II. Engführung
»We must understand the Cosmos as it is
and not confuse how it is with how we wish it to be.
The obvious is sometimes false;
the unexpected is sometimes true.«
Carl Sagan 1980
Nach der Genealogie der planetaren Perspektive möchten wir in diesem Kapitel einen systematischeren Zugang eröffnen und die im planetaren Denken anzutreffenden Konzepte durchgehen. Zur Einordnung: Denken wir planetar, wissen wir um die Erde als Planeten und verstehen menschliches Zusammenleben durch ihn. Die Begegnung mit dem Planeten enthüllt die Bedingung für menschliche Existenz und ist ihr gegenüber doch zutiefst gleichgültig, schreibt der Historiker Dipesh Chakrabarty (2019: 3). Bei der Bestimmung des Verhältnisses von Menschen und Nicht-Menschlichem dringen wir in Regionen vor, in denen wir definitiv abwesend sind (Chakrabarty 2021, Clark 2011, Clark/Szerszynski 2020). Deshalb verzichten wir auf irreführende Metaphern des Planeten Erde, auf die Vermenschlichung als Patient oder Mutter, die Technisierung als Raumschiff und die Vergöttlichung zur Gaia.
In Anlehnung an den Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck kann man planetares Denken als einen »Denkstil« bezeichnen und die wachsende Gruppierung von Forschenden und Laien, die es vorantreiben, als »Denkkollektiv« (Fleck [1935] 1980, Schnelle 1982), das einen breiten Strauß von Forschungssträngen bündelt. Darunter sind systemische Ansätze wie die Komplexitätsforschung, Meta-Elaborate indigenen Wissens genauso wie einzelne philosophische Positionen aus dem Posthumanismus und Neomaterialismus. Das entscheidende Kriterium der folgenden »Tour d’horizon« durch den Denkraum lautet: Kreist der Ansatz um die Erkenntnis der Erde als Planeten? Wir beobachten dabei vielfältige Verschränkungen: zwischen Wissensproduktion und -nutzung innerhalb und außerhalb formalisierter Wissensinstitutionen (vgl. Renn 2020), zwischen den sprichwörtlichen »zwei Kulturen« der Geistes- und Naturwissenschaften (vgl. Snow [1959] 2013, 1963) sowie zwischen Epistemologie, Ontologie und Ethik (vgl. Barad 2007). Diese Verschränkungen häufen sich nicht zufällig zu einer Zeit, da unsere Beziehung zum Planeten eine Metamorphose durchläuft, die bestehende Wissenssysteme fragil werden lässt, wenn Erkenntnisse aus der Erdsystemwissenschaft, der Astrobiologie, die unter anderem extrasolar, bewohnbare Planeten und Monde in den Blick genommen hat, und solche der vom Urknall bis in die Gegenwart reichenden »Big History« ernst nimmt (Beck 2015).
Planetares Denken manifestiert sich zunehmend in eigenen Formaten wie in jüngst gegründeten wissenschaftlichen Zeitschriften, die den bislang für die Astronomie reservierten Terminus wenn nicht im Namen, dann doch im häufig auf dem Cover platzieren: »The Anthropocene Review«, »Earth System Governance«, »One Earth«, »Journal of Big History«, »Elementa: Science of the Anthropocene«, »Global Sustainability«, »Nature Sustainability« oder »Anthropocenes«. Für einen eventuellen Paradigmenwechsel fügt sich Planetarität zu einem »essentially contested concept« zusammen, die sich wissenschaftstheoretisch auszeichnet durch: (I) bewertenden Charakter, (II) interne Komplexität, (III) vielfältige Beschreibbarkeit, (IV) Offenheit, (V) gegenseitige Anerkennung des strittigen Charakters unter den streitenden Parteien sowie (VI) originäre Beispielfälle und (VII) fortschreitenden Wettbewerb über Kohärenz und Gebrauch (Collier et al. 2006, Gallie 1955).
Wir schlagen im Folgenden eine – für viele Disziplinen anschlussfähige – Konzeptualisierung planetaren Denkens vor. Dazu definieren wir Planet-Mensch-Beziehungen als die grundlegenden Elemente planetaren Denkens, zeigen dann, wie Wechselwirkungen zwischen diesen Elementen beschaffen sind, stellen Überlegungen zur Normativität des Planetaren an, und erörtern schließlich, wie diese Art zu denken eigene Wissensökologien herausbildet und welche Forschungsagenden damit einhergehen. Anhand ausgewählter empirischer Konstellationen illustrieren wir dazu in kurzen Vignetten planetare Untersuchungsgegenstände, die schon auf ein dem planetaren Denken angemessenes planetares Handeln verweisen, das wir in Kapitel III thematisieren werden.
Planet-Mensch-Beziehungen
Planet-Mensch-Beziehungen erstrecken sich räumlich, zeitlich und materiell per se auf planetaren Skalen, die menschlich, planetar wie auch ko-initiiert sein können. Erdbeben als Beispiel einer Planet-Mensch-Beziehung können durch Plattenverschiebungen der Erdtektonik entstehen genau wie als Folge menschengemachter Staudämme und ko-initiiert durch Fracking in ohnehin fragilen Regionen. Analog gilt dies für das Weltraumwetter, dessen Magnetosphären-Schutzschirm durch starke Sonnenwinde genau wie durch A-Bomben-Versuche durchlässig werden und die Strom- und Telekommunikationsinfrastruktur beschädigen kann. Planet-Mensch-Beziehungen existieren durchgängig, erst im Störfall erscheinen sie »handelnd«, womit diese Beziehung selbst als ein Quasi-»Akteur« auftritt.
Grundsätzlich werden Planet-Mensch-Beziehungen folgende Eigenschaften zugesprochen: Sie sind erstens metabolisch, da sie Stoffströme zwischen Planeten und Menschen betreffen, ohne beide Sphären gleichzusetzen und in einen materiellen Relativismus zu verfallen. Zweitens sind sie rezentrierend, da sie den Menschen seiner Sonderstellung entheben, ohne ihn dabei aus seiner Verantwortung zu entlassen. Drittens sind sie transversal, da Dinge und Konzepte wie Natur und Kultur verbunden werden, ohne sie ineinander aufzulösen.
Metabolisch sind Planet-Mensch-Beziehungen, weil ihnen stets ein materieller Austausch zugrunde liegt (Fox/Alldred 2015), der schon damit beginnt, dass rund die Hälfte der menschlichen Körpermasse nicht aus »unserer« Milchstraße, sondern aus anderen Galaxien stammt (Anglés-Alcázar et al. 2017), also planetaren Einflüssen, durch welche die Erdzeitalter Karbon, Jura oder Trias regelrecht in menschliches Blut, menschliche Körper und Kollektive gelangt sind. Diese vermeintliche »Unmenschlichkeit« des Planetaren ist Teil von uns: »We are walking, talking minerals«, schreiben Margulis und Sagan (1999: 49 im Rückgriff auf Vernadskiĭ 1998 [1926]). Konzeptionell ausgearbeitet wurde diese metabolische Eigenschaft im »vitalen Materialismus« (Bennett 1987, 2001, 2002, 2010). Bennetts Konzept hinterfragt die Unterschiede zwischen der menschlichen, tierischen, pflanzlichen und mineralischen Seinsweise, wie sie die westlich-cartesianische Denktradition festgeschrieben hat. Die eingeübten Oppositionen zwischen aktiver menschlicher Subjektivität und passiver Materialität werden im planetaren Denken fluide, auch anorganische Materie wird als eigenartig lebendig wahrgenommen. Aus dieser Sicht kommt dem Materiellen Handlungsfähigkeit im Sinne von Wirkmächtigkeit zu, womit Handeln nicht allein als absichtsvolle Aktion zu verstehen ist, sondern als das Erzielen von Wirkung. Anorganische, organische und menschliche Aktivitäten sind stets gekoppelt und stehen in Wechselwirkungen, ohne dass damit eine Gleichrangigkeit einherginge, die das spezifische Handlungsvermögen des Menschen entwertet.
Umgekehrt führt der Anthropomorphismus der »unbelebten« und animalischen Natur dazu, den Menschen a priori als materielles Wesen anzuerkennen, zweitens seine Verwandtschaft mit nicht-menschlichen Materialitäten zu respektieren und drittens die Genossenschaft von Dingen, Pflanzen und Tieren in einem planetaren Gefüge zu erkennen. Der Stellenwert der menschlichen Handlungsmacht in einer Welt voller nicht-menschlicher Einflüsse verändert sich mit diesem Blick; so wie Nesseltiere ein biologisch erzeugtes Gestein herstellen, das wir Korallenriff nennen, kann man durch Menschen gebaute Infrastrukturen in Form von Hochhäusern und Straßen letztlich auch als ein biologisch erzeugtes Gestein ansehen (Zalasiewicz 2008: 171-172). Auch rein menschliche Handlungen wie die über die Erdplatten ausgedehnte Praxis der Sklavenarbeit erscheinen in einem anderen Licht: Die Populationsdynamiken zwischen den Kontinenten brachten, vermittelt über neue Techniken der Pflanzenzucht der aus Afrika verschleppten Menschen, veränderte Landschaftsökologien auf beiden Seiten des Atlantiks hervor, die bis heute erkennbar und wiederum selbst wirkmächtig sind (Yusoff 2013, 2018, Long Now Foundation 2019, Protevi 2006).
In dieser metabolischen Betrachtung der Planet-Mensch-Beziehung kann man noch einen Schritt weiter zurückgehen und nach der Entstehung dessen fragen, was als Materie bezeichnet wird. Der »agentielle Realismus« versucht Materie als Erstarren von Handeln zu fassen (Barad 2007). In diesem Sinne bezieht sich Materie nicht auf eine angenommene, inhärente, feste Eigenschaft abstrakter, unabhängig existierender Dinge (Barad 2007: 210), sondern auf die Materialität und Materialisierung von Phänomenen. Menschen genau wie Dinge, Pflanzen oder Tiere gingen erst aus Handlungen hervor, sie existieren nicht vorab, weshalb sie auch keine Handlungsfähigkeit besäßen, die als eine Beziehung zu definieren wäre. Betrachten wir Planet-Mensch-Beziehungen so im Bereich der Energieerzeugung, dann materialisiert sich eine als Imitation zu charakterisierende Beziehung im Rückgriff auf bewährte Strategien, beispielweise beim Bau neuer Kohlekraftwerke. Anders materialisieren sich Phänomene der Exnovation (das Entfernen von Optionen), Innovation (das Einführen von Neuem) oder der Renovation (das Aufwerten von Bestehendem). Je nach Komposition dieser Beziehungen können Aussagen über die Entwicklung von Zivilisationen getroffen werden. Bleiben wir im Bereich der Energieerzeugung, könnte dem Astronomen Nikolai Kardashev zufolge eine Zivilisation auf diesem oder einem anderen Planeten durch gelingende Innovation auf der von ihm konzipierten Skala voranschreiten (Kardashev 1964, Gray 2020). In dieser unterscheidet er, ob lediglich auf dem Planeten zur Verfügung stehende Energiequellen, wie sie in Form eingehender Sonnenstrahlung vorliegen, genutzt werden (Typ I: planetare Zivilisation), darüber hinaus die Energie des Sonnensystems, etwa mit um die Sonne installierten Solarkollektoren (Typ II: stellare Zivilisation) oder die Energie der Galaxis, wie sie in der Nutzbarmachung schwarzer Löcher vorstellbar ist (Typ III: galaktische Zivilisation).
Warum sind Elemente planetaren Denkens zweitens rezentrierend, nehmen dem Menschen also seine Sonderstellung? Chakrabarty gibt eine paradoxe Antwort: Mit der Entdeckung und Einführung des Planetaren ist der Mensch für sich selbst zur Frage geworden, ohne zu wissen, welche diese Frage ist (Chakrabarty 2019: 31). Der Mensch ist weder Krone noch Ziel der Evolution, besitzt jedoch die Fähigkeiten, diese zu rekonstruieren und sich als planetare Spezies zu situieren, wenn man will: breit zu machen. Resultat ist eine diverse Menschheit, die zwischen Allmacht und Kontrollverlust schwankt und ein neues Erdzeitalter namens Anthropozän hervorgebracht hat, ohne noch glauben zu können, das Erdsystem sei einfach zurück ins Holozän oder gar Pleistozän oder allein durch menschliche Ingeniosität und Tatkraft in ein neues Stadium hineinzubewegen. Der Mensch ist Treiber und Getriebener, dabei steht sein Akteurstatus als eines »die Natur« Kontrollierenden zur Disposition. Radikale Varianten des Post- und Transhumanismus zielen konsequenterweise darauf, den Menschen gewissermaßen verschwinden zu lassen (Aydin 2017, Bauer 2010, Langdon 2004), während gemäßigtere Varianten den Menschen noch als Gefährten auffassen (Gane 2006). Wir neigen zu diesem modifizierten Dualismus, um nicht von einer anthropozentrischen Anthropologie in eine rein planetozentrische zu verfallen, in der menschliches Leben als nur eine von vielen gleichberechtigten Bestandteilen eines Ökosystems betrachtet wird; das postulieren radikale Formen der objektorientierten Ontologie, in der reale, fiktive, natürliche, menschliche, nicht-menschliche Objekte gegenseitig autonom sind (Harman 2018). Die Ausdehnung der Zuschreibung von Bewusstsein und der Möglichkeit intentionalen Handelns mag zuweilen stufenweise verlaufen, sie mag in Form von künstlicher Intelligenz sogar artifiziell nachahmbar sein, besitzt jedoch im Hinblick auf unbelebte Materie klare Grenzen (Alaimo 2016: 181).
Intellektuell anspruchsvoller als die Einebnung der Unterscheidung zwischen Menschlichem und Nicht-Menschlichem ist die Ermittlung und Einbeziehung des »Mehr-Als-Menschlichen« in einer erweiterten Anthropologie. Zwei Zugänge eröffnen sich hier: Erstens steckt in einer »verkörperten Anthropologie« ein Weg, im Einklang mit der bereits beschriebenen metabolischen Charakterisierung Leiblichkeit, Lebendigkeit und verkörperten Freiheit als Basis selbstbestimmter menschlicher Existenz anzusehen, in der Technologien – anders als im Transhumanismus – reine Mittel bleiben (Fuchs 2020). Zweitens erlaubt eine »geotrope Astronautik« in der Rückwendung der Kamera aus dem All auf die Erde, den Planeten selbst in den Mittelpunkt zu rücken (Blumenberg 1981). Dabei erlangt die Erde schon aufgrund der für Menschen zu langen Reisezeiten zu anderen eventuell bewohnbaren Planeten ihre lebensweltliche Zentralstellung zurück (Boden/Zill 2016: 168).
Eine realistische Anthropologie prädisponiert den Menschen nicht durch bestimmte Merkmale und hält dennoch an ihm als letztlich unauflöslicher Variable fest (Bajohr 2019, Bajohr/Edinger 2021). Die völlige Einebnung wäre ohnehin nur möglich, wenn der Mensch Gleichberechtigung mit anderen Spezies auf einer zweiten Stufe negierte und sich selbst die Verantwortung für die Gleichstellung zuteilte. Gegen die im Posthumanismus geforderte Überwindung des Menschen formuliert Otfried Höffe das Konzept der »Oikopoiese«, bei welcher der Mensch seine Umwelt so gestaltet (»-poiese«), dass sie zu einer Heimstatt (»oikos«) wird (Höffe 2020). Eine derart rezentrierte Anthropologie definiert Verantwortung dafür, wie sie welches Wissen und welches Sein ein- oder ausschließt (Dolphijn/Tuin 2012, Garske 2014), was die Einbindung von »companion species« beinhaltet: So wird etwa damit experimentiert, Flüsse, Berge oder Wälder als Rechtspersonen anzuerkennen und ähnlich wie bei Aktiengesellschaften, Hausbesitzerversammlungen oder Vereinen menschliche Sprecherïnnen zu wählen, die deren Interessen vertreten (O’Donnell/Talbot-Jones 2018). Mit anderen Worten: der Mensch selbst übernimmt durch Institutionen Verantwortung für sich als Mensch, denn trotz aller Wirkmacht, die wir Bäumen und Bergen zuschreiben, ist ihre intentionale Handlungsmacht der menschlichen nicht ebenbürtig, auch ein »Parlament der Dinge« (Latour 2009) müsste vom Menschen einberufen werden (Leinen/Bummel 2017). Wodurch zeichnet sich zu guter Letzt die dritte, transversale Eigenschaft planetaren Denkens aus? Die für die moderne Wissensentwicklung und Wissenschaftslandschaft konstitutive und dabei ungemein produktive Trennung von Natur und Kultur, auch von Geistes- und Naturwissenschaften, erfährt in der Planet-Mensch-Relation eine substantielle Rückabwicklung. Wert gelegt wird weniger auf Dichotomien zwischen Drinnen und Draußen, Struktur und Akteur, Lokal und Global, sondern auf ein jeweiliges »Dazwischen« und diese kategorialen Trennungen »Durchdringendes«, also auf Wechselwirkung und Ko-Konstitution, die in der neuzeitlichen Wissenschaft natürlich längst ihren Stellenwert hatten. Zum Vokabular des Planetaren gehören Neologismen wie »natureculture«, welche die Untrennbarkeit biophysikalischer und sozialer Formung ausdrücken (Haraway 2003) oder »spacetimemattering« und eine »ethico-onto-epistemology« anstreben (Barad 2007), womit die Untrennbarkeit von Raum, Zeit und Materie sowie unlösbare Einheit von Ethik, Ontologie und Epistemologie behauptet wird. Dazu passt: die »intra-action«, was über die Interaktion insofern hinausreicht, als es ontologische Entitäten mit je eigenen Charakteristika vor einer Intra-Aktion nicht gibt, sondern sich Entitäten erst qua Intra-Aktion materialisieren und zu voneinander abgrenzbaren Einheiten werden (Barad 2007: 33). Zum Beispiel intra-agiert eine Flechte mit der sie umgebenden Erde, Luft und Wasser, die von der Flechte durch Photosynthese und die Verarbeitung von Kohlenmonoxid beeinflusst werden; zugleich intraagieren Erde, Luft und Wasser mit der Flechte über die Nährstoffe des Bodens und die Luftqualität, die die Flechte wachsen, stagnieren oder erkranken lassen. Erst Intra-Aktion lässt in dieser Sichtweise die Flechte genau wie Erde, Luft und Wasser entstehen, vorher »sind« sie nicht oder nicht in dieser Gestalt als einzelne Entitäten existent. Letztlich kommen in dieser »Reanimierung« Interdependenzen zur Sprache, die Kosmologien und animistische Konzepte seit Jahrtausenden in allen Regionen der Erde beschäftigt haben.
Eine Reihe von Dingbegriffen reichen in die erfahrbare Wirklichkeit hinein: Quasi-Objekte, die wie der Ball im Spiel ein Mannschaftskollektiv zusammenweben, oder Hybride, welche die Vermischung bislang getrennter ontologischer Bereiche anzeigen (Latour 1995), oder Grenzobjekte, die mit ihrer plastisch anpassungsfähigen und doch einheitlichen Identität Arten und Praktiken von Wissen unterschiedlicher Entitäten zu binden vermögen (Star/Griesemer 1989). Besonders einschlägig sind Hyperobjekte, reale Objekte, die sich räumlich und zeitlich über das menschliche Fassungsvermögen ausbreiten, ohne Zuhilfenahme technischer Beobachtungen und Messungen aber kaum abbilden lassen und den Raum einer »Interobjektivität« öffnen (Morton 2013). Sie entziehen sich der direkten menschlichen Erfahrung und lassen sich, wie der Wind durch einen Windstoß, der etwas in Bewegung setzt, nur vermittelt durch ihre Effekte feststellen. Zu Hyperobjekten zählen in bunter Reihung schwarze Löcher, die Everglades, die Biosphäre, das sogenannte Extremwetter oder das Sonnensystem, alles auf dem Planeten existierende Plutonium oder Plastiktüten. Die geistige Verbindung zwischen Menschen und derartigen Hyperobjekten mag befremden, sie verweist aber darauf, dass bei der Betrachtung von Planet-Mensch-Beziehungen bisher meist allein das sinnlich Wahrnehmbare fokussiert wurde.
Abb. 15: Mawlynnong Brücke.
Foto/Quelle © Amos Chapple
Lernen kann man hier von Wissenssystemen, die die Welt nie im Sinne einer Verzweigung von Natur und Kultur oder Theorie und Praxis konzipiert haben (Cusicanqui 2012, Sundberg 2014, Todd 2016), wie jüngst etwa Beiträge aus feministischer Perspektive anregen (Irni 2013, Tallbear 2017, Willey 2016). Die Breite und Vielfalt indigenen Wissens ist eben nicht (nur) ein Archiv von Denk-, Glaubens- und Handlungspraktiken, sondern relevantes »situiertes Wissen«, das eng mit der Praxis derjenigen, die dieses Wissen produzieren, verbunden bleibt (Galloway McLean et al. 2012, Wildcat 2009, Whyte 2013). Als Beispiel für ein transversales »Ding« sei das baubotanische Beispiel einer aus Gummibäumen und Luftwurzeln gewachsenen Kombination aus Brücken und Leitern im indischen Bundesstaat Meghalaya gezeigt (Abb. 15). Die über Jahre gewachsenen Brücken trotzen selbst heftigsten Monsunregen und bilden eine lebendige Planet-Mensch-Beziehung, die Dichotomien zwischen Kultur und Natur sprengt (Watson 2020: 46-73).
Mit dieser Auflösung hat sich der italienische, in Paris lehrende Naturphilosoph Emanuele Coccia intensiv auseinandergesetzt. In seinen Büchern über „Die Wurzeln der Welt“ (Coccia 2020) und über „Metamorphosen: Das Leben hat viele Formen. Eine Philosophie der Verwandlung“ (Coccia 2021) stellt er die anthropozentrische Sichtweise vom „Leben“, das stets nur vom Menschen (und neuerdings auch ansatzweise vom Tier) ausgeht, auf den Kopf und erklärt die Pflanzen zur eigentlichen Wurzel der Welt, wobei Wurzeln eben nicht allein die Verankerung im Boden sichern, sondern über die Photosynthese in die Atmosphäre ausgreifen. Die stolze, in den Geisteswissenschaften untermauerte Illusion der menschlichen Sonderstellung zerfließt in eine Kontinuität aller Lebensformen, wonach der Mensch kein vereinzeltes Lebewesen ist, sondern eine ephemere Gestalt in den Metamorphosen des Lebensstroms. Hier besteht die Verbindung zum planetaren Denken. Die Pflanze bindet die Erde in eine kosmische Mediation: „Ja, sie dreht sich physisch um die Sinne, aber erst in den Pflanzen und dank ihnen produziert diese Verbindung Leben, Materie, die stets und in immer neuen Formen existiert. Die Pflanzen sind die metaphysische Transfiguration der Erdrotation um die Sonne, die Schwelle, die ein reich mechanisches Phänomen zu einem metaphysischen Ereignis macht“ (Coccia 2020:112).
Wechselwirkungen
Darüber liegt eine weitere Abstraktionsebene. Planet-Mensch-Beziehungen existieren nicht separiert voneinander, sondern stehen selbst in Wechselwirkungen unterschiedlicher Intensität. Seit der »Great Acceleration« – dem gleichzeitigen Anstieg der Wachstumsrate eines breiten Spektrums sozioökonomischer Indikatoren (wie Weltbevölkerung, Transport, Telekommunikation) und erdsystemarer Messgrößen menschlicher Aktivität (wie domestizierte Landfläche, Ozeanversauerung, Verlust tropischer Wälder) in der Mitte des 20. Jahrhunderts – haben Wechselwirkungen exponentiell an Bedeutung gewonnen (Steffen et al. 2015a). So sieht das neue Forschungsnetzwerk »Future Earth« die größte Bedrohung für das Wohlergehen künftiger Generationen nicht in einzelnen Risikobereichen wie Klimawandel, Verlust der biologischen Vielfalt und Zusammenbruch des Ökosystems, Nahrungsmittel- und Wasserkrise, wie es die mediale Berichterstattung und das Ressortprinzip von Verwaltungen nahelegen, sondern in deren Rückkopplungsschleifen und Wechselwirkungen (Future Earth 2020). Die negativen Tendenzen befeuern sich gegenseitig und können eine Gefahr erzeugen, die über die Summe je einzelner Auswirkungen weit hinausgehe. Wechselwirkungen planetarer Elemente bringen teils unerwartete, teils nur schwer zu prognostizierende Eigenschaften hervor. Hinweise finden sich in Arbeiten zu den Kipppunkten des Erdsystems (Lenton et al. 2008) wie zum Kollaps großer Ökosysteme (Cooper et al. 2020), zu den planetaren Grenzen (Rockström et al. 2009) wie zu den Trajektoren des Erdsystems (Steffen et al. 2018), auf die wir noch näher eingehen werden. Bereits Alexander von Humboldt hat diese Zusammenhänge im Diktum »Alles ist Wechselwirkung« zu fassen versucht, ähnlich der Soziologe Georg Simmel im von ihm beschriebenen »Prozess der Vergesellschaftung«.
Vor allem zwei Denkschulen tragen zur integralen Betrachtung der Wechselwirkungen von Planet-Mensch-Beziehungen bei: der Relationismus und die Komplexitätsforschung. Dem Relationismus zufolge lassen sich Eigenschaften von etwas nur relativ zu etwas anderem sinnvoll interpretieren, womit vor allem relationale Entitäten existieren. Solche Annahmen trifft man vornehmlich in interpretativen und qualitativ arbeitenden Forschungssträngen, vom systemischen Denken (Capra/Luisi 2014) bis zur theoretischen Ökologie, an (Ulanowicz 2009), die letztlich alle um Relationalitäten, ein Geflecht komplexer Beziehungen (Metanetzwerke oder Netzwerke von Netzwerken oder Assemblages von Assemblages) kreisen. Stehen im planetaren Denken Wechselwirkungen zwischen Planet-Mensch-Beziehungen im Vordergrund, so ist mithilfe der Relationalitätshypothese zu klären, was als Wechselwirkung von Planet-Mensch-Beziehungen zu verstehen ist (in Richtung einer relationalen Ontologie), wie wir solche Verhältnisse erkennen können (i.R. einer relationalen Epistemologie) und wie wir diese Wechselwirkungen ausgestalten sollen (i.R. einer relationalen Ethik) – und wie diese drei wiederum im Sinne einer »ethico-onto-epistemology« miteinander verschränkt sind (Walsh et al. 2021). Was kann mit einem derartigen relationalen Ansatz erkannt werden? Hier kann man das Beispiel der Zyanobakteriengattung Chroococcidiopsis in der Atacama-Wüste heranziehen (Abb. 16). Die Bakterien zapfen in der kargen Wüstenlandschaft zum Überleben das seit Urzeiten fest in Kristallen in Gipsstein gebundene Wasser an, was den Gips zu Anhydrit werden lässt, welches kein gebundenes Wasser mehr besitzt (Huang et al. 2020). Mittels Röntgenaufnahmen lässt sich nachverfolgen, welchen Stein die Mikroorganismen bereits besiedelten und welchen nicht. Dieses Wissen ist über die geobiologische Grundlagenforschung hinaus von praktischem Interesse. Denn das Verständnis dieses Prozesses könnte dazu beitragen, in extremen Umwelten zu überleben, wie Robert Kokoska, Programmmanager des »U.S. Army Research Office«, mögliche Anwendungen in der Materialsynthese und Energieerzeugung projiziert (Bell 2020). Darüber hinaus werden die Bakterien bereits auf ihre Ansiedlungsmöglichkeiten im Weltraum getestet, indem marsähnliche Bedingungen simuliert werden und die Bakterien über zweieinhalb Jahre in einer erdnahen Umlaufbahn verbringen – bisher mit Erfolg (Billi et al. 2019).
Abb. 16: Von oben nach unten und links nach rechts: Mikrostruktur der Bakterie (grün), Chroococcidiopsis in der Atacama Wüste & im Labor. Credit: David Kisailus/UCI & Jocelyne DiRuggiero/Johns Hopkins University.
Fotos: © Kisailus/DiRuggiero 2020, Quelle: University of California 2020
Die Skala der Wechselwirkungen reicht also vom winzigen Bakterium bis zu ganzen Planeten, und die Nutzbarmachung vermeintlich unbeachtlicher Zyanobakterien für das (Über-)Leben auf der Erde und für das Terraforming anderer Planeten wird erwogen. Diese Art Relationalitäten zu identifizieren, zu interpretieren, ethisch zu bewerten und nach Alternativen zu befragen, macht den interpretativen Teil planetaren Denkens über Wechselwirkungen aus. Sie sind zu verknüpfen mit Konzepten, die anstreben, Wechselwirkungen zwischen Planet-Mensch-Beziehungen in Gänze empirisch zu fassen, zu formalisieren und zu generalisieren. Solchen Anforderungen stellt sich die Komplexitätsforschung, die über ein etabliertes Set an Konzepten verfügt, von denen vier (a-d) im Hinblick auf Wechselwirkungen zwischen Planet-Mensch-Beziehungen herausgestellt werden (Cilliers 2001, De Domenico/Sayama 2019, Thurner et al. 2018, Woermann/Cilliers 2013).
Betrachten wir a) Emergenz, so bedeutet dies, dass die Eigenschaften der Wechselwirkungen zwischen Planet-Mensch-Beziehungen sich nicht vollends aus deren einzelnen Elementen ableiten lassen, sondern auch aus sich heraus unvorhersehbare Eigenschaften hervorbringen. Charakteristisch sind hierfür die aus der Chaosforschung bekannten Elemente Nicht-Linearität, indirekte Effekte, Serendipität, Nicht-Reduzierbarkeit, die Bedeutung unterschiedlicher Skalen sowie der phasenweise Übergang in neue Zustände, wie er etwa in den Kipppunkten des Erdsystems vorliegt. Im Hinblick auf b) fehlende Gleichgewichtszustände ist Veränderung das einzig Stete. Die Wechselwirkungen zwischen Planet-Mensch-Beziehungen lösen Dynamiken aus, aufgrund derer der Planet höchstens für kurze Zeiten als verhältnismäßig stabil gelten kann. Das bedeutet, der Planet Erde und seine Gesellschaften können Verhältnisse hervorbringen, die sich trotz größerer Einwirkungen kaum verändern, also Pfadabhängigkeiten unterliegen, selbst bei kleinsten Störungen in einen anderen Zustand umschlagen (bei sogenannten Bifurkationen) oder trotz vermeintlich fehlender Änderungen der Grundbedingungen vollkommen chaotisch agieren (Schmetterlingseffekt).
Sodann bringen Wechselwirkungen in beträchtlichem Maß c) Selbstorganisation hervor. Diese erfolgt meist ohne oder nur mit eingeschränkter Steuerung, wird im Wesentlichen also durch die Wechselwirkungen selbst erzeugt. Von besonderer Bedeutung bei dieser Selbstorganisation sind etwa kollektives (Schwarm-)Verhalten, Prozesse von Unordnung zu Ordnung und Selbstähnlichkeit, welche sich in der weltumspannenden Urbanisierung zeigen, wenn Bauten in Marzahn völlig identisch mit jenen in Brooklyn und Chengdu sind.
Schließlich besteht d) die Möglichkeit der Adaptation. Anpassungen sind durch Mechanismen wie Lernen, Informationsweitergabe, psychologische oder soziale Entwicklung oder auch Selektion und Variation möglich. Wenn also »funktionierende« Wechselwirkungen zwischen Planet-Mensch-Beziehungen gestört werden, können sie sich eventuell selbst regenerieren bzw. so verändern, dass sie weiter existieren, wie sich im Lauf der Geschichte des Lebens auf der Erde vielfach zeigte, extrem nach dem Einschlag eines Meteoriten.
Normativität des Planetaren
Damit sind wir drittens bei normativen Fragen angelangt, insofern das Planetare, das gewaltige Prozesse nichtmenschlichen Ausmaßes offenbart, nicht auf eine von allen akzeptierte, ideale Form gebracht werden kann, die weder für den Planeten Erde noch für einen anderen Ko-Planeten besteht (Chakrabarty 2019: 25). Entscheidungen darüber, wie man auf diesem oder gar einem anderen Planeten weiterleben, gut leben oder mit dem Verlust von Leben umgehen soll, hängt wesentlich von Einsichten ab, wie das Universum als Ganzes funktioniert, ganz unabhängig von unseren Einflussmöglichkeiten (Losch 2019). Normative Grundlagen sind neu zu verhandeln, denn mit planetarem Denken ändern sich die deskriptiven und geraten womöglich auch präskriptive Prämissen ins Wanken. Das Planetare muss Beachtung finden, ohne das Menschliche zu verdecken. Wie wir schon zur realistischen Anthropologie dargelegt haben, ist es letztlich am Menschen zu entscheiden, wie er die von ihm beeinflussbaren Begegnungen zwischen Menschen und Planeten, von denen er ein Teil ist, gestalten will (de la Bellacasa 2017, Giraud 2019). Normative Angebote erstrecken sich hier vom ökozentrischen Anti-Anthropozentrismus (»Planet First«, vgl. Lynch/Norris 2016, Hayward et al. 2019) über Ansätze zur Verantwortungsübernahme des Menschen für Planet-Mensch-Beziehungen (»Interaction First«, vgl. Whitmee et al. 2015, Dryzek/Pickering 2019) bis hin zur Überschreibung des Planeten an den Menschen zur freien Nutzung (»Humans First«, vgl. Machan 2004, Servigne/Stevens 2020) oder gar an eine posthumane Artifizialität (»Technology First«, vgl. Lovelock/Appleyard 2020). Wollte man dies theologisch wenden, reicht die Bandbreite von »Macht euch der Erde untertan« bis zu »Macht euch die Erde untertan« (Dominium terrae, Genesis 1,28). Nach der anthropozentrischen Fixierung in der westlichen Moderne erschiene uns eine radikale posthumanistische Wende eher wie ein Eskapismus, eine Flucht aus der Übernahme von Verantwortung, bei der ein Hinweis auf die planetare Komplexität wie eine Ausrede wirken muss.
Zwei wichtige Konzepte, die den Diskursraum für eine solche (tentative) Ethik aufspannen, sind Habitabilität (Bewohnbarkeit) und Hospitalität (Gastfreundschaft). Die Habitabilität der Erde ist nicht nur auf ihren angemessenen Abstand zur Sonne allein zurückzuführen. Auf der Erde bestehen seit einem langen Zeitraum weitere Voraussetzungen, die Leben ermöglichen und aufrechterhalten, da Energie für Stoffwechsel und Reproduktion von Lebewesen vorhanden ist, Flüssigkeit in Form von Wasser ausreichend existiert und Kohlenstoff für den Aufbau komplexer Moleküle verfügbar ist (Cockell et al. 2016). Eine Ethik der Habitabilität legt dar, wie Menschen ihr Verhältnis zur Bewohnbarkeit des Planeten Erde (Denoual 2020) und potentiell anderer bewohnbarer Planeten, die sie aufgrund ihres Entdeckergeists besiedeln wollten, wenn durch ihr Verhalten die Tragfähigkeit der Erde überstrapaziert ist, ausgestalten sollen. Anzeichen gibt es genug und jährlich: Der vom »Global Footprint Network« ausgerufene »Earth Overshoot Day« – das ist der Tag, an dem alle natürlichen Ressourcen aufgebraucht sind, die die Erde innerhalb eines Jahres wiederherstellen und damit nachhaltig zur Verfügung stellen kann – war im Jahr 2019 im globalen Durchschnitt im August erreicht, in den USA bereits Anfang März und in Europa Anfang Mai, wobei die geringen Verbrauchszahlen vieler Länder der südlichen Erdhalbkugel den Überverbrauch des Nordens mit kompensieren (Abb. 17).
Abb. 17: »Earth overshoot day« 1970 - 2020, Global Footprint Network 2021.
Grafik/Quelle: © Global Footprint Network www.footprintnetwork.org 2021
Gastfreundschaft ist im philosophischen Kanon lange verankert. So postulierte etwa Immanuel Kant, dass »allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten, vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der, als Kugelfläche, sie sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch nebeneinander dulden müssen, ursprünglich aber niemand an einem Ort der Erde zu sein, mehr Recht hat, als der andere« (Kant [1796] 2005: 21). Hospitalität wird heute als erweitertes Menschenrecht deklariert (Cavallar 2016, Hahn 2018). Menschen, die ihren Wohnort beispielsweise wegen Naturkatastrophen verlassen, sind keine Besucherïnnen mehr; sie können nicht mehr zurück und ohne ein stabiles Territorium keine reziproke Gastfreundschaft ausüben. Vielmehr sind sie auf eine absolute Gastfreundschaft angewiesen, also die Geste, dem Anderen eine »Statt zu geben«, ohne Gegenseitigkeit erwarten zu können (Derrida 2001: 27). Gastfreundschaft wird damit zur Bleibefreundschaft – eine Herausforderung, die sich im 2016 verabschiedeten UN-Migrationspakt erst in schwachen Umrissen niederschlägt. Verschränken wir nun die (planetozentrische) Habitabilität mit der (anthropozentrischen) Hospitalität, so sind der »Gast« Mensch und der »Gastgeber« Erde kein Gegenüber mehr, sondern durch die Bewohnbarkeitsfrage symmetrisch verbunden (Dikeç et al. 2009).
Ethische Fragen sind folglich über die gewohnten zeitlichen und räumlichen Horizonte hinaus zu denken, ohne in primitive Fehlschlüsse sensibler Debatten, wie etwa jene zur Bevölkerungspolitik, zu verfallen (Coole 2018, Gesang 2020). Dabei endet eine planetare Ethik nicht auf der Erde, sie berücksichtigt den interplanetaren Raum, blickt tiefenzeitlich in Vergangenheit und Zukunft und erweitert damit den Kosmopolitismus um einen Chronopolitismus, wie wir unten noch genauer begründen wollen. Zu suchen sind Ansätze, die Habitabilität und Hospitalität zusammendenken können, etwa in einer Weiterentwicklung des Konvivialismus (Adloff/Heins 2015) zum »Kosmovivialismus«: »[C]osmovivir may be a proposal for a partially connected commons achieved without canceling out the uncommonalities among worlds because the latter are the condition of possibility of the former: a commons across worlds whose interest in common is uncommon to each other.« (de la Cadena 2015: 285-286).
Wissensökologien
Planet-Mensch-Beziehungen und ihre Wechselwirkungen führen viertens zur Frage nach der Methodologie planetarer Wissensökologien, ihren Merkmalen und Konsequenzen. Die Herausforderung besteht in der Vielzahl sich stets ändernder Perspektiven auf das Planetare, die nicht zu einer Vielzahl von Welten führen, sondern in einer Welt konvergieren, die unterschiedlich beschrieben werden kann und in der je unterschiedliches Handeln möglich ist. Planetares Wissen zielt nicht relativistisch darauf ab, jeden in einer je eigenen Welt leben zu lassen, noch monistisch auf eine Einheitswissenschaft oder einen Dualismus von wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Weltzugängen, es ist plural oder pluriversalistisch (Mitchell 2008, Reiter 2018). Die Welt wird als ein vielfältig verwobenes Gefüge angesehen, dem eine nicht-lineare Vorstellung von Kausalität komplexer Wechselbeziehungen und ein Mehrebenensystem inter- und transdisziplinärer Methoden entspricht. Das Design planetarer Wissensökologien kann als eine Art evidenzbasierter Entwurfsaktivität auf der Suche nach Variabilität und in der andauernden Komposition von Gestalten beschrieben werden (Mareis 2016). In der Tätigkeit des Designs ist der genuin menschliche Aspekt planetaren Wissens verkörpert. Demnach ist die Formgebung von Wissen ein Akt, der sich nicht rein intellektuell vollzieht, sondern Teil einer umfassenderen Lebenspraxis ist, exemplarisch im Erleben des Overview-Effects. Planetares Wissen hat eine reflexive oder in der Sprache der Optik »diffraktive« Qualität (Barad 2007: 81). Es wird damit deutlicher, was Autorïnnen unter Wissensökologie verstehen (Rahder 2020, Akera 2007): einen »ethisch-onto-epistemologischen Rahmen«, der eine Vielzahl – sich mit dem Wissenszuwachs verändernder – Annahmen und Erklärungen einbeziehen kann, die die Erde letztlich als Planeten (an-)erkennen. Damit vermag der denkende Teil des Planeten mit dem nicht denkenden Teil zu konvergieren. Wie eine solche Wissensökologie aussehen kann, zeigen Clark & Szerszynski (2020) in ihrem grundlegenden Buch »Planetary Social Thought«. Mit dem Terminus »Planetary Multiplicity« wollen sie erklären, dass der Planet Erde, da er sich selbst ändert oder zur Veränderung veranlasst wurde, in vielen unterschiedlichen Erden Gestalt angenommen hat; der Planet Erde wird sich also immer wieder selbst fremd, wie in der Erdansicht in Abbildung 18 gezeigt. »Earthly Multitudes« heißen die Verbindungen, die Menschen mit der sich permanent verändernden Erde eingehen, mitsamt der Herausforderungen, die sich durch evolutionäre Selbstordnung und disruptive Variation des Planeten ergeben. Menschliche Pluralität und soziales »Anderssein« hängen zusammen mit der Fähigkeit der Erde, sich selbst zu differenzieren und sich selbst fremd zu werden. Damit sind die meist getrennt betrachtete biologische und kulturelle Diversität nicht identisch, aber verwandt.
Abb. 18: Welcher der abgebildeten Planeten ist die Erde? Alle! Die Erde bestand tiefenzeitlich gesehen aus vielen unterschiedlichen Planeten und wird noch mehrmals eine andere werden. Oben links sehen wir eine Wasserwelt, bevor sich Kontinente bildeten, daneben eine »Schneeball«-Erde mit starker Vergletscherung, rechts oben kurz nach einem Asteroideneinschlag und unten links unsere heutige Erde, daneben die Projektion einer Erde ohne Ozeane und einer verglühenden Erde bei immer heißer werdender Sonneneinstrahlung. Bildrechte: Don Brownlee (University of Washington).
Foto: © Brownlee 2015, Quelle: Frank 2015
Wenn Menschen derart zum »Worldmaking« beitragen können, stellen planetare Wissensökologien wissenschaftliche Grundannahmen wie das Objektivitätsideal und Werturteilsfreiheit zur Disposition. Retrospektiv: Wie haben uns planetare Kräfte geformt? Wie konnten wir planetare Kräfte erlangen, welche die Erde zu transformieren vermögen? Gegenwartsbezogen: Wie können Menschen mit den unregelmäßig-regelmäßigen planetarischen Veränderungen außerhalb ihres Einflusses umgehen? Was bedeutet es, solche Kräfte zu besitzen, wie sind sie einzusetzen oder zurückzuhalten? Prospektiv: Welche planetaren Kräfte jenseits unseres Einflusses können wir antizipieren und wie sollen wir damit umgehen? Mit welchen planetaren Dynamiken können wir uns zusammenschließen oder wieder vereinen, welche Zusammenschlüsse sollten wir nach Möglichkeit beenden? Tentative Fragen dieser Art gehören zu einer planetaren Forschungsagenda, die Mensch und Planet gleichermaßen berücksichtigt und die über die auf konkrete »Policy«-Herausforderungen bezogene Nachhaltigkeitsforschung wie die epochale, auf ein vom Menschen geschaffenes Erdzeitalter fokussierende Anthropozänforschung hinausgeht.
Konstellationen
Wir kommen damit zu ausgewählten empirischen Konstellationen, auch jenseits viel bearbeiteter Themen wie Artensterben und Klimawandel. Wie am Beispiel der Chroococcidiopsis bereits illustriert, bestehen solche Konstellationen in der Größenordnung von Atomen bis Planeten. Disparat wirkendes Material wird »planetarisiert«; es ist nicht nicht auf lokale, klar bestimmbare Zeiträume und begrenzte Materialströme fixiert, sondern kann auf temporal, räumlich und materiell planetaren Skalen angeordnet werden. Diese Profile dienen zur Beschreibung von Mustern und Morphologien, sie erlauben Vergleiche von Planet-Mensch-Beziehungen und deren Wechselwirkungen. Dazu können wir die bisherigen Erkenntnisse in folgender Synopse zusammenfassen (Tab. 1).
Tab. 1: Analyseschema planetarer Konstellationen.
Betrachtungsebene | Profilbildende Frage | Indikatoren |
Planet-Mensch-Beziehung | Wie prägen sich die metabolischen, rezentrierenden und transversalen Charakteristika der Planet-Mensch-Beziehung aus? | Metabolismus Rezentrierung Transversalität |
Wechselwirkungen | Wie prägen sich Wechselwirkungen im Hinblick auf Relationalität und Komplexität aus? | Relationalität Komplexität |
Normativität | Wie sollten sich Bewohnbarkeit und Gastfreundschaft verschränken? | Bewohnbarkeit Gastfreundschaft |
Wissensökologie | Welche ethisch-onto-epistemologischen Wissensökologien entstehen, welche Welten werden damit geschaffen? | Wissensökologien Worldmaking |
Quelle: eigene Darstellung
Anhand historischer Ereignisse und Zäsuren möchten wir diese Konstellationen zwischen Planeten und Menschen exemplarisch visualisieren und steckbriefartig vorstellen. Wir betrachten im Folgenden in knappen Vignetten die Rolle des Wasserstoffs vom »Big Bang« bis zur nachhaltigen Energienutzung, den »Columbian Exchange« von 1492, das überkommene Weltbilder erschütternde Erdbeben von Lissabon 1755, das durch hohe Vulkanaktivität verursachte »Jahr ohne Sommer« 1816, die durch außergewöhnliche Sonnenaktivität verursachte Weltkriegsgefahr 1967, das Experiment »Biosphere 2« von 1991, das Hurrikan-Ereignis Bhola 1970, den Ökozid in Folge des Vietnamkriegs in den 1960er und 1970er Jahren sowie den seit 1996 im Aufbau befindlichen Pleistozän-Park. Etwas genauer wollen wir abschließend noch die »Anthropause« von 2020 betrachten.
After Big Bang
Eine fundamentale Konstellation bietet die Beziehung zwischen Mensch, Wirtschaft und Wasserstoff, dem im Universum am häufigsten vorkommenden Element, dessen Visualisierung jetzt für die Milchstraße vorliegt (Abb. 19). Bereits »kurz« nach dem Urknall formte sich Wasserstoff und bildet bis heute die Grundlage allen Lebens, zumindest auf der Erde (Grochala 2015, Yagi 2016). Darüber hinaus machte sich der Mensch den Wasserstoff zunutze, von Wasserstoffbomben zur Auslöschung von Leben (Abb. 20) bis hin zur Nutzung als Speicher in einem Modus der Energieversorgung, der die Frage der Bewohnbarkeit unter Berücksichtigung der planetaren Regenerationsmöglichkeiten positiv zu beantworten versucht. Milliardeninvestitionen sind weltweit in Aussicht gestellt, um mittels aus Elektrolyse gewonnenem grünen Wasserstoff klimaneutral zu wirtschaften, was einen geopolitischen Bedeutungsverlust des auf Erdöl beruhenden Rentierkapitalismus erwarten lässt (Preuster et al. 2017, Baykara 2018, Dincer 2020). Der Ausbau einer Wasserstoffinfrastruktur bietet etwa Zukunftsperspektiven für den angestrebten »Green New Deal« der Europäischen Union, die neue Versionen einer Mittelmeerunion hervorbringen kann. Welche Beziehungen bestehen zwischen Mensch, Wirtschaftssystem und Wasserstoff, reproduzieren sich darin bekannte Muster oder bilden sich neue, welche Nutzungsarten des Wasserstoffs sollten wir beibehalten oder ausbauen, welche unterlassen?
Abb. 19: Eine neue Karte zeigt das detaillierteste Bild der Wasserstoffatome in der Milchstraße, das je gemacht wurde. Benjamin Winkel und »the HI4PI collaboration« 2016.
Quelle: © Winkel 2016: 5
Abb. 20: Pilzwolke des Ivy-Mike-Kernwaffentests 1952, der ersten großen Wasserstoff bombe, deren Explosion zum Verschwinden der Insel Elugelab von der Landkarte führte.
Quelle: Wikimedia 2020b
Columbian Exchange
Der nach dem genuesischen Seefahrer und »Amerika-Entdecker« Christoph Kolumbus benannte Austausch steht am Beginn eines breiten Transfers von Pflanzen, Tieren, Kultur, Technologien, Krankheiten, darunter Zoonosen, Ideen und Menschen zwischen (zunächst) Amerika, Westafrika und Europa ab dem 15. Jahrhundert (Crosby 2003, Armstrong 2017, Yussoff 2018). Mit der gewachsenen menschlichen Mobilität etablierte sich ein Muster, in dem der Mensch nicht länger nur durch die ihn umgebenden Ökozonen beeinflusst wird und sich ganz wesentlich an diese anpassen muss, sondern globale Mobilität diese unumkehrbar zu durchmischen beginnt, wie in Abbildung 21 zeitgenössisch dargestellt. Die politischen Folgen des »Columbian Exchange« sind historisch breit erforscht, aber erst jüngst wurden sie in der Forderung »Black Landscapes Matter« sichtbarer, die zur Umbenennung von Straßen führte (Abb. 22) (Hood/Tada 2020). Eine integrative Forschung – hier publiziert im führenden Wissenschaftsjournal »Science« – will nachweisen, wie Rassismus, der sich exemplarisch in der Wohnsegregation niederschlägt, mit der Ungleichverteilung von Flora und Fauna einhergeht (Schell et al. 2020). Würde sich bei einem »Martian Exchange«, wenn sich menschliche Missionen auf den Weg zum Mars machen sollten, die Fehler des »Columbian Exchange« im interplanetaren Maßstab vermeiden lassen oder potenzieren (Cannon/Britt 2019)?
Abb. 21: Sklavïnnen in der Karibik im Jahr 1823 werden zum lokalen »Terraforming« gezwungen. William Clark, »Digging the Cane-holes Slaves planting and tilling«, 1823.
Bild: William Clark 1823, Quelle: British Library 2014
Abb. 22: Okkupation der »16th Street NW« in Downtown Washington, D.C in der Nähe des Weißen Hauses als Protestaktion der »Black Lives Matter«-Bewegung mit darauf folgender Umbenennung in »Black Lives Matter Plaza«.
Quelle: Wikipedia 2020a
Erdbeben von Lissabon
Eine wichtige Planet-Mensch-Beziehung besteht in der induzierten wie durch Plattentektonik bedingten Seismizität, der Erdbebenaktivität in exponierten Regionen (Robinson 2017). Exemplarisch ist das von João Glama Strobërle dargestellte Erdbeben von Lissabon 1755 zu nennen (Abb. 23), dem 60.000 Menschen zum Opfer fielen (Dynes 2000, Araújo 2006, Molesky 2016, Fonseca 2020). Die Katastrophe – physikalisch betrachtet Teil der Normalität unserer Existenz auf einem sich stets wandelnden und beweglichen Planeten – nahmen Zeitgenossïnnen als tiefe Zäsur und Einschnitt in das bestehende Weltbild auf; eine Debatte um das Theodizeeproblem entbrannte unter Europas Gelehrten. Immanuel Kant etwa wandte sich den natürlichen Ursachen von Erdbeben zu, aber auch seine Auffassung vom Erhabenen war durch dieses herausragende (Medien-)Ereignis des 18. Jahrhunderts geprägt. Der Glaube an einen allmächtigen und gütigen Gott war erschüttert, da ausgerechnet ein erzkatholisches Land getroffen wurde, und das am Allerheiligenfest, als viele Gläubige in Kirchen zu Tode kamen, während die Prostituierten der Stadt verschont blieben. War das als eine Strafe Gottes hinzunehmen oder sollte man sich lieber den weltlichen Ursachen von Naturkatastrophen zuwenden – und Lissabon sowie die staatliche Verwaltung Portugals, damals eine im Niedergang begriffene Kolonialmacht, nach rational-säkularen Grundsätzen wiederaufbauen? Heute denkt man spontan an das Erdbeben von Fukushima, das zum Ausstieg aus der Atomenergie in Deutschland und anderen Ländern führte. Dabei lösen auch Menschen durch intensiven Bergbau Erdbeben aus; Erdkrater im Ruhrgebiet zeigen an, wie eine ganze Region stückweise absinken kann (siehe Abb. 24). Das erzeugt immense »Ewigkeitskosten«, d.h. auch künftige Generationen bleiben also im Wortsinn mit der Tiefenzeit des Erdsystems verbunden. Wie unterschiedliche Resilienzen gegenüber Erdbeben beispielsweise in Japan und im Iran zeigen, verschärft ihr Auftreten Ungleichheit in vulnerablen Gesellschaften. Welche Vorsorge kann man hier treffen? Von welchen Formen anthropogener Seismizität sollte man sich endgültig verabschieden?
Abb. 23: João Glama Strobërle, »Allegory to the 1755 Earthquake«, 1755.
Bild: João Glama Strobërle 1755, Quelle: © Museu Nacional de Arte Antiga, Lisboa 2006
Abb. 24: Bergbauschäden im Ruhrgebiet. Die genaue Lage vieler potentiell vom Einsturz gefährdeter Stollen ist aufgrund des schieren Umfangs des im Ruhrgebiet betriebenen Bergbaus kaum noch zu ermitteln.
Foto: Thissen 2017, Quelle: © dpa-Picture-Alliance 2017
Das Jahr ohne Sommer
Vulkane sind eine bedeutende Größe für das Leben auf dem Planeten Erde, welche die Temperatur und Zusammensetzung der Atmosphäre stets beeinflusst haben. Extrem war das im Jahr 1816 der Fall, als die Ascheemissionen des indonesischen Vulkans Tambora die Sonne weltweit verdunkelten, wie John Constable sogar an der Südküste Englands dargestellt hat (Abb. 25). Verdunklung und Abkühlung verursachten vielerorts Hungersnöte, ein Anstieg sozialer Ungleichheit und politische Konflikte waren die Folge (Luterbacher/Pfister 2015, Wood 2015, Pfister/White 2018, Schurer et al. 2019, NoghaniBehambari et al. 2020). Zunehmend verdichten sich heute Hinweise, dass auch der anthropogene Klimawandel Vulkanaktivität beeinflusst (Sigmundsson et al. 2010, Doocy et al. 2013, Kutterolf et al. 2013, Fasullo et al. 2017). Der Schwund von Eismassen nach dem Ende der letzten Vergletscherungen vor dem Beginn des Holozäns vor etwa 11.700 Jahren bewirkte erhöhte Seismizität, was zur postglazialen Ausdehnung der äußersten Erdschicht (Lithosphäre) führte. Großflächige Eismassenverluste im vergletscherten vulkanischen Terrain verringern die Belastung der Kruste und des obersten Mantels, erleichtern die Magmabildung und ihren Aufstieg in die Kruste und lassen Magma leichter an die Oberfläche gelangen. Am Ende der letzten Vergletscherung nahm die Häufigkeit von Vulkanausbrüchen in Island um mehr als das Zehnfache zu. Auch in der Antarktis sind Vulkane jener vergangenen Erdzeitalter zu finden, wie etwa der Mount Sidley (Abb. 26). Die Kenntnis der immensen und potentiell abrupten Wechselwirkungen zwischen Vulkanen und Menschen wirft die aporetisch klingende Frage auf, welche Beziehung Menschen zu Vulkanen besitzen und wie diese in Zukunft zu gestalten wären (Wilson et al. 2012, Palmer 2020).
Abb. 25: Darstellung der Verdunklung in Weymouth Bay 1816 infolge des Vulkanausbruchs Tambora. Gemalt von John RA Constable während seiner Flitterwochen.
Bild: John Constable 1816, Quelle: © Victoria and Albert Museum, London
Abb. 26: Wie der mit rund 4.200 Metern höchste Vulkan der Antarktis, der Mount Sidley, liegen zahlreiche Vulkane unter teils riesigen Eismassen verborgen und könnten beim Abschmelzen wieder aktiv werden.
Foto/ Quelle: © NASA 2020b
Agent Orange
Mit dem Begriff der »Planetschaft« soll verdeutlicht werden, was der Begriff der Landschaft in seiner regionalen Fokussierung auf bestimmte Gegenden und imaginäre Plätze zu leisten vermochte: dass Regionen unseres Planeten lokalräumlich geprägt, aber stets planetar überformt sind. Die Verschränkung dieser Planetschaften wird besonders anschaulich beim ultimativen Mittel des Machterwerbs: dem Krieg. Topographische Gegebenheiten, genauer: deren Nutzung durch Kriegsparteien sind von jeher ein entscheidender Faktor für den Ausgang kriegerischer Auseinandersetzungen, wobei den Kriegsverlauf kurzfristige Wetterveränderungen genau wie bei langfristigen Auseinandersetzungen die Jahreszeiten beeinflussen können (Gerste 2016). Bei der legendären Varusschlacht 9 n. Chr., welche die Bemühungen Roms die rechtsrheinischen Gebiete zu erobern beendete, spielten die durch starke Regenfälle zusätzlich versumpften Waldgebiete eine entscheidende Rolle (McNeill 2004, Wolters 2016). Auf unübersichtliches Terrain und langgezogene Wegstrecken gelockt, konnten die Römer ihre für Schlachten auf offenem Feld ausgelegten Vorteile nicht ausspielen. Zahlreiche weitere Beispiele, wie sich Planetschaften mit Einwirkung von Nebel, Wind oder Sonne auf das Kriegsgeschehen auswirken, sind bekannt: von der Niederlage Xerxes I. aufgrund massiven Flottenverlusts durch Stürme bis zum Nebel im Spätsommer 1716, der George Washington die Evakuierung seiner antibritischen Streitmacht nach Manhattan ermöglichte (siehe Abb. 27).
Abb. 27: George Washington leitet, geschützt von Nebel und Dunkelheit, den Rückzug über den East River ein. Stich von J.C. Armytage nach einem Gemälde von M.A. Wageman: Rückzug bei Long Island.
Bild: J. C. Armytage nach M.A. Wageman ca. 1860, Quelle: © National Archives photo no. 148-GW-174
War in derartigen Planet-Mensch-Beziehungen der Planet über Jahrtausende der nahezu allein bestimmende Pol, verändert der Mensch mit kriegerischen Mitteln zunehmend auch den Planeten (Hupy 2008, Westing 2013, Pathak 2020). Dazu zählen verseucht zurückgelassene Truppenstützpunkte ebenso wie die bis heute belastenden Auswirkungen des 2. Weltkriegs (Martini 2015, Short 2016, Laakkonen et al. 2017, Daskin/Pringle 2018) und späterer Kriege und Bürgerkriege. Auch der Einsatz und Test von Atomwaffen wird aufgrund seiner über den gesamten Planeten verstreuten sowie tiefenzeitlich messbaren Rückstände als Startpunkt des Anthropozäns herangezogen (Prăvălie 2014). Auf besonders perfide Weise anschaulich ist der Einsatz des chemischen Entlaubungsmittels Agent Orange zwischen 1965-1970 während des Vietnamkriegs; das von der »US-Air Force« eingesetzte Herbizid sollte das Aufspüren der Nationalen Front für die Befreiung Südvietnams erleichtern. Da »Agent Orange« mit der organischen Verbindung 2,3,7,8-Tetrachlordibenzodioxin (TCDD) hochgiftig war, erkrankten und erkranken weiter nicht nur hunderttausende Vietnamesïnnen, sondern auch fast 200.000 US-Soldatïnnen. Vietnam wird noch Jahrzehnte an den Spätfolgen leiden, in Sedimenten kann TCDD über 100 Jahre bestehen bleiben und sich über Erosion während des Monsuns in Nahrungsmittelkreisläufe übertragen (Olson/Morton 2019). Starben die ersten Opfer vor allem an Krebs, erlitten deren Kinder schwere Geburtsfehler, die nunmehr in die dritte und vierte Generation weitergegeben werden (siehe Abb. 28).
Abb. 28: Nguyễn Quốc Tri, »Victim of Agent Orange«, Acrylic on Canvas 2011. Das »Victim of Agent Orange« betitelte Bild ist Teil einer Stilrichtung, die weniger die Grausamkeit der Behinderung als das Menschsein der Betroffenen in den Vordergrund stellt.
Bild: Nguyễn Quốc Tri 2011, Quelle: © Schweik 2012
Da so Planetschaften langfristig zerstört werden, wird der seit Jahrzehnten existierende Ruf nach dem Straftatbestand des Ökozids immer lauter, wie im nächsten Kapitel noch ausgeführt wird (Higgins et al. 2013). Auch wenn Kriege nicht gänzlich zu verhindern sein werden, sollte das nicht zur langfristigen Auslöschung der Lebensgrundlagen führen und Planetschaften in ihrer vollen Funktionalität erhalten bleiben? Und wie könnte in Zeiten der Gründung einer »US Space Force« eine Ökozid-Regel für den interplanetaren Raum aussehen?
Beinahe-Weltkrieg
Am 17. Mai 1967 fiel das »Ballistic Missile Early Warning System« der USA in mehreren Ländern aus. Von den Militärs wurden daraufhin schon Bomber mit Atomwaffen bestückt, weil sie vermuteten, die Sowjetunion habe das Frühwarnsystem für einen bevorstehenden Angriff abgeschaltet. Zum Glück konnte der »Air Weather Service« den Irrtum rechtzeitig aufklären. Die Originalnotizen (siehe Abb. 29) zeigen, dass der Auslöser Sonnenstürme waren, die nicht nur das Frühwarnsystem gestört hatten, sondern auch den Funk, so dass einmal in der Luft gewesene Bomber nicht mehr hätten zurückgerufen werden können. Bei dem als Weltraumwetter bezeichneten Phänomen werden atomare Partikel durch Sternenaktivität emittiert, welche die Magnetosphäre der Erde durchdringen können; Menschen bewundern diese »Nordlichter«, die wie im asiatischen Raum 1770 und beim Carrington Event 1859 auch weiter südlich auftreten können. Starke Sonnenwinde können zum Totalausfall technologischer Infrastrukturen wie dem Blackout der Stromversorgung, der Navigations- und Telekommunikationssysteme führen (Baker 2009, Lanzerotti 2017, Riley et al. 2017), deren potentielle Kosten die Amerikanische Geophysikalische Union auf täglich 40 Mrd. Dollar beziffert. Nachdem derartige Hinweise, die Menschheit sei bisher nur knapp einer solchen Katastrophe entgangen, den unbeachteten frühen Warnungen vor einer Pandemie ähnelten, hat sich die Politik des Themas jetzt angenommen. Das US-Repräsentantenhaus verabschiedete am 27. Juli 2020 den »Promoting Research and Observations of Space Weather to Improve the Forecasting of Tomorrow Act«, der auf einen »National Space Weather Strategy and Action Plan« des Weißen Hauses vom März 2019 folgte.
Auch ganz direkt sind Menschen vom Weltraumwetter beeinflusst: Studien mit statistischer Signifikanz weisen nach, dass sich der menschliche Herzschlag durch kosmische Strahlung und geomagnetische Aktivität verändert (Belisheva 2019). Als andere Seite der Wechselwirkung ist seit Mitte des 20. Jahrhunderts das Phänomen des »anthropogenic space weather« (anthropogenes Weltraumwetter) zu beobachten (Guglielmi/Zotov 2007, Atkinson 2017, Gombosi et al. 2017, NASA 2017); die negativen Auswirkungen atmosphärischer Kernwaffentests sind noch Jahre später in der Magnetosphäre nachzuweisen, wie etwa in Folge des Atomtests »Hardtack-Teak« 1958 (siehe Abb. 30). Der umgekehrte Effekt auf die Magnetosphäre ist jedoch auch möglich: Längstwellen, die zur Kommunikation mit U-Booten eingesetzt werden, bieten einen zusätzlichen Schutz zum Van-Allen-Strahlungsgürtel der Erde. So ergeben sich hier Fragen darüber wie Wissensökologien zwischen Menschen und Weltraumwetter zu erschließen sind: Braucht es den Weltraumwetterbericht analog zum täglichen Wetterbericht? Vorgeschlagen wird die Resilienz gegen diese potentielle Wirkmacht des Weltraumwetters institutionell zu verstärken (Schrijver et al. 2015).
Abb. 29: Beobachtungsnotizen zu den Sonneneruptionen (weiß im Bild) im Mai 1967.
Grafik: National Solar Observatory, Quelle: Knipp et al. 2016: 615
Abb. 30: Nicht die Morgenröte: Der Atomwaffentest »Hardtack-Teak« in über 76 km Höhe am 1. August 1958 schwächte die Magnetosphäre.
Bild: Nguyễn Quốc Tri 2011, Quelle: © Schweik 2012
Zyklon Bhola
Auch tropische Wirbelstürme, die ähnlich am Nordpol des Mars zu beobachten sind (Abb. 31), gehören zur planetaren Normalität und können schwerwiegende politische Folgen haben. Besonders schwer mit einer Windgeschwindigkeit bis zu 240 km/h getroffen wurde im November 1970 das damalige Ostpakistan und das indische Westbengalen (Hossain et al. 2008, Hossain 2018, Biswas/Daly 2020). Über 300.000 Menschen starben, das nur wenige Meter über dem Meeresspiegel liegende Gebiet wurde weitestgehend verwüstet, darunter zur Nahrungsmittelversorgung wichtige Ackerflächen, über eine Million Vieh und unzählige Fischerboote. Die halbherzige Hilfe der pakistanischen Regierung trug dazu bei, dass in den ersten freien Wahlen des Landes die Awami-Liga, welche die Bengali sprechende Mehrheitsbevölkerung repräsentierte, die »People Party of Pakistan« deutlich schlagen konnte. Infolge der Nichtanerkennung der Wahl durch Präsident Yahya Khan kam es zu einem Sezessionskrieg (mit Zügen eines Stellvertreterkriegs der Großmächte), an dessen Ende 1971 die Unabhängigkeit Bangladeschs stand. Führt der Bhola-Zyklon auf der einen Seite die Hilflosigkeit von Menschen trotz aller Techniken im Umgang mit den planetaren Kräften vor Augen, so demonstriert er andererseits die metabolischen Verschränkungen zwischen Mensch und Planet. Noch deutlicher werden sie nach den jüngsten Ergebnissen der Klimaforschung, die kaum Zweifel daran lassen, dass die menschenverursachte Erderwärmung das häufigere Auftreten von tropischen Wirbelstürmen bewirkt hat und weiter bewirken wird (Seneviratne et al. 2012, Knutson et al. 2020). Zyklone bilden sich aufgrund der Oberflächentemperatur der Meere und wenn diese durch den Klimawandel ansteigt, nimmt auch deren Auftreten und Intensität zu. So ist es kein Zufall, dass sich 2020 knapp 30 Wirbelstürme im Atlantikbecken formierten, davon erstmals seit 1971 fünf gleichzeitig (Abb. 32). Ihre verheerenden Wirkungen treffen Gesellschaften sehr ungleich, da sich reichere Küstenbewohnerïnnen den Bau eines Damms oder die Migration in küstenferne Regionen eher leisten können. An diesem Beispiel stellen sich folgende Fragen: Wie ist zwischen Mitigation und Adaptation zu gewichten? Welche Ausgleichsmechanismen zwischen Verursachern und Betroffenen sind einzurichten? Kann etwa ein neuer Nansen-Pass, nunmehr für Klimaflüchtlinge, als Zeichen einer bedingungslosen Gastfreundschaft ausgegeben werden?
Abb. 31: Am Nordpol des Mars konnte am 27. April 1999 mit dem Hubble-Teleskop ein Zyklon aufgenommen werden, der jenen auf der Erde gleicht. Er hatte einen Durchmesser von ca. 1.600 km mit einem wolkenfreien Auge von ca. 300 km.
Foto: © Bell, Lee, Wolff, et al. & NASA 1999, Quelle: NASA 1999
Abb. 32: Am Morgen des 14. September entdeckte der Satellit »GOES-East« der »US National Oceanic and Atmospheric Administration« sechs tropische Stürme, die über dem Atlantischen und Pazifischen Ozean tobten, von links nach rechts: Tropensturm Karina im Pazifik, Hurrikan Sally über dem Golf von Mexiko, Hurrikan Paulette über den Bermudas, die Überreste des Tropensturms Rene, Tropensturm Teddy & Tropensturm Vicky.
Foto/Quelle: © NOAA 2020
Biosphere 2
Das Erdsystem ist als komplexes und adaptives System zu verstehen, in dem Wechselwirkungen zwischen den Teilsystemen der Erde (Biosphäre, Geosphäre, Atmosphäre, Hydrosphäre und Anthroposphäre) stattfinden. Diese Wechselwirkungen haben menschliches Leben erst ermöglicht, sie sind grundlegende Determinanten für unsere Existenz und beeinflussen Gesellschaften in allen Variationen, die wir zum Beispiel am Verhalten von Vulkanen oder Wirbelstürmen aufgezeigt haben. Dass die Gewissheit um unseren Einfluss auf das Erdsystem gewachsen war, bestätigte zu Beginn der 1990er Jahre der Versuch, es in Gestalt von »Biosphere 2« in Arizona in Miniatur nachzuahmen. Zusätzlich zu Modellrechnungen sollten erdsystemare Prozesse auf kleinerer Skala stattfinden, auch im Blick auf die Notwendigkeit negativer Emissionen (Avise 1994, Cohen/Tilman 1996). Fünf natürliche Habitate (Regenwald, Ozean, Feuchtgebiet, Savanne, Nebelwald) und zwei anthropogene (Landwirtschaft, menschliches Habitat) wurden dort angelegt. Die Besiedelung mit acht Menschen erfolgte in einem ersten Versuch 1991-1993 (Abb. 33) und wurde in einem zweiten mit sieben Teilnehmenden 1994 wiederholt (Nelson 2017, 2018, Rand 2020). Beide Experimente scheiterten daran, die »Biosphere 2« dauerhaft ohne äußere Hilfe zu betreiben; u.a. absorbierte der Stahlbeton Sauerstoff, und Mikroben im Acker reicherten die Atmosphäre mit zu viel Stickstoff und Kohlendioxid an. Auch mussten im Miniaturformat kürzere geochemische Zyklen angenommen werden. Hinzu kamen Konflikte innerhalb der Besatzung, wie im Dokumentarfilm »Spaceship Earth« (2020) zu sehen ist. Mittlerweile ist die Konstruktion an die University of Arizona übergegangen und wird zu Forschungszwecken genutzt.
Wir wissen nun, dass wir höchstens eine reduzierte Biosphäre nachahmen können, die weniger artenreich ist. Der Mensch ist auch bei hohem Aufwand noch nicht in der Lage, das Erdsystem zu imitieren; diese Einsicht legt nicht nur Vorsicht bei geplanten Manipulationen des Erdsystems wie beim Geoengineering nahe, sie demonstriert auch die Schwierigkeit einer dauerhaften Besiedlung fremder Planeten, die in Abbildung 34 imaginiert wird. Auf dem Mars müsste ja nicht nur das Kunststück vollbracht werden, einen Teil des Erdsystems nachzuahmen, sondern ein Hybrid mit dem »Marssystem« herzustellen. Als Gedankenexperiment bleibt die Erfahrung interessant: Welches Wissen und welche Praktiken wären erforderlich, um das Erdsystem, wenn nicht nachzuahmen, so besser verstehen zu können?
Abb. 33: Die erste Crew inmitten der »Biosphere 2«.
Foto: Philippe Plailly, Quelle: © Science Photo Library 2020
Abb. 34: Besiedlungsstrukturen auf dem Mars sollen mit auf dem Mars befindlichen Materialien und mittels 3D-Bautechnik realisiert werden, ein Garten ist auf dem 3. Stockwerk eingeplant (AI SpaceFactory).
Graphik: © AI SpaceFactory, Quelle: Global Uploads 2020
Pleistozän Park
Seit rund 11.700 Jahren stabile klimatische Umstände erlaubten der Menschheit sich niederzulassen (neolithische Revolution) und durch neue Herstellungsverfahren (im Zuge der industriellen Revolution) ein zwar ungleich verteiltes, aber insgesamt hohes Maß an Wohlstand zu erreichen. Die erdsystemare Stabilität des Holozän war eine Ermöglichungsbedingung: es war weder zu warm noch zu kalt, zu nass oder zu trocken, noch veränderte sich das Erdsystem zu rasch, als dass nicht Anpassungen möglich waren. Wir sind mit früheren Erdzeitaltern tiefenzeitlich verbunden und bringen mit dem Anthropozän ein eigenes hervor, in den Worten des Autors George Monbiot (2015): »It is a world of our making, but not of our choice«. Da Menschen einen entscheidenden Beitrag zur quartären Aussterbewelle leisteten, wie eindrucksvolle Funde (Abb. 35) nahe legen (Donlan 2005, Svenning et al. 2015), äußern sich nun Stimmen nicht nur für mehr Naturschutz(-parks), sondern für eine umfassende Renaturierung im Sinne der Wiederherstellung von Wildnis. In Ostsibirien schickt sich eine Gruppe um den Erdsystemforscher Sergey Zimov an, mit dem Pleistozän das dem Holozän vorangehende Erdzeitalter wiederzubeleben (Zimov 2005, Andersen 2017, Macias-Fauria et al. 2020, Popov 2020). Der Spieß wird gewissermaßen umgedreht: Nicht die Menschheit ist Kind ihres Erdzeitalters, sondern Menschen erschaffen sich modellhaft das Erdzeitalter ihrer Wahl (Donlan et al. 2006). Es entsteht zunächst auf 16 km2 eine typische Wildlandschaft des Pleistozän, auf der wieder Jakutenpferde, Rentiere, Elche, Moschusochsen, Europäische Wisente und Altai-Marale angesiedelt wurden. Das »Harvard Woolly Mammoth Revival Team« unter Leitung des Molekularbiologen George Church (Callaway 2015) erforscht sogar die Möglichkeit zur Wiederansiedlung von Mammuts (Abb. 36). Ziel des Pleistozän-Parks ist ein vergangenes, vom Menschen zerstörtes, Ökosystem wiederzubeleben in der Hoffnung, dass Permafrostböden länger gefroren bleiben und weniger CO2 und Methan frei geben. Dazu soll beitragen, dass zum einen die großen Pflanzenfresser (Megaherbivoren) »Schnee räumen«, sodass der Boden im Winter stärker auskühlt, zum anderen dass der Übergang von Tundra und Taiga zu Steppentundra eine höhere Sonnenlichtrückstrahlung mit sich brächte. Die Fragen sind hier: Können wir Beziehungen zu vergangenen (und zukünftigen) Erdzeitaltern gestalten, die nicht nur extraktiv sind, sondern auf Renaturierung (Erhaltung der Natur) zielen? Welche Wechselwirkungen sind kontrollierbar, welche außerhalb des menschlichen Einflusses?
Abb. 35: In der Nähe des westrussischen Don-Flusses ist jüngst ein 25.000 Jahre altes kreisförmiges Gebäude von einem internationalen Forscherïnnenteam unter Leitung der Universität Exeter freigelegt worden. Gefunden wurden Knochen von mindestens 60 Mammuts, deren Überreste in die Wände eingearbeitet waren, möglicherweise um Aasfresser anzulocken.
Foto/Quelle: © A.E. Dudin
Abb. 36: »Make the Pleistocene great again?« So stellen sich Pleistozänkünstlerïnnen ein Steppen-Ökosystem vor, in dem auch das Mammut, das vor etwa 4.000 Jahren ausstarb, lebt.
Bild: Anton 2008 (© 2008 Public Library of Science), Quelle: Wikimedia 2020c
Anthropause
Zuletzt möchten wir uns der Frage widmen: Wie klingt eine Pandemie? Das erscheint abseitig, doch mit der 2019 einsetzenden Pandemie verstummte die Welt ein wenig: weniger Auto- und öffentlicher Nahverkehr, weniger Baustellen in Betrieb, gecancelte Partys und Konzerte, reduzierter Lärmpegel in Innenstädten, in Parks und Gaststätten. Anwohnerïnnen stark befahrener Straßen konnten ihre Fenster wieder ein Stück weit öffnen. Messbar und wahrnehmbar verebbten die urbanen Geräuschkulissen im Stillstand des gesellschaftlichen Lebens. Der sumerische Gott Enlil wäre beglückt gewesen, störte ihn der Lärm der Menschen doch so sehr, dass er ihnen eine Sintflut schickte, und in seinem Sinne dachten wohl schon Julia Barnett Rice, Gründerin der »Society for the Suppression of Unnecessary Noise« (1906), und Theodor Lessing, Gründer des »Deutschen Antilärm-Vereins« (1908). In der Stadt lebende Singvögel haben sich dem dortigen Lärmpegel angepasst und bringen ihre Balzgesänge einige Dezibel lauter aus. Freilich war in der pandemischen Stille im Frühjahr 2020 auch jedes unliebsame Geräusch wahrnehmbar, womit den Großstädten auch die ihnen eigene Anonymität und »Blasiertheit« (Simmel) verloren ging. Denn die Stille war erzwungen; sie mutete vielen eher unerträglich denn als Geschenk an, wie einigen Wildtieren, die sich nun in die Großstädte trauten (Rutz et al. 2020). Mit der Pandemie öffnete sich so auch ein Gelegenheitsfenster, dem Planeten zu lauschen und besser zu verstehen, wie wir außerhalb des durch unsere Sinne direkt Wahrnehmbaren mit der Erde und ihrer Klangwelt vom Erdinnern bis in die Atmosphäre verbunden sind. Kamen der Verkehr und die Industrieanlagen zum Erliegen, nahm auch der seismische Lärm, also die Summe der Vibrationen in der Erdkruste, derart ab, wie das sonst nur an Feiertagen der Fall ist. Sogar die Art, wie sich die Erde bewegte, änderte sich unmerklich, aber messbar (Gibney 2020, Lecocq et al. 2020) (siehe Abb. 37).
Abb. 37: Am Beispiel Belgiens lässt sich zeigen, dass mit dem Lockdown im Frühjahr 2020 die seismische Aktivität um rund ein Drittel zurückging.
Grafik: Royal Observatory of Belgium 2020, Quelle: Gibney 2020: 176, © Springer Nature Limited 2020
Eine Geoakustik ohne störende menschliche Einflüsse erlaubte, dem Planeten zuzuhören und weiteres zu erhorchen: Wie knarzen Kontinentalplatten? Wo drohen alte Bergbaustollen einzubrechen? Was hat der Planet zu den Stauseen zu sagen? Ohne menschenverursachtes Rauschen können Detektoren planetare Geräusche wie etwa die Ausbreitung von Meereswellen infolge von Vulkanausbrüchen besser aufzeichnen. Nicht nur im Erdinnern, auch im Meer herrschte zu Beginn der Pandemie eine Ruhe, wie es sie vor den Küsten der USA zuletzt und ebenfalls ungewollt infolge von Nine Eleven gab: kaum Verankerungen von Windkraftanlagen und Ölbohrungen, weniger Sonare und Schiffsschrauben, welche sich in die Kommunikation von Walen einmischen und diese zuweilen verstummen lässt. Bereits zu Jacques Cousteaus Zeiten war »Die schweigende Welt« (1956) keine angemessene Charakterisierung der Unterwasserwelt mehr.
Abb. 38: Überschneidungen zwischen dem Sound des Meeres und seiner Bewohner sowie dem Menschen sind zur planetaren Normalität geworden und führen jedoch dazu, dass etwa die Kommunikation der Meeresbewohner zunehmend erschwert wird.
Grafik: Seiche, Quelle: Jones 2019: 161, © Springer Nature Limited 2019
Die Hydroakustik lehrt uns, dass sich der Mensch sogar durch den Klimawandel in die Klangwelt der Ozeane eingebracht hat: Durch die Versauerung breitet sich insbesondere Schall im niedrigen Frequenzbereich wesentlich weiter aus und trägt damit zur ohnehin immer lauter werdenden Unterwasserwelt bei (siehe Abb. 38). In Summe verdoppelte sich die Schallintensität unter Wasser seit 1950 alle zehn Jahre.
Vom Meer gelangte das Leben vor Urzeiten an Land, wo heute die Bioakustik den Zustand von Ökosystemen minutiös dokumentiert. Ist ein Ökosystem wie der Wald intakt, sind viele akustische Nischen besetzt, denn die Laute jeder Spezies werden der ihr je eignen akustischen Nische zu Gehör gebracht. Algorithmische Auswertungen sind zunehmend in der Lage, einzelne Tierarten zu identifizieren, was im Dschungel ebenso wie im Großstadtdickicht die komplexen Wechselwirkungen zwischen Menschen und der sie umgebenden Umwelt aufzuzeigen vermag. Auch in diese terrestrische Geräuschwelt ist der Mensch selbstredend mit dröhnender und leuchtender Infrastruktur vorgedrungen – so lässt etwa künstliches Licht Vögel vor »Tagesanbruch« singen. In größerer Höhe hören wir Atmosphärenakustik: Blitze, Meteore, Vulkanausbrüche, Erdbeben, heftige Stürme, das Polarlicht oder kollidierende Meereswellen sind zu unterscheiden von menschengemachten Geräuschen wie chemischen und nuklearen Explosionen, Überschallflugzeugen, Windturbinen oder wiedereintretenden Raumfahrzeugen. Mit zunehmendem Wissen um den Menschen als geologischen Faktor, der wie gezeigt auch Erdbeben auslösen kann und seinen Beitrag zu Extremwettern leistet, verschwindet auch hier die scharfe Trennung zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Ursache. Der Mensch war immer schon eingemeindet in eine atmosphärische Geräuschwelt.
Die Verbundenheit des Menschen mit dem Planeten ist selten nur visuell wahrnehmbar, es bedarf der Kombination unserer Sinne sowie ihrer technischen Erweiterung, um die Beziehungen der planetaren Spezies mit dem Planeten als Ganzem erfassen zu können. In Bereiche, die vom artifiziellen Lärm übertönt werden, sind wir bisher kaum vorgedrungen. Ein Verständnis dafür entwickeln auch Klanglandschaften, die Natur- und Klangforscher wie Susan Philipsz in »Lowlands« (47 Film 2010, Philipsz 2014) oder Bernie Krause (2013, 2015) in »Wild Soundscapes« erzeugen und dokumentieren. Sie ermöglichen die immersive Verbindung zwischen alltäglicher und tiefenzeitlicher Akustik, indem sie ein begieriges Bewusstsein für Landschaften schaffen, die aktive Resonanz statt passiver Ressource sind. Das geschieht ohne direkte Handlungsmaxime, ermuntert aber zu einem alternativen Verständnis unseres Daseins als planetare Spezies. Die pandemische Stille könnte das Momentum geschaffen haben, in planetare Klangwelten einzutauchen, die indirekt Auskunft geben, wie es generell um die Bewohnbarkeit des Planeten und die Gastfreundschaft steht. Die Pandemie machte eine vielstimmige planetare Klangwelt hörbar, die in Abbildung 39 als »acoustic ecology« (akustische Ökologie) von Leah Barclay zusammengefasst ist. Menschen haben diese Klangwelt beeinflusst, verändert, sich mit ihr verbunden, aber nicht bewusst. Insofern sind, um einen abgenutzten Slogan zu paraphrasieren, auch Geräusche politisch.
Abb. 39: »Acoustic ecology«.
Grafik: © Barclay 2017, Quelle: Barclay 2019: 162
Alþingi Lögberg Luftbild
Foto: Bob T., Quelle: Wikipedia 2017