I. Overview
»So komm, daß wir das Offene schauen.«
Friedrich Hölderlin 19461
Wer den planetaren Denkraum betritt, kommt mit ins Offene. »Planetary thinking« ist kein etabliertes Wissensparadigma, auch nicht die allerneueste wissenschaftliche Wende. Wir propagieren keinen »planetary turn«, sondern präsentieren und problematisieren eine Denkrichtung, die in räumlicher, zeitlicher und materieller Hinsicht auch über das gerade viel diskutierte Anthropozän hinausreicht und dem Nachdenken über die Zukunft der Menschheit neue Möglichkeiten eröffnet. Schon eine beträchtliche Zahl von Einzelautorïnnen und Forschungszentren übt das planetare Denken ein.2
Planetar geht zurück auf »planes«, das altgriechische Wort für umherschweifend und irrend, womit die Losgelöstheit der Sterne im Weltall umschrieben wurde. Das Wort wanderte ins Lateinische (»planetae«) und Mittelhochdeutsche (»planete«), in ebenjener Doppeldeutigkeit, die ihm auch der aktuelle Duden gibt: als ein Himmelskörper unter vielen beziehungsweise als dieser Planet Erde. Das markiert ein Hier und Dort, Unten und Oben, Innen und Außen, die in planetarer Perspektive doch untrennbar eins sind. Jan Vermeer hat in seinen Gemälden »Der Geograph« und »Der Astronom« (1668/9) das Zwillingspaar des Erd- und Himmelsglobus dargestellt und so die Parallelgeburt neuzeitlicher »Erdkunde« und »Sternenkunde« festgehalten. Das Fernrohr, eine Weiterentwicklung von Linsen für eine bessere Nahsicht durch Brillen, wurde zur Sternenbeobachtung in den Himmel gerichtet. Ein früher Fund waren »planetarische Nebel«, kugelförmige, nur planetenähnliche Himmelsobjekte aus Gas und Plasma, die ein verblassender Stern abgestoßen hat, dessen Tod einige zehntausend Jahre überdauert. Aktuell sind rund 1.500 planetarische Nebel in der Milchstraße aufgelistet, deren Vielgestaltigkeit und Farbkraft mit bloßem Auge kaum erkennbar ist und sich uns namentlich auf den von der Hubble-Expedition übermittelten Bildern zeigt (Kohoutek 2001) (Abb. 2).
Abb. 2: »Das ist kein Stern!« Dumbbell Nebula, ca. 1.200 Lichtjahre entfernt, von dem Astronomen und Kometenjäger Charles Messier 1764 als »Messier 27« (heute: NGC 6853) in seine Liste aufgenommen.
Foto: ESO 1998, Quelle: Wikipedia 1998
Bezeichnete »planetarisch« anfangs vornehmlich solche extraterrestrischen Regionen, wurde der Begriff in der Neuzeit zur Introspektion des Planeten Erde verwendet, dessen ungeahnte Weite und biologische, geologische und kulturelle Vielfalt durch Reiseberichte, Handelsverkehr und Telekommunikation ins allgemeine Bewusstsein traten. Die Dialektik von Einheit und Differenz hat Johann Gottlieb Herder in den »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« (1784-1791) behandelt, wo er die Erde als »Stern unter Sternen« tituliert und eine Entsprechung zwischen Kräften der Planeten und denen eines jeden Menschen postuliert, wodurch »der Bau des Weltgebäudes […] den Kern meines Daseins« (Herder 1965: 20) sichert. »Erde« wurde vor allem als räumliche Größe vermessen und als physisch-materielle Grundlage der menschlichen Existenz klassifiziert (damals noch mit klarer eurozentrischer Ausrichtung und imperialer Absicht), die »Welt« sodann als politische Bühne und symbolisch-kulturelle Einheit konzipiert. Johann Wolfgang von Goethes Idee der Weltliteratur adressierte die Vielzahl der Sprachen und Nationalliteraturen, die durch wechselseitige Übersetzungen und die Appropriation von Stoffen, Motiven und Narrativen der besten Werke den Aufbau einer gemeinsamen Welt in Aussicht stellen. Die Idee des Kosmopolitismus stellte dem eine universale normative und moralische Ordnung zur Seite, die bei Immanuel Kant in der Fähigkeit (und Verpflichtung) zur Gastfreundschaft (Hospitalität) gipfelt (Albrecht 2005). Sie gibt dem Fremden auf Erden das Recht, nicht als Fremdling behandelt zu werden. Parallel formierte sich der Weltmarkt und schuf mit dem freien Handel und arbeitsteiliger Produktion das, was heute unter »Globalisierung« subsumiert wird. Globus – Welt – Erde, die Trinität des modernen, säkularen Menschen, bekommt im planetaren Denken eine vierte Dimension.
Die dreidimensionale Ansicht des Planeten Erde hat ihre Grenzen, weshalb die Literaturwissenschaftlerin Gayatri Spivak vorgeschlagen hat, der Planet solle den Globus »überschreiben« und die Dimensionen von »Welt«, »Erde« und »Globus« auf eine höhere Stufe heben. Heutige Menschen sollten sich eher als planetare Subjekte denn als globale Agenten, lieber als planetare Geschöpfe denn als Untereinheiten des Globalen betrachten – mit einem Wort: eher planetar denken als kontinental, global oder »weltlich« (worldly) und dabei vor allem die vorherrschende, ökonomisch vereinseitigte Vorstellung von Globalisierung hinter sich lassen (Spivak 2003). Hier im Originalton:
»I propose the planet to overwrite the globe. Globalization is the imposition of the same system of exchange everywhere. In the gridwork of electronic capital, we achieve that abstract ball covered in latitudes and longitudes, cut by virtual lines, once the equator and the tropics and so on, now drawn by the requirements of Geographical Information Systems. To talk planet-talk by way of an unexamined environmentalism, referring to an undivided ›natural‹ space rather than a differentiated political space, can work in the interest of this globalization in the mode of the abstract as such. […] The globe is on our computers. No one lives there. It allows us to think that we can aim to control it. The planet is in the species of alterity, belonging to another system; and yet we inhabit it, on loan. It is not really amenable to a neat contrast with the globe. I cannot say ›the planet, on the other hand.‹ When I invoke the planet, I think of the effort required to figure the (im)possibility of this underived intuition.« (Spivak 2003: 72)
Spivak hat eine Denkfigur erneuert, die schon im intellektuellen Diskurs nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg präsent war und eine Reihe holistischer und kosmologischer Konzepte hervorbrachte (Pitt/Samson 1998). Dazu zählt die in den 1920er Jahren von dem russischen Geologen Vladimir Vernadsky vorgedachte »Noosphäre«, die eine kontinuierliche Evolution des Planeten Erde in drei Phasen postuliert: auf die physikalische Formierung der Geosphäre und die Entstehung des Lebens in der Biosphäre folgt die Herausbildung menschlichen (Selbst-)Bewusstseins, die Anthroposhäre. Die Evolutionstheorien von Charles Darwin und die marxistische Geschichtsphilosophie wurden hier im Anschluss an den Lebensphilosophen Henri Bergson (»élan vital«) und den Paläontologen und Jesuitenmönch Pierre Teilhard de Chardin ins spirituelle und religiöse Denken erweitert. Letzterer stellte die Frage:
»Was zögern wir, unser Herz für den Ruf der Welt in uns, für den Sinn der Erde zu öffnen? […] Menschen leiden und vegetieren in ihrer Isolation; nötig ist das Eingreifen eines höheren Impulses, um sie über den toten Punkt hinaus hinauszubringen, an dem sie verharren, und sie in den Bereich ihrer tieferen Neigungen zu versetzen. Der Sinn der Erde ist der unwiderstehliche Druck, der sie zu einem bestimmten Zeitpunkt zu einer gemeinsamen Begeisterung vereinen wird […] Das Zeitalter der Nationen ist vorbei. Wenn wir nicht umkommen wollen, müssen wir unsere alten Vorurteile abschütteln und die Erde bauen.« (Wadlow 2020)
Vorläufer planetaren Denkens
Planetares Denken ist nicht identisch, aber verwandt mit (und Teil von) Kosmologien und Kosmogonien, den Lehren von Ursprung, Entwicklung und Strukturen unseres Planeten im Universum. Die Kosmologie fungiert heute als Spezial-Disziplin der Naturwissenschaften, die sich auf ein Standardmodell des Universums geeinigt haben; doch begleiten kosmologische Narrative die Geschichte der Menschheit in kultisch-sakralen, mythisch-narrativen, ästhetischen und philosophischen Varianten an unterschiedlichen Orten des Globus bis in die Gegenwart. Im Kern stehen jeweils »letzte Fragen« nach Raum und Zeit, nach der Herkunft und Bestimmung des Menschen, auch nach dem Tod; es geht um die Bedingungen, unter denen man in Frieden mit anderen Menschen und im Einklang mit der natürlichen Umwelt leben kann, auch um die Abhängigkeit von äußeren und höheren Mächten und um Transzendenzerfahrungen jenseits primärer Sinneswahrnehmung. Konstitutiv war der Dualismus von Himmel (als imaginierter Sitz der Götter) und Erde (als vorhandener Lebenswelt). Während kosmische Phänomene im abendländisch-westlichen Denken rationalisiert wurden, haben Mythologien in außereuropäischen Kulturen, aber auch in der Alltagswelt modern-westlicher Gesellschaften einen größeren Stellenwert behalten. Auch in der ökologischen Debatte wurden sie wieder als Korrektive einer analytisch-instrumentellen Verkürzung des Naturverständnisses herangezogen; und übrigens können selbst »strenge« Naturwissenschaftlerïnnen den religiösen Glauben oder metaphysische Konstrukte mit ihrem rationalen Weltbild vereinbaren (Joas 2020). Durch ökologische Krisen und Katastrophen haben Sinnfragen erneut an Bedeutung gewonnen, und in diesem Kontext steht die Revitalisierung der Kosmologien, etwa im Neo-Konfuzianismus (Beispiel I-Ging) und Neo-Hinduismus (Beispiel Veda). Wir zeigen hier nur zwei Varianten der Visualisierungen kosmologischen Denkens (Abb. 3):
Abb. 3: Der Unicodeblock I-Ging-Hexagramme (engl.: »Yijing Hexagram Symbols«, 4DC0 bis 4DFF) mit den Zeichen der 64 aus jeweils sechs durchgehenden oder einmal gebrochenen Linien bestehenden Hexagramme des chinesischen Buches der Wandlungen I Ging.
Quelle: Wikipedia 2013
Veden sind in Liedern und Rezitationen überlieferte Texte im hinduistischen Kulturraum, die das gesamte Wissen ab dem 5. Jahrhundert n. Chr. schriftlich erfasst hatten und im 19. Jahrhundert in der westlichen Welt rezipiert und von Schopenhauer als »Ausgeburt der höchsten menschlichen Weisheit« gewürdigt wurden. Hier sieht man eine farbenfrohe Visualisierung dieses Weltbildes im Neohinduismus (Abb. 4).
Abb. 4: Visualisierung des vedischen Kosmos.
Quelle: © Vedische Weisheit 2020
Eine frühe Ausprägung planetaren Denkens in der europäisch-abendländischen Sphäre stellte nach Heraklit die Philosophenschule der Stoa dar (Abb. 5), die sich ca. 300 v. Chr. um die Gründerväter Zenon, Kleanthes, Ariston und Chrysipp auf dem Athener Marktplatz formierte und im Römischen Reich mit Cicero, Seneca, Epiktet und Marc Aurel fortlebte; im 6. Jahrhundert n. Chr. mit dem Verlust der Schriften in Vergessenheit geraten, wurde die Stoa im Mittelalter wieder entdeckt und ist bis ins 21. Jahrhundert hinein philosophisch fruchtbar geblieben. Wir können hier schon die Aktualität der stoischen Triade von Logik, Physik und Ethik vorwegnehmen, die sich im planetaren Denken mit dem Zusammenspiel von holistischer Erkenntnistheorie, ökologischem Materialismus und nachhaltiger Politik replizieren wird (Weinkauf 2001, Schriefl 2019).
Abb. 5: Die Stoa des Attalos ist zu musealen Zwecken rekonstruierte hellenistische Wandelhalle auf der Athener Agora.
Foto: Adam Carr, Quelle: Wikipedia 2005
Einen ganz umfassenden Ansatz eines »allgemeinen Systemprogramms« formulierte die idealistische Philosophie in einem (erst 1907 entdeckten) Fragment, das einer gemeinsamen Denkanstrengung von Georg Friedrich Hegel, Friedrich Schelling und Friedrich Hölderlin im Tübinger Kolleg entstammen könnte (Abb. 6). Vor allem bei Letzterem wird die im Motto dieses Kapitels anklingende Ambition erkennbar, gegen die analytische Zergliederung des aufgeklärten Geistes einen allumfassenden ästhetischen Sinn zu behaupten, also letztlich eine neue Mythologie zu begründen, die alles Leben einschließt und die Fantasie nicht durch die Vernunft niederhält. Ungestüm haben die Verfasser eine Ethik, eine Physik »im Großen« und politische Ideen gefordert, die
Abb. 6: Faksimile der fragmentarisch überlieferten Schrift, die 1917 von Franz Rosenzweig in den Sitzungsberichten der Heidelberger Akademie der Wissenschaften veröffentlicht wurde.
Quelle: © Biblioteka Jagiellońska 2020
»das ganze elende Menschenwerk von Staat, Verfassung, Regierung, Gesetzgebung bis auf die Haut entblößen. Endlich kommen die Ideen von einer moralischen Welt, Gottheit, Unsterblichkeit, – Umsturz alles Afterglaubens, Verfolgung des Priestertums, das neuerdings Vernunft heuchelt, durch die Vernunft selbst. – Absolute Freiheit aller Geister, die die intellektuelle Welt in sich tragen und weder Gott noch Unsterblichkeit außer sich suchen dürfen. Zuletzt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, das Wort in höherem platonischen Sinne genommen.« (Hegel 1979: 234)3
Das kam einer Religionsstiftung nahe: »Monotheismus der Vernunft und des Herzens, Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst, dies ist’s, was wir bedürfen!« (ebd.). So wird auch der Überschwang der leicht abgedroschen und oft kitschig wirkenden Metapher der »Offenheit« bei Hölderlin besser verständlich.
Insbesondere Hölderlin war der Rückgriff auf den antiken Kosmos wichtig, bei ihm kommt auch schon die Auflehnung gegen die (noch in den Anfängen befindliche) Naturzerstörung durch Industrie, Verkehr und Verstädterung durch. Hatten die Verfasser des Systemprogramms eher kontemplativ am Schreibtisch, am Katheder oder unter einem Obstbaum Platz genommen, entspann Alexander von Humboldt sein »Systemprogramm« namens Kosmos auf beschwerlichen Weltreisen (Abb. 7).
Die Darstellung zeigt von Humboldt am Ende eines ungemein ertragreichen und vielseitigen Forscherlebens als ermüdeten Atlas, dem ein als ein Herkules in Löwenhaut verkleideter Tod die Weltkugel von den Schultern nimmt. »Kosmos« hieß das letzte, von Humboldt in einer ganzen Reihe von Vorlesungen vorbereitete Werk, das in fünf Bänden zwischen 1824 und 1862 (postum) erschienen ist. In einem Brief hat der Gelehrte das Vorhaben als »tollen Einfall« skizziert:
Abb. 7: Wilhelm von Kaulbach, Allegorie auf Humboldts Tod, Berlin, 6. Mai 1859, Holzstich, 1869, nach Karton von Wilhelm von Kaulbach, in: »Die Gartenlaube«, Illustr. Familienblatt, Leipzig (E. Keil) 1869, Nr. 41.
Quelle: © Bayrische Staatsbibliothek München [1869] digital 2020: 242
»[…] die ganze materielle Welt, alles was wir heute von den Erscheinungen der Himmelsräume und des Erdenlebens, von den Nebelsternen bis zur Geographie der Moose auf den Granitfelsen, wissen, alles in Einem Werke darzustellen, und in einem Werke, das zugleich in lebendiger Sprache anregt und das Gemüth ergötzt. Jede große und wichtige Idee, die irgendwo aufgeglimmt, muß neben den Thatsachen hier verzeichnet sein. Es muß eine Epoche der geistigen Entwickelung der Menschheit (in ihrem Wissen von der Natur) darstellen. – Das Ganze ist nicht was man gemeinhin physikalische Erdbeschreibung nennt, es begreift Himmel und Erde, alles Geschaffene.« (Humboldt 1834: 151)
»Alles ist Wechselwirkung«, erkannte Humboldt und formulierte damit ein Axiom planetaren Denkens, auch dessen Arbeitsstil. Ihm ging es um eine Synthese allen empirischen Wissens über die Welt, das er einem großen Netzwerk zeitgenössischer Gelehrter zur Diskussion und Ergänzung vorgelegt hatte, und das er in eine durch die Einbildungskraft geformte Vorstellung des »Weltganzen« einbettete, das er (nicht nur aus didaktischen und volkspädagogischen Gründen) gerne visualisierte. Bemerkenswert aus planetarer Sicht ist, dass von Humboldt der Astronomie eine Sonderstellung einräumte und den tellurischen Teil des Werkes (in Band 3) aus der Sicht der Welträume anging. Auch wenn beim Erscheinen des Kompendiums manche Erkenntnisse schon veraltet und neuere wie die Elektrizität nicht berücksichtigt waren, bleibt es vorbildlich durch seinen ganzheitlichen Blick auf eine seit dem 19. Jahrhundert zunehmend vernetzte Welt. Das griffen alle Systemwissenschaften (der Sprache, der Biologie, der Physik, der Gesellschaft) und strukturalistische Ansätze auf, die (für das Planetare grundlegende) Prinzipien der Selbstorganisation, Autopoiesis und Emergenz als treibende Kräfte der Evolution annehmen (Kaufmann 1996, Mizrach 1997). Dass der Mensch selbstverständlich Teil der Natur sei und dieser seine Umwelt als »Mitwelt« betrachten müsse, war auch das Credo praktischer Naturphilosophen (Meyer-Abich 1988, 1990, 1997) und von visionären Technik- und Medienphilosophen wie Marshall McLuhan.4 (Wir werden sehen, dass »planetarisch« in der deutschen geistesgeschichtlichen Tradition bei Ernst Jünger und Martin Heidegger eine dunkle, geschichtspessimistische Konnotation angenommen hat, bei Letzterem war es eine Chiffre für das »Weltjudentum« (Süselbeck 2015).5 Auf den damit einhergehenden Affekt gegen die westlich-liberale Demokratie kommen wir zurück.
Schichten des Planetaren
Wir können fürs Erste resümieren, dass sich im planetaren Vokabular my-tho-poetische, analytisch-epistemische und ethisch-normative Sprechweisen überlagern, was gelegentlich zum Jargon gerinnt und Verwirrung oder Aversion stiftet. Den Einwand der »Spinnerei« möchten wir erst einmal gar nicht zurückweisen und bringen dazu den Reizbegriff »Erdling« ins Spiel, ein anderes Wort für die Bewohnerïnnen des Planeten Erde. Er stammt aus dem Vokabular der Science-Fiction, in welcher andere Planeten als die Erde oft von Lebewesen (»Aliens«) bevölkert werden und diese mit anderen Lebewesen in Kontakt treten. Im Anthropozän-Diskurs6 unterstreicht die Bezeichnung »Earthling« (Erdling), dass nicht nur Menschen die Erde bevölkern, sondern auch andere Lebewesen, denen subjekttheoretisch der gleiche oder zumindest ein ähnlicher Status zukomme.7 Auch die Schriftstellerin und Naturkundlerin Judith Schalansky postuliert zum vorherrschenden Verhältnis des Menschen zur Welt die Alternative »von zwischenartlicher Koexistenz und Kooperation, voller Naturkulturlandschaften, in der eine erweiterte, planetarische Solidargemeinschaft allen Lebewesen Raum zur Entfaltung zugesteht« (Schalansky 2020: 112).8 Der Erdling steht in einer ganzen Reihe von Neologismen, die in der Standardwissenschaft gewöhnlich Skepsis hervorrufen und ins Kabinett der Kuriositäten verwiesen werden. Im Vokabular des planetaren Denkens ist diesbezüglich einiges zu erwarten, oft werden poetische und epistemische Sprechweisen auch ganz bewusst vermengt. Gleichwohl kann die polyvalente Rede vom Planetaren einen Wissenschaftsdiskurs öffnen, ist also mehr als eine reine Kunstmetaphorik.
Das war schon bei frühen Kosmologien der Fall. Hatten sie zunächst Himmelsobjekte als göttliche Wesen angenommen, setzte sich später die Minderheitsmeinung von Anaximander bis Giordano Bruno durch, sie seien physikalische Objekte, deren Ursprünge, Entwicklung und Struktur den Kausalgesetzen gehorchen (Kanitscheider 1984, Kragh 2013, 2014). Die neuzeitlich-aufgeklärte Wissenschaft sollte Entstehungsmythen der Welt (und was sie im Innersten zusammenhält) kontinuierlich weiter entzaubern, worunter Max Weber verstand, im Prozess der Rationalisierung werde prinzipiell alles erfahrbar und durch Berechnung beherrschbar. Die »Mythen der Völker« sanken damit auf den Status von Aberglauben und Esoterik ab, fast wie die Astrologie (Sterndeutung) durch die Astronomie (Sternbeobachtung) abgelöst wurde. Allerdings ist die selbstverständliche Rationalität der Welt in der »Postmoderne« selbst als Mythos entlarvt worden, womit der Vorschlag aufkam, neue Mythen und Metaphern könnten helfen, die Beziehung des Menschen zur Erde besser zu verstehen (Gough 1993, Masse et al. 2007). Ein prominentes Beispiel der Wiederverzauberung der Welt ist das Gaia-Theorem des britischen Naturwissenschaftlers James Lovelock (der sich als »independent scientist, environmentalist and futurist« bezeichnen lässt), das ausdrücklich an den altgriechischen Mythos der »Mutter Erde« anschließt. In üblicher wissenschaftlicher Sprache abgefasst, lädt es ein, sich die Erde als einen Organismus vorzustellen, mit den äquatorialen Regenwäldern als Lunge, mit der Atmosphäre, den Flüssen und Bächen als Atmungs- und Kreislaufsystem. »Die Erde ist auf diese Weise keine leblose Einheit, die von uns losgelöst ist, sondern ein uns ähnlicher Organismus. Gaia […] erinnert uns daran, dass unser Planet ein lebender Organismus ist, zu dem wir gehören, nicht umgekehrt.« (Lanza/Negrete 2007: 65).
Das ist keine biblische Gegenerzählung zur Evolutionslehre wie der Kreationismus, der die religiöse Offenbarung gegen alle Evidenz wortwörtlich auslegt. Mythen (als »charming tales«) können aber bei der Interpretation und Vermittlung wissenschaftlicher Ergebnisse hilfreich sein, da ihre narrative Struktur sogenannten Durchschnittsmenschen besser vertraut ist als wissenschaftliche Abstraktion. In diesem Sinne haben Geologïnnen (katastrophale) Naturphänomene wie Erdbeben, Vulkanausbrüche, Fluten, Dürren (z.B. Ryan/Pitman 2000), auch ungewöhnliche geologische Formationen wie »Devil’s Tower« im US-Bundesstaat Wyoming, mittels einer dichten Interpretation schriftlich oder mündlich tradierter Volkserzählungen und »Erdlegenden« (Vitaliano 1973, 2007) erklären können. Die Volkskundlerin Dorothy Vitaliano hat Spuren der »Geomythologie« auf antike Erzähler wie Hesiod, Aischylos und Ovid und auf Orakelsprüche zurückverfolgt.9 Die geohistorische, nun auch astroarchäologische Ausgrabung und Bewahrung solcher Mythen, die auf den ersten Blick nur philologisch interessant erscheinen, hält uns im Übrigen die Tatsache vor Augen, welchen Mythen moderne Menschen zu folgen bereit sind, wenn sie etwa die Inventare nuklearen Abfalls mit Halbwertzeiten von über 100.000 Jahren in »sicheren« Deponien vergraben und dabei auf das kolossale Erinnerungsvermögen des Strahlenschutzes und der Versicherungswirtschaft setzen – angesichts solcher Kontaminationsgefahr könnte die Menschheit auf eine orale und schriftliche Mythologie neuen Typs angewiesen sein (Mayor 2005).
Relationierung und Relativierung
Planetar zu denken heißt nun, die Erde epistemologisch, ontologisch und ethisch als Planeten anzuerkennen, menschliches (Zusammen-)Leben also durch einen sich stets wandelnden Planeten zu verstehen, der sich räumlich vom Erdkern bis in den interplanetaren Raum erstreckt, zeitlich von der Nanosekunde bis zur geologischen Tiefenzeit10 dehnt und materiell vom Elementarteilchen bis zur dunklen Materie im Weltraum reicht. Mannigfaltige Wechselwirkungen zwischen Mensch und Planet rücken damit ins Erkenntnis- und Handlungsinteresse: Wie wir die Welt wissen und in ihr Zusammenleben gestalten, bedingen sich gegenseitig. Eine planetare Perspektive einzunehmen, heißt dann von vornherein: die Relationierung (In-Beziehung-Setzung, von engl. »relational«) menschlicher Existenz im Universum und die Relativierung der vorherrschenden anthropozentrischen Sichtweise. Dazu hat in der Vergangenheit eine so simple wie überwältigende Erfahrung verholfen: das »All-Gefühl« (Goethe) der Unendlichkeit, das einen bei der Betrachtung eines nächtlichen Sternenhimmels bei guter Sicht ergreifen und forttragen kann. Gesteigert wurde diese schon außeralltägliche Erfahrung durch den zum Eingang dieses Kapitels evozierten »Overview«-Effekt. So heißt der Blick aus einem Raumschiff zurück auf die Erde, der einen hartgesottenen Astronauten wie Edgar Mitchell (Pilot der Apollo 14-Mission, der 1971 als sechster Mensch den Mond betrat) in demütiges Schwärmen und zorniges Aufbegehren versetzt hat:
Abb. 8: Blick auf die Milchstraße, aufgenommen aus der »International Space Station«.
Foto: Kelly/NASA 2015, Quelle: Wikimedia 2020a
Abb. 9: Das 1990 entstandene Foto der Erde, das auf Anregung des US-amerikanischen Astronomen Carl Sagan von der Raumsonde Voyager 1 aus einer Entfernung von etwa sechs Milliarden Kilometern oder 40,5 AE aufgenommen worden war und bis heute das aus dem größten Abstand gemachte Bild der Erde ist. »Das ist hier. Das ist Zuhause. Das sind wir«, kommentierte Sagan. Hier eine Neubearbeitung der Aufnahme zum 30. Jahrestag.
Foto/Quelle: © NASA [1990] 2020a
»Man entwickelt hier oben spontan ein globales Bewusstsein, eine Zuwendung zu den Menschen, eine starke Unzufriedenheit mit dem Zustand der Welt und den Drang, etwas dagegen zu unternehmen. Von da draußen auf dem Mond sieht die internationale Politik so kleinlich aus. Du willst einen Politiker beim Genick packen, ihn eine Viertelmillion Meilen heraufziehen und ihm sagen: ›Schau dir das an, du Hurensohn‹.« (People Magazine 1974, [eigene Übersetzung])
Der »overview effect« erfasste den kognitiven und emotionalen Perspektivenwechsel bei der Umkehrung des Erde/Himmel-Verhältnisses; gesteigert wird dies durch den »ultraview effect« (Abb. 8). Hier ein Blick aus der ISS-Raumfähre, wie die parallele Erfahrung bei der Ansicht der Milchstraße aus der Umlaufbahn des Mondes bezeichnet wird (Weibel 2020). Noch radikaler erweisen sich Relativierung und Relationierung bei dem auf dem Buchcover abgebildeten »Pale Blue Dot« (Abb. 9). Dieser Blick zurück auf die Erde, diesen bleichen blauen Punkt am Firmament, unterstrich die nur scheinbar verinnerlichte Gewissheit, dass wir uns im Weltall befinden, schon immer befanden und niemals irgendwo anders sein können: Wir sind a priori planetare Lebewesen und leben auf dem sprichwörtlichen »Raumschiff Erde«, das mit einem begrenzten Set an Ressourcen ausgestattet ist und sich in rasender Geschwindigkeit durch das Weltall bewegt (Fuller 2013). Die Bedingungen für »Leben« ergeben sich nicht allein im Zusammenspiel unendlich vieler Faktoren auf der Erde, sondern aus Gegebenheiten des Universums, ganz basal von einer angemessenen Sonnenstrahlung bis zu den Gesetzen der Gravitation und ständig aktualisiert durch die Erkenntnisse laufender Missionen wie »Solar Orbiter«. Die Aufnahmen demonstrieren die Paradoxie unserer Extra-Territorialität: Wir entfernen uns von der Erde als Raum, um mit ihr verbunden zu bleiben und im Akt des Entfernens sogar noch tiefer zu verbinden (DeLoughrey 2014). Der Rest der Menschheit verbleibt sozusagen in Platons Höhle und muss die Projektionen des Planeten mit den auf der Erde entwickelten Paradigmen zu deuten lernen und vereinbaren.
Man mag sich spontan dagegen verwehren, dass man diese Inversionsleistung Raumfahrern verdankt. Doch haben sie als Erste aus existenzieller Anschauung erlebt, was Normalsterbliche mittels »Earthrise«, »Blue Marble« oder »Pale Blue Dot« nachvollziehen mussten (Ranga 2020). Den »Overview«-Effekt möglichst allen zu ermöglichen, ist – planetares Denken.11 Wie schon zur Hochzeit der Raumfahrt in den 1950er Jahren, dürften auch die aktuellen, wieder spürbar gesteigerten Erkundungen des Weltraums in ihrer Rückwirkung auf die Erde mehr sein als ein Abenteuer und weiter zur Erweiterung des menschlichen Bewusstseins beitragen. Die Kehrseiten sind uns wohlbekannt: geopolitische Verwerfungen und die Militarisierung des Weltraums, heute verbunden mit megalomanen Ideen des kommerziellen Weltraumtourismus und mögliche Vehikel eines hypertechnischen Geoengineering (Crawford 2018). Doch der planetare Perspektivwechsel ist davon unbenommen, und wir halten fürs Erste fest: Markierte der »overview effect« einen anthropozentrischen Pol, also den Blick des Menschen auf den Planeten, so kann ihm nun ein planetozentrischer Pol hinzugefügt werden, der den Blick des Planeten einzufangen versucht.
Denken wie ein Planet
Das Experiment »zu denken wie ein Planet« findet man nicht mehr nur in interpretativen Literaturstudien, sondern neuerdings bei der sensorischen Überwachung des Erdsystems. Das nach seinen Ursprüngen in der Romantik zuletzt wieder blühende Genre des »Nature Writing« stellt eine Verbindung des Menschen zur nicht-menschlichen Natur her, indem nicht nur dichte Naturbeschreibungen unternommen werden, sondern auch Versuche, sich in belebte wie unbelebte Natur hineinzuversetzen – gewissermaßen eine tastende Forschung, eine prosaische Wissenschaft nicht-menschlicher Natur, die so weit geht »zu leben wie« (ein Dachs, Fuchs oder Hirsch) (Foster 2016). Solchen Versuchen sind klare neuronale Grenzen gesetzt und es erschiene irrwitzig, sich Denkarten und Funktionsweisen außerhalb unserer eigenen Spezies anzueignen. Gleichwohl spiegelt die Literatur die sich wandelnde Vorstellungskraft ihrer Beobachterïnnen wider (Purdy 2017), insofern etwa Wälder über die Jahrhunderte hinweg als Königreiche, als Kathedralen und Fabriken sowie heutzutage als vernetztes Informationssystem gedeutet werden und man sich anschickt, mit Tieren zu sprechen (Meijer 2019). Aldo Leopold beschreibt in dem klassisch gewordenen »Sand County Almanac« die Funktionsweise eines ganzen Ökosystems als ein Beispiel zu »denken wie ein Berg« (Callicott 2013). So wie Schalenwild sich vor dem Wolf fürchtet, »fürchte« sich der Berg vorm Schalenwild, das ohne den natürlichen Feind die Bergflanken kahl frisst, mit der Folge der Erosion, durch die letztlich der Wald wie das Schalenwild aussterben. Leopolds Beschreibung erreichte große Prominenz, da es sehr anschaulich eine neuartige Repräsentation der Welt in unser Denken einführt.12 Der Ansatz erzeugt bis heute eine Reihe analoger Vorschläge, darunter den Versuch »zu denken wie eine Shopping Mall« (Vogel 2015). Gefragt wird jetzt nicht mehr, wie »Natur« zu retten sei, sondern welche Umwelt wir bewohnen wollen und welcher Praktiken es bedarf, eine solche Umwelt zu bauen. Was als irrationale Spekulation abgetan wird, weist auf graduelle Verwandtschaften, Überlappungen, Widersprüche unserer Existenz auf diesem Planeten hin.
»Planet Writing« im wahrsten Sinne des Wortes zu erden, hieße jetzt, die symbolische Einfühlung mit einer empirischen Sensorik zu kombinieren. Das kann auf der Ebene einzelner »Erdlinge« wie bei Bäumen geschehen, die über ihre hydraulischen Funktionen und über ihr Wachstum – twittern (Abb. 10). Anders gesagt: wie sich der Mensch eine Pulsuhr anlegt, um etwas über seinen Gesundheitszustand zu erfahren, wird auch der Baum mit einem Sensor versehen und »berichtet« über seine »Eindrücke«. Die kanadische Forstwissenschaftlerin Suzanne Simard, die sich für in neu angelegten Aufforstungen besonders häufige Baumerkrankungen interessierte, fand mit DNA-Analysen an Pilzkulturen heraus, wie Bäume miteinander und mit ihrer Waldumgebung kommunizieren, indem Pilzfäden auch Bäume verschiedener Arten unterirdisch verbinden. Die Erkenntnisse sind erstaunlich und erinnern an anfangs ebenso unerhörte Einsichten in das Seelenleben und die Sozialität von Tierpopulationen:
»Kohlenstoff, Wasser, Nährstoffe, Alarmsignale und Hormone können durch diese unterirdischen Kreisläufe von Baum zu Baum gelangen. Ressourcen fließen in der Regel von den ältesten und größten Bäumen zu den jüngsten und kleinsten. Von einem Baum erzeugte chemische Alarmsignale bereiten Bäume in der Nähe auf Gefahren vor. Sämlinge, die von den unterirdischen Lebensadern des Waldes abgetrennt wurden, sterben viel häufiger als ihre vernetzten Gegenstücke. Und wenn ein Baum am Rande des Todes steht, hinterlässt er seinen Nachbarn manchmal einen erheblichen Teil seines Kohlenstoffs.« (Jabr 2020 zit. n. Simard et al. 2012)
Abb. 10: Twittert diese Buche? Ein Experiment des Thünen-Instituts in Britz. »TreeWatch« ist ein sechs Standorte in Deutschland, Belgien, Großbritannien und den Niederlanden verbindendes Werkzeug, das die hydraulische Funktion und das Wachstum von Bäumen in Echtzeit demonstriert.
Quelle: © Treewatch 2020
Seismographische Messungen vom Erdinneren bis in den interplanetaren Raum per Satellit bilden mittlerweile eine ganze informationsökologische Infrastruktur, ein planetares Monitoring, das für einige Beobachterïnnen eine weitere kopernikanische Wende, diesmal mit Sicht auf den Planeten Erde, ermöglicht (Gabrys 2016, Schellnhuber 1999).
Solche Datenerhebungen über den Planeten Erde bilden die Grundlage der Interpretation von Erdsystemmodellen, sind somit das Sprachrohr des Planeten, und erlauben die Projektion alternativer Zukunftsszenarien (WBGU 2019). Dabei zeigen die Modelle, wie Prozesse, die auf unterschiedlichen Skalen ablaufen und die durch belebte wie unbelebte Materie hervorgebrachte Stoffströme beinhalten, auf komplexe und prekäre Weise ineinandergreifen. Sie zeichnen nach, wie Anthroposphäre, Geosphäre und Biosphäre unter dem Einfluss externer Faktoren wie Sonneneinstrahlung, Vulkantätigeit und Klimawandel wechselseitig bedingten Veränderungen unterliegen (Donges et al. 2017). Zu den naturwissenschaftlichen Kernfächern werden neuerdings vermehrt sozial- und kulturwissenschaftliche Beiträge herangezogen, womit politische Institutionen und kulturelle Wertsysteme in den Blick kommen. Der »Eiserne Vorhang« zwischen den Fakultäten ist damit hochgezogen. Und wir werden noch zeigen, wie »die Natur«, die wir nicht länger für stumm und reglos halten sollten, sich auf diese Weise auch in politischer Hinsicht artikulieren kann. Wer es nicht glauben mag, höre nur genauer hin, wie der Berg Hochvogel im Allgäu schwingt und das womöglich bevorstehende Auseinanderbrechen seines Gipfels mit einem für das menschliche Gehör nicht vernehmbaren Brummen annonciert (Dietze et al. 2020).
Das »Hineinhorchen« und »Zumsprechenbringen« ist übrigens kein neues Phänomen. Um 132 n. Chr. setzte der chinesische Wissenschaftler Chang Heng das erste Seismoskop ein, um das Auftreten eines Erdbebens zu registrieren. Der Drachenkrug war ein zylindrischer Krug mit acht Drachenköpfen, die um seinen Rand herum angeordnet waren und von denen jeder eine Kugel in seinem Maul hielt. Um den Fuß des Gefäßes herum befanden sich acht Frösche, jeder direkt unter einem Drachenkopf. Wenn sich ein Erdbeben ankündigte, fiel eine Kugel aus dem Maul eines Drachens und wurde vom Froschmund aufgefangen. So erwecken wir heute die Technosphäre zum Leben, wenn etwa der indische Mars Orbiter über seine Entdeckungen an die Erdlinge »twittert«, wobei natürlich ein Mensch ihm seine Stimme leiht. Das Beispiel kann zeigen, wie unser Verständnis planetarer Prozesse und Relationen maßgeblich geprägt durch digitale Informations- und Kommunikationstechnologien ist. Zunächst gilt dies im konventionellen Sinne für die am Erdsystem orientierte Klimaforschung:
»Ohne die durch die Digitaltechnologie bereitgestellten Kapazitäten zur Berechnung meteorologischer Daten wären wir uns höchstwahrscheinlich der globalen Veränderungen gar nicht bewusst oder zumindest nicht in der Lage diese zu quantifizieren. Digitale Technologie bildet also das Rückgrat für die wissenschaftliche Erkenntnis der gegenwärtigen Dynamik des Anthropozäns. Der globale Klimawandel, um nur ein wichtiges Beispiel zu nennen, kann nur dank der Verfügbarkeit riesiger Datenmengen, geeigneter Rechner und ausgefeilter Modelle als Phänomen beobachtet werden.« (Rosol/Schlögl 2018)
Klima ist ein nicht-lokales Hyperobjekt (Morton 2013), dessen Wandel als solcher unabhängig von technologischen Vorkehrungen durch Menschen kaum zu erfahren und zu erkennen ist. Voraussetzung ist vielmehr eine informationsökologische Infrastruktur: Mittels Sensortechnologien werden wichtige Umweltdaten unterstützt durch allgegenwärtige digitale Informationsverarbeitung (»ubiquitous computing«, Internet der Dinge) erhoben und ermöglichen zum Teil in Echtzeit ein umfassendes Monitoring, »die systematische Beobachtung (in der Erdbeobachtung Überwachung genannt) von Objekten, Prozessen oder Umgebungen, beispielsweise in Bezug auf ihre Eigenschaften, ihr Verhalten oder die Einhaltung von Grenzwerten. Es kann der Erfassung von Daten für den Erkenntnisgewinn dienen oder auch die Grundlage von Steuerungsprozessen sein.« (WBGU 2019: 83). Zur Interpretation bedarf es bei »Big (Climate) Data« aufwändiger Modellierungen (Edwards 2010):
»Einfache Modelle in der Klimaforschung beschreiben die Abläufe in einem Teilbereich des Klimasystems, so zum Beispiel die Meeresströmungen. Gekoppelte Klimamodelle sind dagegen in der Lage, die Abläufe und Wechselwirkungen zwischen mehreren Teilbereichen abzubilden. Sogenannte Erdsystemmodelle enthalten darüber hinaus Module zur Beschreibung der Landvegetation, der Böden, der marinen Ökosysteme oder der biogeochemischen Stoffkreisläufe. […] Die verschiedenen Modelltypen werden zunehmend auch über Disziplingrenzen hinaus miteinander gekoppelt. Sie eröffnen Wissenschaftlern die Möglichkeit, ›Was-wäre-wenn‹ -Experimente in einer virtuellen Welt durchzuführen.« (DFG 2019: 11)
Derartige Modelle repräsentieren nicht nur unterschiedliche wissenschaftliche Wahrnehmungen der Welt, sie bestimmen auch die Projektionen für die Zukunft, die aufgrund der Komplexität von Faktoren und Relationen selbst erklärungsbedürftig sind. Jochem Marotzke, Direktor des Max-Planck-Instituts für Meteorologie und erfahren in der Evaluation von Klimamodellen, gibt zu bedenken: »Es sind immer Aspekte drin, die wir nicht verstehen. Dafür sind die Modelle zu komplex. Viele widerstreitende Prozesse spielen zusammen – warum das Ergebnis am Ende so ist, wie es ist, das ist schwierig herauszufinden. Dafür überlagern sich zu viele Rechenschritte, und manchmal sind wir selbst verblüfft darüber, was wir nicht verstehen.« (zit.n. Frey 2020: 4). Gleichwohl haben Modellrechnungen aus den 1970er und 1980er Jahren die globale Erwärmung der Gegenwart korrekt prognostiziert, bevor das Phänomen so direkt wahrnehmbar war wie heute (vgl. Rahmstorf 2020). Die Projektion komplexer Entwicklungsverläufe, zu Szenarien verdichtet, wird zur Grundlage für klimapolitische Forderungen, wie sie etwa der Weltklimarat IPCC formuliert. Zusätzliche Plausibilität erlangen die solchermaßen simulierten Welten durch dynamische Visualisierungen der Daten, die gerade in Gesellschaftsberatung und politischer Kommunikation eine große Rolle spielen.
So hat das Deutsche Klimarechenzentrum ein Online-Angebot lanciert, mit dem Laien Resultate von aktuellen Klimaprojektionen selbst eruieren können. Die Visualisierung auf einem dreh- und zoombaren Globus lässt sich interaktiv steuern: Zur Auswahl stehen Klimaänderungen (Temperatur, Niederschlag) für verschiedene Szenarien und/oder Jahreszeiten, die sowohl vergleichend als auch im zeitlichen Verlauf als Animation betrachtet werden können (DKRZ 2020).
»Dieser Wissenszuwachs kann das Verständnis des Erdsystems und der planetarischen Leitplanken verbessern. Dies birgt das Potenzial, die Auswirkungen der Menschheit auf das Erdsystem nicht nur besser nachzuvollziehen, sondern auch zu überdenken und zu ändern. […] Im Sinne des Anthropozäns könnte diese umfassende Sicht auf den Planeten jedoch auch die Hybris der menschlichen Gattung beflügeln und zu immer riskanteren und intensiveren Eingriffen in das Erdsystem führen.« (WBGU 2019: 97)
Exemplarisch für die skizzierte Konstellation ist das Projekt eines »Planetary Computer«, das Microsoft im April 2020 gelauncht hat; eine Plattform, die Billionen für die Analyse von Ökosystemen relevante Datenpunkte, die von Menschen und Maschinen gesammelt werden, verarbeiten und in Echtzeit darstellen soll. Der Präsident des Technologie-Unternehmens, Brad Smith, beschrieb als wissenspolitische Dimension des Vorhabens nicht nur die Vermessung und Verwaltung planetarer Ressourcen in Echtzeit, sondern auch die Bereitstellung von prädiktiven Algorithmen als Steuerungsdispositiv anthropogener Einflüsse:
»Es ist mehr als offensichtlich, dass die Welt einen besseren Zugang zu Umweltdaten benötigt, um die natürlichen Systeme, auf die unsere Gesellschaften angewiesen sind, zu untersuchen, ihren Zustand zu bewerten und sie zu schützen. Aus diesem Grund stellt die Datenanalyse auf der Basis von maschinellem Lernen eine bahnbrechende Entwicklung dar. Die Untersuchung der ›Gesundheit‹ unserer Erde muss zu einem kontinuierlichen und integrierten Verfahren werden, das es uns ermöglicht, genau zu verstehen, was im Lauf der Zeit mit unserer Umwelt geschieht, um kluge Entscheidungen treffen zu können.« (Smith 2020)
Ähnlich intendiert die Europäische Union unter dem Projektnamen »DestinE« (deutsch: »Schicksal«, Abkürzung für »Destination Earth«) bis 2030 die Entwicklung eines digitalen Zwillings der Erde. Insofern evoziert die digitale Durchdringung des Planeten auch seine Programmierbarkeit. Dieses Phänomen thematisiert Jennifer Gabrys mit dem Titel »Program Earth: Environmental Sensing Technology and the Making of a Computational Planet« (2016). Ihre medienökologische Studie demonstriert indessen, dass die kybernetische Erdsystemperspektive, auf die wir gleich noch näher eingehen werden, nur eine spezifische Variante planetarer Prozesse und Relationen repräsentiert. Diese lässt sich zunächst in Formate des »Environmental Computing« übersetzen; beispielsweise, wenn, wie oben dargestellt, Bäume über den »Stress« twittern, dem sie ausgesetzt sind (Treewatch 2020). Darüber hinaus erschließen vor allem Kunst und »Citizen Science« die Möglichkeit zur Wahrnehmung weiterer Welten (Gabrys 2016: 124).
Planetar zu denken beschränkt sich freilich nicht darauf, Organismen als Indikatoren dafür zu betrachten, ob systemstabilisierende Steuerungsmaßnahmen ergriffen werden sollten. Aus dieser Perspektive sind sie vielmehr selbst Subjekte planetarer Politik, die relevante Aspekte artikulieren, deren Wahrnehmung durch digitale Informations- und Kommunikationstechnologien möglich werden kann. Der Planet wird »artifiziell empfindungsfähig« (Bratton 2019: 10). Die Mobilitätsbeschränkungen im Zuge der Corona-Pandemie resultierten mancherorts in einer messbaren Reduzierung der durch menschliche Aktivitäten verursachten Vibrationen in der Erdkruste. Diese in Belgien beobachtete Beruhigung steigerte in einigen Fällen die Sensitivität des existierenden Instrumentariums zur Erfassung anderer seismischer Aktivitäten wie kleinerer Erdbeben (Gibney 2020). Die materielle und immaterielle Technosphäre tritt zur Bio- und Geosphäre hinzu und wird aus Sicht der Gaia-Hypothese als Teil der natürlichen Evolution gedeutet. Die ununterbrochene Bewegung der Plattentektonik belegt die Existenz eines intrinsisch unruhigen Planeten (Clark 2011); es gibt folglich keine »Globalisierung« ohne diese geophysikalische Grundlage (Bobbette/Donovan 2019). Der Planet Erde ist kein solider Block, der sich menschenfreundlich entwickeln lässt, er bleibt Teil einer komplexen, fluiden und riskanten Biosphäre. Wir denken sie körperlich, ob wir unseren Körper in Sonnenstrahlen wärmen, in einer Sturmnacht erschaudern oder uns bei einem Mini-Beben ängstigen. Diese Vulnerabilität ist konstitutiv für das Menschsein, nur wer dieses permanente Ausgesetztsein an sich herankommen lässt, kann die Sinnhaftigkeit eines dennoch bewohnbaren Planeten einsehen und die Existenz des Anderen anerkennen (Clark 2011: 55-57 nach Levinas 1969, 1987, Blanchot 1980).
Erdsystem
Der symbolische Anstoß der Raumfahrt, vor allem mit dem »Blue Marble«-Bild von 1972 ist nicht geringzuschätzen. Die Reise ins All, verdichtete die rumänische Poetin und Filmemacherin Dana Ranga die Erfahrung von Astronaut Story Musgrave, »ist eine Reise des Geistes/warum fliegen wir in den Weltraum/wenn nicht um etwas/über uns zu erfahren/und über das, was es mit diesem Universum/auf sich hat?/Über unseren Platz in dieser Ordnung/und darüber, was es bedeutet/ein Mensch zu sein.« (Ranga 2020: 7). Die Raumfahrtforschung stimulierte ein planetares Wissen, das nicht länger vornehmlich auf die Eroberung des Himmels über der Erde und Vorteile im Wettrüsten zielte, sondern auf die friedlich-kooperative Erforschung des Sonnensystems, um daraus Schlüsse für die Erhaltung des Planeten ziehen zu können. Ebenso hatte ja die Vermeidung der nuklearen Selbstauslöschung zuvor die Sorge um die gemeinsame Umwelt der Menschheit nach sich gezogen. Auch mit dieser dialektischen Volte eröffnete sich ein Denkraum, in dem andere Prozesse wie die wirtschaftliche Globalisierung, die formale Entkolonisierung der Staatenwelt, die Verankerung universalistischer Normen in Organisationen und Gerichtshöfen der Vereinten Nationen und die grenzüberschreitende Koordination wissenschaftlicher Expeditionen und Experimente zu einer planetaren Sichtweise zusammenwuchsen, die im Zeitalter des Nationalismus und der wissenschaftlichen Spezialisierung auf den Sockel gestellt oder effektiv »vergessen« worden war. Das planetare Denken fordert die »Container-Ideologien« des methodologischen Nationalismus (Beck/Grande 2010) heraus, es problematisiert identitäre Schließungen im kulturellen Relativismus und überwindet nicht zuletzt die Dichotomie von Natur und Kultur. Gewissermaßen en passant zerfällt damit die Selbstüberschätzung des Menschen als »Krone der Schöpfung« oder als prometheischer Freisetzer der Produktivkräfte.
Ein wichtiger Motor planetaren Denkens waren die Ergebnisse der interdisziplinären Erdsystemforschung (»Earth System Science«), zu deren naturwissenschaftlichen Kernfächern neuerdings vermehrt sozial- und kulturwissenschaftliche Beiträge herangezogen werden. Neben der Biosphäre, die von den Tiefen der Ozeane in die Lithosphäre reicht und der Geosphäre, die Cyro-, Tropo- und Stratosphäre einschließt, werden Wechselwirkungen mit der Anthroposphäre analysiert und neben »externen« Kräften wie Sonneneinstrahlung und Vulkanaktivität auch anthropogene Einflüsse wie die Emissionen fossiler Energieerzeugung einbezogen, womit auch politische Institutionen und kulturelle Wertsysteme in den Blick kommen (Abb. 11). Der »Eiserne Vorhang« zwischen den »zwei Kulturen« ist damit hochgezogen.
Die Entfaltung der »Earth System Science« wurde vorbereitet durch die erwähnten Pioniere Vernatsky und Lovelock und zuletzt synthetisiert durch Publikationen von Schellnhuber (2004), Steffen et al. (2004) und Reid (2010), jeweils mit Koautorïnnen (et al.). Die Titel der Publikationen (»Zweite Kopernikanische Revolution«, »Anthropozän«, »Planetare Grenzen« und »Hothouse Earth«) führen die planetare Dimension im Titel. Weitere Entwicklungsstufen des Paradigmas stellten nach dem Input der Wissenschaft die politischen Umwelt-, Nachhaltigkeits- und Klima-Konferenzen in Stockholm 1972, Rio de Janeiro 1992 und Amsterdam 2001 dar, ferner die Arbeit internationaler Wissenschaftsverbünde wie des »International Panel on Climate Change« (IPCC), Forschungsprogramme wie das »International Geophysical Year«, das »International Biosphere-Geosphere Program« (IGBP) und »Future Earth« sowie Großexperimente von Forschungsstationen an den Polkappen und am Amazonas.
Abb. 11: Das Bretheton-Diagramm zur vereinfachten Darstellung der erdsystemaren Zusammenhänge.
Quelle: Steffen et al. 2020: 61, © Springer Nature Limited 2020
Die »Entdeckung« der erdsystemischen Interdependenzen war eingebettet in politische und soziale Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, parallel zum Globalisierungsschub nach der Jahrhundertwende seit den 1970er Jahren und zur Verdichtung des Bewusstseins der »Einen Welt«, das durch die tiefen Zäsuren der beiden Weltkriege unterbrochen worden ist. Wir unterstellen damit keine deterministischen Beziehungen zwischen den Teilsystemen von Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, doch sind Anstöße des politischen Multilateralismus und Kosmopolitismus, der (finanz-)wirtschaftlichen Globalisierung, der wissenschaftlichen Forschung und sozialer und kultureller Bewegungen vom 18. Jahrhundert an und verstärkt seit 1945 unverkennbar parallel verlaufen und haben sich wechselseitig verstärkt (Abb. 12). Aktuell werden in dieser säkularen »Parallelaktion« Dissonanzen und Brüche sichtbar. »My Nation First«-Nationalismen erschüttern die »scientific communities« und legen die multilateralen Netzwerke der Vereinten Nationen und namentlich der globalen Umweltpolitik lahm, unterstützt durch völkische Kulturkampfbewegungen; parallel haben Finanzkrise und Corona-Pandemie wirtschaftliche Interdependenzen blockiert und es werden wissenschaftliche Forschungsergebnisse für nationale Alleingänge genutzt.
Abb. 12: Zeitstrahl mit wesentlichen Beiträgen von Organisationen, Publikationen, Kampagnen und Ereignissen zur Entwicklung der Erdsystemwissenschaft im vergangenen Jahrhundert.
Quelle: Steffen et al. 2020: 55, © Springer Nature Limited 2020
Das führt uns wieder auf eine andere Fährte. Im Spektrum planetaren Denkens konvergieren diese formalisierten Betrachtungen des Erdsystems nämlich wieder mit spirituell-physisch geprägten Konzepten indigener Kulturen, die uns so unterschiedliche Ethnologen wie Philippe Descola, Eduardo Viveiros de Castro oder Robin Wright an der Amazonas-Region deutlich gemacht haben. Ein Beispiel ist das von den Einwohnerïnnen Sarayakus in Ekuador tradierte Konzept des »Kawsak Sacha«, des lebendigen Walds, der vom einzelnen Waldtier bis zum gesamten Kosmos Verbindungen zeichnet. Analog zu der, der Erdsystemforschung zugrundeliegenden Komplexitäts- und Chaosforschung geht sie davon aus, dass alles mit allem zusammenhängt und kleinste Störungen Auswirkungen auf das Gesamtsystem haben können (Abb. 13). Wir zitieren die frappierende Selbstbeschreibung:
»KAWSAK SACHA ist ein Lebewesen mit Bewusstsein, das aus allen Wesen des Dschungels besteht, vom Winzigsten bis zum Größten und Höchsten. Es schließt die Wesen der tierischen, pflanzlichen, mineralischen, spirituellen und kosmischen Welt in die Kommunikation mit den Menschen ein und gibt ihnen das, was notwendig ist, um ihre psychischen, physischen und spirituellen Seiten wiederzubeleben und so die Energie, das Leben und das Gleichgewicht der frühen Völker wiederherzustellen. In den Wasserfällen, Lagunen, Sümpfen, Bergen, Flüssen, Bäumen und anderen Orten des Territoriums leben die Schutzwesen von Kawsak Sacha und entwickeln ein Eigenleben, ähnlich dem der Menschen. Der Kawsak Sacha überträgt das Wissen an die Yachak (weise Älteste), damit sie in der Welt der Schutzwesen des Dschungels interagieren können, um das Gleichgewicht des Pachamama aufrechtzuerhalten, die Menschen und die Gesellschaft zu heilen. Dieses Wissen wird methodisch gepflegt und an neue Generationen weitergegeben. Das natürliche Gleichgewicht des Universums, die Harmonie des Lebens, die kulturelle Dauerhaftigkeit, die Existenz von Lebewesen und die Kontinuität des Kawsak Sacha hängen von der Beständigkeit und Übertragung der Kräfte der Selva-Beschützerwesen ab. Es liegt auch an diesen Wesen und dem Yachak, ein Verhältnis von Respekt und Gleichgewicht zwischen Menschen und Wesen des Dschungels aufrechtzuerhalten.«13 (Kichwa Native People of Sarayaku, Juni 2018. Online: https://kawsaksacha.org)
Aus der bisherigen Betrachtung geht hervor, dass der planetare Denkraum nicht an den Grenzen der Erde endet, wie die Etablierung neuer Disziplinen wie der Astrobiologie oder »Big History« bezeugen. Aufgrund der Beobachtungen aus der bio-sozialen Lebenswelt der Erde wissen wir, wie das Leben eine eigene Form kosmischer Macht werden kann. Je stärker Menschen die Erde bearbeiteten (»Great Acceleration«), desto mehr kam der Planet zum Vorschein (Chakrabarty 2019, Steffen et al. 2015a). Die Menschheit hat es im Anthropozän zu einer Zivilisation gebracht, die beträchtliche Teile der Energie der Biosphäre verbraucht und damit das Klima des Planeten radikal verändert. Ein solcher Effekt tritt ein, wenn eine Spezies »übererfolgreich« wird und planetar agiert, aber durch die Wahl einer bestimmten Energieform, zunächst unbewusst und weiterhin ungewollt, ihre eigenen Existenzgrundlagen gefährdet. Menschen sind zu einer ähnlichen Kraft geworden wie ein Meteoriteneinschlag, urbane Infrastrukturen bilden wie Korallenriffe letztlich ein biologisch hergestelltes Gestein. Das führt zu einer letzten so spekulativen wie erkenntnisfördernden Prämisse: Gelten im Universum die gleichen physikalischen Gesetze, dann stellt die Erde vermutlich keinen Sonderfall dar, auch wenn sie einzigartig ist. Sollte es andere groß angelegte technologische Zivilisationen im Universum geben oder gegeben haben (die Wahrscheinlichkeit dafür müsste lediglich höher sein als 10−24 (Frank/Sullivan 2016), so werden vermutlich auch sie einen Klimawandel ausgelöst haben, wie das bei der Umwandlung riesiger Energiemengen in Arbeit der Fall ist und planetarische Rückkopplungen auslöst. Erfolgreichen Zivilisationen müsste es logischerweise gelungen sein, diese mit all ihren Kipppunkten aufzuhalten. Letztlich müssten sie Teil des natürlichen planetaren Systems geworden sein und in der künftigen planetaren Evolution partizipieren (Langmuir/Broecker 2012: 668).
Abb. 13: Um den Wald vor äußeren Eingriffen zu schützen, ist die indigene Bevölkerung in Sarayaku gezwungen, Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Diese reichen vom einfachen Schild bis zum Cyberaktivismus, über den sie auf ihre bedrohte Situation hinweisen.
Quelle: © Sarayaku 2019
Im Folgenden wollen wir das planetare Denken an exemplarischen Begrifflichkeiten und epistemischen Konstellationen genauer explizieren und fragen, welche Implikationen für politisches Handeln in demokratischen Gesellschaften sich daraus ergeben. Dabei können wir grob vier Wissensdimensionen planetaren Denkens resümieren: die poetische und die epistemische Sprechweise, die empirisch-analytische und kritisch-strategische Methode. In den folgenden Kapiteln führt das zu den folgenden Leitfragen:
•Wie lässt sich die Spannung planetaren Denkens zwischen Wissenschaftsdiskurs und Kunstmetaphorik fruchtbar machen, wenn noch zu erläuternde Formeln wie »Natureculture« oder »Nat/Cult« die überkommene Dichotomie von Natur versus Kultur aufheben, ohne dabei einheitswissenschaftliche Verengungen vorzunehmen, und welche planetaren Konstellationen geraten so in den Blick? (Kapitel II)
•Wie steht es um die menschlich-soziale Handlungsfreiheit des Menschen als planetarer Spezies, wenn diese weniger als ingeniöser Treiber einer gefährlichen Entwicklung, sondern eher wie ein Zauberlehrling erscheint, eine ratlos Getriebene, die sich nicht einfach zum Hauptakteur einer »Großen Transformation« aufschwingen und rehabilitieren kann, sich aber ebenso wenig als Vollstrecker posthumaner Prozesse und künstlicher Intelligenz aus dem Spiel nehmen darf? (Kapitel III)
•Gelten weiterhin bewährte Objektivitätsideale und strikte Werturteilsfreiheit oder impliziert planetares Denken eine engagierte Transdisziplinarität und die Aufstellung als transformative Wissenschaft? Damit zusammenhängend: Kann sich planetares Denken jenseits der (akademischen) Denkfabriken in einem Reallabor nachhaltiger Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und in polytechnischer Bildung nützlich machen? (Kapitel IV)
Gartenorchester in Barcelona
Foto: Lluis Gene, Quelle: © Getty Images 2020