Arbeitende Klasse und Diversität
Über persönliche Erzählungen in der Gegenwartsliteratur (Klasse und Kampf; Streulicht)
AbstractThe article examines representations of class society and the working class that have recently emerged in contemporary German literature. In this strand of writing, issues of class are articulated through progressive, and even left-wing, identity politics that emphasize diversity, intersectionality, and the struggle against discrimination and domination. Focusing on the anthology Klasse und Kampf (2021; Class and Struggle), edited by Maria Barankow and Christian Baron, and Deniz Ohde’s novel Streulicht (2020; Sky Glow), the article demonstrates how writers use personal stories, related in autofictional and auto(socio)biographical modes, in order to construct a more diverse representation of the working class. It argues that these ways of narrating class society are so pervasive because they tie in with a broader discourse about diversity that revolves around social justice and individual authenticity at the same time.
TitleThe Working Class and Diversity: On Personal Stories in Contemporary German Literature
Keywordsautobiographical writing; autofiction; class; identity politics; intersectionality
Arbeitende Klasse, Diversität und persönliche Erzählungen1
In den letzten Jahren lässt sich eine wachsende Zahl relativ breit rezipierter literarischer, journalistischer und sozialwissenschaftlicher Neuerscheinungen beobachten, die sich ausdrücklich mit der Klassengesellschaft und der arbeitenden Klasse beschäftigen. Diese Entwicklung kann vor dem Hintergrund neoliberaler Politik, vor allem von Privatisierungen und dem Abbau sozialstaatlicher Leistungen, sowie Debatten über Prekarität (vgl. Standing 2021) und die »Abstiegsgesellschaft« (Nachtwey 2018) gesehen werden. Wie ich an der von Maria Barankow und Christian Baron herausgegebenen Anthologie Klasse und Kampf (2021a) und Deniz Ohdes Roman Streulicht (2020) zeigen werde, lässt sich im Bereich der Literatur eine Überlagerung der Beschäftigung mit der arbeitenden Klasse durch eine progressive, teils linke Identitätspolitik beobachten, die – im Gegensatz zu rechten Identitätspolitiken – auf Vielfalt, Intersektionalität und die Kritik an Diskriminierung und Herrschaft setzt (vgl. Susemichel/Kastner 2021: 14-18). Dabei bedienen sich zahlreiche Gegenwartstexte persönlicher Erzählungen, das heißt eines Erzählens eigener Erfahrungen und Erlebnisse oder zumindest eines Erzählens dezidiert auf deren Grundlage. Persönliche Erzählungen verwenden in der Regel die erste Person Singular und oftmals Formen auto-(sozio)biografischer und autofiktionaler Schreibweisen und sind daher besonders dazu geeignet, gleichzeitig an die vorherrschenden »Paradigmen der Diversität« (Toepfer 2020: 139) anzuknüpfen, die soziale Gerechtigkeit und individuelle Authentizität betreffen.
Sozialwissenschaftliche und journalistische Autor*innen heben zwei Charakteristika der arbeitenden Klasse der Gegenwart hervor, wobei sie diese Klasse in einem weiten Sinne als den Großteil der Bevölkerung in kapitalistischen Gesellschaften verstehen, der kein Kapital besitzt und die eigene Arbeitskraft verkaufen muss (vgl. Friedrichs 2021: 12; Mayer-Ahuja/Nachtwey 2021: 25). Zum einen betonen sie deren Diversität: »Die arbeitende Klasse ist alles andere als einheitlich. […] Entgegen der romantischen Engführung auf ein Industrieproletariat […] umfasst die arbeitende Klasse seit den Anfängen des Kapitalismus sehr unterschiedliche Personen.« (Ebd.: 30f.) Diese Konzeption der arbeitenden Klasse als diverse Gruppe bezieht nicht mehr nur den männlichen Arbeiter in der Fabrik, auf dem Bau oder im Bergwerk ein, sondern u.a. Sorgearbeiter*innen, Arbeitende in der Gig-Economy oder Dienstleistungspersonal. Dabei bestimmt sich die Vielfalt der arbeitenden Klasse sowohl durch die verschiedenen Berufe samt ihrer unterschiedlichen Bildungshintergründe und arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen als auch durch die große Zahl sozialer Positionen und Identitäten der Arbeitenden, die u.a. mit Geschlecht, Ethnizität und Staatsbürgerschaft verbunden sind. Zum anderen weisen die Autor*innen auf die relative Abwesenheit von Selbstrepräsentationen und Sprechpositionen von Arbeiter*innen in der hegemonialen Öffentlichkeit hin. Für die Journalistin Julia Friedrichs ist die arbeitende Klasse die »ungehört[e] Hälfte«, deren »Stimmen […] man viel zu selten [hört]« (Friedrichs 2021: 17). Ebenso hoffen Nicole Mayer-Ahuja und Oliver Nachtwey dazu beizutragen, dass die Arbeitenden »sichtbar werden« und sie »auch Gelegenheit bekommen, mit eigener Stimme von ihrer Arbeit und ihrem Leben zu berichten« (Mayer-Ahuja/Nachtwey 2021: 14).
Vor dem Hintergrund der langen Geschichte von Fremd- und Selbstrepräsentationen der arbeitenden Klasse erscheint das Plädoyer von Autor*innen wie Friedrichs, Mayer-Ahuja und Nachtwey für die Stärkung der Stimmen einer diversen arbeitenden Klasse im öffentlichen Raum aus zwei Gründen bedeutsam. Es ist relevant vor dem Hintergrund der Identitätspolitiken der Arbeiterbewegung, die bei ihren Versuchen, die arbeitende Klasse als politisch handlungsfähiges Kollektiv zu konstituieren, eigene Ausschlüsse und Vereinheitlichungen erzeugte (vgl. Susemichel/Kastner 2021: 39-53). Wichtiger scheinen solche alternativen Repräsentationen in der Gegenwart und in ihrer Literatur aber zu sein, um klassistischen Vor- und Darstellungen zu begegnen – also dem homogenisierenden und pejorativen othering der arbeitenden Klasse, das mit politischer, ökonomischer, kultureller und sozialer Diskriminierung und Herrschaft verbunden ist (vgl. Kemper/Weinbach 2007: 13-25). In dieser Hinsicht ist das neue Schreiben über Klasse auch von bestimmten Strömungen der Intersektionalitätsforschung und mit ihnen verbundener Identitätspolitiken beeinflusst, zielt doch intersektionale Forschung und Politik darauf, öffentlich unsichtbare oder marginalisierte Gruppen und Individuen sichtbar zu machen und – insbesondere bei sogenannten antikategorialen Ansätzen – verallgemeinernde Kategorisierungen von Gruppen und Individuen zu dekonstruieren (vgl. Meyer 2017: 72-78). Zugleich lässt sich die in der Gegenwart entstehende Klassenliteratur so positionieren, dass sie gleichsam einen blinden Fleck in den intersektionalen Identitätspolitiken und Forschungen adressiert, da in diesen, folgt man bell hooks (vgl. 2000), Klasse im Vergleich zu Geschlecht oder race oftmals relativ randständig bleibt.
Dass sich in Deutschland ein breit rezipiertes und mit Fragen von Identität und Diversität verbundenes neues literarisches Schreiben über die Klassengesellschaft und die arbeitende Klasse herausgebildet hat, das mit Christian Barons Ein Mann seiner Klasse (2020) oder Ohdes Roman auch Bestseller hervorgebracht hat, hängt wesentlich mit der Übersetzung von Didier Eribons Retour à Reims (2009) ins Deutsche im Jahre 2016 zusammen. Neben dem Gegenstand der arbeitenden Klasse liefert Eribon zugleich eine Darstellungsform, an die zahlreiche Schriftsteller*innen anschließen.2 So haben Christian Baron (vgl. Schuhen 2020: 59), Daniela Dröscher (2018: 20f.), Anna Mayr (2020: 21-24) und Leander Scholz (2019: 127-129) darauf hingewiesen, dass Eribon ihre Sensibilität für Klassenfragen geschärft und es mitermöglicht habe, wieder literarisch über Klasse zu schreiben. Retour à Reims hat eine »genrebildende Funktion« und etabliert
im deutschsprachigen Raum das Genre ›Autosoziobiographie‹ […], welches nun etwas weiter gefasst (literarische) Texte meint, die Arbeiter*innenklassenherkunft als autobiographische Erzählung mit Blick auf die sozialen Gegebenheiten verhandeln und sich dieser Herkunft in einer retrospektiven, schreibenden ›Rückkehr‹ – wobei die Rückkehr zumeist auch Plot der Erzählung ist – (wieder)annähert. (Ernst 2020: 79)
Diese Texte sind in den seltensten Fällen Selbstrepräsentationen von Arbeiter*innen, sondern meistens schon qua Gattungslogik Erzählungen von »Klassenübergängern« (Jaquet 2021: 20), was auch zu einer Kritik ihrer Perspektive auf das Herkunftsmilieu geführt hat (vgl. Mayr 2020: 24).
Retour à Reims bietet aus zwei Gründen ein vielversprechendes Modell für die Darstellung einer diversen arbeitenden Klasse an. Zwar verwendet Eribon den Begriff der Intersektionalität nicht, dennoch geht er ähnlich vor, indem er seine Herkunft hinsichtlich der Verwobenheit von Klasse, Geschlecht und Sexualität perspektiviert. Die Auseinandersetzung mit seinem Klassenaufstieg steht auf diese Weise in einem Resonanzverhältnis sowohl mit einer sich wieder verstärkenden Debatte über sozioökonomische Ungleichheit und Umverteilung als auch mit einer ausgeprägten Diskussion über soziale Gerechtigkeit, die sich in einem großen Maße um Fragen der Anerkennung, Diversität und Identität dreht (vgl. Fraser 2003: 16). Während Eribons Autosoziobiografie die soziologische Analyse nutzt, um die eigene Erfahrung zu befragen und zu objektivieren, basiert das Buch zugleich auf einer autobiografischen Narration, die ein anderes Wissen über die arbeitende Klasse zur Verfügung stellen kann als ein soziologischer Text. Das Wissen, das Retour à Reims erzeugt, ist dann nicht nur durch die soziologische Methode legitimiert, sondern eben auch durch das Autorsubjekt und seine Erfahrung.
Retour à Reims und daran anknüpfende Texte autofiktionaler und auto-(sozio)biografischer Schreibweisen können auch deshalb so gut funktionieren, weil sie auf eine in Teilen der literarischen Öffentlichkeit verbreitete Annahme treffen, dass die Identität und die Erfahrung der Autor*innen das authentifizieren, wovon ein Text erzählt; eine Annahme, die sich sogar auf solche Texte erstrecken kann, die fiktional sind (vgl. Baßler 2022: 182-297). In dieser Verfasstheit des Feldes scheint sich auch – unabhängig von der epistemologischen oder politischen Bewertung – der grundsätzliche Einfluss des identitätspolitischen Arguments zu spiegeln, dass Identitäten oft »resources of knowledge especially relevant for social change« seien (Alcoff/Mohanty 2006: 2). Auf dieser Grundlage können persönliche Erzählungen, indem sie sowohl individuelle Biografien als auch verallgemeinerbare soziokulturelle Erfahrungen artikulieren, eine besondere Bedeutung für gesellschaftskritisches Schreiben über Klasse erlangen. Voraussetzung dafür ist freilich, dass Klasse voranging als eine Identität und weniger als eine Kategorie aufgefasst wird, die ein gesellschaftliches Verhältnis beschreibt (vgl. Roldán Mendívil/Sarbo 2023: 109-115).
Zwei von vielen möglichen Passagen sollen die der persönlichen Erzählung im Rahmen identitätspolitischer Auffassungen von Klasse zugesprochene Bedeutung veranschaulichen. So führen Frede Macioszek und Julian Knop in ihre Sammlung Klassenfahrt. 63 persönliche Geschichten zu Klassismus und feinen Unterschieden (2022) mit folgenden Worten ein:
In Erfahrungsberichten und persönlichen Texten über tagtägliche Situationen wird sichtbar, was Klassismus heißt und wie sich Klassismus äußert. Der Sammlung liegen viele Einzelerfahrungen unterschiedlicher Personen zugrunde. […] [U]ns [ist] jedoch wichtig, Menschen, die Klassismus erfahren, zu zeigen: Andere Menschen teilen eure Erfahrungen. (Macioszek/Knop 2022: 7).
Macioszek und Knop betonen Vielfalt, evozieren aber auch das für den Begriff der Identität charakteristische Oszillieren zwischen individueller und kollektiver Dimension, zwischen Selbstidentifikation und Fremdzuschreibung (vgl. Brubaker/Cooper 2000: 6-8). Ähnlich betont Olivier David im Prolog seines autobiografischen Textes Keine Aufstiegsgeschichte. Warum Armut psychisch krank macht (2022) eine auf Wiedererkennung basierende Wirkung der persönlichen Erzählung, welche diese im Spannungsfeld von Individuellem und Kollektivem entfalte und die die Bildung eines Klassenbewusstseins ermögliche:
Mit der Verknüpfung von psychischer Erkrankung und Armut in Form einer biografischen Erzählung soll dieses Buch dabei helfen, das individuell erscheinende Elend vieler Menschen in einem gesamtgesellschaftlichen Rahmen zu begreifen. Erst wenn Menschen sich in Geschichten wie dieser wiedererkennen, kann aus Einzelschicksalen ein kollektives Bewusstsein wachsen – ein Bewusstsein, ohne das es keine Chance auf Veränderung gibt. (David 2022: 14f.)
Verdeutlichen diese Zitate, wie das Persönliche im Schreiben über die Klassengesellschaft explizit mobilisiert und mit epistemischer und politischer Bedeutung aufgeladen wird, möchte ich nun an Klasse und Kampf und Streulicht ausführen, wie unterschiedliche Arten persönlicher Erzählungen bei der Darstellung der Arbeiterklasse auf eine doppelte Weise funktionieren. Sie erzeugen nämlich die Diversität der arbeitenden Klasse zugleich im Sinne intersektional verstandener Gruppen und als Ansammlung von Individuen.
Vielfältige Stimmen versammeln
Die Anthologie Klasse und Kampf
Die 2021 erschienene, von Maria Barankow und Christian Baron herausgegebene Anthologie Klasse und Kampf versammelt 14 Prosatexte über die arbeitende Klasse und die Klassengesellschaft in Deutschland. Der Titel der Anthologie signalisiert eine literarische Intervention, für die Barankow und Baron im literarischen Feld günstig positioniert sind, ist Erstere doch Lektorin und Programmleiterin bei Ullstein und Letzterer ein Bestsellerautor, der zudem journalistisch für linke und linksliberale Medien wie Neues Deutschland und Der Freitag schreibt. Zugleich ruft der Titel Fragen nach dem Verhältnis zu älteren (kultur)politischen Kämpfen auf, deren Trägerin – so legt die Assoziierbarkeit des Titels mit dem zusammengesetzten Nomen ›Klassenkampf‹ nahe – die historische Arbeiterbewegung war. Befürworten Barankow und Baron eine Politik der »kleinen Schritt[e]«, da diese am ehesten zu einer »besseren Welt« führe (Barankow/Baron 2021b: 12), ist der politische Einsatz ihrer Intervention zudem dadurch charakterisiert, dass sie in ihrem Vorwort ein marxistisches mit einem identitätspolitischen Vokabular verbinden. So thematisieren sie einerseits »den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit« und fragen andererseits nach der »Rolle«, die Geschlecht, Ethnizität und race »bei der Verteilung von Privilegien in einer weiß und männlich dominierten Klassengesellschaft« spielen (ebd.: 10f.). Eine Perspektive der Diversität, durch welche die Klassengesellschaft auch unter Einbezug von Intersektionalität (auf neue Weise) vor- und darstellbar gemacht wird, reguliert auch die Textauswahl – sowohl hinsichtlich der literarischen Form als auch der soziokulturellen Positionen ihrer Autor*innen: »[I]m vorliegenden Buch [kommen] vierzehn Menschen mit unterschiedlichen Blickwinkeln, Hintergründen und Erzählweisen zu Wort. Die hier versammelten Stimmen sind so vielfältig wie unsere Gesellschaft.« (Ebd.: 10) Entsprechend beinhaltet die Anthologie Beiträge von afrodeutschen, afrobritischen, deutsch-türkischen und weißen Autor*innen, die sowohl aus dem Osten als auch dem Westen der Bundesrepublik stammen und zu denen u.a. Bov Bjerg, Kübra Gümüşay, Clemens Meyer, Katja Oskamp, Sharon Dodua Otoo, Anke Stelling und Olivia Wenzel zählen. In ihrer Gesamtanlage ist die Anthologie damit exemplarisch für eine neue gesellschaftliche und literarische Auseinandersetzung mit der Klassengesellschaft, die von Diskursen der kulturellen Diversität und Identität geprägt wird.
Klasse und Kampf ist darüber hinaus charakteristisch für diese neue Klassenliteratur, insofern die Autor*innen – bei aller formalen Heterogenität ihrer Beiträge – auf persönliche Erzählungen setzen und sich auto-(sozio)biografischer und autofiktionaler Schreibweisen bedienen. Barankow und Baron machen dies zum Programm: »Wir wollen durch persönliche Perspektiven die Missstände greifbar machen und damit eine Einladung zur Empathie aussprechen.« (Ebd.: 10) Persönlichen Erzählungen wird das Potenzial zugesprochen, gesellschaftliche Verhältnisse sowohl kognitiv als auch affektiv nachvollzieh- und verstehbar zu machen und Menschen das nachvollziehende Mitfühlen sozialer Erfahrungen zu ermöglichen, die nicht ihre eigenen sind. »Strukturelle Diskriminierungen« könnten, so Sharon Dodua Otoo in ihrem Beitrag, besonders gut verstanden werden, wenn sie durch eine betroffene Person im Modus einer Narration biografischer Erfahrung dargestellt würden: »Bei […] strukturellen Diskriminierungen ist es […] so, dass Menschen viel besser in der Lage sind, einen Sachverhalt kognitiv zu erfassen, wenn er über eine persönliche Erzählung erklärt wird.« (Otoo 2021: 123) Zudem legt sie nahe, dass solche »Erfahrungsbericht[e]« dabei helfen könnten, »Solidargemeinschaften zu bilden« (ebd.). Die persönliche Erzählung wird hier als ein Schritt auf dem Wege zur Politisierung oder zumindest zu mehr Awareness verstanden.
Der Nachdruck, der in Klasse und Kampf auf persönliche Erzählungen gelegt wird, ist jedoch auch lesbar als Konsequenz einer Zurückhaltung gegenüber stellvertretendem Sprechen. Die Autor*innen »machen sich nicht zum Sprachrohr einer Gruppe, einer politischen Partei oder Strömung« (Barankow/Baron 2021b: 10), sondern rücken individuelle Perspektiven auf die gesellschaftliche Situation bestimmter Gruppen in den Vordergrund, die sie wiederum intersektional begreifen. Zugleich fasst die Anthologie vielfältige Stimmen in einer einzigen Publikation zusammen. Diese Art der Textsammlung hebt zugleich individuelle Stimmen hervor und dezentriert in ihrer Gesamtheit die einzelnen Stimmen. Damit gelingt Klasse und Kampf etwas, das die zahlreichen auto-(sozio)biografischen und autofiktionalen Bücher über Klasse in der Gegenwartsliteratur kaum erreichen können, insofern diese auf die autodiegetische Erzählperson als Mittelpunkt der autobiografischen Narration zurückgeworfen bleiben. Die Form der Anthologie hält somit eine mögliche Antwort auf die von Carlos Spoerhase (vgl. 2017: 37) aufgeworfene Frage bereit, wie Erzählungen in der ersten Person Singular, die um eine Biografie kreisen, gebraucht werden können, um eine kollektive Auseinandersetzung mit der Klassengesellschaft zu ermöglichen und darzustellen. In dieser Anthologie kurzer Erzählungen werden verschiedene, individuelle Stimmen nebeneinandergestellt, wodurch sie zueinander ins Verhältnis treten, ohne dass sie in einer homogenen Artikulation aufgingen. Stattdessen lässt Klasse und Kampf ein diverses und polyphones Kollektiv zumindest aufscheinen.
Das Potenzial der Anthologie, Diversität und Kollektivität zugleich zu artikulieren, ist auch insofern signifikant, als viele Beiträger*innen ihre persönlichen Erzählungen dazu verwenden, stereotypisierende und verallgemeinernde Verständnisse der arbeitenden Klasse durch ihre individuellen Erfahrungen zurückzuweisen. Dabei wird auch die Kategorie Arbeiter problematisiert, da sie eigene Erfahrungen und Diversität nicht abbilden würde. So schreibt Francis Seeck:
Ich bezeichne meinen Klassenhintergrund als Armutsklasse. Wir waren reich an Bildung und arm an Einkommen und gesellschaftlicher Anerkennung. Die Gruppe der Menschen, die in materieller Armut leben, ist divers […]. Die Realitäten meiner Herkunftsklasse lassen sämtliche Klischees über ›die Hartz-IV-Bezieher‹ oder ›die Arbeiter‹ scheitern. (Seeck 2021: 68)
Mehrere Autor*innen schreiben gegen die Romantisierung der »sogenannten Arbeiterklasse« (Becker 2021: 151) an. Dabei wird vereinheitlichenden und idealisierenden Vorstellungen des Proletarischen, wie sie die Kategorie Arbeiter evozieren kann, beispielsweise die Aufzählung verschiedener prekärer Lebenssituationen gegenübergestellt: »Was sollen wir romantisieren? In unserem Viertel kursierte auch das Elend. Vor der Wende, nach der Wende. Trinker, Kranke, Verwahrloste, Schrottsammler« (Meyer 2021: 177). Insgesamt rücken die Autor*innen individuelle Lebensgeschichten in den Vordergrund ihrer Texte, die nicht den Stereotypen über die arbeitende Klasse entsprechen und »nicht zu den Theorien [über die arbeitende Klasse] passen« (Otoo 2021: 113). Gemeinsam tragen sie zur Herstellung von nicht hegemonialem Wissen bei, das sich insbesondere dadurch auszeichnet, dass es die Pluralität der arbeitenden Klasse hervorhebt.
Pinar Karabuluts Anthologiebeitrag Augenhöhe verdeutlicht exemplarisch das Potenzial der persönlichen Erzählung, Diversität gleichzeitig im Sinne von soziokulturellen Gruppen und Individuen darzustellen. Aufgewachsen als Tochter eingewanderter türkischer Eltern war Karabulut zum Zeitpunkt der Abfassung des Textes Teil des künstlerischen Leitungsteams der Münchner Kammerspiele und zählt sich nach ihrem Einkommen »zur klassischen Mittelschicht Deutschlands« (Karabulut 2021: 83). Ihr 14-seitiger Text verbindet essayistische Passagen, autobiografische Episoden und Erinnerungen ihrer Eltern; er erzählt ihre eigene Geschichte und die ihrer Eltern – insbesondere ihres Vaters – als geteilte, aber doch verschiedene. Sie erzählt sie als Geschichte von zwei verschiedenen Arten des sozialen Aufstiegs – durch Arbeit einerseits, durch Bildung andererseits – und als Geschichte eines intergenerationell geteilten »Unsichtbarsein[s] in der deutschen Mehrheitsgesellschaft« (ebd.: 90). Karabulut thematisiert das Erzählen von persönlichen Geschichten metapoetisch und spricht diesem eine antihegemoniale Funktion zu: »Während es Menschen der Mehrheitsgesellschaft erlaubt ist, individuelle Biografien zu besitzen, bleibt dies Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund verwehrt. Unsere Funktion scheint [zu sein,] als Pars pro Toto für eine Gruppe zu dienen« (ebd.: 83). Indem Karabulut eine autobiografische Narration gebraucht und Individualität betont, fordert die Erzählung Augenhöhe, folgt man Karabuluts Einschätzung, also die Grenzen dessen heraus, was gesellschaftlich sagbar ist, oder: wer eine öffentlich sichtbare Individualgeschichte haben und diese selbst erzählen darf.
Karabulut weist Vorstellungen soziokultureller Verkörperung und Repräsentation zurück, die sie durch die Formulierung »Pars pro Toto« evoziert, und deutet die Geschichte ihres Vaters deshalb in einem doppelten Sinne. Sein Leben veranschaulicht zugleich das, was daran für eine Person seines soziokulturellen Hintergrunds typisch ist, und das, was so besonders und außergewöhnlich ist, dass es nur durch einen Vergleich mit dem Film gefasst werden kann: »Auf der einen Seite ist die Biografie meines Vaters eine sehr klassische und gewöhnliche Gastarbeiter-Biografie. Auf der anderen Seite muss ich oft an Catch Me If You Can denken – leider ohne Leonardo DiCaprio und ohne Flugzeuge.« (Ebd.: 84) So schildert Karabulut die entmenschlichenden und entindividualisierenden Praktiken, denen sogenannte Gastarbeiter*innen in Deutschland ausgesetzt waren (vgl. ebd.: 86), hebt aber zugleich den Einfallsreichtum des Vaters und seine »Behauptungen« (ebd.: 90) über angebliche Kenntnisse und Berufserfahrungen hervor – deshalb der Vergleich mit Steven Spielbergs Catch Me If You Can (2002) –, die es ihm erlaubten, sich in einem diskriminierenden Umfeld zu behaupten und aufzusteigen: von der »Arbeit auf dem Bau« über eine Tätigkeit als Kranführer in einer Fabrik schließlich zum Bankkaufmann und »einer Art Don Corleone in der [deutsch-türkischen] Community« (ebd.: 89f.). Obgleich Karabulut also auch das Typische schildert, betont sie doch vor allem das Individuelle. Ihrer Auffassung nach ist Individualität das, was hegemoniale Repräsentationen von Arbeitsmigration und von durch sie geprägte Bevölkerungsgruppen im postmigrantischen Deutschland ausschließen:
Wie soll ein einzelner Mensch, egal welchen Geschlechts, welcher Nationalität, welcher sexuelle[n] Orientierung, die komplette Migrationsgeschichte Deutschlands verkörpern können?! Die Schönheit jedes Menschen liegt in ihrer* oder seiner* Individualität – und somit auch in diesen individuellen Geschichten. (Ebd.: 83f.)
Der persönlichen Erzählung kommt in Augenhöhe, wie auch in anderen Beiträgen von Klasse und Kampf, die Funktion zu, eine bereits intersektional gedachte arbeitende Klasse und Migrationsgeschichte – hier verdeutlicht durch Karabuluts Nennung von Geschlecht, Nation und Sexualität – weiter zu pluralisieren: Neben die soziokulturelle Diversität tritt die Vielfalt individueller Biografien, die in Ersterer nicht aufgehen.
›Intersectional invisibility‹ und die arbeitende Klasse in Streulicht
In ihrem Kommentar zur Nominierung von Deniz Ohdes Debütroman Streulicht für den Deutschen Buchpreis 2020 ruft die Jury die zwei eingangs herausgearbeiteten Elemente des aktuellen Diskurses über die arbeitende Klasse auf. Der Roman handle von »eine[m] Teil der Gesellschaft, der sonst viel zu selten zu Wort kommt«, verleihe diesem also eine Stimme und zeige ein »(post)migrantisches Arbeiter*innen-Milieu« (Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels 2020) – er trage also zur Darstellung der Diversität der arbeitenden Klasse bei. Darüber hinaus ist Streulicht textstrukturell mit dem gegenwärtigen Schreiben über die Klassengesellschaft verbunden, verwendet doch auch dieser Roman das von Retour à Reims geprägte Modell: Eine autodiegetische Erzählerin setzt sich mit der eigenen sozialen Herkunft kraft einer biografischen Narration und des Chronotopos der Rückkehr nach Hause auseinander. Im Gegensatz zu Eribon verzichtet Ohde allerdings ganz bewusst auf politisches und soziologisches Vokabular, denn es geht ihr darum, die Klassengesellschaft durch das Literarische und die persönliche Dimension nachfühlbar und darstellbar zu machen. So erklärt sie in einem Interview: »Ich habe diese Begriffe Rassismus oder Chancengleichheit nicht verwendet, weil das abstrakte Begriffe sind und nicht besonders literarische. Mir war wichtig, diese Begriffe erlebbar zu machen. Also was sie bedeuten in einer Biografie und wie die sich anfühlen« (Romanowsky 2022).
Erzählt Ohde eine persönliche Geschichte innerhalb der diegetischen Romanwelt und betont in Interviews immer wieder, dass es sich bei Streulicht nicht um einen autobiografischen Text handle (vgl. Walter 2021), verweist sie dennoch ebenso auf Ähnlichkeiten zwischen der gesellschaftlichen Position ihrer Erzählerin und ihrer eigenen (vgl. Gerk 2020). Zudem ist der Roman durchzogen von schwachen Autofiktionssignalen (vgl. Herrmann 2021: 324f.). Er lässt sich deshalb als autofiktional in einer weiten Konzeption dieser Schreibweise verstehen. Nach dieser »unterhält das Subjekt der Autofiktion Schnittmengen zu den Autor*innen, ist also in deren sozialer Position verankert und bürgt dadurch für eine Glaubwürdigkeit des Geschriebenen, ohne sich auf dessen Faktizität berufen zu müssen« (Ernst 2020: 78).
Die in den späten 1980er Jahren geborene, namenlose Ich-Erzählerin wächst in einem von einem Industriepark geprägten Ort auf, wo ihr deutscher Vater in einem repetitiven Arbeitsleben für »vierzig Jahre Aluminiumbleiche in Laugen [tunkte], vierzig Stunden in der Woche« (Ohde 2020: 11). Ihn charakterisiert eine Angst vor dem Fremden und eine »Hilflosigkeit bei allem, was […] hinausgeht« über sein gewohntes Umfeld (ebd.: 11). Dies betrifft gerade auch die höhere Bildung, eine Skepsis, welche die Erzählerin zunächst internalisiert (vgl. ebd.: 84, 155). Ihre aus der Türkei stammende und nach ihrer Ankunft in Frankfurt zuerst als Putzkraft arbeitende Mutter wird hingegen als von einer »Unabhängigkeit« geprägt beschrieben, die sie ihrer Tochter aber nicht »vorzuleben« in der Lage ist (ebd.: 229). Das Verständnis der eigenen komplexen Familiengeschichte wird der Erzählerin dadurch erschwert, dass ihre Eltern ihre Erfahrungen kaum mit ihrer Tochter teilen; erst indem es der Erzählerin gelingt, ihre eigene Geschichte zu erzählen, überwindet sie das familiäre Schweigen (vgl. ebd.: 165, 251-254). Dabei erzeugen die retrospektive Form der Erzählung sowie die Position der Erzählerin als Klassenübergängerin infolge eines Bildungsaufstiegs mehrere Perspektiven. So erläutert Kyung-Ho Cha: »[F]irst, there is the perspective of the protagonist as a child and teenager who experiences social and racial discrimination, the nature of which she does not understand. Second, there is the perspective of the protagonist as narrator, who remembers and analyzes her younger self« (Cha 2023: 142). Diese zweite Perspektive markiert eine Distanzierung des Herkunftsmilieus, insofern die Erzählerin ihre Eltern durchaus mit einem ethnografischen Blick sieht (vgl. ebd.: 139). Multiperspektivisch schildert Streulicht so die Konturen einer durch transnationale Verbindungen und verschiedene Beschäftigungsformen charakterisierten Arbeiterklasse, ohne diese zu romantisieren, erzählt der Text doch eine von unbewältigtem Trauma und innerfamiliärer Gewalt gezeichnete Familiengeschichte. Dieser antiromantisierende Impuls betrifft noch das Aufstiegsnarrativ des Romans, denn obwohl es der Erzählerin schließlich gelingt, einen Universitätsabschluss zu erreichen, bleibt ihre finanzielle und berufliche Situation im gesamten Roman prekär, und sie arbeitet zeitweise – wie ihre Mutter – als Reinigungskraft (vgl. Ohde 2020: 259-272, 284). Die arbeitende Klasse verlässt sie trotz Bildungsaufstieg also sozioökonomisch nicht.
Die Auseinandersetzung des Romans mit Fragen von Diversität und Sichtbarkeit – insbesondere hinsichtlich der Position der Erzählerin, die durch Klasse, Ethnizität und Geschlecht bestimmt ist – kann durch den von Kimberlé Crenshaw und Gudrun Axeli-Knapp diskutierten Begriff der intersectional invisibility perspektiviert werden (vgl. Axeli-Knapp 2013). Der Begriff thematisiert das Fehlen einer Sprache und eines sozialen Raums, in dem verschiedene, sich überschneidende Aspekte marginalisierter Erfahrung adressiert werden können. Nachdem die Erzählerin in der Schule rassistisch und klassistisch attackiert wurde (vgl. Ohde 2020: 48), erklärt beispielsweise die über Rassismus besorgte Mutter, dass sie nicht gemeint gewesen sein könne, da sie eine »Deutsche« sei (ebd.: 49). Zugleich bezieht sich der Begriff der intersektionalen Unsichtbarkeit darauf, wie die Normen unsichtbar gemacht werden, die solches othering erst ermöglichen. Im Roman verkörpern vor allem Sophia und Pikka, die beste Freundin und der beste Freund der Erzählerin aus Kindheits- und Jugendtagen, eine weiße Mittelschichtsnorm, die so selbstverständlich und naturalisiert ist, dass sie alle Interaktionen, Wahlmöglichkeiten und Gefühle reguliert und »eine unsichtbare Wand zwischen [der Erzählerin] und dem Ort« konstituiert: »[e]ine Wand, die Pikka nicht sehen konnte, Sophia nicht sehen konnte und die bewirkte, dass ich nicht dazugehörte« (ebd.: 22, vgl. auch 38-42). Indem sie ihre Geschichte retrospektiv erzählt, macht die Erzählerin diese unsichtbare Normstiftung sowie ihr dadurch verursachtes Leiden lesbar.
Damit erlangt der Roman auch die Eigenschaft einer antihegemonialen Repräsentation. Dies thematisiert Streulicht implizit, insofern der Text verschiedene Institutionen und Akteur*innen behandelt, welche die arbeitende Klasse öffentlich darstellen und die offizielle Geschichte schreiben. In einer Episode klaut die Erzählerin ihre Akte aus ihrer ehemaligen Schule, wobei der Roman die Frage des Verhältnisses zwischen dem Selbstverständnis von Individuen und der Kategorisierung durch staatliche Institutionen aufwirft (vgl. ebd.: 176-179). An einer anderen Stelle problematisiert der Roman die mediale Stereotypisierung und Stigmatisierung von prekarisierten Menschen der arbeitenden Klasse (vgl. ebd.: 135-138). Schließlich thematisiert Streulicht auch die Beziehung von Klasse und Geschichtsschreibung auf lokaler Ebene (vgl. ebd.: 209-211). Spät im Roman berichtet der Vater der Erzählerin, dass er die Chronik der Ortsgeschichte gekauft hat. In dieser ist Pikkas Familie in der Person seines Großvaters enthalten, der als Vorstandsvorsitzender im Industriepark gearbeitet hat. Die Familie der Erzählerin findet hingegen keinen Eingang in die offizielle Geschichtsschreibung des Ortes. Durch die Darstellung einer Herkunft aus der durch Diversität geprägten Arbeiterklasse, die Ohde als persönliche Erzählung in Romanform darbietet, schreibt der Text intradiegetisch eine Gegengeschichte zur von ihm selbst thematisierten offiziellen Geschichtsschreibung. Zugleich kann der Roman aufgrund seines durch die autofiktionale Dimension gestärkten referenziellen Charakters als eine literarische und individuelle Gegengeschichte zu hegemonialen Auffassungen gesellschaftlicher Wirklichkeit verstanden werden.
Schluss
Die hier diskutierten Texte setzen auf persönliche Erzählungen als Modus der Auseinandersetzung mit der Klassengesellschaft. Es lässt sich spekulieren, dass diese formale Verfasstheit ihrer relativen Popularität unter historischen Bedingungen zuträglich ist, die seit den 1970er Jahren durch die wachsende Bedeutung subjektiver Lebensgestaltung, personaler Authentizität, kultureller Anerkennung und Identitätspolitik geprägt ist (vgl. Nachtwey 2018: 184-189). Für Texte wie Klasse und Kampf und Streulicht mag die Verbindung autofiktionaler und auto-(sozio)biografischer Schreibweisen mit dem Gegenstand der Klassengesellschaft deshalb eine Voraussetzung für die wirkmächtige Behandlung von Klasse sein. In den analysierten Gegenwartstexten dominieren dabei Fragen der gesellschaftlichen Teilhabe und der Anerkennung, der Ungleichheit und der Umverteilung. Hingegen bleibt eine Konzeptualisierung von Klasse im Kontext von eher marxistischen Fragestellungen wie der Produktionsweise, der Verdinglichung, der Ideologie, der unpersönlichen Herrschaft oder der systemimmanenten Krise (vgl. Fraser 2003: 20) weitestgehend abwesend. Dies lässt sich durchaus als symptomatisch für einen Klassendiskurs verstehen, der durch Identität und Intersektionalität geprägt ist. Denn intersektional-identitätspolitische Ansätze konzipieren in der Regel das Soziale im Sinne von personen- und gruppenbezogener Diskriminierung und Ungleichheit und behandeln weniger, wie gesellschaftliche Gruppen maßgeblich durch funktionale Beziehungen und unpersönliche Formen sozialer Organisation konstituiert und positioniert werden, die für die Produktion und Reproduktion kapitalistischer Gesellschaften notwendig sind (vgl. Soiland 2008).
Im Kontext von Debatten und Konflikten um Vielfalt in einem postmigrantischen Deutschland, das wieder stärker mit sozialer Ungleichheit konfrontiert ist, kommt der persönlichen Erzählung eine besondere Bedeutung für literarische Interventionen zu, da sie gleichzeitig an zwei Paradigmen des Diversitätsdiskurses anschließen kann. In einer begriffsgeschichtlichen Studie hat Georg Toepfer gezeigt, dass der Diversitätsdiskurs sowohl ein »Selbstentfaltungsparadigma« umfasst, welches »das Individuum und die ›Verwirklichung‹ seiner als ›authentisch‹ empfundenen, je spezifischen Bedürfnisse und Eigenarten« in den Mittelpunkt rückt, als auch ein »Gerechtigkeitsparadigma«, das »die Anerkennung von sozialer Heterogenität als einem integralen Moment moderner Gesellschaften« sowie daran anschließende Modelle politischer Partizipation und Institutionalisierung betont (Toepfer 2020: 139, 140f.; Hervorh. i.O.). In dem Maße, in dem die neue Klassenliteratur intersektionale Geschichten der Herkunft aus der arbeitenden Klasse zugleich als soziokulturell geformte und typische sowie als persönliche und individuelle erzählt, kann sie beide Paradigmen narrativ artikulieren und die durch sie gestellten Erwartungen adressieren. Mit Hilfe persönlicher Erzählungen scheinen die hier diskutierten Autor*innen eine Teilhabe an ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Ressourcen und damit verbundenen individuellen Möglichkeiten einzufordern, die hegemoniale Gruppen und die Struktur der Klassengesellschaft den diversen Subjekten der arbeitenden Klasse vorenthalten: so nicht zuletzt die Möglichkeit, eine legitimierte Sprechposition in öffentlichen Räumen wie dem literarischen Feld einzunehmen, was den Menschen der »ungehörten Hälfte« (Friedrichs 2021: 17) als Individuen und Teilen von gesellschaftlichen Gruppen allzu oft verwehrt bleibt.
Anmerkungen
1 Der vorliegende Text ist die überarbeitete und übersetzte Fassung meines Aufsatzes The Poetics of Personal Authenticity: Diversity, Intersectionality, and the Working Class in Contemporary German Literature (vgl. Schaub 2024).
2 Zur Autosoziobiografie und ihren literarischen Vorläufern vgl. Blome/Lammers/Seidel 2022. Eribons Buch konnte wohl auch deshalb einen so prägenden Einfluss erlangen, weil ähnliche ältere Texte wie Karin Strucks Klassenliebe (1973) keine Bedeutung für die Formation der neuen Klassenliteratur hatten.
Literatur
Alcoff, Linda Martín/Mohanty, Satya P. (2006): Reconsidering Identity Politics. An Introduction. In: Linda Martín Alcoff u.a. (Hg.): Identity Polics Reconsidered. New York/Houndmills, S. 1-9.
Axeli-Knapp, Gudrun (22013): ›Intersectional Invisibility‹. Anknüpfungen und Rückfragen an ein Konzept der Intersektionalitätsforschung. In: Helma Lutz/María Teresa Herrera Vivar/Linda Supik (Hg.): Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzepts. Wiesbaden, S. 243-264.
Barankow, Maria/Baron, Christian (Hg.; 2021a): Klasse und Kampf. Berlin.
Dies. (2021b): Vorwort. In: Dies. (Hg.): Klasse und Kampf. Berlin, S. 7-12.
Baßler, Moritz (2022): Populärer Realismus. Vom Internationalen Style gegenwärtigen Erzählens. München.
Becker, Martin (2021): Sonnenbrand. In: Maria Barankow/Christian Baron (Hg.): Klasse und Kampf. Berlin, S. 145-158.
Blome, Eva/Lammers, Philipp/Seidel, Sarah (Hg.; 2022): Autosoziobiographie. Poetik und Politik. Berlin/Heidelberg.
Brubaker, Rogers/Cooper, Frederick (2000): Beyond »identity«. In: Theory and Society 29, H. 1, S. 1-47.
Cha, Kyung-Ho (2023): The Postmigrant Critique of the Bildungsroman and the Epistemic Injustice of the Education System in Deniz Ohde’s »Scattered Light«. In: Sarah Colvin/Stephanie Galasso (Hg.): Epistemic Justice and Creative Agency. Global Perspectives on Literature and Film. New York/London, S. 131-147.
David, Olivier (22022): Keine Aufstiegsgeschichte. Warum Armut psychisch krank macht. Hamburg.
Dröscher, Daniela (2018): Zeige deine Klasse. Die Geschichte meiner sozialen Herkunft. Hamburg.
Ernst, Christina (2020): ›Arbeiterkinderliteratur‹ nach Eribon. Autosoziobiographie in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In: Lendemains 45, H. 180, S. 77-91; online unter: https://doi.org/10.2357/ldm-2020-0048 [Stand: 1.8.2024].
Fraser, Nancy (2003): Soziale Gerechtigkeit im Zeitalter der Identitätspolitik. Umverteilung, Anerkennung und Beteiligung. In: Dies./Axel Honneth: Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Frankfurt a.M., S. 13-128.
Friedrichs, Julia (22021): Working Class. Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können. Berlin/München.
Gerk, Andrea (2020): Industriepark als Heimat. Deniz Ohde über »Streulicht«. In: Deutschlandfunk Kultur, Lesart, 16. Oktober 2020 [Podcast]; online unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/deniz-ohde-ueber-streulicht-industriepark-als-heimat-100.html [Stand: 1.8.2024].
Herrmann, Leonhard (2021): Nach dem Populismus. Komplexität, Polyvalenz und der »Social Turn« in Texten von Deniz Ohde, Marlene Streeruwitz und Sibylle Berg. In: Gegenwartsliteratur 20, S. 315-341.
hooks, bell (2000): Where we Stand. Class Matters. New York/London.
Jaquet, Chantal (22021): Zwischen den Klassen. Über die Nicht-Reproduktion sozialer Macht. Mit einem Nachwort v. Carlos Spoerhase. Aus dem Franz. v. Horst Brühmann. Konstanz.
Karabulut, Pinar (2021): Augenhöhe. In: Maria Barankow/Christian Baron (Hg.): Klasse und Kampf. Berlin, S. 82-95.
Kemper, Andreas/Weinbach, Heike (32020): Klassismus. Eine Einführung. Münster.
Macioszek, Frede/Knop, Julian (2022): Einleitung. In: Dies. (Hg.): Klassenfahrt. 63 persönliche Geschichten zu Klassismus und feinen Unterschieden. Münster, S. 7-13.
Mayer-Ahuja, Nicole/Nachtwey, Oliver (2021): Verkannte Leistungsträger:innen. Berichte aus der Klassengesellschaft. In: Dies (Hg.): Verkannte Leistungsträger:innen. Berichte aus der Klassengesellschaft. Berlin, S. 11-44.
Mayr, Anna (2020): Die Elenden. Warum unsere Gesellschaft Arbeitslose verachtet und sie dennoch braucht. Berlin.
Meyer, Clemens (2021): Antihelden. In: Maria Barankow/Christian Baron (Hg.): Klasse und Kampf. Berlin, S. 175-185.
Meyer, Katrin (2017): Theorien der Intersektionalität zur Einführung. Hamburg.
Nachtwey, Oliver (82018): Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. Berlin.
Ohde, Deniz (2020): Streulicht. Roman. Berlin.
Otoo, Sharon Dodua (2021): Klassensprecher. In: Maria Barankow/Christian Baron (Hg.): Klasse und Kampf. Berlin, S. 109-124.
Roldán Mendívil, Eleonora/Sarbo, Bafta (32023): Intersektionalität, Identität und Marxismus. In: Dies. (Hg.): Die Diversität der Ausbeutung. Zur Kritik des herrschenden Antirassismus. Berlin, S. 102-120.
Romanowsky, Hanna (2022): Deniz Ohdes Roman »Streulicht«. Wie bestimmt Herkunft unseren Bildungsweg? In: MDR Kultur, Nächste Generation, 22. Juli 2022 [Video und Transkription]; online unter: https://www.mdr.de/kultur/literatur/deniz-ohde-leipzig-interview-ich-wollte-schon-immer-schriftstellerin-sein-100.html [Stand: 1.8.2024].
Schaub, Christoph (2024): The Poetics of Personal Authenticity: Diversity, Intersectionality, and the Working Class in Contemporary German Literature. In: Michiel Rys/Liesbeth François (Hg.): Re-imagining Class: Intersectional Perspectives on Class Identity and Precarity in Contemporary Culture. Leuven, S. 83-100.
Scholz, Leander (2019): Arbeiterkinderliteratur. In: Texte zur Kunst 115: Literatur, S. 121-133.
Schuhen, Gregor (2020): Erfolgsmodell Autosoziobiografie? Didier Eribons literarische Erben in Deutschland (Daniela Dröscher und Christian Baron). In: Lendemains 45, H. 180, S. 51-63; online unter: https://doi.org/10.2357/ldm-2020-0046 [Stand: 1.8.2024].
Seeck, Francis (2021): Kohlenkeller. In: Maria Barankow/Christian Baron (Hg.): Klasse und Kampf. Berlin, S. 65-81.
Soiland, Tove (2008): Die Verhältnisse gingen und die Kategorien kamen. Intersectionality oder Vom Unbehagen an der amerikanischen Theorie. In: querelles-net 26: Dimensionen von Ungleichheit; online unter: https://www.querelles-net.de/index.php/qn/article/view/694/702 [Stand: 1.8.2024].
Spoerhase, Carlos (2017): Politik der Form. Autosoziobiografie als Gesellschaftsanalyse. In: Merkur 71, H. 7, S. 27-37.
Standing, Guy (2021): The Precariat. The New Dangerous Class. Covid-19 Edition. London/New York/Dublin.
Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels (Hg.; 2020): Shortlist 2020. Streulicht; online unter: https://www.deutscher-buchpreis.de/archiv/autor/ohde [Stand: 1.8.2024].
Susemichel, Lea/Kastner, Jens (32021): Identitätspolitiken. Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken. Münster.
Toepfer, Georg (2020): Diversität. Historische Perspektiven auf einen Schlüsselbegriff der Gegenwart. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 17, H. 1, S. 130-144; online unter: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-1767 [Stand: 1.8.2024].
Walter, Klaus (2021): Die Wurmfortsätze des Postfordismus. Gespräch mit Deniz Ohde über ihren Roman »Streulicht«. In: Jungle World v. 4. Februar 2021; online unter: https://jungle.world/artikel/2021/05/die-wurmfortsaetze-des-fordismus [Stand: 1.8.2024].