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Zeitschrift für interkulturelle Germanistik – 15. Jahrgang, 2024: Transgression und Transposition in Yoko Tawadas Bilderrätsel ohne Bilder, Das Bad und Ein Gast (Julia Sowacka)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik – 15. Jahrgang, 2024

Transgression und Transposition in Yoko Tawadas Bilderrätsel ohne Bilder, Das Bad und Ein Gast (Julia Sowacka)

Transgression und Transposition in Yoko Tawadas Bilderrätsel ohne Bilder, Das Bad und Ein Gast

Julia Sowacka

Abstract

The article conducts a diffractive analysis of reflections and imprints in Bilderrätsel ohne Bilder, Das Bad und Ein Gast by Yoko Tawada. It delves into the relationships between the material and the literary, as well as the human, the body and the book. The analysis commences by exploring of the motif of yet unwritten books in the short story Bilderrätsel ohne Bilder. It then focuses on intertextual and transgressive dynamics and the correlation between the motifs of the transparent coffin and the empty bottle in the novel Das Bad. The final part of the article presents an analysis of the motif of transgression and the space where boundaries between the face, the mirror, and the book blur in the short story Ein Gast. Across all three of Yoko Tawada’s texts, female narrators embody connections between different elements through intra-actions. Their characters are constituted in a constant process of material becoming – in the multidimensional space of various reflections and imprints.

Title

Transgression and Transposition in Bilderrätsel ohne Bilder, Das Bad and Ein Gast by Yoko Tawada.

Keywords

Yoko Tawada (*1960); difference; trangression; diffractive analysis; reflection

In dem Artikel stelle ich eine Analyse eines mehrdimensionalen Raums von Spiegelbildern und Abdrücken in Yoko Tawadas Texten Bilderrätsel ohne Bilder, Das Bad und Ein Gast dar. In diesen Texten werden auch Beziehungen zwischen Materiellem und Literarischem sowie Menschen, Körpern und Büchern erforscht. Im ersten Teil der Abhandlung untersuche ich die materielle, mehrdimensionale Anwesenheit und das Motiv der noch nicht geschriebenen Bücher in der Erzählung Bilderrätsel ohne Bilder. Im Anschluss analysiere ich intertextuelle und transgressive Dynamiken in Yoko Tawadas Kurzroman Das Bad sowie die Beziehungen von Motiven des transparenten Sargs und einer leeren Flasche. In diesem Teil geht die Forschung auf Transformationen und Transpositionen der Erzählweise in Das Bad ein. Die Transformation erscheint als punctum – als kleinerer Teil eines breiteren Prozesses des permanenten Werdens und des körperlichen Studiums der Icherzählerin in diesem Kurzroman.1 Im letzten Teil wird das Phänomen der Polysemie und Transgression in der Erzählung Ein Gast beleuchtet. Die methodologischen Herangehensweisen sind das close reading und eine diffraktive, mehrdimensionale Analyse – eine Probe der Abstimmung (aus engl. attunement) der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den analysierten Texten.2

1.

Bilderrätsel ohne Bilder erschien 1987 in deutscher und japanischer Sprache in Yoko Tawadas Band Nur da wo du bist, da ist nichts (vgl. Tawada 2015c). Das Buch, das neben dieser Erzählung Gedichte enthält, wurde von Peter Pörtner aus dem Japanischen übersetzt. Die Erzählung wurde so abgedruckt, dass, wo der deutsche Text beginnt, der Japanische endet.

Der Titel Bilderrätsel ohne Bilder deutet auf eine gewisse materielle Abwesenheit hin, die mit der Handlung der Erzählung direkt korrespondiert. Die Icherzählerin geht zu einer Ausstellung von Bilderbüchern in R und erklärt, warum sie sie besuchen möchte:

[D]er entscheidende Grund war, daß ich eine an Wahnsinn grenzende Leidenschaft für Bücher habe. Ich meine damit keine literarischen Werke, ich meine die imaginären Bücher, die noch nicht geschrieben sind, noch nicht gebunden sind, in denen wir im Traum fortwährend blättern, ohne sie verstehen zu können. (Tawada 2015a: 9)

Sinn, Handlung und Verstehen spielen in dem Fragment keine bedeutende Rolle. Die Icherzählerin distanziert sich vom Logos, dem geopolitisch konstituierten Kanon, und vom Diktat des Sichtbaren. In ihrem eigenen semiotischen Netz verwebt sie noch nicht geschriebene Spalten, und sie schafft sich dabei eine Möglichkeit, sich aus semantischen Einschränkungen zu befreien, was mit dem Potenzial der titelgebenden Bilderrätsel ohne Bilder korrespondiert. Der Titel der Erzählung weist eine semantische Analogie zu den Büchern ohne Schrift auf, denn die noch nicht geschriebenen und gebundenen Bücher stimmen mit den Bilderrätseln ohne Bilder überein.

In den noch nicht geschriebenen und gebundenen Büchern im Traum zu blättern ist eine ungewisse, zufällige und von grammatischen Strukturen unabhängige Handlung. Blättern ist in diesem Kontext eine oberflächliche und sinnliche Berührung der Materie des noch nicht Geschriebenen. Deswegen ist es nicht mit der visuellen Kolonialisierung der Zeichen und mit der geschlechtsspezifisch und geopolitisch bedingten Positionierung ihrer Bedeutungen verbunden. Die Bildung einer Relation mit dem noch nicht Geschriebenen bezieht sich auf Timothy Mortons objektorientierte Ontologie:

Since a thing cannot be known directly or totally, one can only attune to it, with greater or lesser degrees of intimacy. Nor is this attunement a ›merely‹ aesthetic approach to a basically blank extensional substance. Since appearance can’t be peeled decisively from the reality of a thing, attunement is a living, dynamic relation with another being – it doesn’t stop. The ecological space of attunement is a space of veering, because in such a space, rigid differences between active and passive, straight and curved, become impossible to maintain. (Morton 2018: 89)

Eine solche Erfahrung der Materie des Buches destabilisiert und zersprengt sogar ihr naturkulturelles Wesen und die (nicht) widerlegbare Berechtigung des Logos. Eine sinnliche Erfahrung des Objekts ist ein Versuch, mit ihm in eine intraaktive Verhandlung zu treten – eine Entwicklung der neuen noch nicht gedachten, aber denkbaren Sprache zwischen der verwobenen Icherzählerin und dem Objekt ihrer an den Wahnsinn grenzenden materiell-vitalen Begierde. Auch Walter Benjamin schreibt in seinem Essay Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen über »namenlose, unakustische Sprachen […] aus Material« (Benjamin 1916). Das Blättern scheint eine solche geheimnisvolle Sprache zu sein. Wenn die Icherzählerin die Unmöglichkeit des Verstehens hervorhebt, verweist sie auf eine nächste Spalte. Man weiß nämlich nicht, welche Bücher sie imaginiert, und auch, was sonst noch nicht geschrieben und gebunden worden ist. Eine Auslegung dieser Unzugänglichkeit ist der Dekonstruktivismus und die der Zurückhaltung der Literatur als Objekt – der spekulative Realismus –, das Blättern in einem Buch lässt seine Tiefe nicht erkennen, ist eben eine oberflächliche und sinnliche Erfahrung. Die sprachlich spiegelbildliche Form der Erzählung knüpft an diese Unmöglichkeit und auch an eine Täuschung an, die von einer narzisstischen Betrachtungsweise des anthropos in seiner eigenen Sprache herrührt. Diese Form weist auf eine wissenschaftlich signifikante Differenz hin.

Nachdem Eva ihren Lippenstift aus der Tasche geholt und mit der ihr üblichen Geste ihre Lippen nachgezogen hatte, schob sie plötzlich, wie ein Arzt, der eine Injektion vorbereitet, meinen rechten Ärmel hoch und küßte meine Armbeuge. Der Abdruck ihrer Lippen blieb orangefarben zurück. Stempel und Drucktypen müssen selbstverständlich seitenverkehrt sein; wie verhielt es sich mit Evas Lippen? Ich schaute mir die auf meinem Arm abgezeichnete Lippenform an und dachte mir dabei, daß eine Geschichte, wenn sie zu einem Buch wird, seitenverkehrt erzählt werden muß, um gelesen werden zu können. (Tawada 2015a: 37)

In diesem Textabschnitt bildet sich eine Beziehung zwischen Körper, Icherzählerin und Buch – eine untrennbare Verbindung der Form der Erzählung und der Erinnerungen der Erzählerin an eine körperliche Erfahrung des Kusses mit der Geschichte, die zu einem Buch wird und die nur dann gelesen werden kann, wenn sie seitenverkehrt erzählt wird. Das korrespondiert mit dem Abdruck, der von Evas Lippen hinterlassen wird. Diese Spur in Form von Worten spiegelt sich in ihrer Geschichte wider, oder der Text hinterlässt eine lippenförmige Geschichte auf ihrem Körper. Die Spur als Abdruck wiederholt und verschleiert die Erfahrung und veranschaulicht seine mehrdimensionale Anwesenheit im immer verzerrten semantischen Spiegel. Ein ›Abdruck‹ ist nicht nur eine Spur auf dem semiotischen Körper der Icherzählerin, sondern auch ein materieller Raum der Transposition – eine abgedruckte Spur auf einem Papierblatt des schon geschriebenen und gebundenen Buches, dessen materiell-semiotische Tiefe zurückgezogen ist.

Die Anknüpfung an einen Spiegel ist von großer Bedeutung. Das Motiv des Spiegels und der Materialität des Literarischen bildet sich in Tawadas anderen literarischen Texten wie in Das Bad und Ein Gast. Die Form des Kurzromans Das Bad korrespondiert mit Bilderrätsel ohne Bilder, weil er auch zweisprachig ist und seitenverkehrt erzählt wird.

2.

Im Kurzroman Das Bad bildet sich eine Beziehung zwischen Buch, Wasser, Spiegel und dem teilweise toten und teilweise lebendigen Körper der Icherzählerin. Wie konstituieren sich diese Relationen? Das Bad beginnt mit dem Fragment, das eine ›hydrontische‹ Trajektorie der Erzählweise ankündigt:3

Der Menschliche Körper soll zu achtzig Prozent aus Wasser bestehen, es ist daher kaum verwunderlich, dass sich jeden Morgen ein anderes Gesicht im Spiegel zeigt. Die Haut an Stirn und Wangen verändert sich von Augenblick zu Augenblick wie der Schlamm in einem Sumpf, je nach der Bewegung des Wassers, das unter ihm fließt, und der Bewegung der Menschen, die auf ihm ihre Fußspuren hinterlassen.

Neben dem Spiegel hing in einem Rahmen eine Portraitaufnahme von mir. Mein Tag begann damit, dass ich beim Vergleich des Spiegelbilds mit der Fotografie Unterschiede entdeckte, die ich dann mit Schminke korrigierte.

Im Vergleich zu dem frischen Teint auf dem Foto wirkte das Gesicht im Spiegel blutleer; wie das einer Toten. Wahrscheinlich erinnerte mich der Rahmen des Spiegels deshalb an den Rand eines Sargs. Im Licht einer Kerze bemerkte ich Schuppen, die, winziger als die Flügel kleiner Käfer, die Haut bedeckten. (Tawada 2015b: 7)

Die ständig zirkulierende Flüssigkeit und entstehende Schuppen auf dem Rücken der Icherzählerin verflüssigen Grenzen ihres Körpers, und diese Transformation scheint ein Teil eines breiteren Prozesses ihres Werdens zu sein. Die Icherzählerin vergleicht ihr Foto mit einem Spiegelbild. Beide werden in ihren semiotischen Körper verwoben, der die Differenzen widerspiegelt, die sie bemerkt und mit der Schminke korrigiert. Ihre Fotografie genau wie die Gestalt des Spiegels, in den sie schaut, bilden einen geometrischen Rahmen – einen reduzierten Raum dessen, was sie sieht und was man gleichzeitig in dem Roman sehen kann. Zwischen dem Spiegelbild und dem Porträt sieht sie Differenzen, die weder im Spiegelbild noch in dem Porträt noch im Text direkt sichtbar sind. Diese Differenzen mit dem Lippenstift zu korrigieren ist ein Versuch, ihr Gesicht aus dem Foto nachzubilden – eine Wiederholung, hinter der sich ein kognitiv unzugängliches Gesicht verbirgt.

Die Icherzählerin vergleicht das Spiegelbild des blutleeren Gesichts mit einer Toten und der Spiegelrahmen erinnert sie an einen Sarg. Im Roman verwischen sich dichotomische Dimensionen von Tod und Leben wie auch in Matthias Claudius’ Gedicht Der Tod und das Mädchen oder in einer berühmten Radierung von Edvard Munch mit dem ähnlichen Titel Der Tod und die Frau. Roland Barthes problematisiert in seiner Studie Die helle Kammer. Bemerkungen zur Fotografie den Raum dieser Verwischung in Bezug auf Fotografie, dem Schminken von Gesichtern und Theater, was mit skizzierten Motiven korrespondiert. Darauf komme ich später zurück.

Der schon zitierte Anfang der Geschichte entspricht ihrem Ende, es taucht eben in beiden Fragmenten das Motiv des Sargs auf:

Weil ich die Buchstaben vergessen habe, bin ich auch keine Typistin mehr. Die Buchstaben sehen alle gleich aus, wie rostige verbogene Nägel. Daher kann ich nicht einmal mehr die Gedichte anderer abschreiben. Erst bin ich kein Fotomodell, denn ich bin auf Fotos gar nicht zu sehen. Ich bin ein transparenter Sarg. (Ebd.: 165)

Die Icherzählerin entfernt sich von dem Diktat des Sichtbaren, Eindeutigen und Kohärenten. Das Vergessen macht es unmöglich, die Erinnerungen umzuschreiben, deswegen spricht sie im Präsens. Nach »ich bin« kommt das Verlangen zum Ausdruck, in einer gestaltlosen Auflösung zu bestehen, in einer anderen Dynamik, in einem transparenten Vakuum. Die meisten ihrer Geschichten sind Erinnerungen, Anknüpfungen an vergangene Erfahrungen, die auf Widersprüche in der Gegenwart stoßen: »In Wirklichkeit war ich gar keine Dolmetscherin; hin und wieder habe ich eine Dolmetscherin imitiert. In Wirklichkeit war ich nur eine Typistin.« (Ebd.: 141) Das Erinnern (anamnesis) erfüllt für sie eine kognitive Funktion. Der Prozess der Gestaltung ihrer körperlichen Wenden führt zu Auflösungen und Diffusion, ähnlich wie in Franz Kafkas Die Verwandlung. Gregor Samsa verwandelt sich in einen Käfer, was dazu führt, dass die Struktur seiner Familie zerfällt. Die Icherzählerin vergleicht ihre Schuppen mit Flügeln kleiner Käfer, was eine intertextuelle Anknüpfung an Kafkas Erzählung sein kann. Die Verwandlung hat in beiden Texten eine destabilisierende, ablenkende und desintegrierende Funktion. Die Brüche in der Struktur der Familie von Gregor Samsa und des Körpers der Icherzählerin infolge ihrer Transformationen ›queeren‹ das traditionelle Familienmodell und auch das anthropozentrische Ideal des menschlichen (männlichen) Körpers, das in Leonardo da Vincis Zeichnung Vitruvianischer Mensch dargestellt wird. Beide Texte sind transgressiv und transversal, denn sie konstituieren nichtnormative Dynamiken des Seins als einen Prozess des permanenten Werdens derjenigen, die »die Welt der Metamorphosen« (Tawada 2018: 9) bewohnen. In dem »transparente[n] Sarg« verbinden sich chambre claire mit chambre noire, Roland Barthes’ Wortspiel, das in Die helle Kammer. Bemerkungen zur Fotografie problematisiert wird. Claire kann auch transparent bedeuten, wohingegen man den Sarg mit einem Raum einer Dunkelheit – noire – assoziieren kann. Die Tiefe des transparenten Sargs wird intertextuell und intratextuell atomisiert – einerseits ein geometrischer Raum der Dunkelheit und andererseits durch das Transparente zerflossen. Die Gestalt des Sargs scheint den Rahmen des Textuellen zu bilden, denn der deutschsprachige Roman beginnt mit dem Wort »[d]er« und endet mit »Sarg«, wohingegen die intertextuellen Dynamiken ihre Rahmen verwischen. Das Transparente befindet sich in einem Raum dazwischen, wo sich die Icherzählerin zwischen den abgedruckten und wie Nägel aussehenden Buchstaben verbirgt, und zwar wird sie dort wie in einem Sarg in ihrem eigenen semiotischen Körper immerdar geschlossen und durch die Analyse aufgelöst. Mit ihren Auflösungen in inter- und intratextuellen Dynamiken realisiert sich ihr transparentes Werden und in Bezug auf den Titel des Romans ist ihr Werden eine Art Bad – eine sinnliche, fortwährende Immersion in Zeichen, in ihrer semantischen, grenzenlosen Zirkulation.

Im Roman verwischen ebenfalls die Oppositionen des Feuers und des Wassers. Wenn Xander die Icherzählerin fotografiert, sagt sie: »Die Kamera versuchte mich zu behandeln; sie versuchte, meinen Körper dem Tod zu entziehen, indem sie ihn in Papier einbrannte.« (Tawada 2015b: 31) Dieses Einbrennen in Papier hinterlässt auf dem Foto eine abgebildete Spur der mehrdimensionalen Anwesenheit der Icherzählerin, und es verkörpert eine Transformation in ihrem Prozess des Werdens:

Ein paar Tage später kam Xander mit seiner Kamera in meine Wohnung. Er sagte: ›Sie sind nicht drauf; auf den Bildern.‹ ›Wieso? War die Kamera kaputt?‹ ›Die Kamera war in Ordnung. Der Hintergrund kommt sehr schön heraus. Aber Sie sind nicht drauf.‹ Eine Zeitlang sagten wir beide nichts. ›Das kommt sicher daher, dass Sie nicht japanisch genug empfinden.‹ Ich sah ihn erschrocken an und fragte: ›Glauben Sie wirklich, dass die Haut eine Farbe hat? (Ebd.)

Die Erzählerin verwandelt sich in ein Gespenst, ein Wesen ohne Körper, oder in eine Frau, der sie begegnet und die in einem Feuer niedergebrannt wird. Die mehrdimensionale Anwesenheit der Icherzählerin auf dem Foto kann eine intertextuelle Anknüpfung an Barthes’ Die helle Kammer. Bemerkungen zur Fotografie sein:

In der Phantasie stellt die Photographie (die, welche ich im Sinn habe) jenen äußerst subtilen Moment dar, in dem ich eigentlich weder Subjekt noch Objekt, sondern vielmehr ein Subjekt bin, das sich Objekt werden fühlt: ich erfahre dabei im kleinen das Ereignis des Todes (der Ausklammerung): ich werde wirklich zum Gespenst. (Barthes 2021: 22; Hervorh. i.O.)

Die Erfahrung des Todes, das Aufblitzen der Kamera, das das Bild einfängt, scheint ein Moment des Übergangs (einer radikalen Wende) in eine andere materielle Dimension eines kurzen Verlusts, eines kleinen Todes und des Verlangens zu bestehen zu sein. Das Entwickeln eines Fotos ist eine physikochemische ›hantologische‹ Praxis, ein latentes Bild zu erhalten, eine Fotografie ist jedoch auch eine Vermittlung dessen, was teilweise abwesend und teilweise anwesend ist.4 Das Einbrennen in Papier ist eine körperliche Transposition, die einen Abdruck hinterlässt. Die Fotografie der Erzählerin ist also ein materieller Abdruck ihrer mehrdimensionalen Anwesenheit – eine Spur ihrer narrativen Diffusion, ein punctum, das sich zwischen den Worten »der« und »Sarg« befindet. Im Prozess des Einbrennens unterliegt ihr Körper einer weiteren Transformation – es gibt ihn nicht auf dem Foto, weil die Erzählerin zur Protagonistin wird – zu einer verbrannten Frau, deren Wohnung nach einem Brand riecht. Die Erzählerin verbirgt sich daher unter dem verbrannten Körper jenes subtilen Moments.

Xander versucht die Erzählerin weiter zu fotografieren. Er färbt ihre Haare und malt ihr Gesicht so, dass sie »japanisch« (Tawada 2015b: 31) auf dem Foto aussieht. Am Ende ihrer Begegnung sagt sie: »Er macht dem Spiel des Lichts ein Ende und die Gestalt einer Japanerin war auf Papier geätzt« (Tawada 2015b: 35). In dem Fragment bildet sich eine nomadische Subjektivität der Icherzählerin, die nicht nach einer Identifikation oder Identität strebt, sondern nach einem Anderssein. Die Fotografie einer Japanerin ist ein Spiegelbild von Xanders Vorstellungen über das Aussehen einer Japanerin, die auf den Körper der Icherzählerin eingezeichnet werden. Auf dem Foto befindet sich eine geschminkte und teilweise tote Andere. Diese Differenz, die in der Figur einer Japanerin bemerkbar ist, korrespondiert mit Roland Barthes’ Worten: »Mein ›Ich‹ ist’s, das nie mit seinem Bild übereinstimmt. […] Denn die Photographie ist das Auftreten meiner selbst als eines anderen.« (Barthes 2021: 20f.) Die Erzählerin sieht sich auf dem Foto nicht. Sie trägt eine Maske wie im klassischen japanischen Theater No. Darüber hinaus spielt sie die Rolle eines japanischen Körpers, teilweise tot, lebendig und imaginiert. Diese Schlussfolgerung bezieht sich auf die von Barthes beschriebene Verbindung der Fotografie mit dem Theater: »[S]o ist die Photographie doch eine Art urtümlichen Theaters, eine Art von ›Lebendem Bild‹: die bildliche Darstellung des reglosen, geschminkten Gesichts, in der wir die Toten sehen.« (Ebd.: 41)

Die Icherzählerin bewegt sich nomadisch zwischen dem deutschen und japanischen Natur-Kultur-Raum. In ihrer Geschichte verweben sich naturkulturelle Perspektiven, auch mit einer gewissen Ironie werden Vorstellungen über das ›japanische‹ Aussehen und die Identität problematisiert. Das variable und diffuse Ich der Erzählerin auf dem Foto einer Japanerin bildet eine Transposition ihrer queeren Erzählweise – ein permanentes Wenden des erzählenden Ich zu einer Anderen.

Dass die Icherzählerin zwischen dem japanischen und deutschen Natur-Kultur-Kreis zerrissen ist, kann man auch in einem anderen Zitat des Romans finden:

›Ich dachte, wenn sie zurückkehrt …‹ ›Wer kehrt zurück? Ich jedenfalls nicht mehr.‹ ›Vielleicht kommt meine Tochter doch noch zurück. Sie macht Karriere, dann kommt sie bestimmt zurück.‹ ›Ich komme nicht mehr zurück. Und wenn ich doch zurückkomme, dann bin ich eine andere.‹ ›Du, wer bist du?‹ ›Was redest du? Ich natürlich.‹ ›Seit wann kannst du dich so leichthin ich nennen?‹ Sie kauerte sich plötzlich nieder und fing zu weinen an. ›Wie soll ich mich denn sonst nennen?‹ ›Warum sprichst du so eigenartig?‹ (Tawada 2015b: 133f.; Hervorh. i.O.)

In der japanischen Sprache besteht anders als in der deutschen und englischen eine Tendenz, die Personalpronomen wegzulassen. Daher kommt die Verwendung von Wörtern wie watakushi, watashi, atashi, boku und ore, die »ich« bedeuten, selten vor, und ihre Verwendung hängt vom Geschlecht, Alter und sozialen Status des Subjekts ab. Viele literarische Texte Tawadas, wie zum Beispiel das dritte Kapitel des Romans Etüden im Schnee oder der literarische Essay Eine leere Flasche berühren die Frage des deutschen Ich. »Ich« bezeichnet die erste Person Singular und ist semantisch leer, also »ein Platzhalter der menschlichen Stimme, ohne Gewähr« (Bachmann 1980: 61), der geschlechtlich neutral ist und der weder einen sozialen Status noch das Alter bestimmt. Die Icherzählerin besucht ihre Mutter in Japan und führt mit ihr ein Gespräch über das Ich. Die Erzählerin spricht das Wort ›ich‹ leichter aus, weil es ihr näher geworden ist. Das rührt daher, dass das Ich sich in keine binären einander ausschließenden Kategorien einschreiben lässt, sondern transparent ist. Das dynamische und geschlechtslose Ich schaut in einen Spiegel und sieht die Reflexion eines blutleer und tot wirkenden Gesichts einer Anderen, welche die Erzählerin mit Schminke korrigiert und deren Schuppen sie während des Bades aufweicht und dann abreibt, damit sie ihr Porträt mit dem Spiegelbild in Übereinstimmung bringen kann. Eine narzisstische Tradition des Schauens in den Spiegel des anthropos verwandelt sich in das Schauen in die Andere. Das »Ich« in dem Roman bringt sich in Relationen mit oder zwischen anderen Gegenständen wie Foto, Spiegel und Sarg zum Ausdruck. Es ist mehrdimensional, nomadisch, ohne Gewähr, und es strebt nach einer Diffusion. In diesem Kontext kann man auf Tawadas Essay Eine leere Flache verweisen. Der Text endet mit dem Abschnitt, der die semantische Dimension des oben zitierten Satzes aus dem Kurzroman Das Bad entwickelt, in dem die Erzählerin sagt: »Ich bin ein transparenter Sarg«.

Ich wurde zu meinem Lieblingswort. So leicht und leer wie dieses Wort wollte ich mich fühlen. Ich wollte sprechen, das heißt, durch meine Stimme Schwingungen in die Luft bringen, ohne mich entscheiden zu müssen, welchem Geschlecht ich angehöre. Mir gefällt außerdem, dass ein Ich mit einem I beginnt, ein einfacher Strich, wie der Ansatz eines Pinselstriches, der das Papier betastet und gleichzeitig die Eröffnung einer Rede ankündigt. Auch ›bin‹ ist ein schönes Wort. Im Japanischen gibt es auch das Wort ›bin‹, das klingt genau gleich und bedeutet ›eine Flasche‹. Wenn ich mit den beiden Wörtern ›ich bin‹ eine Geschichte zu erzählen beginne, öffnet sich ein Raum, das Ich ist ein Pinselansatz und die Flasche ist leer. (Tawada 2016: 59)

Der »einfach[e] Strich«, ›Ich‹ zu sagen, ist in jedem Fall eine andere dynamische und performative Wiederholung. Wenn dahinter ›bin‹ steht, handelt es sich um eine gewisse materielle Relation, um eine grammatisch sanktionierte Verbindung des Subjekts mit dem Objekt des transparenten Sargs. Das performative und dynamische Ich hinterlässt Abdrücke wie ein Strich, der das Papier betastet. ›Eine leere Flasche‹ als eine japanischsprachige materielle Transposition des Wortes ›bin‹ ist eine Figur unvollkommener Erfüllung. Sie macht das letzte Verb des Romans aus, das ein Verlangen zu bestehen beinhaltet.

Aus beiden Fragmenten taucht das Bild einer nichtanthropozentrischen Subjektivität auf. Das Motiv des transparenten Sargs zeichnet die Dynamik einer queeren Diffusion. Die Erzählerin kann nicht mehr »Gedichte anderer abschreiben«. Sie ist ein materiell-metaphorischer, abgedrückter Körper, der um sich die gleichen Buchstaben sieht. Sie sind wie »rostige verbogene Nägel« und setzen die Erzählerin in einen Raum einer hermetischen Eröffnung. Wenn sie die Buchstaben vergisst, wie in einem Traum, entfernt sie sich von dem Logos, was in einen intertextuellen Dialog mit einem anderen Essay, Musik der Buchstaben, tritt: »Eine Sprache, die man nicht gelernt hat, ist eine durchsichtige Wand. Man kann bis in die Ferne hindurchschauen, weil einem keine Bedeutung im Weg steht. Jedes Wort ist unendlich offen, es kann alles bedeuten.« (Tawada 2016b: 35)

Wenn die Icherzählerin in den vergessenen Buchstaben die Nägel sieht und ihr letzter Gedanke sich darauf bezieht, was sie ist, weiß man nicht, zu wer, wem oder wen sie wird, wenn sie durch ihre »Stimme Schwingungen in die Luft bring[t]« und auch »keine Bedeutung im Weg steht«. Ihre Geschichte ist unvollendet und schafft Raum für diverse und diffuse Wenden ihrer möglichen Bedeutungen, für Fragen nach Dynamiken der verstreuten und nichtanthropozentrischen Einbildungskraft.

Die nomadische Subjektivität der Icherzählerin im Roman Das Bad bildet sich durch verkörperte Verwandlungen. Sie vergleicht ihr Spiegelbild mit ihrer Fotografie – mit einer optischen Abbildung ihres Körpers, die auf ihrem semiotischen Körper abgedruckt wird. Im Spiegelbild wirkt ihr Gesicht blutleer, wie das einer Toten, vielleicht einer toten verbrannten Frau, die sie später kennenlernt oder die sie selbst ist. Sie korrigiert die Unterschiede mit Schminke bzw. bildet oder formt ihr Gesicht, und zwar zu ihrem Gesicht, das nicht widergespiegelt wird, gibt es keinen Zugang, als ob es nur im Rahmen des Abbildens existieren würde. Die Icherzählerin stellt sich durch Gegenstände wie dynamische (variable) Spiegelbilder, Fotografie und Sarg dar. Diese drei Dinge haben einen geometrischen Rahmen wie die Gestalt eines Buches, das diesen Gegenständen ähnelt oder das von ihnen widergespiegelt wird. Die Erzählerin beginnt ihren Text mit einem Satz über das Wasser und den Körper und dann spricht sie von einer Flüssigkeit, die sich permanent bewegt, weil das Wasser ein Raum freier Zirkulation ist, wie auch der Körper der Icherzählerin. Eine der ersten Etappen der Papierherstellung ist die Verwässerung der Holzfasern. Am Ende der Geschichte wird die Icherzählerin transparent, wie das Wasser. Diese Dynamik – ihre Verwandlung – spiegelt die grafische Gestaltung des Buches wider, oder eine solche Form erscheint als Spiegelbild der Verwandlung der Icherzählerin. Diese Transpositionen des Literarischen ins Materielle und des Materiellen ins Literarische verwässern die naturkulturell konstituierten Grenzen des Körperlichen. Auf dem Umschlag des Buches sieht man Umrisse menschlicher Körper, hauptsächlich Gesichter mit geschlossenen Augen, die sich vom Sichtbaren distanzieren. Die Gestalten sind mit Flüssigkeit gefüllt. Auf der Rückseite befindet sich der Rücken eines schuppigen Fisches. Schuppen erscheinen auch auf dem Rücken der Icherzählerin. Das Titelblatt stellt eine Illustration von marineblauem, leicht gewelltem Meer- oder Ozeanwasser voran, auf dessen Oberfläche sich die Sonne (das Licht) spiegelt. Die Illustration korrespondiert mit den Worten der Icherzählerin: »Das Fleisch hat auch keine Farbe. Die Farbe entsteht durch das Spiel des Lichts auf der Hautoberfläche. In uns gibt es keine Farbe« (Tawada 2015b: 33), als ob dieses fleischige ›Wir‹ transparent wäre wie der transparente Sarg bzw. die Icherzählerin. Nach dem Ende des Romans gibt es Bilder, auf denen die kleineren Spiegelungen des deutschsprachigen Textes Seite für Seite im Wasser verschwimmen, bis sie nicht sichtbar werden. Sie werden transparent oder verwandeln sich ins Wasser. Die Materie des Wassers wird zum Text oder das Textuelle tritt aus dem transparenten Raum hervor – wie das Literarische aus der transparenten Vorstellungskraft, wie das Papier aus der Verwässerung. Die grafische Gestaltung des Buches ist keineswegs ein Supplement zur Handlung, sondern ihr integraler Bestandteil, der nicht nur der fließenden, hydrontischen semantischen Dimension des deutschsprachigen Romans entspricht, sondern auch der Gestaltung des semiotischen Körpers der Erzählerin – einer Form der Aufzeichnung, die einer unebenen, welligen Wasseroberfläche ähnelt. Darüber hinaus ist der Text nicht beidseitig ausgerichtet. Seine rechte deutschsprachige Seite ist unregelmäßig wie ein Körper oder eine Welle. Andererseits ähneln die japanischen Schriftzeichen auf der linken Seite Wassertropfen, die an einer ebenen Fläche herunterfließen, wie etwa auf einem Spiegel, in dem sich die Icherzählerin betrachtet, wo ihre deutschsprachige Geschichte beginnt, und auch, wo ihre japanische Geschichte endet.

Die Beziehung zwischen Körper, Mensch und Buch wird auch in Bilderrätsel ohne Bilder gestaltet. Dort sagt die Icherzählerin: »Das chinesische Schriftzeichen für Körper setzt sich zusammen aus den Zeichen für Mensch und Buch; heißt das, daß der Körper ein Buch ist, das so tut, als wäre es ein Mensch?« (Tawada 2015a: 31) Zudem bestehen oder kommen all diese Materien aus dem Wasser. Überdies ist das Zeichen 人, das sich in jedem von diesen drei chinesischen Wörtern wiederholt, symmetrisch, und es ähnelt der Gestalt eines Dachs, das oikos widerspiegeln kann – Oikos als ein Raum des symbiotischen Miteinanders. Schließlich besteht ein menschlicher Körper zu 70 Prozent aus Wasser. Dieser Zusammenhang stellt sich im Kurzroman Das Bad dar. Die schuppige Icherzählerin verkörpert eben die Beziehung zwischen Wasser und Mensch. Darüber hinaus vergleicht sie die Weltkugel mit einem Gesicht: »Der Weltball soll zu siebzig Prozent mit Meer überzogen sein, es ist daher kaum verwunderlich, dass die Erdoberfläche jeden Tag ein anderes Muster zeigt. […] Das in den Netzen gefangene Gesicht der Erde wird von den Menschen jeden Tag nach dem Modell der Karte geschminkt.« (Tawada 2015b: 147) Das in den Netzen gefangene Gesicht erscheint als das gewebte Spiegelbild der Icherzählerin, und das Model der Karte spiegelt die Fotografie wider, auf deren Muster die Erzählerin die Unterschiede mit einer Schminke korrigiert.

3.

Das Motiv der Verwischung von Grenzen zwischen Gesicht, Spiegel und Buch bildet sich in Tawadas deutschsprachiger Erzählung Ein Gast, die zuerst 1993 veröffentlicht wurde. Zu Beginn erfährt man, dass die Icherzählerin zum Ohrenarzt geht, weil sie an einer Mittelohrentzündung leidet. Unterwegs kommt sie dann an einem Flohmarkt in einem Tunnel vorbei und findet dort ein Buch:

Am Ende des Tunnels entdeckte ich ein Buch zwischen einem schwarzen Regenschirm und einer Tretnähmaschine. Ich weiß nicht, warum dieses Buch mir besonders auffiel. Ich nahm es in die Hand und bemerkte, dass meine Handoberfläche dadurch etwas wärmer wurde. Ich sah auf dem Umschlag Buchstaben, die nicht von links nach rechts, sondern im Kreis geschrieben waren. Ich fragte den Mann, der dort stand und die Waren verkaufte, in welcher Sprache dieses Buch geschrieben sei, denn ich kenne keine Sprache, die ihre Buchstaben im Kreis anordnet. Er zuckte mit den Achseln und sagte, das sei kein Buch, sondern ein Spiegel. Ich warf einen Blick auf das Ding, das er als Spiegel bezeichnete. »Mag sein, dass das kein Buch ist«, gab ich zu, »aber ich möchte trotzdem wissen, was mit dieser Schrift los ist.« Der Mann grinste und antwortete: »Für unsere Augen sehen Sie genauso aus wie diese Schrift. Deshalb sagte ich, dass es ein Spiegel ist.« Ich rieb mir die Stirn von links nach rechts, als würde ich mein Gesicht umschreiben. (Tawada 2014: 102)

Die Erzählerin beginnt ihre Geschichte mit einer Wanderung. Der Tunnel ist ein Raum zwischen einer und einer anderen Öffnung. Sonnenlicht dringt nicht hinein, genauso wenig wie ins Ohr: »[D]enn nur in der Dunkelheit können die Trommelfelle Töne empfangen« (ebd.: 101). Der Tunnel ist also eine Transposition des Ohrs. In dem Tunnel befinden sich verschiedene zufällig platzierte Gegenstände, ähnlich wie verschiedene Geräusche unwillkürlich ins Ohr gelangen können. Zu den Dingen, welche die Icherzählerin auf dem Flohmarkt sieht, gehören beispielsweise Schlittschuhe und eine Uhr. Sie mögen nicht ähnlich erscheinen, aber die Icherzählerin bemerkt ihr gemeinsames Merkmal – sie kreisen beide, was sie mit dem O-Zeichen verbindet, das in dieser Erzählung von Bedeutung ist. Damit stellt sich die Frage: Welche Verbindung besteht zwischen Regenschirm, Buch und Nähmaschine? Das Buch hat einen Umschlag, der ähnlich wie ein Regenschirm das schützt, was sich darunter befindet, und die Nähmaschine ist mit dem Nähen (zum Beispiel von Büchern) oder der Verarbeitung von gewebtem Material verbunden. Das Schreiben wiederum ist metaphorisch mit dem Weben assoziiert, wie zum Beispiel in Nancy K. Millers Essay The Arachnologies: the Woman, the Text and the Critic (vgl. Miller 1986). Diese materiellen Verbindungen zwischen Gegenständen, metaphorisch erfasst durch die Erzählerin, stellen eine Transposition von Konnotationen und anschließend von Intertextualität dar.5 Aus diesem Netz von Verbindungen und Differenzen zieht die Erzählerin ein Buch hervor, das mehrdimensional ist. Auf seinem Umschlag befinden sich fremde Zeichen, die im Kreis geschrieben sind. Dies könnte kein Buch, sondern ein Spiegel sein, in dem das/die Andere reflektiert wird. Die Form der geschriebenen Zeichen verbindet sich auch mit der Form eines runden Regenschirms und einer Nähmaschine, die ein Schwungrad hat. Das Gesicht der Icherzählerin wird zu einer Schrift und die Schrift zu einem Spiegel und keines von den Dingen bleibt in seiner Gestalt. Eine Sprache, die sie sieht, scheint aus einem Material zu sein,6 das Spiegelbilder und Abdrücke hinterlässt. Für die Augen des Wir sieht die Icherzählerin wie eine Schrift aus, deswegen sagt der Mann zu ihr, dass ein Buch, das sie hält, ein Spiegel sei. Wenn man ein Buch liest, dessen Schrift von links nach rechts verläuft, spiegelt sich wie in einem Spiegel das Gelesene in den Augen bzw. den Pupillen wider. Das Umschreiben als ein Prozess, der von Bewegungen des Gesichts von links nach rechts bedingt wird, spiegelt eine Dynamik des Lesens wider, weil sich die Augen wie die Stirn der Erzählerin von links nach rechts bewegen, wie während der Lektüre des letzten Satzes – während der Widerspiegelung des semiotischen abgedruckten sowie umschreibenden Körpers der Icherzählerin in den Augen im Prozess des Lesens. In dieser Widerspiegelung befinden sich die Buchstaben im Kreis, genau wie auf dem Umschlag des Buches, das die Icherzählerin in ihrer Hand hält. Dieser Satz bezieht den Körper der Leserin direkt in den Prozess der Konstituierung der mehrdimensionalen Erzählweise ein. Durch diese Inklusion können sich die Bedeutungen der analysierten Transposition endlos verwandeln. Auf diese Weise bildet sich eine Polysemie. Zwischen überlappenden semiotischen Widerspiegelungen und semantischen Abbildungen, zwischen dem verlassenen Buch und dem noch nicht geschriebenen oder gebundenen. In dieser Dynamik verweben sich das Literarische und das Materielle.

4.

Die Rahmen der Gestalten, zu denen Mensch, Körper und Buch werden können, verwässern sich in jedem zitierten Textabschnitt. Es bildet sich eine explizite Symbiose zwischen ihnen, die durch semiotische und semantische Transpositionen eingezeichnet wird. Die intratextuelle Symbiose der Gefährten Menschen, Körper und Bücher konstituiert sich durch und zwischen mehrdimensionalen Dynamiken von Abdrücken und Spiegelbildern in den analysierten Fragmenten. Eine Gefährtin zu sein bedeutet tatsächlich, etwas mit einer Bewegung zu tun zu haben, weil das »Gefährt« aus mhd. gevert(e) »Weg, Zug, Fahrt, Reise, Gesinde, Benehmen, Verhalten« bezeichnet. Die Icherzählerinnen in Bildrätsel ohne Bilder, Das Bad und Ein Gast verkörpern sich durch analysierte Intraaktionen – durch gewisse Bewegungen, die Beziehungen zwischen Materien wie Buch, Wasser, Mensch, Spiegel, Schrift und Sprache. Ihre Gestalten konstituieren sich in einem permanenten materiellen Werden – in einem mehrdimensionalen Raum ihrer queeren verwässerten, bisweilen hydrontischen Abdrücke und Spiegelbilder.

Anmerkungen

1 Punctum knüpft an Roland Barthes’ (vgl. 2021: 9) Studie Die helle Kammer an, die in diesem Artikel thematisiert wird.

2 Das Wort attunement wird in Bezug auf Timothy Mortons Konzept benutzt. »Diffraktive Analyse« bezieht sich auf Karen Barads Interpretation von Donna Haraways Konzept der Diffraktion: »The two-slit diffraction experiment queers the binary light/darkness story. What the pattern reveals is that darkness is not a lack. Darkness can be produced by ›adding new light‹ to existing light – ›to that which it has already received‹. Darkness is not mere absence, but rather an abundance. Indeed, darkness is not light’s expelled other, for it haunts its own interior. Diffraction queers binaries and calls out for a rethinking of the notions of identity and difference.« (Barad 2014: 171)

3 Das Konzept der ›Hydrontologie‹, das im Rahmen meiner Doktorarbeit entstand, umfasst verschiedene spekulative Gedanken über die wässrige, zirkulierende, sich verändernde Dimension der Anwesenheit und fügt sich somit in den Diskurs der blue humanities ein. Darüber hinaus ist Wasser eines der wichtigsten Motive in Yoko Tawadas Literatur, worauf auch andere Forscher:innen wie Hansjörg Bay oder Ortrud Gutjahr hinweisen. Bay schreibt in seinem Artikel »Eine Katze im Meer suchen« über Tawadas Literatur: »Und doch wird der Charakter dieses poetischen Universums in hohem Maß von der Präsenz des Wassers bestimmt.« (Bay 2012: 237) Gutjahr betont auch die Wichtigkeit des Motivs des Wassers in ihrem Schaffen: »Von daher wird in Tawadas Texten das Wasser nicht nur zum Metaphernreservoir für eine Form des fluiden Schreibens […], sondern auch für eine Literatur, der es um diese existenzielle Tiefendimension des Wassers geht.« (Gutjahr 2012: 473)

4 Mit dem Begriff ›hantologisch‹ knüpfe ich an die deutsche Übersetzung ›Hantologie‹ von Jacques Derridas ›Hauntology‹ an. Vgl. Derrida 1995: 10.

5 Das Wort Konnotation wird in Bezug auf Roland Barthes’ Abhandlung S/Z benutzt (vgl. Barthes 1974: 6-9).

6 Ich knüpfe hier an das bereits oben erwähnte Benjamin-Zitat an, vgl. Benjamin 1916.

Literatur

Bachmann, Ingeborg (1980): Das schreibende Ich. In: Dies.: Frankfurter Vorlesungen. Probleme zeitgenössischer Dichtung. München, S. 41-61.

Barad, Karen (2014): Diffracting Diffraction: Cutting Together-Apart. In: Parallax 20, H. 3, S. 168-187.

Barthes, Roland (1974): S/Z. Aus dem Franz. v. Richard Howard. Oxford.

Ders. (2021): Die helle Kammer. Bemerkungen zur Fotografie. Aus dem Franz. v. Dietrich Leube. Frankfurt a.M.

Bay, Hansjörg (2012): »Eine Katze im Meer suchen«. Yoko Tawadas Poetik des Wassers. In: Ortrud Gutjahr (Hg.): Fremde Wasser. Poetikvorlesungen und wissenschaftliche Beiträge. Tübingen, S. 237-268.

Benjamin, Walter (1916): Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. In: Projekt Gutenberg; online unter: https://www.projekt-gutenberg.org/benjamin/sprache/chap01.html [Stand:1.8.2024].

Derrida, Jacques (1995): Marx‘ Gespenster – Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Aus dem Franz. v. Susanne Lüdemann. Frankfurt a.M.

Gutjahr, Ortrud (2012): Vom Hafen aus. Meere und Schiffe, die Flut und das Fluide in Yoko Tawdas Hamburger Poetikvorlesungen. In: Dies. (Hg.): Fremde Wasser. Poetikvorlesungen und wissenschaftliche Beiträge. Tübingen, S. 451-476.

Morton, Timothy (2018): Being Exological. London.

Miller, Nancy K. (1986): The Arachnologies: the Woman, the Text and the Critic. In: Dies. (Hg.): The Poetics of Gender. New York, S. 270-288.

Tawada, Yoko (2014): Ein Gast. In: Yoko Tawada: Wo Europa anfängt. Ein Gast. Erzählungen und Gedichte. Übers. der auf Japan. geschriebenen Gedichte v. Peter Pörtner. Tübingen, S. 97-159.

Dies. (52015a): Bilderrätsel ohne Bilder. In: Dies.: Nur da wo du bist, da ist nichts. Aus dem Japan. v. Peter Pörtner. Tübingen, S. 7-55.

Dies. (2015b): Das Bad. Aus dem Japan. v. Peter Pörtner. 2., veränd. Aufl. der Neuausg. Tübingen.

Dies. (52015c): Nur da wo du bist, da ist nichts. Aus dem Japan. v. Peter Pörtner. Tübingen.

Dies. (62018): Eine leere Flasche. In: Dies.: Überseezungen. Tübingen, S. 53-59.

Dies. (62018): Musik der Buchstaben. In: Dies.: Überseezungen. Tübingen, S. 34-37.

Dies. (2018): Vorwort. In: Dies./Günter Blamberger/Marta Dopieralski (Hg.): Beyond Identities. Die Kunst der Verwandlung. München, S. 7-9.

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