt (vgl. ebd.: 87), was Ali dazu anspornt, in die Stadt am Bosporus zu fliegen. Die Wahl Istanbuls als Schauplatz der Handlung hat nicht nur autobiographische Gründe – Salzmann hat lange in der Stadt gewohnt und am Roman gearbeitet –, sondern auch semantische Bedeutung: Dank ihrer Lage zwischen Europa und Asien (vgl. ebd.: 292) und des Chaos, das dort immer herrscht (vgl. ebd.: 125), stellt die Stadt einen geeigneten Transitort für die Entfaltung von Alis Identität dar; außerdem verkörpert sie metonymisch, ganz im Sinne von Saids Orientalismus-Diskurs, die Unvereinbarkeit und zugleich unüberwindbare Interdependenz der Zwillinge.

Die Suche nach dem verschollenen Zwilling rückt allerdings allmählich in den Hintergrund: Obwohl der Gedanke an Anton stets präsent bleibt, bietet die Unmöglichkeit, ihn in Istanbul zu finden, die Chance für Ali, sich in ihn zu verwandeln (vgl. Albé 2022: 240). Als Alissa sich zunächst also einbildet, sie*er könnte Anton ›ersetzen‹ (vgl. Salzmann 2017: 38, 209f.), und daher anfängt, mit der Hilfe ihres*seines neuen Freundes, des Transmannes Katho, sich Testosteron spritzen zu lassen, fungiert die Figur des Zwillingsbruders noch als jenes Andere, zu dem die*der Protagonist*in in einem gegenseitigen, also binären Abhängigkeitsverhältnis steht: Auch wenn er geliebt und vermisst wird, bleibt Anton zunächst unerreichbar. Die virtuelle Präsenz des verschollenen Zwillings stellt zunächst also eine Beschränkung in der freien Entfaltung der Identität Alis dar, welche die Unfähigkeit mit sich bringt, sich autonom zu definieren bzw. zu disidentifizieren (vgl. Muñoz 1997). Erst als Ali sich von dem Bruder ›verabschiedet‹, indem sie*er ihn sich sozusagen einverleibt, gelangt sie*er zu einer neuen Identität, die jedoch fluid und immer noch in Transition ist (vgl. Gremler 2019: 214), wobei Ali nicht in der Lage ist, ›ich‹10 im Sinne eines (typisch abendländlichen, männlich-patriarchalisch konnotierten) selbstaffirmativen Ichs zu sagen (vgl. Salzmann 2017: 274f.), und sich gegen die Verhängung einer fixierbaren und binär kodierten (Gender)Identität wehrt:

»Und was ist, wenn du die ganze Zeit etwas anderes gesucht hast als Anton?«

»Was, dich?«

»Durch mich weißt du überhaupt, wer du bist.«

»Du denkst, ich weiß es? Du denkst, du weißt es?«

»Du weißt es nicht?« […] »Das mit dem Testo, das mit den Spritzen?« Katho holte seine Aufmerksamkeit wieder zurück an den Tisch.

»Ein Versuch.«

»Für dich ist alles ein Spiel.«

»Was willst du hören? Dass ich jetzt plötzlich weiß, wer ich bin, was das alles soll, mir den Sinn des Lebens injiziere in Testosteronform?« (Ebd.: 353)

Es lässt sich allerdings fragen, wie diese Einverleibung geschehen soll: In der Tat scheinen sich Ali und Anton an mehreren Stellen zu überlappen bzw. dieselbe Person zu sein, ein Umstand, der auch in den Inzestszenen11 betont wird. Demnach wird man während der Lektüre allmählich von der Vorstellung überzeugt, Anton sei nichts als eine Wunschphantasie, ein Alter Ego der Hauptfigur, dessen Erfindung sie sogar zuzugeben scheint:

Ich erdenke mir neue Personen, wie ich mir alte zusammensetze. Stelle mir das Leben meines Bruders vor, stelle mir vor, er würde all das tun, wozu ich nicht in der Lage gewesen bin, sehe ihn als einen, der hinauszieht in die Welt, weil er den Mut besitzt, der mir immer gefehlt hat, und ich vermisse ihn. (Salzmann 2017: 275)

Diese Interpretation, die auch von den Umständen untermauert wird, dass die Erinnerungen von Alis Mutter an die Entbindung keine Spur von Anton enthalten (vgl. ebd.: 264f.) oder dass er in der Liste der Charaktere, der dem Text vorausgeht, im Vergleich zu allen anderen keine Charakterisierung erhält (vgl. ebd.: 7), akzentuiert und depotenziert zugleich die Doppelgängerthematik: Der ›verschollene Zwilling‹ ist ja der*die Andere, aber diese*r Andere gilt hier als Inbild einer queeren Identität, die dennoch kein endgültiges Ziel darstellt, sondern eher eine beliebige Station jenes Transformationsprozesses, der integraler Bestandteil einer offenen, nicht-binären und fluiden bzw. dysphorischen Identität ist. Indem Ali zum ›Anton‹ wird, wird sie*er nicht wie in einer binären Beziehung zu einer*einem Anderen, sondern gleichzeitig zu Vielen.

Etwas anders, aber trotzdem ähnlich verhält es sich mit Wenzels Roman: Hier begeht der Zwillingsbruder Samuel mit 19 Jahren Selbstmord, und zwar aus Gründen, die sowohl mit Episoden von Rassismus, Diskriminierung und rechter Gewalt (vgl. Wenzel 2020: 86) als auch mit seiner queeren Identität verknüpft sind.12 Allerdings verpasst die Protagonistin, die selbst queer ist und bezeichnenderweise keinen Namen trägt,13 aufgrund der trivialen Tatsache, dass sie Hunger verspürt und sich zu einem Snackautomaten begibt, genau den Moment, als ihr Bruder am Bahnhof14 ihrer »sogenannten Heimatstadt« (ebd.: 101) sich auf die Schienen wirft und von einem Zug überfahren wird (vgl. ebd.: 100-109). In der Protagonistin hinterlässt das Ereignis ein tiefes Trauma, dessen Bearbeitung ein zentrales Thema des Romans bildet. Nicht zufällig befindet sich die Protagonistin zu Beginn des Textes, wenn auch nur in Gedanken, gerade an jenem Automaten, vor dem sie damals stand, als Samuel Selbstmord beging. Dieser fungiert einerseits als »Erinnerungsort«15 (Huber/Villinger 2023: 147) und andererseits als Verkörperung der Protagonistin selbst (»Mein Herz ist ein Automat aus Blech. Dieser Automat steht an irgendeinem Bahnsteig, in irgendeiner Stadt. Ein vereinzelter, industrieller Klotz, trotzdem unscheinbar.« Wenzel 2020: 9). Der desolate äußere Zustand des Automaten weist allerdings auch auf die paradoxe soziale Lage der Protagonistin hin, die als weibliche ostdeutsche Black and People of Color für Diskriminierung und Gewalt stets sichtbar ist,16 im gesellschaftlichen Diskurs jedoch ungesehen bleibt.17 Der Inhalt, insbesondere die »Kokosschokoriegel« (ebd.: 9), versinnbildlicht hingegen ihre (und des Bruders) ›binäre‹ Identität als Menschen mit schwarzer Haut und gleichzeitig weißen, ›deutschen‹ Privilegien (vgl. ebd.: 13-15).

Der Suizid des Zwillings markiert außerdem den symbolischen ›Tod‹ der Protagonistin selbst,18 die erstmals darüber nachdenkt, dem Beispiel des Bruders zu folgen, sich dann jedoch dazu entscheidet, »hinaus in die so genannte weite Welt« (ebd.: 10f.) zu gehen. Der Trauerarbeit um den verlorenen Bruder korrespondiert also eine Art Neugeburt der Hauptfigur, der es schließlich gelingt, nach einem langen allegorischen Verhandlungsprozess mit dem Zwilling (und nicht nur mit ihm) ihre Familiengeschichte sowie ihre intersektionale und queere Identität, die von der Norm abweicht (vgl. ebd.: 82), zu verarbeiten. Erst als sie die Unmöglichkeit akzeptiert, ihre Identität ein für alle Mal ›schwarz auf weiß‹, d.h. nach den binären Vorschriften der Gesellschaft festzulegen, ist sie in der Lage, sich eigenständig zu definieren und damit den Bruder nicht mehr »AUF SEINE BEZIEHUNG ZU [IHR]« (ebd.: 259; Hervorh. i.O.) (und umgekehrt) zu reduzieren: »Ich habe nicht mich verloren, ich habe nicht einen Teil von mir verloren, sondern eine andere Person.« (Ebd.: 179) Gegen Schluss dann wird der verschollene Zwilling von dem Kind ersetzt, das die Protagonistin mit einem weißen Deutschen zeugt und mit ihrer deutsch-vietnamesischen Freundin aufziehen wird: ein Kind also, das als Vertreter einer neuen Generation von Individuen fungiert, deren Identitäten im Anschluss an die Erfahrungen und den Identifikations- bzw. Desidentifikationsprozess der Eltern schon von Geburt an als queer angenommen werden, und mit dem die Protagonistin eine enge Beziehung wie zum Zwillingsbruder aufbauen kann und will (vgl. ebd.: 336f.). Wie die Mutter wird es »sich ebenso in dieser Welt verorten müssen, die von rassistischen und diskriminierenden Denkmustern und Ideologien geprägt ist, hat aber gleichzeitig das Potenzial, sich von diesen abzugrenzen, diese zu reflektieren, zu kritisieren und zu ihrer Transformation beizutragen« (Huber/Villinger 2023: 156).

Zusammenfassend lässt sich die Anwendung des Doppelgängermotivs in beiden Romanen als Versuch interpretieren, eine Überwindung von binären bzw. heteronormativen Strukturen literarisch zu inszenieren. Die Sehnsucht nach dem Zwillingsbruder, die die Protagonist*innen am Anfang ihrer Suche bzw. Trauerarbeit spüren, lässt sie zunächst in einem Dazwischen schweben, wo sie nur ein Teil ihrer selbst sein können bzw. zu sein anstreben. Erst nachdem beide verstehen, dass der Bruder weder zurückgeholt werden kann, noch sie ihm ständig nachtrauern wollen, kommt es zu einem ideellen Einverleibungs- (Salzmann) oder Ersetzungsprozess (Wenzel), der jedes binäre Abhängigkeitsverhältnis,19 in dem sie zum Zwilling standen, auflöst. Der endgültige ›Tod‹ des Zwillingsbruders und der Schluss beider Romane markieren also die Geburt einer neuen Identität, die offenbleibt und sich jenseits aller binären Vorstellungen verortet. Aus zwei Individuen wird ein neues Ich, das aber nicht einheitlich, sondern vielfältig und ständig im Werden ist und, wie Salzmann betont, die »folgerichtigen Nachkommen einer neu zu schreibenden Welt« (Salzmann 2014: 194) repräsentiert.

3. Queeres Erzählen

Jene Binarität, die sich auf inhaltlicher Ebene durch das Abschiednehmen vom Zwillingsbruder auflöst, wird ebenfalls erzählstrukturell dekonstruiert. Auch wenn die ersten Kapitel sowohl bei Salzmann als auch bei Wenzel in der ersten Person erzählt werden, wobei der Eindruck entsteht, man habe es mit einem traditionellen autodiegetischen Ich-Erzähler zu tun, ändert sich das bald, denn beide Romane weisen eine Vielfalt an Erzählinstanzen auf. Diese erzeugt zum einen eine polyphone, queere Narration, wodurch »heterogene, zumeist antagonistische Elemente zu einer Unbestimmtheit [verbunden werden], die sich Kategorisierungsmodellen entzieht« (Bartl 2010: 196). Zum anderen trägt sie dazu bei, dass Hierarchien, Machtverhältnisse und Geschlechtskonstruktionen in Frage gestellt werden (vgl. Allrath/Surkamp 2004: 162-167).

In Außer sich tritt schon im zweiten Kapitel eine allwissende Erzählinstanz in der dritten Person auf, die alternierend die Erfahrungen von Alissa/Ali in Istanbul und die Geschichte ihrer Familie in montageartigen building blocks (vgl. Bühler-Dietrich 2022: 10f.) schildert. Diese anscheinend heterodiegetische Erzählinstanz wird allerdings immer wieder – zumindest im ersten Teil des Romans – von einer autodiegetischen Erzählinstanz unterbrochen. Eine solche Erzählkonstruktion spiegelt in der Tat das Bekenntnis des*der Ich-Erzähler*in wider, immer »noch gewohnt [zu sein], von [sich] außerhalb [ihrer*seiner] selbst, von [sich] in der dritten Person zu denken, als einer Geschichte, die irgendwem gehört« (Salzmann 2017: 210), wobei klar wird, dass es sich um dieselbe Erzählinstanz handelt, die stets von der dritten in die erste Person wechselt (und umgekehrt). Erst im zweiten Teil20 wird dann vorwiegend in der ersten Person erzählt, auch wenn die Erzählinstanz nun scheinbar aus einer neuen Perspektive berichtet, und zwar der des Zwillings, wie auch die Kapitelüberschrift »Anton« nahelegt; einige Hinweise21 deuten dennoch darauf hin, dass es sich um dieselbe Ich-Erzählinstanz handelt wie zuvor. Auch auf narrativer Ebene erfolgt also eine Einverleibung des Zwillingsbruders: Ali bemächtigt sich Antons Perspektive, was aber nicht zur Verwerfung ihrer ursprünglichen Stimme führt, wie das Schlusskapitel zeigt, in dem die Ich-Erzählinstanz und die Erzählinstanz in der dritten Person einander ablösen.22 Dieses ständige Wechseln der Perspektiven, das die Nichtbinarität der Hauptfigur bereits andeutet, wird ferner dadurch potenziert, dass die queerness bzw. Dysphorie der*des Protagonist*in auch grammatikalisch umgesetzt wird: Indem die Erzählinstanz nicht nur zwischen weiblichen und männlichen Pronomen und gendermarkierten Formen bzw. Elementen schwankt, sondern diese sogar so kombiniert, dass »das grammatikalische Geschlecht […] mit der entsprechenden diskursiven Darstellung [nicht übereinstimmt]« (Albé 2022: 245; Übers. A.G.), kommt es zu einer produktiven Irritation (vgl. ebd.), die jene »heterosexuelle Standardstruktur« widerlegt, die die Leser*innen in literarischen Texten automatisch vermuten (vgl. Fludernik 1999: 153). Damit lässt sich die Erzählinstanz in Salzmanns Roman durchaus als »queer voice«23 verstehen, die sich jenseits jeder Binarität verortet.

Auch in Wenzels Roman wird die monoperspektivische Ich-Erzählung der ersten zwei Kapitel bald aufgegeben. Der Roman besteht nämlich aus drei unterschiedlichen Teilen: Im ersten (»I. points of view«, Wenzel 2020: 5-123) und im dritten (»III. fluchtpunkte«, ebd.: 211-349) Teil alternieren die Narration einer autodiegetischen Erzählinstanz und aussagekräftige Frage-Antwort-Dialoge zwischen zwei auf den ersten Blick unbekannten Figuren bzw. Erzählinstanzen; der zweite (»II. picture this«, ebd.: 125-209) setzt sich hingegen aus »snapshots aus dem Leben der Ich-Erzählinstanz zusammen, die sich um bestimmte Orte, Themen, Menschen und Traumata drehen« (Layne 2022: 39; Übers. A.G.). Insbesondere die Gespräche im ersten und dritten Teil, die auch als innere Monologe der Protagonistin gelesen werden können (vgl. Hermes 2022: 301), thematisieren und inszenieren performativ binäre Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse,24 die dann im Laufe des Romans umgestürzt und aufgelöst werden. Zunächst finden diese Dialoge zwischen einem Ich, das auf die Hauptfigur verweist, und einem unbenannten Gesprächspartner statt,25 der ständig heikle und provokante Fragen stellt; erst im dritten Teil wird die Perspektive so umgedreht, dass die Protagonistin dem Gesprächspartner Fragen über sich selbst stellt (vgl. Wenzel 2020: 214-228, 282-289, 325-341). Insgesamt werden die Dialoge als Call-and-Response-Gespräche inszeniert, die einerseits zur Aufarbeitung der (familiären) Vergangenheit sowie zur Infragestellung und Überprüfung der Denkmechanismen der Protagonistin dienen, andererseits den Kampf von PoC, insbesondere von Afrodeutschen, und queeren Personen gegen rassistische Pauschalisierungen in der (deutschen) Gesellschaft diskursiv-performativ reproduzieren (vgl. Hermes 2022: 299).26 Allerdings findet auch in diesem Fall am Ende eine Zusammenführung der Erzählstimmen statt, welche die Dekonstruktion der binären Verhältnisse zwischen fragender und befragter Instanz, zwischen »subjecthood and subjectivity« (Fludernik 2007: 271) verdeutlicht und der Ich-Erzählinstanz die Autorität über ihre eigene queere Identität sichert – jenseits von externen Instanzen, die sie fest definieren wollen (vgl. Wenzel 2020: 343-347).27 Entsprechend lässt sich die changierende Erzählinstanz in Wenzels Roman als eine Art »communal voice«28 interpretieren, also als ein abwechselndes Erzählen durch verschiedene Erzählinstanzen, wobei diese Stimme nicht einer bestimmten Person oder Gruppe gehört, sondern mehreren zugleich und damit als Stimme eines fluiden Identitätsmodells fungieren kann.

Beide Texte spielen mithin ein feines und provokatives Spiel mit traditionellen (autoritativen) Erzählmustern, von denen die deutsche (Gegenwarts)Literatur nur so wimmelt (man denke z.B. an Tanja Dückers Roman Himmelskörper, der ebenfalls eine Zwillingskonstellation aufweist und ähnliche Themen behandelt). Zudem bedienen sich Salzmann und Wenzel an Gattungen und Motiven, die zum Repertoire der deutschsprachigen Literatur gehören, diese jedoch mit neuen Inhalten füllen und damit aktualisieren, wobei die Erwartungen der Leser*innen bewusst unterlaufen und allmählich modifiziert werden. In dem analysierten Fall nutzen die Autor*innen das Doppelgängermotiv so aus, dass gerade dessen innewohnende Dichotomie nicht mehr als unheimliche, außergewöhnliche und meistens negativ besetzte Eigenschaft betrachtet, sondern vielmehr als ein selbstverständlicher identitärer Zustand aufgewertet wird, der die Vielfältigkeit und Dysphorie der postmodernen und postmigrantischen Gesellschaft performativ veranschaulichen (und hoffentlich auch sozial umgänglicher machen) kann. Genau durch die Wiederaufnahme dieses Motivs wird die ›deutsche‹ literarische Tradition im Sinne einer Des-Integration ›verqueert‹ und um neue vielfältige Perspektiven erweitert.

Anmerkungen

1 Der Begriff wird hier in Anlehnung an Paul B. Preciado benutzt (2022: 13; Übers. A.G.): »Die allgemeine Dysphorie stellt den planetarischen epistemisch-politischen Zustand der Gegenwart dar. Dysphoria mundi meint: die Weigerung der Mehrheit der lebenden Körper des Planeten, sich einem Regime von petrosexuellrassistischem Wissen und Macht zu unterwerfen; die Weigerung, verdinglicht und zur Konsumware degradiert zu werden.«

2 Vgl. Benhabib (1995: 26): »Die Logik der binären Oppositionen ist auch eine Logik der Unterordnung und der Herrschaftsausübung.«

3 Dementsprechend eignet sich für solche queeren Identitäten Homi Bhabhas Konzept des ›dritten Raums‹ kaum, da dieses »noch eine ursprüngliche Idee von präkolonialer Kultur und deren Reinheit [impliziert], der dialektisch nicht zu entkommen ist« und neue Binarismen zu erzeugen droht (Horváth 2016: 25).

4 Vgl. Lanser (2005: 396; Übers. A.G.): »Wenn nämlich, wie einige postmoderne Theoretiker behaupten, Geschlecht das Binärsystem ist, auf dem sich alle anderen Binärsysteme konstituieren, dann bedroht die Auflösung dieses Binärsystems durch die Anerkennung von queerness […] alle anderen Binärsysteme und damit auch andere strukturelle Sicherheiten.«

5 Der Begriff Desintegration wird hier im Sinne Max Czolleks verwendet: »Das Konzept der Desintegration fragt nicht, wie einzelne Gruppen mehr oder weniger gut in die Gesellschaft integriert werden können, sondern wie die Gesellschaft selbst als Ort der radikalen Vielfalt anerkannt werden kann« (Czollek 2018: 73f.).

6 Aus der Analyse zeitgenössischer Werke ließen sich allerdings auch Rückschlüsse auf ältere Werke ziehen, die eine Neugestaltung bzw. Neubewertung des Kanons bewirken könnten.

7 Das Wort Doppelgänger wird hier in Anlehnung an Webber (vgl. 1996) als neutrale Bezeichnung verstanden, die eher das (literarische) Phänomen an sich als die konkrete Figur benennt, weshalb auf das Gendern des Wortes verzichtet wird.

8 Zu Salzmanns Roman siehe auch den Artikel von Silke Horstkotte.

9 Auch wenn in den Romanen die Kategorien Rasse und Klasse ebenfalls intensiv und intersektional verhandelt werden, können beide Aspekte aus Platzgründen hier nur gestreift werden.

10 Wie Vangi (2023: 375) bemerkt, ist »das russische Pronomen Я [ja] in der ersten Person Singular, ein Homophon des deutschen ›ja‹ [und] steht hier für die Unfähigkeit, sich mit einem binär sexuierten Subjekt zu identifizieren«, sowie für eine »radikale Ablehnung jeglicher Klassifizierung«, die das neue Subjekt in den Bereich des Post- bzw. Inhumanen stellt (vgl. dazu auch Albé 2022).

11 Wenn nach Lévy-Strauss (1993: 74) das Inzestverbot »die Heraufkunft einer neuen Ordnung [zeitigt]«, nämlich der Ordnung der Kultur, so lässt sich der Inzest zwischen den Zwillingen als bewusste Durchbrechung der präskriptiven binären Normen der Gesellschaft und damit als weiteres queeres bzw. ›verqueerendes‹ Moment des Romans lesen.

12 Einige Passagen im Roman geben Einblick in seine queerness: Als Kind z.B. zog er gern die »Absatzschuhe [der] Mutter« an (Wenzel 2020: 68); später fürchtet sich die Großmutter der Zwillinge davor, »dass der Neffe am Frankfurter Bahnhof von reichen Wessis in den Arsch gefickt wird« (ebd.: 332); an anderer Stelle ist hingegen vom »Sex mit seiner Freundin« (ebd.: 341) die Rede.

13 Nur an einer Stelle erinnert sie sich an den (männlichen) Spitznamen Alfred, den der Zwillingsbruder ihr gegeben hatte und der ebenfalls auf ihre queernees anspielt (vgl. ebd.: 119f.).

14 Dass der Bruder ausgerechnet am Bahnhof Selbstmord begeht, hat eine doppelte Bedeutung: Einerseits wird in den Erinnerungen und Gedanken der Protagonistin der Ort Bahnhof stets mit Diskriminierungserfahrungen verbunden (vgl. ebd.: 269), andererseits stellt er einen Transitort dar, der dem Queer-Sein der Protagonistin entspricht und als symbolischer Ausgangs- und Ankunftsort ihrer Identitätsfindung dient.

15 Der Automat am Bahnhof erinnert die Protagonistin außerdem an den Kaugummiautomaten ihrer Kindheit und dementsprechend an ihre »zweite bewusste Transaktion im Kapitalismus«, also an die Zeit unmittelbar nach der Wende (ebd.: 300f.). Dazu siehe auch Colvin 2022: 163.

16 Das wird besonders am Beispiel des sogenannten »dreifache[n] Problem[s] mit der Banane« begreiflich (Wenzel 2020: 49f.).

17 Diese Unsichtbarkeit wird zudem auch von jener »Ausgrenzung von Formen der (öffentlichen) Trauer« (Henschel 2022: 273; Übers. A.G.) bewiesen, die der Bruder erfährt: Als der Bruder tot auf den Schienen liegt, sind alle Menschen, die vorher am Bahnsteig waren, plötzlich weg (vgl. Wenzel 2020: 107), während »die Polizei […] seinen Pass verlangt, als er noch warm auf den Gleisen liegt« (ebd.: 217).

18 Vgl. ebd.: 187: »[U]nd mein Bruder sei ja auch ungefähr im Alter des angestochenen Jungen gewesen, als er starb, und ich damals auch, als ich starb, äh ich meine, er«.

19 Dass die Protagonistinnen am Anfang in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Bruder stehen, zeigt sich an der Charakterisierung der Hauptfiguren beider Romane: In der Liste der Charaktere in Salzmanns Außer sich wird Ali zunächst als »Schwester, Bruder« bezeichnet (Salzmann 2017: 7); in Wenzels Roman wird die Protagonistin ebenfalls erst allein durch ihre Beziehung zum toten Bruder ein ›ich‹ (vgl. Henschel 2022: 280).

20 Die Einteilung des Romans in zwei sich widerspiegelnde Teile – wie der Titel des jeweils ersten Kapitels (»nach Hause«, Salzmann 2017: 11/»zu Hause«, ebd.: 279) suggeriert – stellt übrigens ein weiteres strukturelles Element dar, welches das Zwillingsmotiv ebenso erzählstrukturell inszeniert.

21 Z.B. erklärt die Erzählinstanz, wie er*sie Aglaja, der Frau, die er*sie liebt (genauer gesagt: die sowohl Anton als auch Ali liebt), die Geschichte seiner*ihrer Familie – also was im ersten Teil schon geschildert wurde – erzählt (vgl. Salzmann 2017: 338).

22 Außerdem wird das Kapitel großenteils im Konjunktiv II erzählt, was die Instabilität der erreichten Identität betont; ferner wird damit eine Anspielung auf E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann eingebaut, einen der berühmtesten Doppelgängertexte der deutschsprachigen Literatur.

23 Unter »queer voice« versteht Lanser (2018: 926; Übers. A.G.) »(1) eine Stimme, die zu einer Erzählinstanz gehört, die aufgrund von Geschlecht, Gender oder Sexualität als queeres Subjekt identifiziert werden kann; (2) eine Stimme, die mehrdeutig ist oder die Konventionen von Geschlecht, Gender oder Sexualität unterläuft; und (3) eine Stimme, die die Regeln der Stimme selbst verwirrt und damit unsere kategorischen Annahmen über Erzähler und Erzählung.«

24 Diese Verhältnisse werden auch graphisch signalisiert, indem die Erzählinstanz, die die Fragen stellt, in Versalien gesetzt wird, während die Antworten kleingeschrieben werden.

25 Abwechselnd lassen sich hinter dem Gesprächspartner der tote Bruder, die Mutter und die Freundin Kim ausmachen.

26 Vgl. dazu auch Layne (2022: 50; Übers. A.G.), die in diesem Zusammenhang auf einen möglichen intertextuellen Bezug aufmerksam macht: »Wenzels Text könnte sich auf die berühmten Gedichte ›Afro-German I und II‹ der schwarzen deutschen Dichterin May Ayim aus dem Jahr 1995 beziehen, in denen eine weiße deutsche Frau die Erfahrungen einer schwarzen deutschen Frau hinterfragt.«

27 Man beachte auch die graphische Einheit von Fragen und Antworten.

28 »Unter communal voice verstehe ich ein Spektrum von Praktiken, die entweder eine kollektive Stimme oder ein Kollektiv von Stimmen bezeichnen, die sich die Autorität der Erzählung teilen.« (Lanser 1992: 21; Übers. A.G.)

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