Einleitung
Im Sommer des Jahres 2006 hatte an der Galilei-Schule einer von 51 Absolventen einen Ausbildungsplatz gefunden, zur Zeit meiner Forschung einige Jahre später waren es drei. Im Schatten der auf die benachbarte Rütli-Schule gerichteten Medienscheinwerfer blieben die Probleme an vergleichbaren Berliner Schulen zunächst dieselben. Die Problematik ist seit langem öffentlich bekannt, Bildungsstatistiken belegen wiederholt die sozialen Ungleichheiten im Bildungssystem und Politiker beklagen pflichtschuldig die damit verbundenen Ungerechtigkeiten. Doch wie sich diese Verhältnisse auf die Betroffenen auswirken, bleibt hinter den Zahlen und Bekundungen noch weitgehend verborgen. Für die Beantwortung dieser Frage spielen Emotionen eine entscheidende Rolle. Gefühlsbildung gehört in Deutschland seit dem späten 18. Jahrhundert zu den primären Lernzielen von Schulbildung,1 doch welche Gefühle werden in der schulischen Praxis heute produziert? „Schule der Gefühle“ – mit diesem doppeldeutigen Buchtitel frage ich sowohl nach den spezifischen Emotionen und Affekten, die ein exkludierendes Bildungswesen hervorbringt, als auch nach den dadurch bedingten emotionalen Dispositionen und Subjektbildungsprozessen unter gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen. Diese Ethnografie einer Schule in Berlin-Neukölln stellt folglich die emotionalen Erfahrungen der Schüler in den Mittelpunkt und schlägt eine politische Lesart von Gefühlen vor.
Die Studie basiert auf einer einjährigen ethnografischen Feldforschung im Schuljahr 2012/13 an einer als besonders problematisch geltenden Schule im Berliner Stadtteil Neukölln, die ich anonymisierend als Galilei-Schule bezeichne. Diese befand sich zum damaligen Zeitpunkt in Folge der Berliner Schulstrukturreform im Umwandlungsprozess von einer Haupt- zu einer Sekundarschule. Trotz Reformbemühungen hatten sich die ohnehin schwierigen Zustände kaum verbessert, sondern teilweise sogar weiter verschlechtert. Ich begleitete dort die beiden zehnten Klassen des letzten Hauptschüler-Abschlussjahrgangs in Berlin mit unterschiedlichen ethnografischen Methoden, vor allem teilnehmender Beobachtung und narrativen Interviews, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Unterrichts. Für jede der untersuchten Gefühlslagen stellte sich dabei erneut die Frage nach den passenden Zugangsweisen, weshalb ich im Verlauf des Buches unterschiedliche Quellen nutze. Dabei weite ich das Material in manchen Kapiteln auch über Beobachtungen und Interviews aus, etwa wenn es um die kursierenden Subjektformen der jugendlichen Populärkultur und ihren medialen Ausdruck geht. Mit Schülern meine ich tatsächlich vorwiegend junge Männer – etwa zwei Drittel der untersuchten Schülergruppe waren männlich, zudem fand ich zu ihnen insgesamt einen leichteren Zugang. An einigen Stellen gehe ich dennoch explizit auf divergierende Emotionspraktiken von Schülerinnen ein. Indem ich im Verlauf der Schilderungen die geschlechtlichen Tradierungen von Gefühlen hervorhebe und vergeschlechtlichte Modellierungen des Gefühlshandeln untersuche, rekonstruiere ich somit gleichzeitig auch Formen des doing gender. Da die überwiegende Mehrheit der Schüler und Schülerinnen Migranten der zweiten Generation waren, spielen zudem auch die Themen Ethnizität und Migration, mitsamt deren Verflechtungen mit Geschlechter- und Klassenfragen, eine entscheidende Rolle.
Die Arbeit bewegt sich an der Schnittfläche zweier bisher weitgehend getrennter Forschungsbereiche: der Untersuchung von Prozessen sozialer Ausgrenzung einerseits sowie der Analyse von Affektstrukturen andererseits. Die Bedeutung von Exklusions- und Prekarisierungsprozessen in postindustriellen Gesellschaften wurden hierzulande vor allem seit den sogenannten „Hartz“-Reformen detailliert herausgearbeitet. Ich betone in diesem Zusammenhang, dass es dabei nicht nur um materielle Einbußen oder einen erschwerten Zugang zu gesicherten Arbeitsverhältnissen geht, sondern es zur verstärkten Wahrnehmung von Entwertung und Wertlosigkeit kommt. Diese affektiv-moralische Schlagseite der gegenwärtigen sozialen Ordnung lässt sich wiederum am besten über die in den Sozial- und Kulturwissenschaften seit einigen Jahren geforderte stärkere Hinwendung zu Emotionen und Affekten in den Blick nehmen. Die Gefühlslagen in den unteren Gesellschaftsschichten sind heute deutlich anders eingefärbt als zu fordistischen Zeiten, als Arbeiterkultur und Arbeiterbewegung noch einen sinnhaften und würdeversprechenden Bedeutungsrahmen für einen unterbürgerlichen Status geliefert haben. Diese traditionellen Ressourcen der Selbstermächtigung mitsamt den damit verknüpften politischen Programmatiken haben für die Heranwachsenden in Berlin-Neukölln weitgehend an Bedeutung verloren. Die Frage stellt sich nun, wie sich die Emotionen und Affekte von Schülern mit geringen Chancen auf dem Arbeitsmarkt gegenwärtig auf neue Weisen strukturieren.
Durch die Fokussierung des Blickes auf die nur scheinbar nebensächliche emotionale Seite des Aufwachsens am unteren Ende des hierarchisierten deutschen Bildungssystems wird zudem eine kritische Perspektive auf Schule im Kontext von sozialer Ungleichheit eröffnet. Eine „dichte“ Beschreibung der emotionalen Erfahrung von Minderwertigkeit ermöglicht eine differenzierte und situierte, doch zugleich drastische und zugespitzte Gesellschaftskritik. Mit der zeitlichen Verortung der Forschung in „neoliberalen Zeiten“ wird eine zeithistorische Perspektive eröffnet und gleichsam die Stoßrichtung der Kritik auf eine Weise angedeutet, die Fehlentwicklungen anspricht doch Reduktionismen zu vermeiden versucht. Dabei wird die üblicherweise eingenommene Blickrichtung umgedreht: Statt den Jugendlichen und ihren Eltern die Verantwortung für die an der Galilei-Schule offensichtliche Bildungsmisere zuzuschreiben, sehe ich die gegenwärtige Verfasstheit der Institution Schule als das Hauptproblem an. In den Schilderungen wird das kreative und kognitive Potenzial der Schüler angedeutet, aber auch aufgezeigt, dass dieses weitgehend an der Schule vorbei entwickelt oder gar gegen diese gerichtet wird. Dies bedeutet nicht, dass nun umgekehrt den Lehrern in individualistischer Weise die Schuld aufgebürdet werden soll, stattdessen sind wir gemeinsam als Gesellschaft für die hier beschriebenen Missstände verantwortlich.
ETHNOGRAFIE DER EXKLUSION: WIE WIRD AUSGRENZUNG PRODUZIERT, ERLEBT UND VERARBEITET?
Die jüngeren sozialwissenschaftlichen und öffentlichen Diskussionen um gesellschaftliche Ausschließungstendenzen, die seit den 1980er und 1990er Jahren vor allem aus Frankreich kommend in Deutschland aufgegriffen wurden, reagierten auf gesellschaftliche Entwicklungsprozesse, in deren Zuge es zu einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft, einer Wiederkehr der Massenarbeitslosigkeit und Abstiegsängsten in immer weiteren Bevölkerungskreisen kam.2 Ich unterscheide nicht strikt zwischen Begriffen wie Exklusion, Marginalisierung oder Prekarisierung, sondern verwende diese und andere Formulierungen, um der Frage nachzugehen, wie soziale Ausgrenzung im Alltag produziert, erlebt und verarbeitet wird. Wichtig ist mir dennoch, auf einige begriffliche Grundannahmen hinzuweisen: Exklusion bedeutet keinen absoluten Ausschluss aus der Gesellschaft, sondern wird als eine spezifische Form innergesellschaftlicher Ungleichheit verstanden, eine Gleichzeitigkeit von „drinnen und „draußen“, wie sie beispielhaft im mehrgliedrigen deutschen Schulsystem zum Ausdruck kommt.3 Diese Exklusionsverhältnisse stellen sich in einem globalen, von postkolonialen Strukturen geprägten Machtgefüge her, wobei die emotionale Erfahrung von Ungleichheit stets relational ist, sich also aus spezifischen und unterschiedlichen Vergleichskontexten ergibt.4 Und statt Prekarisierung in einer bestimmten Zone des Arbeitsmarktes zu verorten, begreife ich diese als ein umfassendes, nicht auf bestimmte Milieus oder Sphären eingrenzbares Charakteristikum gegenwärtiger Vergesellschaftung.5
In meinem vorigen Buch „Hauptschüler. Zur gesellschaftlichen Produktion von Verachtung“ habe ich in Anlehnung an die von Axel Honneth formulierte Theorie der Anerkennung hervorgehoben, dass Hauptschüler nicht allein auf sozio-ökonomische, sondern auch auf symbolische Weise ausgegrenzt werden. Vor allem am Beispiel einer Hauptschule in Berlin-Wedding beschrieb ich, wie ihnen nicht nur systematisch Güter, Ressourcen und Zugangschancen vorenthalten, sondern sie darüber hinaus auch noch verachtet und gedemütigt wurden. In seinem Buch „Kampf um Anerkennung“ unterscheidet Honneth zwischen den Ebenen der emotionalen, der rechtlichen und der sozialen Wertschätzung, denen auf individueller Ebene Formen des Selbstvertrauens, der Selbstachtung sowie der Selbstschätzung entsprechen. Das Problem der Anerkennung umfasst bei Berliner Hauptschülern häufig ein Zusammenkommen von allen drei Formen der Anerkennungsverweigerung, einer äußerst problematischen Mischung aus sozialer Geringschätzung und kultureller Herabwürdigung mit prekären familiären Verhältnissen und fehlender deutscher Staatsbürgerschaft. Honneth verwendet zur Bezeichnung von verweigerter Anerkennung den Begriff der „Missachtung“, mit dem er verdeutlicht, dass den Betroffenen grundlegende Ressourcen für eine gelingende Identitätsentwicklung vorenthalten werden.6 Ich spreche stattdessen in etwas abgewandelter Form von „Verachtung“, um die emotionale Dimension von sozialen Ausgrenzungsprozessen stärker zu betonen und um gleichzeitig zu akzentuieren, dass den Hauptschülern nicht nur etwas verweigert wird, sondern diese auch auf aktive Weise in ihrer Würde verletzt werden.7 Mit Verachtung meine ich demnach eine auf negativen moralischen Zuschreibungen und emotionalen Abwehrmechanismen basierende Form der gesellschaftlichen Diskreditierung bestimmter Personen oder Bevölkerungsgruppen.
In der hier vorliegenden ethnografischen Studie zu Neuköllner Hauptschülern nehme ich einige dieser Argumentationsfäden auf, spinne sie weiter und drehe sie dabei in eine etwas andere Richtung. Die analytische Ausrichtung verschiebt sich vom Fokus auf die Produktion von Ausgrenzung und Verachtung hin zu der Frage, wie diese von den Schülern erlebt und verarbeitet wird. Produziert wird Ausgrenzung in der Schule zumeist über alltägliche pädagogische Handlungen und routinisierte bürokratische Entscheidungen, die oft ungewollt sozialen Ausschlussmechanismen folgen.8 Verachtung zeigt sich in alltäglichen Demütigungen, vor allem den vielfachen Vorhaltungen, Hauptschüler seien dumm, faul oder aus anderweitigen Gründen minderwertig. Dieser Modus sozialmoralischer Abwertung war an den von mir untersuchten Berliner Hauptschulen bereits weitgehend normalisiert, so dass sich selbst gutmeinenden Pädagogen unbewusst in ihn einfügten. Erlebt wird soziale Ausgrenzung selten abstrakt in Bezug auf Strukturen sozialer Ungleichheit, stattdessen dominieren indirekte und meist stark emotional gefärbte Wahrnehmungsweisen wie Scham angesichts schlechter Schulnoten, Wut auf einzelne Lehrer und Angst vor „Hartz-IV“. Hinzu kommen ironisch verspielte, cool distanzierte und trotzig aggressive Umgangsformen mit sozialer Herabwürdigung, die sich gleichzeitig als populärkulturelle Varianten der Verarbeitung von sozialer Ausgrenzung verstehen lassen. In den folgenden Kapiteln deuten sich politisch unterschiedlich gelagerte Umgangsweisen mit sozialer Abwertung ab. Die Schüler versuchen sich den widrigen Verhältnissen anzupassen, sie schreiben sich dabei weitgehend selbst die Verantwortung für ihr „Scheitern“ zu, reagieren aber auch auffallend aggressiv auf die Gesellschaft – wobei die Formen des jugendlichen Protests häufig kreativ und marginalisierend zugleich sind.
Dieser Text liefert eine Beschreibung und Analyse deprimierender Verhältnisse an einer Berliner Schule, er ließe sich mit Sherry Ortner in eine Reihe „düsterer“ Ethnografien einordnen.9 Damit weist sie auf die sich seit den 1980er Jahren abzeichnenden Tendenz ethnografischen Schreibens hin, sich vermehrt den Härten des Alltags mitsamt ihren sozialstrukturellen Ursachen im Kontext neoliberaler Transformationen zuzuwenden. Doch diese gesellschaftspolitische Stoßrichtung der Kultur- und Sozialanthropologie geht mit alternativen Strömungen einher, die sie gleichsam ausbalancieren und weiterführen. Ortner spricht zum einen die zunehmenden Beschäftigung mit Fragen nach einem guten, sinnvollen und zukunftsorientieren Leben an und zum anderen die Wiederbelebung von ethnografischer Kritik in dem doppelten Sinne, dass Ethnografen vorzugsweise widerständige Verhaltensweisen untersuchen und ihre Schreiben selbst als eine Form von Gesellschaftskritik verstehen. „Schule der Gefühle“ vereint diese unterschiedlichen Tendenzen: Das Buch schildert die miserablen Zustände an der Galilei-Schule in ihrem ganzen Ausmaß, auch um neoliberalen Strategien der ideologischen Verschleierung entgegenzuwirken, etwa wenn verheißungsvolle Schulreformen als Tarnung für Sparmaßnahmen im Bereich der öffentlichen Bildung dienen. Indem Emotionen als moralisch kodierte Handlungsvollzüge betrachtet werden, stellt sich bei ihrer Betrachtung immer wieder die Frage nach dem „richtigen“ Leben im „falschen“, nach den Bedingungen gelingender Lebensführung und nach Erfahrungen des „Scheiterns“. Schließlich widme ich Formen von Kritik jenseits der großen politischen Gesten besondere Aufmerksamkeit und strebe selbst einer Form des kritischen Schreibens an, die einige typische Fallstricke kritischer Gesellschaftsanalyse – wie den rechthaberischen Gestus, den Anspruch auf moralische Höherwertigkeit und das Nichteinlassen auf alltägliche Problemlagen – vermeiden möchte. Stattdessen versuche ich mich in einer Form des kritischen Schreibens, das gegenstandsbezogen und reflexiv verfährt, das situierte Momente der Widerständigkeit hervorhebt, ohne sie zu verklären und das Komplexitäten aufzeigt, doch gleichsam verständlich bleibt.10
Mit dieser Ethnografie zu Neuköllner Hauptschülern wende ich mich zudem gegen jene unselige Trennung von Sozialreportage und Gesellschaftsanalyse, wie sie sich im Zuge der allmählichen Umwandlung der Armuts- in eine akademische Exklusionsforschung eingeschlichen hat. Klassische Studien über Armut und Ausgrenzung des 19. und 20. Jahrhunderts waren oft pointierte Formen der Sozialkritik, die auf teilnehmender Beobachtung und persönlichem Kontakt zu den Betroffenen basierten. Die Exklusionsforschung begreift Armut nicht mehr als personengebundene Eigenschaft, sondern als Ergebnis sozialer Verhältnisse, doch sie erkaufte sich diese richtige Einsicht mit dem Rückzug an den Universitätsschreibtisch, von wo es sich am ungestörtesten über Sozialverhältnisse reflektieren lässt. Was verloren ging, war eine empathisches Verständnis für die stark emotional gefärbten Erfahrungsweisen von sozialer Abwertung, mit denen sich heute primär Journalisten und Literaten, Fotografen und Filmemacher auseinandersetzen. Universitäre Sozialwissenschaftler widmen sich dagegen vorwiegend der Ausarbeitung ihres analytischen Vokabulars. Besonders die eher in der systemtheoretischen als der französischen Tradition der Exklusionsforschung stehenden Soziologen neigen teilweise dazu, mit einem akademischen Überlegenheitsgestus all jene abzuwerten, die sich aus ihrer Sicht lediglich mit alltäglichem Handgemenge abgeben. In einer solchen Konstellation gelten ethnografische Nahaufnahmen und persönliche Anteilnahme schnell als „subjektiv“ und „romantisch“ – also als nicht wissenschaftlich.
Mein ethnografisches Schreiben zielt darauf ab, die Analyse der Reproduktion sozialer Ausschließung mit der Ebene der emotionalen Erfahrung von gesellschaftlicher Abwertung zu verbinden. Diese Ethnografie zum emotionalen Umgang mit Zuschreibungen von Minderwertigkeit kombiniert historische Rekonstruktionen und theoretische Reflektionen mit einer empirischen Zugangsweise, bei der ich mich Gefühlen auf verschiedenen Wegen annähere: über Atmosphären und sozialräumliche Verortungen, über Narrationen und Diskurse, über den Umgang mit Dingen und Dokumenten, über Filme und Popkultur, über Körper- und Medienpraktiken, über soziale Interaktionen und schulische Hierarchien, über Bewertungsweisen und Formen der Verdrängung sowie über Selbstpositionierungen und Zukunftsperspektiven. Die Argumentation verläuft zumeist über facettenreiche Situationsbeschreibungen, die auf der Grundlage längerer Feldbeobachtungen diskutiert werden. Situationsbetrachtungen ermöglichen unterhalb von abstrakteren Begriffen wie Norm, Identität oder Rolle einen methodischen Zugang zu den emotionalen und affektiven Praktiken der Schüler, durch die deren Besonderheiten ebenso wie deren Regelmäßigkeiten im Blick behalten werden können. Die Schilderung von komplexen Situationen ist nicht nur besonders anschaulich, sie gewinnt auf diese Weise auch eine über den Einzelfall hinausweisende Bedeutung. Neben der Adressierung von grundlegenden Fragen der sozialen Ordnung wird dadurch auch eine eher alltagspragmatische Perspektive eröffnet, mit deren Hilfe sich bestimmte Situationen vielleicht vermeiden oder sich unvermeidliche Situationen zumindest besser gestalten lassen.
EMOTIONEN UND AFFEKTE – EINE POLITISCHE LESART
Die gravierenden Auswirkungen gesellschaftlicher Abwertung werden durch eine Studie zu jenen Gefühlslagen, die von Schule und Gesellschaft verstärkt hervorgerufen werden, auf besonders eindringliche Weise kenntlich gemacht. Dieses Buch macht die emotionale Dimension von Exklusionsprozessen aufseiten der Schüler sichtbar und verortet diese in gegenwärtigen gesellschaftlichen Transformationsprozessen. Die folgenden Kapitel liefern wie in einem Puzzle verschiedene Elemente der Entwertungs- und Selbstbehauptungskultur der jugendlichen urbanen Unterklasse, in immer neuen Anläufen werden dabei unterschiedliche Facetten der Erfahrung und des Umgangs mit gesellschaftlich produzierter Minderwertigkeit herausgearbeitet. Durch das Nebeneinander und die gleichzeitige Verknüpfung auch widerstreitender Gefühlslagen entsteht ein vielschichtiges, spannungsreiches Bild des Gefühlsraums Galilei-Schule. In Anlehnung an Deleuze und Guattari könnte man diese Verknüpfung von heterogenen Elementen auch als „Affekt-Karte“ oder als „Assemblage“ bezeichnen.11 Mit einer solchen, auch für experimentelle Zugänge offenen Herangehensweise werden sich herausbildende und noch unabgeschlossene Gefühlskomplexe rekonstruiert und arrangiert, die gleichsam bereits eine gewisse strukturelle Kohärenz und Konsistenz aufweisen. Durch das Aufzeigen von Heterogenität wird auch der Tendenz entgegengewirkt, Personen aus unteren sozialen Schichten eine psychologische Uniformität zu unterstellen, wobei ihnen oft gleichzeitig sowohl mangelnde Affektbeherrschung vorgeworfen als auch ein Defizit an kultivierter Innerlichkeit attestiert wird – sie also paradoxerweise als zu emotional und als nicht auf die richtige Weise emotional gelten.12
„Schule der Gefühle“ zielt darauf ab, Emotionen und Affekte mit sozialstrukturellen Machtverhältnissen in Beziehung zu setzen. Dies ist vor allem deshalb eine besondere Herausforderung, da eine bis heute wirksame philosophische Denktradition Emotionen eher als individualpsychologische Ausdrucksform oder als natürliche Grundausstattung statt als gesellschaftliche Phänomene oder als kulturelle Kategorien begreift.13 Mithilfe einer praxistheoretischen Perspektive fokussiere ich mich auf das doing emotion in verbalen, körperlichen, gestischen und anderen Formen, begreife diese Emotionspraktiken jedoch nicht intentional oder individualistisch, sondern setze sie in Bezug zu historischen und gegenwärtig vorherrschenden kulturellen Ausdrucksmustern.14 Ein weites Emotionsverständnis ermöglicht es mir, neben klassischen Emotionen wie Wut, Scham und Angst auch affektiv aufgeladene Alltagsphänomene wie Langeweile, Coolness und Aggressivität in den Blick zu nehmen. Dabei changiere ich zwischen verschiedenen Gefühlsbezeichnungen, um die Vielschichtigkeit und Unabgeschlossenheit emotionaler Verhaltensweisen nicht aus dem Blick zu verlieren. Auch Emotionen und Affekte werden nicht kategorial voneinander getrennt, wie es beispielsweise der kanadische Sozialtheoretiker Brian Massumi vorgeschlagen hat, sondern konzeptionell und empirisch auf einer gemeinsamen Ebene mit graduellen Abstufungen in Bezug auf ihre Formung und Strukturierung verortet.15
Der Philosoph John Dewey betonte schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass gelingende Erziehung im Sinne eines Entwicklungs- und Reifungsprozesses nur durch tiefgreifende Erfahrung zustande kommt, die Heranwachsenden in der Schule jedoch häufig die falschen, vor allem negative und hemmende Erfahrungen machen würden.16 Doch der Erfahrungsbegriff hat seine Tücken, was in der Kultur- und Sozialanthropologie sowohl zu Übersteigerungen als auch zu vorschnellen Abschieden führte. In den 1970er und -80er Jahren stellten Ethnologen wie Victor Turner an Dewey anschließend einen emphatischen Erfahrungsbegriff in den Mittelpunkt des ethnografischen Projekts, sie meinten damit vor allem außergewöhnliche und besondere Momente, die sich vom Alltag abhoben.17 In den frühen 1990er Jahren wendeten sich Joan Scott und andere zu Recht mit Vehemenz gegen den romantisierenden Authentizitätsanspruch des Erfahrungsbegriffs, weshalb dieser für eine Weile von ethnologischen Buchtiteln verschwand.18 Doch die diskursive und dekonstruktive Wende führte ihrerseits zu Engführungen, mit dem material turn und dem sensual turn kehrte zuletzt auch der Erfahrungsbegriff wieder zurück, allerdings wird er heute zumeist in historisch reflektierter und vorsichtiger Weise verwendet.19 In diesem Sinne dient Erfahrung hier nicht zur Markierung besonders „originaler“ oder „innerlicher“ Empfindungen, sondern verweist sowohl auf aus dem Schulalltag herausragende als auch auf sich darin langsam ansammelnde alltägliche Erlebnisse, die sozial konstruiert und teilweise reflexiv bearbeitet werden. Solche emotionalen Erfahrungen werden wiederum von unterschiedlichen Perspektiven betrachtet, sowohl mit Blick auf ihren fragmentarischen und disruptiven Charakter als auch unter Berücksichtigung ihrer sinnstiftenden und reproduzierenden Wirkungsweisen.20
Ich untersuche den Gefühlsraum Hauptschule anhand von verschiedenen Gefühlskomplexen, die sich im Verlauf meiner Feldforschung und mit Blick auf soziale Ausgrenzungsprozesse als besonders zentral erwiesen haben: (I) Langeweile und Kurzweile: Schulische Langeweile wird von mir nicht nur als ein zeitliches Phänomen in Folge von sinnlos erscheinender Unterrichtszeit verstanden, sondern auch als Folge räumlicher Verwahrlosung gedeutet. Eine depressive Schulatmosphäre ist nicht einfach „da“, sie wird „gemacht“ – und sie hat typische Reaktionsweisen zur Folge, wie sich an Beispielen des „Pöbelns“ und „Blödelns“ zeigt. II) Formen der Selbstermächtigung rekonstruiere ich anhand von Jugend- und Populärkultur: Coolness ist keine Charaktereigenschaft, sondern eine (nicht immer gelingende) Pose und ein (häufig umstrittener) Zuschreibungsmodus, der sich anhand der Selfie-Posen von Hauptschülern auf Facebook gut untersuchen lässt. Mit „Ghetto“-Stolz meine ich eine besonders im Hip-Hop zelebrierte Form der Selbstaufwertung, bei der sozialräumliche Marginalisierung zu einer Quelle des Stolzes umgedeutet wird. (III) Gefühle der Unzulänglichkeit wie Scham und Peinlichkeit entstehen nicht nur aus einem geringen Maß an Status und Anerkennung, sie gelten auch selbst als rangniedrige und unwürdige Gefühle, als „Ugly Feelings“.21 Dieser Bewertungszusammenhang wirkt sich auch auf die Erfahrung solcher Gefühle aus, die häufig versteckt und überspielt werden und somit eher auf indirekte und latente Weisen im Schulalltag präsent sind. (IV) Wut und Aggressivität setze ich in Bezug zu ihren sozialen Entstehungsbedingungen sowie den mit ihnen verschränkten Wertungen und Standpunkten. Anhand eines durch Klassismus und Rassismus hervorgerufenen Unterrichtsboykotts sowie den verschiedenen Komponenten des „Boxerstils“ wird die Sozialität, Moralität und Körperlichkeit von antagonistischen Gefühlen herausgearbeitet. Im letzten Abschnitt (V) blicke ich über die Schulzeit hinaus und schildere Zukunftsängste und Zukunftshoffnungen, die bei Berliner Hauptschülern aufgrund ihrer prekären sozialen Lage und ihrer mehrheitlich migrantischen Herkunft besonders ausgeprägt sind. Indem ich Schüler im Abstand von mehreren Jahren wiedertraf, entwickle ich darüber hinaus eine langfristige Perspektive auf biografische Entwicklungsverläufe. Die hier behandelten Gefühlsbündel lassen sich nicht isoliert voneinander verstehen, es handelt sich vielmehr um vielschichtige, gemischte Gefühle, bei deren Betrachtung sich gleichsam bestimmte Erfahrungs- und Verarbeitungsweisen von sozialer Exklusion abzeichnen.22
Emotionen und Affekte haben etwa seit der Jahrtausendwende disziplinenübergreifend ein verstärktes wissenschaftliches Interesse auf sich gezogen.23 In meiner Beschreibung des Gefühlsraums Hauptschule spitze ich die seit den 1980er Jahren vielfach belegte Annahme der gesellschaftlichen Bedingtheit von Gefühlen zu, indem ich deren soziale Entstehungsbedingungen und politischen Potenziale im Kontext von sozialer Ausgrenzung hervorhebe.24 In Emotionen und Affekten artikulieren sich gesellschaftliche Widersprüche, aber auch utopische Wunschvorstellungen, in ihnen werden Unterdrückung und Widerständigkeit praktisch erlebt und gelebt. Die Betonung der Wirksamkeit von Gefühlen bedeutet also keine Abwendung von postmarxistischen Fragen nach Klassen- und Ausbeutungsverhältnissen, sondern eine Verfeinerung und Neujustierung dieser Fragestellungen, die nun vom Sockel der Philosophie und politischen Rhetorik gestoßen und anhand alltäglicher Prozesse der Subjektivierung behandelt werden. Und sie bedeutet eine klare Absage an all jene, die meinen, durch die Hinwendung zu den Gefühlen ließe sich die hierarchische Ordnung unserer Gesellschaft ausblenden. Eine politische Lesart von Emotionen meint jedoch nicht, diese einseitig auf sozialstrukturelle Bedingungen und Bedeutungen zu reduzieren. Zudem verweigere ich in der Interpretation einfache Positiv-Negativ-Deutungen von Gefühlskomplexen, so werden positiv konnotierte Emotionen wie Stolz und Coolness auch auf ihre selbstexkludierenden Wirkungen hin befragt und negativ markierte Gefühle wie Wut und Neid mit Blick auf ihre emanzipativen und kritischen Potenziale betrachtet. Die politische Stoßkraft von Gefühlen hängt wesentlich damit zusammen, dass Emotionen ein zentrales Element von sozialer Ordnung und Subjektbildung sind.25 Während die gesellschaftliche Ausgrenzung von Hauptschülern durch Verachtung gekennzeichnet ist, sind auch die hier untersuchten Exklusionserfahrungen der Schüler affektiv grundiert.
Die detaillierte Rekonstruktion divergenter emotionaler Erfahrungen im Kontext sozialer Marginalisierung ist von der Frage geleitet, ob sich aus der Zusammenschau der verschiedenen Gefühlslagen übergreifende structures of feeling erkennen lassen. Mit structures of feeling kann nach Raymond Williams die praktizierte Kultur einer Epoche gefasst werden, jenes Gefühl des gelebten historischen Augenblicks, das sich stets nur annäherungsweise rekonstruieren lässt.26 Structures of feeling sind wissenschaftlich konstruierte Hypothesen, mit denen versucht wird, die Elemente einer historischen oder gegenwärtigen kulturellen Konstellation mit bestimmten zeittypischen Gefühlslagen zusammenzubringen. Das kapitalistische Klassensystem und Neoliberalisierungsprozesse bieten sich mit Blick auf die Stratifizierung des Schulsystems und die Abwertung von Bildungsverlierern zunächst als Interpretationsfolien an. Mit einer vorschnellen analytischen Rückführung auf solche Überkategorien droht allerdings die Ambiguität von Gefühlen verloren zu gehen. Williams warnt davor, kulturelle Aktivitäten vorschnell als abgeschlossene Produkte zu begreifen und in fixe semantische Formen zu überführen. Stattdessen möchte ich empirisch vorgehen und schrittweise einzelne Gefühlsbündel mit Blick auf gesellschaftliche Ausgrenzungsprozesse rekonstruieren. Dieses Vorgehen betont die Ambivalenzen und Widersprüche, die Vielschichtigkeit und den Facettenreichtum, die Kontextgebundenheit und Situativität emotionaler Phänomene, ohne dabei die „großen“ Fragen von Macht und Ungleichheit aus dem Blick zu verlieren. Im Gegenteil, die emotionalen Auswirkungen von gegenwärtigen Exklusionsprozessen offenbaren sich erst im Detail in ihrem erschreckenden Ausmaß.
1Vgl. Frevert/Wulf (Hg.): Die Bildung der Gefühle.
2Vgl. Bude/Willisch (Hg.): Exklusion; Castel/Dörre (Hg.): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung.
3Vgl. Kronauer: Exklusion; Opitz: Exklusion.
4Vgl. Weiß: Soziologie sozialer Ungleichheit; Boatca: Global Inequalities beyond Occidentalism.
5Vgl. Marchart: Die Prekarisierungsgesellschaft.
6Vgl. Honneth: Kampf um Anerkennung; Honneth: Die soziale Dynamik von Missachtung.
7Zur Unterscheidung zwischen Missachtung und Verachtung vgl. Liebsch: Spielarten der Verachtung. Zur Abgrenzung von Verachtung gegenüber Abscheu bzw. Ekel vgl. Miller: The Anatomy of Disgust.
8Vgl. Gomolla/Radtke: Institutionelle Diskriminierung.
9Vgl. Ortner: Dark Anthropology and its others.
10Zum Kritikbegriff vgl. Jaeggi/Wesche (Hg.): Was ist Kritik?; Allerkamp/Orozco/Witt (Hg.): Gegen/Stand der Kritik.
11Vgl. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus; Anderson/McFarlane: Assemblage and Geography.
12Vgl. Lutz: The Anthropology of Emotions, S. 421.
13Vgl. Lutz: Emotion, Thought, and Estrangement; Frevert u.a.: Gefühlswissen.
14Vgl. Reckwitz: Praktiken und ihre Affekte; Scheer: Emotionspraktiken.
15Vgl. Massumi: Parables for the Virtual.
16Vgl. Dewey: Erfahrung und Erziehung.
17Vgl. Turner/Bruner (Hg.): The Anthropology of Experience.
18Vgl. Scott: The Evidence of Experience.
19Für aktuelle Anwendungen vgl. Chakkalakal: Die Welt in Bildern; Bareither: Gewalt im Computerspiel.
20Vgl. Throop: Articulating Experience; Stephenson/Papadopoulos: Analysing Everyday Experience.
21Vgl. Ngai: Ugly Feelings.
22Vgl. Milton/Svašek (Hg.): Mixed Emotions; Berlant: Cruel Optimism.
23Vgl. Seigworth/Gregg (Hg.): The Affect Theory Reader; Harding/Pribram (Hg.): Emotions; Wulff (Hg.): The Emotions.
24Vgl. Abu-Lughod/Lutz (Hg.): Language and the Politics of Emotions; Flam: Soziologie der Emotionen.
25Vgl. Ahmed: The Cultural Politic of Emotions; Schutz/Pekrun (Hg.): Emotion in Education.
26Vgl. Williams: Structures of Feeling.