Ugly Feelings.
Neid, Missgunst und Peinlichkeit
Nicht nur Schulformen, auch die darin wirksam werdenden kollektiven Gefühle können marginalisiert werden. Wer systematisch sozial degradiert wird, dem drohen auch tabuisierte Gefühle wie Neid, Missgunst und Peinlichkeit. Das im vorigen Kapitel herausgearbeitete Paradox, dass die neoliberale Gesellschaft systematisch Scham produziert und die Artikulation von Minderwertigkeitsgefühlen gleichzeitig delegitimiert, wird in diesem Kapitel anhand von als abstoßend geltenden Gefühlen weiter zugespitzt. Indem Schule und Gesellschaft solche negativ konnotierten Emotionen demonstrativ von sich weisen, drohen sie jedoch als verdrängte Emotionen noch machtvoller und unberechenbarer zu werden. Diese Negativgefühle werden folglich nicht in ihren „reinen“ oder „natürlichen“, sondern in ihren versteckten und latenten Formen untersucht. Auch das öffentliche Lamento über eine deutsche „Neidgesellschaft“ ist selbst ein Symptom der gesellschaftlichen Schmähung dieser und verwandter Gefühlslagen.1 Statt in solche Klagen einzustimmen, verfolge ich, was sie anrichten.
Hauptschüler antworteten mit Neid, Missgunst und Peinlichkeit in differenzierter Weise auf soziale Widersprüche und verstrickten sich dabei emotional in den machtvollen Strukturen des gegenwärtigen kapitalistischen Klassensystems. Gefühle des Neids und der Missgunst setzen voraus, andere überhaupt erst unter Vergleichs- und Wettbewerbsbedingungen wahrzunehmen.2 Auch Peinlichkeit ist sozial bedingt, sie entsteht durch jene Formen der anschuldigenden Bloßstellung und des täglich drohenden Gesichtsverlusts, die fester Bestandteil der gesellschaftlichen Verachtung von Hauptschülern sind. Dass die ungleiche Verteilung von Achtung und Gütern negative Gefühle wie Scham und Neid mit sich bringt, erkannte Jean-Jacques Rousseau bereits im 18. Jahrhundert angesichts des aufziehenden Kapitalismus.3 Thomas Picketty belegte statistisch, dass die seitdem etablierte kapitalistische Form der Vergesellschaftung zu steigender Vermögenskonzentration führte und soziale Ungleichheiten kein zufälliges, sondern ein strukturelles Merkmal des Kapitalismus sind.4 Wie sich vor allem die Vermögensungleichheiten in Deutschland in den letzten Jahren noch einmal zugespitzt haben, schildert wiederum Hans-Ulrich Wehler in seiner sozialhistorischen Untersuchung zu sozialer Ungleichheit in Deutschland.5 Doch politische Gefühle sind keine Einbahnstraße, soziale Strukturen werden in ihnen auf Umwegen erlebt, auf widersprüchliche Weisen erfahren und auf verschiedenen Pfaden reproduziert. Einige dieser Abzweigungen, Widersprüche und Verschiebungen schildere ich in diesem Kapitel anhand von Neuköllner Hauptschülern.
Neid und Missgunst gelten ebenso wie Peinlichkeit als „hässliche“ Emotionen. In Ihrem Buch „Ugly Feelings“ verdeutlicht die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Sianne Ngai, dass solche Gefühlslagen immer auch eine ästhetische Dimension haben und umgekehrt Ästhetiken stets mit einem spezifischen Affektprogramm verbunden sind.6 Neid entsteht zumeist in Folge eines unvorteilhaften Aufwärtsvergleichs, „wenn jemand anderes über Eigenschaften, Fähigkeiten oder Besitztümer verfügt, die man selbst gerne hätte, aber nicht erlangen kann.“7 Neid ist zwar am ehesten auf eine ungerechte Verteilung von Gütern und Chancen gerichtet, wird jedoch in der Regel nicht als eine legitime Form der politischen Artikulation akzeptiert, sondern zumeist als ein persönliches Defizit, als ein Mangel an Motivation oder Leistungsfähigkeit, als ein Ausdruck von negativen Charaktereigenschaften sowie als eine Form von Egozentrismus wahrgenommen.8 Diese sozialmoralische Abwertung ist eng mit geschlechtlichen Zuschreibungen des Neides als weiblich-defizitär verbunden, die Sigmund Freud mit seiner folgenreichen Behauptung vom „Penis-Neid“ auf eine besonders griffige Formel brachte.9 Durch die Sichtweise auf Neid als eine private, minderwertige und negative Emotion werden neidische Reaktionen ihres kritischen Potentials beraubt. Statt Neid als eine berechtigte Reaktion auf eine ungerechte Gesellschaft zu deuten, wird dem Neider in der Regel selbst die Schuld an seiner Misere zugeschrieben. Missgunst steht in der Hierarchie der Gefühle auf einer noch ungünstigeren Position, denn sie gilt zusätzlich noch als destruktiv und aggressiv. Dieses Vergleichsgefühl kann sich auch auf Dinge und Privilegien richten, die selbst gar nicht direkt angestrebt werden.
Die im letzten Kapitel behandelte Scham und die verschiedenen Formen der Peinlichkeit sind in der Praxis schwer voneinander zu unterscheiden. So führen schlechte Schulnoten nicht nur zu Scham- und Minderwertigkeitsgefühlen, die Art und Weise der Notenvergabe kann zusätzlich noch als peinlich empfunden werden. Tendenziell ist die Scham eher nach innen und die Peinlichkeit eher nach außen gerichtet: Während Schamgefühle auf ein dauerhaft internalisiertes negatives Selbstbild hindeuten, beschreibt Peinlichkeit situative Empfindungen der negativen Wahrnehmung durch Andere in sozialen Interaktionen. Ähnlich wie bei der Scham-Angst und der Scham-Abwehr spielt auch die Vermeidung von potentiell peinlichen Situationen eine wichtige Rolle bei der alltäglichen Reproduktion von sozialen Normen.10 Als peinlich wahrgenommene emotionale Erfahrungen drohten den Jugendlichen vor allem durch Formen der Bloßstellung vor einem Publikum, die sowohl ungewollt durch das eigene Auftreten als auch durch das Verhalten von Lehrern und Mitschülern zustande kommen konnten. Manche Schüler wurden dadurch auf eine besonders nachhaltige Weise exkludiert, andere verweigerten peinliche Reaktionen oder durchbrachen den innerschulischen Kreislauf negativer Gefühle.
LATENTER KLASSISMUS: NEID UND MISSGUNST
Obwohl klassenbedingte soziale Ungleichheiten der hierarchischen Aufteilung des Schulsystems mitsamt den darin wirksamen Vorstellungen von Erfolg und Bildung zugrunde liegen, mangelt es an gesellschaftlichem Bewusstsein für Klassismus. In Folge individualisierender Zuschreibungen wird schulisches Scheitern von den Betroffenen selbst weniger als Folge einer ungerechten Chancenverteilung, sondern eher als selbstverschuldeter Mangel und persönliche Unzulänglichkeit wahrgenommen. Es fehlt ein Vokabular, mit dem die Auswirkungen des Klassensystems in der Schule und darüber hinaus als strukturbedingt verstehbar und kritisierbar gemacht werden können. Klassenbedingte Abwertung wird vor allem emotional erfahren, Gefühle wie Neid und Missgunst spielen dabei eine entscheidende Rolle. Jedoch nicht als „authentischer“ Ausdruck von Klassenbewusstsein, sie werden vielmehr durch die negative Konnotierung als „Verlierer“-Gefühle selbst in ein neoliberales Bewertungsraster eingefügt.
Unter Klassismus verstehen Andreas Kemper und Heike Weinbach in Analogie zu Rassismus und Sexismus eine statusbedingte „Diskriminierungs- und Unterdrückungsform“, die zum einen durch „den Ausschluss von materiellen Ressourcen und politischer Partizipation“ und zum anderen durch „die Verweigerung von Respekt und Anerkennung“ gekennzeichnet ist.11 Wie Zuschreibungen von Höher- und Minderwertigkeit im Kontext Schule institutionell gestützt und reproduziert werden, habe ich bereits exemplarisch anhand von Schulnoten und Zeugnissen veranschaulicht. Neben dieser „klassischen“ Variante der Abgrenzung „nach unten“ lassen sich im Schulalltag noch mindestens drei andere emotionsgeladene Formen des Klassismus beobachten: der verachtende Blick „nach oben“, der häufig mit ebenso abwertenden Vorstellungen einhergeht; „interner“ Klassismus, bei dem öffentlich kursierende Negativzuschreibungen zu schambesetzten Selbstbildern führen; und schließlich „lateraler“ Klassismus, bei dem innerhalb derselben marginalisierten Statusgruppe diejenigen ausgegrenzt werden, denen Bildungs- und Aufstiegsambitionen zugeschrieben werden.12 Um diese aggressive Reproduktion von Konkurrenzverhältnissen am unteren Ende der sozialen Hierarchie wird es hier vor allem gehen.
Neid und Missgunst werden durch Klassenstrukturen und durch deren neoliberale Rahmung maßgeblich geprägt. Doch Gefühle als „politisch“ zu verstehen, bedeutet nicht, sie lediglich als Ausdruck soziostruktureller Entwicklungen zu begreifen. Die gesellschaftliche Modellierung von Neid und Missgunst bleibt aus einer Top-Down-Perspektive nur unzureichend darstellbar, sie wird erst mit Blick auf die variierenden Erscheinungsformen und die mitunter widersprüchlichen Artikulationsweisen dieser Gefühle in ihrer Komplexität erkennbar.
Delegitimierung des Neides
In einer Gesellschaft, die sich zwar soziale Gerechtigkeit und soziale Mobilität auf die Fahnen schreibt, doch tatsächlich von einer größer werdenden und kaum überbrückbaren Kluft zwischen Arm und Reich gekennzeichnet ist, werden systematisch Neidanlässe produziert.13 Doch bleibt die legitime Artikulation von Neidgefühlen auf ein systemkonformes Wettbewerbsdenken beschränkt. Aufgrund der Ausrichtung am normativen Ideal des „unternehmerischen Selbst“ wird auch von den sozio-ökonomisch Deklassierten in der Gegenwartsgesellschaft erwartet, sich konsequent als Marktsubjekt zu verhalten, sich als handlungsmächtiges Subjekt zu imaginieren, das für Erfolg oder Misserfolg selbst verantwortlich ist.14 Zwar waren Hauptschüler am Ende ihrer Schulzeit vor allem mit dem Problem verstellter Handlungsoptionen konfrontiert, doch konnten auch sie sich diesen Subjektivierungsanforderungen nicht vollständig entziehen. Die daraus entstehenden Brüche artikulierten sich vor allem in emotionalen Spannungen und Widersprüchen, sie prägten das ambivalente Verhältnis der Schüler zum Neid.
Neid hat viele Schattierungen, die von Antipathie gegenüber den Beneideten bis zur Bewunderung der Besitzenden reichen, und kann sowohl lähmende als auch motivierende Wirkungen haben. Dennoch gehört Neid in den westlichen Gegenwartsgesellschaften zu den am negativsten bewerteten Emotionen, in der christlichen Tradition gilt er sogar als eine der sieben Todsünden.15 Mit Neidempfindungen begründete Ansprüche auf Teilhabe werden als Egoismen in Verruf gebracht und als Charakterschwäche abgewertet. Neidvorwürfe sind, wie Sighard Neckel ausführt, häufig selbst ein Produkt der Klassengesellschaft: „In der Öffentlichkeit dient ‚Neid‘ als politischer Kampfbegriff, den – gemäß der Natur der gemeinten Sache – vor allem besser Gestellte benutzen. Wer stets alles haben kann, was er begehrt, mag mühelos das Ressentiment bei jenen entdecken, deren Bestrebungen weniger vornehm aussehen. In den symbolischen Kämpfen um die Verteilung von Gütern und Positionen ist der Neidvorwurf eine beliebte Rhetorik, um Forderungen nach größerer Teilhabe als Ausdruck hässlicher Charaktereigenschaften zu diskreditieren. Darin teilt sich auch immer die Botschaft sozialer Verachtung mit, wollen sich bessere Kreise hiermit doch auch moralisch über den gewöhnlichen Menschen erheben.“16
Die gesellschaftliche Bewertung von Emotionen beeinflusst alltägliche Wahrnehmungen und Interpretationen und bleibt somit nicht folgenlos für die emotionalen Erfahrungen vonseiten Berliner Hauptschüler. Obwohl symbolisch und materiell benachteiligt, wollten diese sich nicht noch einem zusätzlich demütigenden Neidvorwurf ausgesetzt sehen.
Feldtagebuch: Heute soll ich den Schülern erzählen, was ich hier so mache. Ich berichte ihnen von meiner ersten Forschung über Hauptschüler und erwähne, dass ich mich nun besonders für Emotionen wie Langeweile, Scham, Wut und Neid interessiere. Letzteres wird von den Jugendlichen sofort aufgegriffen und diskutiert.
Mustafa: „Also, ich kriege auch manchmal Neid, wenn ich sehe, wie gute Noten Maria schreibt.“
Maria: „Ich finde, man sollte nicht neidisch sein. Es kommt auf einen selbst an, wie man das organisiert, also lernt und so.“
Mustafa: „Ich bin zufrieden, Jobcenter bezahlt alles.“
Kai: „Alles Schwarzarbeiter hier.“
Mohamad: „Mein Vater ist Millionär.“
Nevin: „Es gibt viele, die auf der Real sind und trotzdem dumm sind.“
Mustafa: „Eigentlich jeder kann klug sein, wenn man zu Hause in einem Buch liest. Man kann überall Erfahrungen sammeln, auch für die Schule. Aber leider ist es so, dass viele Hauptschüler Stress von draußen oder von zu Hause in die Schule bringen und es hier weiterverbreiten. Deswegen werden Hauptschüler auch ausgegrenzt.“
Maria: „Gymnasiasten haben auch nicht bessere Aussichten.“
Kai: „Meine Familie hat drei Autos.“
Mustafa: „Es gibt Leute, die gehen auf das Gymnasium und haben später selber keinen Abschluss.“
Jamil: „Ja, ich kenne einen.“
Mohamad: „Mein Freund hat Gymnasiumabschluss, aber er hat keine Arbeit. Er arbeitet im Internetcafé.“
S.W.: „Meint ihr, jeder ist für sich selbst verantwortlich oder es hat eher mit den Verhältnissen zu tun, in die man geboren wurde?“
Maria: „Das hat doch damit gar nichts zu tun!“
Kai: „Er will sagen, wir sind alle arm und haben kein Essen.“
Mustafa: „Aber wenn manche voll die Bonzen sind, dann ist doch klar, dass sie den Job kriegen.“
Kai: „Wer den Cent nicht ehrt, ist den Euro nicht wert.“
Mohamad: „Meine Eltern hatten einen guten Abschluss – in Syrien.“
Mustafa: „Warum sollen wir neidisch sein? Weil die vielleicht eine eins oder eine zwei schreiben? Interessiert mich doch nicht! Die Lehrer müssen so lange studieren und verdienen auch wenig Geld. Hat Herr Dombrowski ein Auto? Er hat nicht mal einen Führerschein!“
Jamil: „Er fährt immer noch mit dem Bus!“
Mustafa: „Und die Leute vom Jobcenter, die fahren ein Auto.“
Kai: „Ja, ich lebe von Jobcenter, wir fahren drei Autos: E-Klasse. Egal, ich will nicht schwindeln.“
Jamil: „Neid gibt es bei uns nicht.“
Mohamad: „Wenn jemand Erfolg hat, dann freue ich mich für ihn. Und wenn ich Erfolg habe, freut er sich für mich. Man muss sich immer für jemanden freuen können, ihm was gönnen. Ich habe auch Freunde aus der Grundschule, die jetzt auf das Gymnasium gehen. Neid darf man nicht haben.“
Jamil: „Neid ist keine gute Sache.“
Die Schüler wirkten geradezu besessen davon, nicht als neidisch zu erscheinen. Aufgrund der moralischen Vorhaltungen, die im Neidvorwurf mitschwingen, lehnten sie dieses Gefühl auf verschiedene Weisen ab: Sie behaupteten, es komme bei ihnen schlicht nicht vor; sie meinten, es gäbe im Vergleich mit anderen auch keinen Anlass dazu; und sie missbilligten Neid darüber hinaus prinzipiell als eine destruktive Emotion. Die Vergleiche mit Realschülern oder Gymnasiasten, sowie zwischen Lehrern und „Hartz-IV“-Empfängern zeugten vom komparativen Modus der statusbedingten Selbstverortung. Dessen selbstaufwertende Schlagseite wiederum kam in der Tendenz zum Ausdruck, Sozialvergleiche zugunsten der eigenen Position zu deuten: Viele Gymnasiasten finden auch keinen Job, Realschüler sind auch nicht klüger und manche Hauptschullehrer besitzen im Gegensatz zu den Familien der Schüler nicht einmal ein Auto. Durch die Konturierung der Selbstpositionierungen über eine statusorientierte Vergleichsperspektive wird gleichsam deutlich, wie stark sich die Schüler einem Wettbewerb um Bildung, Besitz und Arbeit ausgesetzt fühlten.
Auffallend ist, wie vehement die Schüler strukturelle Begründungen für ungleiche Chancen- und Güterverteilungen ablehnten. Durch die diskursive Kopplung sozialer Benachteiligung mit einer „Verlierer“- und „Opfer“-Semantik, wurde das Ausmaß der eigenen Exklusion möglichst kleingeredet. Zwar wurden ungerechte Privilegien und benachteiligende Umstände bei der Arbeitsplatzsuche eingeräumt, doch wurde das Leistungsprinzip und mit ihm das Wettbewerbssystem prinzipiell verteidigt. Neid verwies nicht nur auf einen materiellen Mangel, es erschien für die Schüler selbst als ein unzulängliches Gefühl. Neid, der nicht in Form wettbewerbsbedingten Profit- und Vorteilsstreben auftritt, sondern als Anklage gegen eine ungleiche Güter- und Chancenverteilung, wird im gegenwärtig auch unter Hauptschülern dominierenden Marktdenken als unproduktives Ressentiment delegitimiert. Gleichzeitig deutet sich eine Neujustierung des Subjektmodells des „unternehmerischen Selbst“ an. Während das gesellschaftliche Leitbild einer wettbewerbsbasierten Leistungsgerechtigkeit allmählich verblasst und von Statusfaktoren wie Risiko oder Vererbung verdrängt wird, steigt auch bei den Schülern das Bewusstsein für die Kontingenz von Lebenslagen sowie für statusübergreifende generationelle Prekaritätserfahrungen.17
Neben gesellschaftlichen Rahmungen und narrativen Konventionen spielten in dieser Szene auch situative Dynamiken und interaktionale Gesprächslogiken eine entscheidende Rolle. Die Diskussion fand am Anfang meiner Forschungszeit statt. Die Schüler waren noch unsicher über meinen Blick auf sie und spielten auf ironische Weise mit den über sie kursierenden Negativstereotypen. Das provozierende Lob des „Jobcenter“ und das übertriebende Posieren mit vermeintlichen „Millionen“ wurde in der Regel angestimmt, um flüchtige Besucher zu schockieren. Bleibt der Inszenierungscharakter solcher Selbstdarstellungen nicht berücksichtigt, werden sie in populistischen Gesellschaftsdiagnosen mitunter als authentische Belege für die Faulheit und Passivität oder die Verwöhntheit und Arroganz einer migrantischen Berliner „Unterschicht“ aufgefasst.18 Dies bedeutet nicht, dass die Behauptungen der Schüler überhaupt keinen Bezug zu ihrer Lebensrealität hatten, doch sollten neben den ironischen und performativen Aspekten der Darstellungsweise auch die rechtlichen und sozialen Hintergründe der angesprochenen Verhaltensweisen im Blick behalten werden. So waren tatsächlich Familienangehörige der Schüler in „Schwarzarbeit“ verwickelt, doch vor allem deshalb, da ihnen aufgrund ihres Flüchtlingsstatus ein legitimer Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt wurde. Und wenn sich einige Familien Luxusautos zulegt haben sollten, auf deren Bedeutung als Statussymbol ich bereits im Kapitel zu Coolness hingewiesen habe, dann nahmen sie dafür in der Regel Schulden auf sich.
Auch wenn in dieser Passage relativierende und provozierende Bemerkungen dominierten und politische Positionierungen dadurch eher unterlaufen wurden, hielt die Mehrheit der Schüler weiterhin am moralischen Prinzip der Leistungsgerechtigkeit fest. Die Perspektive auf ihre Bildungslaufbahn war in der Regel darauf ausgerichtet, sich Schritt für Schritt über den erweiterten Hauptschulabschluss und den MSA sowie anschließend entweder über Ausbildungen oder das Abitur „nach oben“ zu arbeiten. Hinweise auf sozialistische, kommunistische oder andere auf die Überwindung von Klassenschranken ausgerichtete utopische Gesellschaftsentwürfe fanden sich dagegen kaum – am ehesten noch in der religiösen Betonung einer muslimischen „Umma“, einer Gemeinschaft der Gläubigen. Zugespitzt könnte man sagen, die Schüler verteidigten den Kapitalismus mitsamt seinen Ungleichheiten gegen Formen des risikoorientierten Neoliberalismus, bei denen sozialer Aufstieg nicht mehr auf Arbeitsleistung und Anstrengung zurechenbar erscheint.
„States of Unfulfilled Desire“
Auch wenn Hauptschüler Neid demonstrativ ablehnten, wurden sie dennoch am Ende ihrer Schulzeit mit schwer erfüllbaren Erwartungen, Wünschen und Begehrlichkeiten konfrontiert. Neid prägt indirekt die Erfahrung von Minderwertigkeit, indem Aspirationen emotional aufgeladen und in Vergleichsszenarien überführt werden. Gleichzeitig fügten sich die Schüler dadurch in eine gesellschaftliche Hierarchie des Begehrenswerten und des Wettbewerbs ein, sie strebten keinen Umsturz, sondern eine erfolgreichere Teilhabe an.19 Dabei lässt sich ein Verankerungspunkt und ein Verdichtungsbereich von Neidgefühlen unterscheiden.20
Während sich Neid aufgrund von Strukturen sozialer Ungleichheit bei gleichzeitiger sozialer Nähe und moralisch geltenden Gerechtigkeitsansprüchen allmählich aufbaut, verdichtet sich dieses Gefühl im Bereich von Karrierewegen und Konsumgütern. Neid ist ein strukturell produziertes doch individuell erlebtes Gefühl, in dessen Vergleichs- und Anspruchshaltung sich moralische Wertungen und soziale Wünsche verbergen. Aus dieser Perspektive erscheint Neid als eine emotionale Form des alltäglichen Urteilens über die gesellschaftlichen Verhältnisse und nicht als ein irrationaler Einbruch in eine ansonsten wohlgeordnete Normalität.21 Anhand von Erinnerungen an ihre Mutter und die eigene Kindheit in einer englischen Bergarbeitersiedlung erfasst die englische Historikern Carolyn Steedman die Ausrichtung des Neids an materiellen Gütern als ein politisches Gefühl im Kontext der sozioökonomischen Deprivation und sozialmoralischen Delegitimation von Teilen der damaligen Arbeiterklasse: „by allowing envy entry into political understanding, the proper struggle of people in a state of dispossession to gain their inheritance might be seen not as sordid and mindless greed for the things of the market place, but attempts to alter a world that has produced in them states of unfulfilled desire.“22
Anzeichen von „states of unfulfilled desire“ bei Neuköllner Jugendlichen begegneten mir in den bereits beschriebenen „Wannabe“-Selfies und anderen populärkulturellen oder pädagogischen Formaten, wie beispielsweise den Wandzeitungen, auf denen die Schüler ihr „Leben in fünf Jahren“ imaginieren sollten. Dafür schnitten sie aus illustrierten Zeitschriften wahlweise Bildmotive aus den Bereichen Werbung, Unterhaltung und Prominenz aus und arrangierten diese mit eigenen Texten oder Zeichnungen. Das Spektrum reichte von bodenständigen bis zu träumerisch-schwelgenden Zukunftsfantasien. Bescheidene Zukunftswünsche wie „Eine schöne Wohnung. Vielleicht eine Frau. Schönen Urlaub. Ein Auto“ deuteten einen Wunschhorizont an, der für viele Schüler gleichzeitig noch in weiter Ferne erschien. Die jugendspezifische Sehnsucht nach Selbstständigkeit wurde bei den Schülern vor allem am Streben nach „eigenem Geld“ und einer „eigener Wohnung“ deutlich. In Bezug auf den Schulabschluss wünschten sich die Schüler Dinge wie “MSA geschafft“, „MSA nachholen“ und „vielleicht Abitur“. Das „nachholen“ verweist hier bereits darauf, dass die meisten von ihnen den Mittleren Schulabschluss (MSA) beim ersten Anlauf nicht erreichen werden und das „vielleicht“ kalkuliert bereits künftige Ungewissheiten ein. Bei den Wünschen für den beruflichen Weg nach der Schule reichte das Spektrum vom Ziel, überhaupt „eine Ausbildung“ zu haben, über spezifische Berufswünsche wie „Koch“, „Kosmetikerin“, „Arzthelferin“ und „Kfz-Mechaniker“ bis zu Wohlstandsfantasien als reicher „Geschäftsmann“ oder „Millionär“. Das Luxusleben wurde wiederum gerne spielerisch ausgeschmückt, zu ihm gehörten eine Sauna und eine luxuriöse Inneneinrichtung, ein Mercedes oder ein BMW der Luxusklasse, ausgedehnte Reisen in westliche Metropolen oder an die Strände der Südsee.
Die jungen Frauen äußerten dabei stärkere und spezifischere Familienwünsche als ihre männlichen Mitschüler, inklusive recht genauer Angaben über den anvisierten Nachwuchs – in der Regel „zwei bis drei Kinder“, die zwar nicht direkt nach der Schule, aber auch nicht zu lange danach eingeplant wurden. Diese Kinder sollten in einem klassischen Familienmodell aufwachsen, das einen „Mann“, den Sozialstatus des „verheiratet sein“ und eine mittels Herzen oder „I love you“ versinnbildlichte romantische Zweierbeziehung beinhaltete. Eine Schülerin monierte die Beschränkung des zur Verfügung stehenden männlichen Bildmaterials auf westliche Prominenz – ihr „Traummann“ sei stattdessen der türkische Popsänger Gökhan. Diese Art des romantischen Schwärmens erinnert an die von Angela McRobbie und Jenny Garber beschriebene häuslich orientierte weibliche Mädchenkultur der „Teeny-Bopper“, die sich mithilfe der Bewunderung männlicher Stars einerseits an das normative Rollenmodell einer romantischen Zweierbeziehung annäherten und dieses gleichzeitig noch eine Weile zugunsten kindlicher Unbeschwertheit und mädchenhafter Gemeinschaft auf Distanz halten konnten.23
Die männlichen Schüler changierten zwischen einem Respektabilität und Geborgenheit versprechenden Familienleben sowie den hedonistischen Verheißungen eines Single-Lebens. Einer kombinierte Versatzstücke aus beiden Lebensmodellen, indem er sich sowohl sexuell attraktive weibliche Begleiterinnen („Meine Ladies“) als auch eine schöne, aber dezenter dargestellten Ehepartnerin („Meine Frau“) zur Seite stellte. Auch andere Schüler nutzten das Bildmaterial von Illustrierten zur spielerischen Partnerwahl, doch auch hier beklagte sich ein Schüler, dass leider nur „weiße Models“ als Bildmaterial zur Verfügung standen, er aber farbige Frauen bevorzuge. Neben Frauen spielten auf dem hier abgebildeten Poster eines männlichen Schülers auch andere Verweise auf einen glanzvollen Lebensstil eine zentrale Rolle: eine luxuriöse Villa mit Pool („mein Apartment“), der Verweis auf den Boxsport, auf dessen Bedeutung bei männlichen Hauptschülern ich noch ausführlich eingehen werde, und schließlich insgesamt vier Verweise auf das Mode-Unternehmen „Hugo Boss“ (Abb. 8). Diese auch bei anderen Schülerwandzeitungen zu beobachtende Assoziation steht für Glamour und Geld, für Macht und Selbstbestimmung. Einmal selbst „Boss“ sein – für Hauptschüler, deren Eltern beruflich zwischen prekären Aushilfstätigkeiten, „Hartz IV“ und „Schwarzarbeit“ verortet sind, stand dies für den Wunsch, solche von Armut und Demütigungen geprägten Sozialverhältnisse zu vermeiden.
Abbildung 8: Poster Zukunftsfantasien
Quelle: Galilei-Schule
Mit Carolyn Steedman könnte man dieses Poster als „Landscape of a Bad Boy“ bezeichnen. „Bad Boy“ verstehe ich hier natürlich nicht als deskriptive Kategorie, sondern als Verweis auf die Ambivalenzen geschlechtlicher Zuschreibungen und auf die sozialmoralische Schlagseite von alltäglichen Kategoriebildungen, deren Herrschaftseffekte Steedman in Bezug auf Slogans wie „gute Mutter“ und „brave Tochter“ herausgearbeitet hat. Der protzige männliche Gestus der konsumistischen Überbietung unterscheidet sich jedoch von Steedmans weiblichem Wunsch nach einem „New Look“ Shirt in den 1960er Jahren. Auch wenn die Galilei-Schülerinnen ihre Zukunftsfantasien insgesamt etwas zurückhaltender präsentierten als ihre männlichen Mitschüler, zeigte sich auch geschlechterübergreifend eine Orientierung an Prominenz und Luxus. Diese lässt sich zum Teil auf die den Schülern zur Verfügung gestellte Zeitschriftenauswahl zurückführen, doch lohnt sich auch die Frage, welches Gesellschaftsbild sich damit verbindet. Mit den seit den Nachkriegsjahrzehnten in Westeuropa gewachsenen Klassenunterschieden wuchs anscheinend auch die Kluft zwischen konsumorientierten Statusfantasien und sozioökonomischer Statusposition, was sich wiederum in von Armut und Ausgrenzung betroffenen unterbürgerlichen Schichten besonders deutlich bemerkbar macht. Wenn dies stimmt, dann wären „states of unfulfilled desire“ ein besonderes Kennzeichen neoliberaler Zeiten.
Die Betonung der Bedeutung von Zuständen unerfüllten Begehrens legt eine psychoanalytische Lesart von Valorisierungsprozessen nahe. Dabei stellt sich die Frage, wie Subjektbildungsprozesse mit Strukturen des Begehrens zusammenhängen. Hauptschüler orientierten sich in ihren Ich-Idealen an der vorherrschenden symbolischen Ordnung, sie favorisierten entweder das normative Modell der ökonomisch gesicherten „Nomalbiografie“ oder träumten von exzessivem Konsum. Mit einer unorthodoxen Bezugnahme auf psychoanalytischen Grundannahmen könnte man sagen, die Jugendlichen versuchen über ihre Fantasien von Wohlstand oder Reichtum zu einem vollständigen, gesellschaftlich anerkannten Ich zu werden, verdecken dabei aber einen konstitutiven Mangel. Dieser Mangel ist nun aber nicht, wie in der Lacanschen Lesart, im Subjekt selbst begründet, die begehrten Konsumgüter kein Verweis auf das Phantasma eines ohnehin nie erreichbaren vollständigen Ur-Subjekts.24 Die affektive Ausrichtung an materiellen Dingen verweist auf einen viel profaneren Mangel, der sich aus der Differenz zwischen den kulturell dominanten Vorstellungen eines guten und vollständigen Lebens sowie der gesellschaftlichen Vorenthaltung der materiellen Möglichkeiten zu deren Realisierung ergibt. Dieser strukturell verursachte Mangel wäre durchaus aufhebbar.
Die auf den Postern der Schülerinnen und Schüler abgebildeten Dinge und Referenzen standen in erster Linie für das Versprechen eines guten und glücklichen Lebens. Ein solches Leben wiederum wurde mit dem erfolgreichen Streben nach beruflichen Erfolg, Familie, Konsum und Reichtum verbunden.25 Wer dieses Streben als materialistisch abwertet, kann es sich in der Regel finanziell leisten, mit dem Verzicht auf Besitz oder Karriere zu kokettieren. Mit einem solchen paternalistischen Gestus wertet man jedoch den Versuch ab, sich unter prekären Bedingungen ein gesichertes Leben zu imaginieren. Die illustrierten Zukunftswünsche der Galilei-Schüler zeugen von inhomogenen Formen des Klassenbewusstseins, die nicht in vorgefertigte politische Schubladen passen. Sie mögen im marxistischen Sinne entfremdet statt progressiv erscheinen, doch wir sollten eher unsere Vorstellungen von Klassenbewusstseins hinterfragen und erweitern, als die Widersprüchlichkeiten von gelebten Erfahrungen sozialer Klasse auszublenden. Sowohl die bescheidenen als auch die anmaßenden Zukunftsfantasien, die Verteidigung von Meritokratie und die Träume von plötzlichem Reichtum, das Streben nach dem „normalen“ Leben ebenso wie Luxus- und Millionärsfantasien sind jeweils aktive und affektive Reaktionen auf strukturelle Ungleichheiten im gegenwärtigen Kapitalismus.
Missgunst: Mobbing und seine Folgen
Als ich Sila von meinem Buchprojekt erzählte, antwortete sie mit dem Hinweis, sie schreibe auch gerade an einem Buch. Ich war etwas überrascht, schämte mich aber im nächsten Moment schon dafür und fragte nach. Sie berichtete von der Arbeit an den ersten 30 Seiten einer Fantasy-Geschichte über eine träumerische Einzelgängerin, wie sie selbst eine sei, sowie von einigen Gedichten. Ich schlug vor, wie könnten als Autoren ja mal unsere Texte austauschen und bekam daraufhin von ihr in den folgenden Tagen einige Gedichte. Sila bezeichnete sie entschuldigend als „ziemlich kindlich“. Für mich wirkten sie vor allem ziemlich depressiv. Es war von „Schatten“ die Rede, welche ihr die Freude am Leben verdeckten, von der Angst vor der „Dunkelheit“ und dem Kampf gegen die „Müdigkeit“, aber auch von einem ersehnten „Licht der Hoffnung“.
Sila wirkte auf mich wie ein schwärmerisches, romantisches Mädchen, oft noch kindlich im Auftreten, doch schon erwachsen und überlegt in ihren Urteilen, schüchtern im Umgang mit anderen, unsicher und zurückhaltend im Unterricht, wo man ihre leisen Wortmeldungen oft kaum verstand – ganz im Gegensatz zu ihrer sich resolut behauptenden besten Freundin Hazal, die stets neben ihr saß. Auch Silas beruflichen Ambitionen passten nicht so recht an die Galilei-Schule. Sie wollte eigentlich Bauzeichnerin oder Architektin werden, ahnte aber bereits, dass ihre Noten dafür nicht ausreichen würden – auf dem Halbjahreszeugnis der zehnten Klasse hatte sie einen Notenschnitt von 3,4 – am Schuljahresende von 3,2. Sie trug den Gedanken mit sich herum, in die Türkei, das Herkunftsland ihrer Eltern, zu gehen und dort einen Neustart zu wagen. Ihre Eltern – der Vater arbeitete als Bauarbeiter, die Mutter als einfache Angestellte bei McPaper – waren Cousins. Sila war nach der Grundschule zunächst auf eine evangelische Sekundarschule gegangen, wurde dort jedoch „gemobbt“, wie sie selbst sagte, musste die zehnte Klasse wiederholen und landete danach schließlich auf der Galilei-Schule: „Ich wollte hier mein Glück versuchen. Wollte meinen MSA nachholen, weil ich es mir dort im letzten Jahr nicht getraut habe.“ An der Galilei-Schule wurde sie sofort wieder ausgegrenzt. Ich erinnere mich an eine Unterrichts-Diskussion über Cybermobbing, in der Kai unwidersprochen posaunte: „Ich würde niemanden mobben – außer Sila.“ Bis zu den Halbjahreszeugnissen hielt Sila noch durch, dann wurde sie immer blasser, musste vermehrt zur Therapie und kam schließlich in den letzten Monaten überhaupt nicht mehr. Da sie offiziell krankgeschrieben war, erhielt sie dennoch einen erweiterten Hauptschulabschluss.
Sila bemühte sich, nicht negativ aufzufallen, doch ihr Auftreten kollidierte unweigerlich mit den ungeschriebenen Verhaltens- und Dress-Codes an der Galilei-Schule. Am Anfang des Schuljahres wurde sie zwar als alleinige Kandidatin zur Klassensprecherin gewählt, doch in ihrem Fall war dies eher eine Negativauszeichnung durch eine der Schule gegenüber skeptisch eingestellte Schülerschaft, die das Misstrauen über ihre intellektuellen und beruflichen Ambitionen noch verstärkte. Misstrauen vermischte sich hier mit Missgunst, einer radikalisierten Variante des Neides, bei welcher dem Anderen das von ihm Begehrte missgönnt wird, er Privilegien verlieren oder zumindest anderweitig leiden soll. Mobbing unter Hauptschülern, also innerhalb einer im Bildungssystem bereits ausgegrenzte Schülerschaft, lässt sich in diesem Fall als eine Form von „lateralem“ Klassismus interpretieren, bei der einem „Absteiger“ aus einem höheren Schultyp die sozialen Grenzen aufgezeigt und bei den Versuchen wieder fortzukommen, die Beine gestellt werden. Dies geschah nicht unbedingt willentlich, sondern zunächst indirekt durch gegenseitige Abgrenzungen im Stil und im Verhalten, die dann sozialmoralisch aufgeladen und als Angriffsflächen benutzt wurden:
Feldtagebuch: Sila kommt betont motiviert in den Unterricht, doch wird sie gleich mit „hallo russische Mafia“ empfangen, da sie eine Lederjacke mit einem Pelzüberwurf trägt. Ihr Körper zieht sich zusammen und ihre Erkältung macht sich bald wieder bemerkbar. Als später ein Brecht-Reim vorgelesen wird und sie entgegnet, dass hätten wir bereits „durchgenommen“, wird dies sofort als Vorlage für derbe sexuelle Anspielungen ausgenutzt. Sie reagiert mit einer verzweifelten Geste, mit der sie zeigen will, wie dämlich sie das Verhalten ihrer männlichen Mitschüler findet.
Sila war zwar in einer schwachen Minderheitenposition, aber dennoch kein passives Opfer. Im Interview kritisierte sie die Ausgrenzung von Schülern aufgrund von Kleidung als oberflächlich und deutet ihre Umgangsstrategien an.
Sila: „Ich habe mich früher sehr unauffällig und immer eintönig angezogen, um ja nicht aufzufallen. Damit sich ja niemand über mich lustig macht oder überhaupt etwas sagt. Erst in der letzten Zeit habe ich mich etwas farbenfroher und bunter angezogen. Ich möchte nicht mehr nur dunkel aussehen, muss aber auch aufpassen, den anderen nicht zu sehr zu ähneln. Ich ziehe mich jetzt eigentlich fast komplett so an, wie andere Mädchen an dieser Schule. Aber es gibt immer wieder Komplikationen. Ich habe mir letztens diese Stiefel geholt, die ich eigentlich ganz schön fand. Die wurden dann aber gleich als komisch bewertet. Mittlerweile höre ich, dass ich ein Nazi bin. Ich wünschte, ich wäre auch so selbstbewusst, bestimmte Kleidung zu tragen. Als ich die Stiefel gesehen habe, dachte ich, es wird Zeit, dass ich mal ein bisschen mutiger werde. Und fand das auch gut. Aber mit dem Nazigedanken – ich habe überhaupt nicht daran gedacht, dass andere so über mich denken könnten.“
Versuche der Selbstermächtigung scheitern teilweise oder rufen unerwartete neue Konflikte hervor. Manchmal glaubte Sila, sie könne die Anfeindungen einfach ignorieren, manchmal wurde sie von ihnen mit ungeschützter Wucht getroffen. Im Laufe des ersten Schulhalbjahres machten sich bei ihr körperliche Beschwerden immer deutlicher bemerkbar, sie klagte vor allem über Bauch- und Herzschmerzen. Ihre gesundheitlichen Probleme führte sie maßgeblich auf ihre soziale Stellung innerhalb der Schülerschaft zurück.
Sila: „Auf jeden Fall ist es nicht grad immer fröhlich hierherzukommen, also für mich. Also ich bin nicht wirklich selbst ..., also Selbstsicherheit habe ich sowieso nicht. Ich bin auch sehr selbstkritisch und ich kann mich nie wirklich einschätzen und bewerten, was ich grad mache. Ja, also manchmal kommt es vor, dass ich unsicher bin. Also meine Stimmung ist noch normal, wenn ich herkomme. Aber wenn ich irgendwas Negatives erlebe, sei es die Schüler, sei es die Lehrer, dann beeinflusst das einen, dann hat man schlagartig auch andere Gefühle. Grad wenn man hört, dass über einen gelästert wird, durch Mobbing und diese ganzen Sachen. Ich habe ja jetzt seit drei Wochen diese Beschwerden und da kann man halt nicht so wirklich glücklich zur Schule kommen. Ich denke manchmal auch, es könnte vielleicht etwas mit meiner Umgebung zu tun haben – die Schule, der Stress hier. Vielleicht nehme ich ja auch alles nur zu ernst und es könnte dadurch auch verursacht werden. Die Ärzte meinen ja auch, da ist nichts und die haben auch ganz oft Blut abgenommen. […] Also, wenn ich zum Beispiel an einer Gruppe vorbeikomme, kommt es vor, dass über mich gelästert wird und ich auch angesprochen werde. Also ich denke, ich behalte das Ganze zu sehr für mich und dann platzt es halt aus einem heraus, wenn man es nicht mehr aufnehmen kann. Ich hatte auf der anderen Schule schon Probleme und fühle mich dadurch etwas schwächer. Ich hatte da ganz negative Sachen erlebt und habe ganz einfach Angst, dass es sich wiederholt. Es kann sein, dass ich dadurch eingeschüchtert wirke, aber eigentlich möchte ich das Gegenteil beweisen. Eigentlich bin ich ein fröhlicher Mensch.“
Mobbing meint einen Ausgrenzungsvorgang, bei dem einzelne Schüler oder Schülergruppen wiederholt und über einen längeren Zeitraum auf körperliche oder verbale Weise negativ behandelt werden.26 Diese Viktimisierungsprozesse basieren in der Regel auf einem Machtungleichgewicht, bei dem häufig zurückhaltend auftretende Jugendliche, die als schwach, unattraktiv oder unpopulär gelten „angepöbelt“ oder „fertiggemacht“ werden. Die Täter weisen oft eine negative Einstellung gegenüber der Schule auf, wobei viele von ihnen im Verlauf ihrer Schullaufbahn selbst unter Ausgrenzungserfahrungen zu leiden hatten. Der Ausgrenzungseffekt wird durch die das Mobbing unterstützenden Mitmacher und wegschauende oder zumindest nicht intervenierende Zuschauer zusätzlich verstärkt. Aufseiten der Betroffenen gelten soziale Isolation, schulischer Rückzug, Ängste und Depressionen als typische Folgen von Mobbing. In Silas Fall kulminierten die emotionalen Folgen schließlich in einer Serie von körperlichen Zusammenbrüchen während des Unterrichts. Diese wirkten auf alle Beteiligten willkürlich und unvorhersehbar. Doch auch wenn sie nicht unbedingt direkt mit einer konkreten Mobbingsituation korrespondierten, so hatten sie dennoch maßgeblich mit ihrer sozialen Stellung in der Schule zu tun.
Feldtagebuch: Plötzlich fällt Sila auf ihrem Platz in sich zusammen. Sie hat extreme Atem- und Herzschmerzen. Der Lehrer wirft mir einen Blick zu und zusammen mit ihrer Freundin Hazal begleite ich sie nach draußen. Wir müssen sie stützen, da sie kaum laufen kann und der Ohnmacht nahe scheint. Ich bin besorgt und hilflos, Hazal aufgeregt und leicht panisch. Wir überlegen einen Arzt zu rufen, aber Sila meint, das bringt nichts. Zunächst erst einmal ausruhen und Luft schnappen auf der Schulhofbank. Sie zittert, obwohl ihr nicht kalt ist. Ihr Körper ist nach vorne zusammengekrümmt und sie hält sich an die Brust. Manchmal scheint der Schmerz zurückzugehen, manchmal stechend wiederzukommen. Sie meint, sie war bereits bei vielen Ärzten und auch im Krankenhaus gewesen, aber keiner findet etwas. Die Rippen, das Herz, vielleicht die Schilddrüse – eine richtige Erklärung hat keiner. Sie solle Ibuprofen nehmen, dann geht das wieder weg, meinen die Ärzte. Wir rufen zu Hause an. Da ist nur die Oma, die kein Deutsch spricht. Wir rufen ein Taxi. Auf dem Weg zur Straße stürmen uns Polizisten entgegen. Ein stummer Moment der Irritation: Sie scheinen zu glauben, wir bringen schon die Verletzten raus. Dann laufen sie weiter. Im Verlauf des Schultages noch ein paar Gespräche über den Vorfall: Ein Lehrer versucht mich zu beruhigen, indem er berichtet, dass es schon viel schlimmere Fälle gegeben hat: „Einmal ist ein Mädchen mit einem Epilepsie-Anfall gegen den Heizkörper geknallt. Das war schon furchteinflößend.“ Eine andere Lehrerin relativiert, dass dies bei Sila bereits öfter vorgekommen sei und sie deswegen in psychologischer Behandlung ist: „Da ist wohl einiges schief gelaufen in der Jugend.“ Auf der folgenden Hofpause erkundigen sich einige Jungen mit einem schlechtes Gewissen bei mir nach Silas Gesundheit. Sie meinen, sie wäre vor Scham zusammengebrochen, weil sie sie zuvor mit Sprüchen wie „Heroin-Junkie“ und „Christiane F. vom Bahnhof Istanbul“ geärgert haben. Einer der Schüler hat aber auch eine etwas profanere Version und meint, sie habe „einfach nicht ordentlich gefrühstückt“.
Der unspezifische Verweis der Lehrerin auf eine problematische familiäre Sozialisation erscheint mir eine etwas zu simple Weitergabe der Verantwortung für Silas schulisches Scheitern. Ihre Eltern haben eine für türkische Arbeitsmigranten in Deutschland typische Familiengeschichte, bei der zunächst ein Elternteil nach Deutschland kam und das andere später nachzog, wobei diese Trennungsphasen erfahrungsgemäß oft zu Lasten der Kinder gehen. Möglicherweise spielten bei der negativen Beurteilung der Familienverhältnisse aber auch rassistisch gefärbte negative Vorannahmen über Verwandtenheiraten eine Rolle, die, wie wir noch sehen werden, während des Schuljahres heftige Auseinandersetzungen zwischen Schülern und Lehrern provozierten. Zwar habe ich ihre Familie nicht selbst kennengelernt, doch im Interview verwies Sila auf konkrete Probleme sowohl mit Schülern als auch mit Lehrern, während sie das gute Verhältnis zu ihren Eltern hervorhob: „Meine Familie hat mich die ganze Zeit unterstützt und ich bin ihnen auch sehr dankbar dafür. Weil sie waren zu jeder Zeit bei mir gewesen, sie haben mich getröstet, sie haben sich wirklich Sorgen gemacht, sie haben Auswege gesucht, wie ich mit den ganzen Sachen klarkomme. Also ich kann mich da nicht beschweren.“ Nachdem bisher das Mobbing vonseiten der Schüler und dessen Folgen im Mittelpunkt standen, werde ich im nächsten Abschnitt nachzeichnen, wie auch die Lehrer ungewollt zu Silas tragischer Situation beigetragen haben.
Ihr körperlicher Zusammenbruch wurde als gesundheitliche Schwäche erlebt und behandelt, obwohl ihm vermutlich soziale Probleme zugrunde lagen. Philosophen wie Charles Taylor und Axel Honneth haben auf das menschliche Grundbedürfnis nach Anerkennung hingewiesen. Nichtanerkennung verstehen sie als Missachtung, als eine Form von Unterdrückung, die das Selbstwertgefühl nachhaltig beeinträchtigt.27 Hauptschüler waren vor allem mit sozialer Missachtung konfrontiert. Doch viele von ihnen fanden zumindest kompensatorische Anerkennung untereinander, in Freundschaftsbeziehungen, in außerschulischen Aktivitäten und zum Teil auch in der gegenseitigen Bestätigung von anti-schulischen Haltungen. Sila bekam aufgrund ihres Schulwechsels von einem höhergestellten Schultyp die statusbedingte Degradierung in vollem Ausmaß zu spüren, gleichzeitig fehlte ihr ein soziales Auffangnetz innerhalb der neuen Schule, mit welchem der soziale Abstieg hätte abgefedert werden können. Stattdessen wurde sie mit einer doppelten sozialen Missachtung konfrontiert, denn als ehemalige Realschülerin wurde sie in der neuen Schule auch innerhalb der Schülerschaft negativ ausgesondert und mit persönlichen Angriffen diffamiert. Die Unterstützung ihrer Eltern und ihrer Freundin Hazal reichten nicht aus, um die damit einhergehenden Identitätsverletzungen und psychosomatischen Reaktionen zu verhindern.
PEINLICHKEIT. ZUR ÄSTHETIK DER EXKLUSION
Die politische Ambiguität von negative Emotionen offenbart sich vor allem in deren ästhetischer Dimension, wobei ich von einem weiten Begriff des Ästhetischen ausgehe, der nicht auf das Schöne oder die Kunst reduziert ist, sondern an Formen der sinnlichen Wahrnehmung, der affektiven Gestimmtheit und der körperlichen Erfahrung ansetzt.28 Affektive Momente der Irritation und der Konfusion, scheiternde Performances und als deviant markierte Körper sowie Situationen von Bloßstellung und Sprachlosigkeit stehen im Folgenden im Mittelpunkt. Solche Zustände wurden von den Schülern häufig als peinlich erlebt. Während der Begriff der Peinlichkeit im Mittelalter zunächst auf eine körperliche Pein bezogen war, wurde ihm in der Moderne seine heutige Bedeutung im Sinne einer öffentlichen Bloßstellung oder Blamage hinzugefügt, ohne dass die körperliche Bedeutungskomponente dabei vollständig verschwand.29
Selbstbenotung – schulische Formen der Bloßstellung und des Gesichtsverlusts
Mit pädagogischen Formen der Bloßstellung trugen auch Lehrer zu Scham- und Peinlichkeitsgefühlen unter ihren Schülern bei. Durch solche Demütigungen wurden Machtverhältnisse hergestellt und durchgesetzt. Zwar verschwanden einige Formen der pädagogischen Beschämung wie die Eselsmütze und das In-der-Ecke-stehen im Verlauf der Moderne allmählich aus dem deutschen Schulalltag, doch blieben demütigende Abwertungspraktiken im Bildungswesen weiterhin präsent.30 Manche Schüler konnten die damit verbundenen Negativerlebnisse besser verarbeiten, anderen wie Sila fiel dies schwerer. Besonders die gelegentlich praktizierte Selbstbenotung durch die Schüler, mit deren Hilfe die unangenehme Aufgabe des Verteilens von Negativbewertungen an die Schulklasse delegiert wurde, rief bei ihr starke Verlegenheitsgefühle hervor: zum einen da sie aufgrund ihrer schulischen Ambitionen Noten sehr wichtig nahm, zum anderen da sie ohnehin bereits stark verunsichert war.
Sila: „Ich bin halt sehr selbstkritisch. Ich bin mit nie mit etwas zufrieden, was ich mache. Ich muss nicht immer gelobt werden, aber ich brauche schon, dass vielleicht einer mal sagt ‚ja, so könnte es aussehen, so ist es vielleicht richtig.‘ Ich kann so etwas oft nicht selbst bewerten, kann jetzt nicht sagen, ob ich gut oder schlecht war. Aber mein Praktikumsordner war wirklich schlecht gewesen, weil ich auf zu vielen Fragen keine Antwort gefunden habe. Und dann mussten wir es ja Freitag abgeben und ich war letzte Woche nur zwei Mal dagewesen. Es kommen immer wieder solche komischen Vorfälle. Ich war einfach nicht wirklich zufrieden mit dem Praktikumsordner.“
Mit den „Vorfällen“ meint sie körperliche Zusammenbrüche und gesundheitliche Beschwerden, wie ich sie eben geschildert habe. Die sich dadurch im Verlauf des Schuljahres häufenden Absenzen trugen weiter dazu bei, dass Sila in der Galilei-Schule nie richtig Fuß fassen konnte. Der Praktikumsordner war Teil einer monatelangen Auseinandersetzung im Fach Berufskunde mit den zu Beginn der zehnten Klasse üblichen Schülerpraktika, zu der auch Praktikumsposter und mündliche Präsentationen gehörten. Bei letzteren sollten die Schüler sich selbst bewerten, dabei folgten sie nicht nur der an der Schule üblichen Negativlinie, sondern gingen oft noch über diese hinaus.
Feldtagebuch: Im Fach Berufsorientierung wird zunächst nach dem Stand der Bewerbungen gefragt. Manche haben schon sieben, acht oder zehn Bewerbungen geschrieben, andere wissen nicht, wofür sie sich bewerben sollen. „Ihr müsst mindestens hundert schreiben“, ermahnt die Lehrerin die Schüler. Dann stehen die letzten mündlichen Präsentationen zu den Praktikumspostern an. Sila hat kein Plakat angefertigt, weshalb sich beim Vortrag alle Blicke auf sie fokussieren. Sie ist nervös, steht mit überkreuzten Beinen vor der Klasse und kratzt sich mit der Hand an ihrem Kehlkopf. Ihre Stimme ist brüchig und die Luft scheint ihr wegzubleiben. „Ich bin ziemlich nervös, weil ich letzte Nacht kaum geschlafen habe. Und dann habe ich gleich einen Kaffee auf nüchternen Magen getrunken. Deshalb zittere ich jetzt auch ein bisschen.“ Ihre Hand hält ihren Ellenbogen fest und ihr Magen beginnt sich zu krümmen. Die Klasse ist halb erstarrt wegen ihrem bemitleidenswerten Aussehen. Die Vortragenden müssen sich zunächst selbst bewerten und alle schätzen sich selbst schlechter ein als die Note, die sie schließlich bekommen. Auch Sila findet sich „schlecht“ und will keine Drei Minus, die sie schließlich von der Lehrerin mit einer Mitleidsgeste erhält. „Zwischen Vier und Fünf“, meinen die anderen Schüler. Ein Schüler versucht sie aufzumuntern: „War doch gar nicht so schlecht. Vier plus“. Auch die beiden anderen Präsentationen verlaufen ähnlich unangenehm. Der nächste Schüler meint bei seiner Selbsteinschätzung: „Ich könnte weniger stottern, so dass es mir nicht so peinlich ist“ und will sich dann die Note Sieben geben. Er bekommt schließlich eine „Vier bis Fünf“. Miray ist als letzte an der Reihe. Ihr fehlen die Worte, sie wiederholt die knappen Beschreibungen vom Plakat und hört dann recht schnell auf zu reden. Sie lacht verunsichert. „Isch weiß nischt.“ Auch zu einer Selbsteinschätzung ist sie kaum noch in der Lage, bringt nur ein „schlescht“ hervor. Die Kritik übernehmen dann ihre Mitschüler. „Ganz ehrlich, eine Fünf.“ antwortet Ali. Miray führt zweimal die Hände zu den Augen, als würde sie weinen. Aber es kommen keine Tränen und die Geste wirkt eher aufgesetzt. Stattdessen versucht sie es wieder mit Lachen. Die Theatralik der schulischen Demütigung erinnert mich an eine Castingshow. Die Lehrerin gibt ihr eine „Fünf bis Sechs“ und fügt hinzu: „Besonders schlimm ist, dass Du Dich selbst noch darüber lustig machst.“ Sila muss im Verlauf der Stunde wieder einmal mit Bauchschmerzen den Raum verlassen, später geht es ihr aber schon wieder etwas besser.
Mündliche Präsentationen gehörten an der Galilei-Schule eigentlich zu den seltenen Gelegenheiten, bei denen die Schüler verhältnismäßig gute Noten erhalten konnten. Doch der Lehrerin gelang es, auch dieses Prüfungsformat zu einem Fiasko für die Schüler werden zu lassen. In dem von ihr inszenierten Schauspiel erschien sie sogar noch als die Gnädige, während die Schüler die Verantwortung für ihr eigenes Versagen übernahmen. Die Unsicherheiten und die daraus resultierenden Peinlichkeiten bei den Präsentationen hatten wenig mit fehlenden Artikulationsfähigkeiten vonseiten der Schüler zu tun, denn diese erwiesen sich in Interviews oder bei anderen Gelegenheiten mitunter als auffallend wortgewandt. Ihre Sprachlosigkeit wurde von Schule und Gesellschaft selbst hervorgebracht. Ein schulisches Umfeld, in dem Schüler fortwährend mit Negativnoten gedemütigt und abgewertet werden, lädt kaum zu einem selbstbewussten Vortrag ein. In Silas Fall trug auch ihre Vorgeschichte als an zwei verschiedenen Schulen gemobbte Schülerin zur Ängstlichkeit bei exponierten Auftritten vor der Klasse bei. Dass sie ihr Plakat nicht angefertigt hatte, machte die Situation für sie noch unangenehmer, auch die kurz zuvor erhaltene Note Sechs für den nicht abgegebenen Praktikumsordner hatte wahrscheinlich ihr Selbstbewusstsein negativ beeinflusst. Die exzessive Fokussierung auf die Praktikumszeit an der Galilei-Schule verdeckte zudem nur notdürftig, dass die Schüler kaum realistische Berufsperspektiven hatten. Auch die Aufforderung „mindestens hundert“ Bewerbungen zu schreiben, war eher eine pädagogische Verzweiflungsgeste, die auf den Zufall statt auf einen geregelten Zugang zum Arbeitsmarkt setzte. Diese Konstellation rief, wie ich im Kapitel zu sozialen Ängsten noch genauer schildere, bei den Schülern Selbstzweifel, Albträume und körperliches Unwohlsein hervor – Verunsicherungen, die sich dann auch bei ihren mündlichen Präsentationen im Fach Berufsorientierung bemerkbar machten.
Im Unterschied zu ritualisierter Peinlichkeit, wie sie Julia Döring anhand des Junggesellenabschieds beschrieben hat, wurde der Peinlichkeitseffekt hier nicht durch den Interaktionsrahmen symbolisch wieder aufgehoben, sondern war inhärenter Teil des Schulalltags.31 Bei einem Junggesellenabschied werden als peinlich geltende Handlungen in einem außeralltäglichen Rahmen inszeniert, die Peinlichkeit wird dabei spielerisch überwunden und gleichsam auf das Ritual begrenzt. Der erwünschte Effekt ist einer der gegenseitigen Selbstbestätigung, der helfen soll, die mit dem anstehenden Statuswechsel in die Ehe verbundenen Unsicherheiten zu bewältigen. Die Selbstbewertung der mündlichen Präsentationen als peinlich fand dagegen in einem alltäglichen schulischen Rahmen statt und fügte sich in die an der Galilei-Schule übliche Praxis der Negativbewertung ein. Hier wurde sich nicht gegenseitig bestätigt, dass man „eigentlich“ nicht peinlich sei. Im Gegenteil, die Schüler sollten erfahren und bestätigen, dass sie „wirklich“ peinlich seien. Diese Prüfungssituation hatte folglich nichts Befreiendes, sie war erniedrigend und demütigend. Döring unterscheidet in solchen Fällen zwischen ritualisierter Peinlichkeit und Degradierungs- bzw. Beschämungsritualen, die das Ziel haben, öffentlich zu entehren und nachhaltig abzuwerten.32
Die damit einhergehenden Bloßstellungen könnte man mit Erving Goffman als „Gesichtsverlust“ bezeichnen.33 Indem Goffman die Orientierung am Anderen hervorhebt, gelingt es ihm, den sozialen Charakter von Gefühlszuständen wie Peinlichkeit und Verlegenheit herauszustellen. Zudem lehrt er uns ein phänomenologisches Gespür für die situativen Dynamiken sowie für die körperlichen und emotionalen Ausdrucksformen des drohenden oder tatsächlichen Gesichtsverlusts: für heimliche Vermeidungsstrategien, plötzlich misslingende Gesten und verzweifelte Korrekturmaßnahmen, für Irritation und Nervosität ebenso wie für körperliche Reaktionen wie Zittern, Erröten und Erstarren. Doch Goffman geht zu optimistisch von einer grundlegenden, auf gegenseitiger Rücksichtnahme basierender Interaktionsstruktur aus, die durch eine Kombination von Selbstrespekt und taktvollem Verhalten gegenüber anderen gekennzeichnet ist.34 Formen der Peinlichkeiten und des Gesichtsverlusts begreift er als Störungen dieser Interaktionsordnung, welche jedoch deren Regelanspruch gleichsam bestätigen. Goffman und die von ihm begründete US-amerikanische Schule der Emotionssoziologie vernachlässigen, wie stark Interaktions- und Emotionsordnungen von Macht und Status geprägt werden.35 An Berliner Hauptschulen bestand die emotionale Grundlage von Interaktionen nicht in Respekt, Vertrauen und gegenseitiger Rücksichtnahme, stattdessen dominierten die Prinzipen der sozialen Ausgrenzung und der Verachtung den sozialen Raum – mit weitreichenden Folgen für Interaktionen und Emotionen.
Welchen Einfluss degradierende Selbstbenotungen und die Erfahrung des Gesichtsverlusts auf das Selbstbewusstsein von Heranwachsenden haben können, zeigte sich an Silas Bericht über ein bereits länger zurückliegendes Erlebnis an ihrer ehemaligen Schule:
Sila: „Ich hatte mal einen Musiklehrer gehabt, wir sollten bei ihm etwas präsentieren. Jeder hat seine Lieblingsmusik oder seinen Lieblingsmusiker genommen und sollte dann dazu einen Vortrag halten. Ich war als erste dran gewesen und fand eigentlich schon, dass es gut war. Der Lehrer fand es eigentlich auch gut, aber nun wollte er, dass die Klasse mich benotet. Ich war damals auch nicht so beliebt. Sie können es sich ja vorstellen, alle wollten mir eine Vier oder Fünf geben, bloß keine Drei. Der Lehrer hatte auch gesagt, dass er mir eigentlich eine drei geben wollte, aber hat mir dann, nachdem er die Kommentare der Klasse gehört hat, eine Fünf gegeben. Das war schon schlimm, weil eigentlich dürfte er ja so etwas nicht machen. Und seitdem bin ich etwas selbstkritischer.“
Die mit Selbstbenotungen verbundene Suggestion besonders demokratischer Verhältnisse wirkt heuchlerisch, da letztlich doch der Lehrer über die Note entscheidet. Dass Sila die Bewertung des Lehrers als ungerecht und als populistische pädagogische Parteinahme gegen sie interpretierte, verstärkte noch deren negative Wirkung. Die Erfahrung nicht unterstützt, sondern gegenüber ihren Peinigern im Stich gelassen und zusätzlich vom Lehrer gedemütigt geworden zu sein, war für sie ein einschneidender Punkt in ihrer Schulkarriere. Fragwürdig ist nicht nur, ob man eine bereits ausgegrenzte und psychisch labile Schülerin einer Selbstbenotung durch die Klasse aussetzen sollte. Irritierend wirkt auch, dass ausgerechnet die Präsentation der persönlichen Lieblingsmusik für solch ein beschämendes Degradierungsritual benutzt wurde. Wenn man sich vorstellt, Silas aktuelle Vorliebe für romantische „Mädchenmusik“, wie Christine Perris Liebeslied „A Thousand Years“, würde von den sie mobbenden männlichen „Gangsta“-Rap-Fans an der Galilei-Schule öffentlich bewertet werden, müsste man die Eignung der dafür Verantwortlichen zum Lehrerberuf ernsthaft anzweifeln. Auch ohne pädagogische Ausbildung wird deutlich, dass an Silas bisherigen Schulen „einiges schief gelaufen“ war.
Geschlecht – Körper – Religion
Peinlichkeit wird im Klassenraum über körperliche, ästhetische und sexuelle Fragen verhandelt. Oft geht es darum um die Frage, wer normative Anforderungen an geschlechtliches Rollenverhalten, körperliches Auftreten und sexuelle Attraktivität erfüllt oder nicht. Anhand von drei kurzen Episoden zu Zettelpraktiken, Fatness-Zuschreibungen und Auseinandersetzungen um das Kopftuch diskutiere ich die Verbindungen von Geschlecht, Körper und Religion entlang des Motivs der Peinlichkeit.
Die auch in digitalen Zeiten unter postpubertären Schülern noch immer verbreitete Praxis des Schreibens und Zirkulierens von Zetteln im Unterricht bezieht sich maßgeblich auf die Frage, welche Personen und welches Verhalten als peinlich gelten. Diese Schattenkommunikation war wiederum stark mit geschlechtlichem Rollenverhalten verknüpft, wie die folgende Szene veranschaulicht:
Feldtagebuch: Im Mathematik-Unterricht werfen sich einige Jungen und Mädchen fast die gesamte Stunde über Zettel hin und her. Auch Smartphones werden fleißig benutzt. Die Schülerinnen haben deshalb extra ihre Handtaschen als Sichtschutz auf der Tischplatte stehen lassen. Während die Jungen versuchen cool und gewitzt zu wirken, zeigen die Mädchen sich besorgt darüber, was andere über sie denken und schreiben. Für den in der Zwischenzeit stattfindenden Lehrermonolog interessieren sich beide Gruppen eher weniger. Zwei Mädchen versuchen in der Pause die Zettelschnipsel wieder zusammenzusetzen, welche die Jungs beim Rausgehen in den Müll geschmissen haben. Dass dies als eine geschlechtsspezifische Praxis wahrgenommen wird, zeigt sich in einer der Szene zuvor, als ein männlicher Schüler demonstrativ vor den Mädchen die Zettel in winzig Stücke zerreißt und sie dann auf mehrere Mülleimer verteilt: „Hier, da habt ihr was zu tun!“
Beim hier praktizierten doing gender wiesen die betont souverän auftretenden jungen Männer Peinlichkeit demonstrativ von sich ab, während die junge Frauen ihre geschlechtliche Selbstinszenierung am Motiv der Peinlichkeit ausrichteten. Indem sie ihre Sorge hervorhaben, sie könnten in den Augen Anderer hegemonialen Attraktivitäts- und Respektabilitätsansprüchen nicht genügen, lebten sie eine weibliche Schönheits- und Körperorientierung vor. Dieses binäre Geschlechterarrangement ist mit einem heteronormativen Ordnungsmodell sowie einem damit korrespondierenden geschlechtsspezifischen Affektprogramm verknüpft, das den heranwachsenden Männern Macht und Coolness, den Frauen Selbstunterwerfung und Unsicherheit vorschreibt. Die Betonung „traditioneller“ Geschlechterunterschiede in der Zettelszene hat neben einer sozialisierenden und selbstvergewissernden auch eine spielerische Dimension, das Zitieren und Repetieren von Geschlechtsrollenklischees diente der Geselligkeit der Mädchen untereinander sowie der Ablenkung und Unterhaltung in einem ansonsten wenig anregenden Schulumfeld. Dass Peinlichkeit weniger mit objektiven Maßstäben als mit stark geschlechtlich konnotierten Zuschreibungen und Umgangsweisen zu tun hatte, zeigte sich auch in einem anderen Beispiel.
Zwar wiesen auch viele männliche Galilei-Schüler deutliche Anzeichen von Übergewicht auf, doch bei den weiblichen Schülerinnen wurden dicke Körper in einem viel stärkeren Ausmaß als nicht der Norm entsprechend sanktioniert und als peinlich markiert. Dickleibigkeit wird im Zuge von Prozessen nationaler und kultureller Selbstvergewisserung etwa seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr als Ausweis von Wohlstand, sondern als individueller Makel wahrgenommen.36 In einer auf Selbstoptimierung ausgerichteten Gegenwartskultur ist Fatness mittlerweile zu einem Stigma geworden, das mit mangelnder Selbstkontrolle und krankhaftem Verhalten assoziiert wird. Aufgrund historisch tradierter geschlechtlicher Zuschreibungen, denen zufolge weibliche Körper als primitiv und ihre Affekte als unzivilisiert gelten, sind Frauen in besonderem Maße von Fatphobia betroffen.37 Ähnlich wie beim Mobbing wurden auch beim Umgang mit Übergewicht innerhalb einer ohnehin stigmatisierten Schülerschaft Subjektpositionen mittels körperlicher und sinnlicher Zuschreibungen als minderwertig markiert. Da Gesundheitsstudien immer wieder auf einen statistischen Zusammenhang zwischen Übergewicht und niedrigem sozialen Status hingewiesen haben, handelte es sich dabei auch um Klassen-Körper.38 Die Verantwortung für körperliche Eigenschaften wurde im Alltag jedoch primär auf die jeweiligen Trägerpersonen zugeschrieben und von diesen in einem individualistischen Modus erfahren.
Während Sila für ihre Ambitionen und ihr Auftreten gemobbt wurde, traf es Camille, weil sie in den Augen der Anderen als dick und hässlich galt. Auch hier fanden offene Anfeindungen vor allem von männlicher Seite statt, doch wurde Camille gleichzeitig von vielen weiblichen Schülerinnen gemieden. Dies führte zu einem Rückzug, in dessen Folge sie zunächst immer seltener und später kaum noch zum Unterricht erschien. Allerdings wurden ihre Ausgrenzungserfahrungen hier weniger als gesundheitliche Probleme wahrgenommen und die damit einhergehenden Fehlzeiten nicht durch ärztlich-therapeutische Befunde legitimiert. Camille erschien nicht nur in den Augen der Anderen weniger bemitleidenswert als Sila, sie übernahm auch selbst bereitwillig die Verantwortung für ihr „Schwänzen“. Auf dem Halbjahreszeugnis der zehnten Klasse hatte sie bereits 37 unentschuldigte Fehltage angesammelt, zum Schuljahresende wurden es noch einmal deutlich mehr. Wie viele Straf-Sechsen dies nach sich ziehen kann, habe ich im Kapitel zur Hauptschulnote bereits detailliert ausgeführt. Auch aufgrund dieser enormen Fehlzeiten war ihr Notenschnitt miserabel: auf dem Halbjahreszeugnis der zehnten Klasse betrug er 4,7 und auf ihrem Schulabschlusszeugnis 5,3.
Camille: „In meiner alten Schule wurde ich wegen meinem Aussehen blöd angemacht. Ich bin nach der Grundschule auch mit den Lehrern nicht mehr so klargekommen. Hab mich schon auch blöd benommen, fühlte mich manchmal aber auch ungerecht behandelt. Bin halt auch nicht so der Typ, der sich von denen alles sagen lässt. Und dann sind wir auch noch umgezogen. Deshalb habe ich jetzt schon zwei Mal die Schule gewechselt. Ich habe aber noch Kontakt zu drei, vier Schülern aus meiner alten Schule. Hier ist es eigentlich ganz ok. Manche sind ein bisschen komisch. Ich werde zwar auch gemobbt, aber ich höre einfach gar nicht mehr hin. Das ist mir eigentlich egal. […] Ich schwänze halt viel. Ich bin nicht so die, die gerne zur Schule geht. Macht mir keinen Spaß, der Unterricht. Hoffentlich ist die Schule bald aus. Ich habe keine Lust mehr. Also Lust zum Lernen schon, aber nicht auf den Unterricht und die Leute hier. Das geht mir auf die Nerven!“
Auch hier deutet sich eine bereits längere Vorgeschichte von sozialer Ausgrenzung und schulinterner Marginalisierung an. Sila und Camille betonten beide im Verlauf des Interviews, sie wären in der Lage, die gegen sie gerichteten Sprüche „einfach“ zu überhören, doch nur letztere hatte konsequent eine Verteidigungsstrategie der schulischen Ignoranz ausgebildet. Ihr Auftreten in der Schule wirkte trotzig, nach außen oft abweisend und desinteressiert. Allerdings war dies weder ein simpler noch ein folgenloser Vorgang. Ihr gelang es vor allem dadurch ein positives soziales Selbstbild aufrechtzuerhalten, indem sie den negativ wahrgenommenen schulischen Raum und die darin aus ihrer Sicht unvermeidlichen negativen Interaktionen von einem selbstgewählten kleinen Kreis positiver persönlicher Kontakte abtrennte. So war sie bewusst nicht in die Facebook-Gruppe ihrer Schulklasse eingetreten, da sie – wie sie es formulierte – „mit denen nicht befreundet“ sein wollte, hatte sich aber stattdessen gezielt mit einzelnen Schülerinnen über Facebook verbunden. Ihre Randseiterposition innerhalb der Schulklasse wurde durch dieses Abgrenzungsverhalten und die bewusste Kontaktvermeidung zur Mehrzahl ihrer Mitschüler jedoch eher noch verstärkt.
In der erwähnten Facebook-Gruppe fand ohnehin wenig Austausch statt, einige andere Schülerinnen waren ebenfalls nicht eingetreten, manche auch weil die Eltern ihnen die Nutzung von Facebook verboten hatten. Die Gruppe wurde nach dem Ende des 10. Schuljahres nicht mehr genutzt, also in einem Moment, in dem sie zur Kontaktpflege über die Schulzeit hinaus hätte hilfreich sein können. Nach über einem Jahr fragte Roberto in der Gruppe nach – „Hallo ist da noch jemand?“ – ohne eine Antwort zu bekommen. Dieses Verhalten deutet auf eine geringe Identifikation mit der Schule und die eigene Schulklasse hin. Beverly Skeggs zeigte anhand britischer Frauen aus der Arbeiterklasse, dass disrespektable Zuschreibungen in Bezug auf Körperlichkeit, Sexualität und Klasse zu Tendenzen der symbolischen Abwehr und der identifikatorischen Abkehr vom zugewiesenen sozialen Status führen – Klassenkampf ist in diesem Fall vor allem ein Kampf gegen negative Klassifikationen.39 Berliner Hauptschulen hatten aufgrund der mit diesem Schultyp verbundenen Assoziationen über die sich in ihnen formierenden Freundesgruppen hinaus eine relativ geringe gemeinschaftsbildende Kraft. Während der Schulzeit dominierte Schuldistanz, danach versuchte man die Schulzeit und das mit schamvollen Erfahrungen verbundene Hauptschulstigma möglichst schnell hinter sich zu lassen. Allerdings gab es auch Gegenbeispiele, so berichtete mir eine ehemalige Schülerin der Galilei-Schule, dass sie ab der neunten Klasse gemeinsam mit den Lehrern ein starkes, familiäres Gemeinschaftsgefühl entwickelt hätten und auf diese Weise Ausgrenzungstendenzen entgegengewirkt haben. Die beiden geschilderten Fälle von Mobbing sind Beispiele für unsolidarisches Verhalten der Schüler untereinander, für Ausgrenzungskämpfe am unteren Ende der Klassenhierarchie. Schülerinnen wie Sila und Camille wurden dadurch sozial weiter abgewertet, innerhalb der Klasse isoliert und allmählich aus der Galilei-Schule herausgedrängt
Ein drittes Beispiel, in dem Ausgrenzungen entlang von Geschlecht, Körper und Religion eng verknüpft sind, lässt sich im Umgang mit dem Kopftuch beobachten. Das Tragen des Kopftuchs im deutschen Schulsystem ist für die Schülerinnen häufig mit unangenehmen Erfahrungen verbunden, typischerweise mit Lästern aufseiten der Schüler und mit Bedauern aufseiten der Lehrer. Über mittels schulöffentlicher Diffamierungen produzierte Peinlichkeit soll in diesem Fall die Norm der Nichtzugehörigkeit des Religiösen zur Schule bestätigt und aufrechterhalten werden. Während die Schule sich im hegemonialen Diskurs als Inkarnation der Moderne versteht und ihre Lehrer als Agenten der Aufklärung auftreten, wird Religion mit vormodernen Moralvorstellungen, vor allem mit der Unterdrückung von Frauen und sexueller Unfreiheit assoziiert. Diese antagonistische Konstruktion führt immer wieder zu Spannungen zwischen muslimischen Elternhäusern und deutschen Schulen, die sich an symbolisch aufgeladenen Themen wie dem Tragen des Kopftuchs oder der Teilnahme der Mädchen am Schwimmunterricht zuspitzen.40
Bei der normativen Verbindung von Aufklärung, Säkularisierung und Schule mit Geschlechtergleichheit und sexueller Befreiung im machtvollen Diskurs des „Sexularismus“ werden sowohl gegenläufige historische Perspektiven ausgeblendet als auch gegenwärtige Ungleichheitsverhältnisse innerhalb des westlichen Gesellschafts- und Bildungssystems verschleiert.41 Die dem säkularen Gesellschaftsmodell zugrunde liegende Trennung zwischen einer männlich konnotierten Öffentlichkeit und einem weiblich markierten Raum des Privaten produzierte und legitimierte beispielswese im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts neue, moderne Formen der Geschlechtertrennung. Und die deutsche Schule in einer Traditionslinie mit der Französischen Aufklärung und deren Anspruch von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ zu verorten, wie es besonders Schuldirektoren gerne tun, wirkt angesichts der institutionalisierten Diskriminierung im hiesigen Bildungssystem wie blanker Hohn. Der gegenwärtig besonders wirksame ideologische Diskurs des „Sexularismus“ bringt stattdessen als aufklärerisch getarnten antimuslimischen Rassismus hervor und weist den Kopftuchträgerinnen in der Schule eine prekäre Randposition zu, von der aus sie die Ambivalenzen des Aufwachsens zwischen muslimischem Elternhaus und deutscher Schule kaum artikulieren können.42
Die kopftuchtragenden Schülerinnen an der Galilei-Schule traten angesichts dieser für sie unvorteilhaften Konstellation im Unterricht eher schweigsam und zurückhaltend auf. Auch ich fand zu ihnen nur selten Zugang. Erst als eine ehemalige Schülerin im Rahmen einer Fortbildungsmaßnahme an die Galilei-Schule zurückkehrte, bekam ich Einblicke in die mit dem Tragen des Kopftuchs an der Schule verbundenen Gefühlslagen:
Amira: „Ich wurde immer ein bisschen traurig, das verletzt einen natürlich, weil man nur wegen des Kopftuches einfach nicht angenommen wird. Wegen ein bisschen Stoff auf dem Kopf. Für mich ist das traurig, weil ich einfach nicht anerkannt werde. Ich bin ja deshalb nicht jemand anderes, aber für die Gesellschaft schon. Also wenn die Mädchen sich rechtfertigen würden, könnte das vielleicht irgendwann Routine werden, aber das ist anstrengend. Vielleicht wird man dann aber auch erst richtig gemobbt oder es kommt zum Streit. Es geht ja auch um das Selbstwertgefühl und da versucht man gewisse Auseinandersetzungen zu vermeiden, weil sie zu verletzend sein könnten. Ich werde sogar heute noch mit Sprüchen wie ‚Kopftuchmafia‘ angemacht, aber heute nehme ich das ganz gelassen und mache mit denen Scherze oder lache selber darüber. Mit dem Rassismus ist es so eine Sache, irgendwo trifft es einen dann doch, weil man denkt, das ist doch meine persönliche Sache, das hat doch nichts mit der Mafia zu tun.“
Amira wechselte in den Bezügen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen ihren eigenen Erinnerungen und Einschätzungen der jetzigen muslimischen Schülerinnen. Der rückblickende Gesprächsmodus ermöglichte ihr eine gewisse Distanz, gleichzeitig zeigte sie sich von der Stigmatisierung des Kopftuchs immer noch betroffen. Sie war zum Zeitpunkt des Interviews in einer muslimischen Gemeinde aktiv und hatte sich nach Verlassen der Schule eine selbstbewusste moderne muslimische Identität aufgebaut, auch wenn sie sich damit gesellschaftlich immer noch nicht anerkannt fühlte. Als ich mich mit ihr unterhielt, hatte sie ein Buch mit dem Titel „Die glücklichste Frau der Welt“ neben sich liegen.43 Darin werden anhand von Koranversen und überlieferten Aussagen des Propheten Mohammed eine Reihe von Moral- und Verhaltensempfehlungen für muslimische Frauen aufbereitet. Das darin entworfene Frauenbild ist durch „Glaube, Hoffnung, Geduld und Akzeptanz“ gekennzeichnet, der titelgebende Weg zum Glück „liegt in der Klarheit des Wissens und in solider Bildung“.44 Das Kopftuch spielt in dieser Version muslimischer Weiblichkeit eine wichtige Rolle: Es wird betont, dass die „weise, würdevolle Frau“ auf „ihren Hijab achtet“, dass dieser „von Allah vorgeschrieben worden ist“ und den Zweck habe, „dich selbst zu schützen“.45
Die Auseinandersetzung mit der muslimischen Tradition verlief im Alltag keineswegs gradlinig und widerspruchsfrei. So beschwerte sich Amira im Interview, dass sie als muslimische Frau von ihrer Familie „zu sehr kontrolliert“ werde und empfand dies im Vergleich zum eher lockeren Umgang mit ihren Brüdern als ungerecht. Sie betonte aber auch, eine „islamische Frau“ gehöre „zu einem islamischen Mann“ und dieser bestimme, ob sie arbeiten dürfe oder nicht. Gleichzeitig motivierte sie die Galilei-Schülerinnen sich nicht mit einer Hausfrauenrolle zufrieden zu geben und selbstbewusster in das Berufsleben zu streben. Dass Bewerbungsbemühungen wiederum häufig am Kopftuch scheiterten, hatte sie selbst bereits mehrmals schmerzhaft erfahren müssen. Auch mit den Bekleidungsvorschriften ging sie ambivalent um: Sie trug ein Kopftuch, dazu auffallenden Schmuck und modische westliche Markenkleidung, war sich aber auch bewusst, dass sie damit gegen die in ihrem Herkunftsmilieu geltenden muslimische Geschlechtsrollenvorschriften verstieß.
Amiras Umgang mit Ausgrenzungserfahrungen lässt sich mit den von Nina Mühe an deutschen Gymnasien interviewten muslimischen Schülerinnen vergleichen, für die das Tragen des Kopftuchs ebenfalls mit Diskriminierungen und Konflikten, mit Ängsten und Unsicherheiten einherging.46 Auch einigen von ihnen gelang über eine selbstermächtigende Wissensaneignung in Bezug auf den Islam eine intellektuelle Verarbeitung von Stigmatisierungserlebnissen und eine kritische Reflektion ihrer Position in Familie und Gesellschaft. Im Vergleich zu den Neuköllner Hauptschülerinnen waren sie an ihren Gymnasien teilweise in Vorreiterrollen und Einzelgängerpositionen, während kopftuchtragende Frauen an der Galilei-Schule schon längst keine Rarität mehr waren und sich häufig in Freundesgruppen zusammenfanden. Jedoch wurden Formen der Wissensaneignung und die damit verbundenen intellektuellen Selbstbildungsprozesse im Gymnasium eher honoriert, was aufgrund der Verachtung von Hauptschülern, Lehrer-Monologen über die „Dummheit des Islams“ und Klagen über die Idiotie ihrer Schüler kaum vorstellbar erscheint. Als kopftuchtragende Muslima an der Neuköllner Galilei-Schule eine glückliche Frau zu werden, war auch deshalb ein äußerst schwieriges Unterfangen.
In einer Zeit, in der Zugehörigkeit in starkem Maße über den weiblichen Körper und dessen Sexualität verhandelt wird, werden geschlechtsspezifische Anstandsnormen und damit auch systematisch Peinlichkeitsanlässe produziert. Vielen Schülerinnen gelang es erst nach Verlassen der Schule die damit verbundenen sozialen Erfahrungen von Mobbing, Bloßstellung und Demütigung zu überwinden. Doch einige Schüler und Schülerinnen fanden auch schon während der Schulzeit kollektive oder individuelle Wege der Peinlichkeit ein Stück weit zu entkommen.
Irritationen: Ausbleibende Peinlichkeit
Emotionen haben widersprüchliche soziale Wirkungen, einerseits stabilisieren und reproduzieren sie die gesellschaftliche Ordnung, andererseits können sie diese auch irritieren. Gefühle lassen sich nicht auf einen struktursoziologischen Ursache-Wirkungs-Mechanismus reduzieren, dafür sind sie auf eine zu komplexe Weise mit Erziehungsformen und Charakterbildungen, mit Erinnerungen und mit dem Unbewussten verknüpft. Schüler der Galilei-Schule reagierten auf eigensinnige und idiosynkratrische Weisen auf Peinlichkeitserwartungen. Sie überraschten mich und veränderten sich, entwickelten widersprüchliche kollektive Verhaltensweisen und komplexe individuelle Persönlichkeiten. Normen verschwanden dadurch nicht, verloren aber an Selbstverständlichkeit und wurden mitunter durch alternative Normvorstellungen herausgefordert.
Feldtagebuch: Doppelstunde Mathematik bei Herrn Steiß. Eine Schülerin kommt herein, die seit Oktober nicht mehr aufgetaucht ist (mittlerweile haben wir Januar). Sie scheint etwas unsicher. Sagt beim Hereingehen „hm, na ja“ und wedelt aus Versehen mit ihrer Handtasche den Mülleimer um. „Nicht gleich randalieren“, antwortet der Lehrer. Ihm fehlen zwei Arbeitsblätter, eine andere Schülerin war ebenfalls schon länger nicht mehr beim Unterricht aufgetaucht. „Ich habe nicht mit euch gerechnet. Und da ich immer sparsam bin, habe ich weniger Kopien gemacht.“ Die beiden Schülerinnen scheint das nicht wirklich zu stören, ohne ablenkende Unterrichtsmaterialien kann man sich ohnehin besser unterhalten. Offenbar haben sich die Freundinnen viel zu erzählen. Der Lehrer reagiert empört: „Das ist respektlos mir gegenüber und gegenüber der Klasse, hier nur zu quatschen. Da muss ich sagen: Warum kommst Du? Bleib weg!“
Auf die Frage, warum sie nach der langen Absenz wieder zur Schule gekommen waren, gaben die Schülerinnen durch ihr Verhalten eine implizite Antwort: Sie kamen nicht wegen dem Lehrer und seinem Unterricht, sie kamen um sich mit Freunden zu treffen und weil sie sich durch das normative Modell der Schulpflicht vermutlich zumindest noch ansatzweise dazu verpflichtet fühlten. Die Norm der schulischen Anwesenheitspflicht verlangt von Schülern, die diese verletzen, beim Wiedereintritt in den Schulbetrieb normalerweise eine demütige Geste von zumindest gespielter Aufrichtigkeit, mit der das eigene Verhalten entschuldigt oder bedauert und somit die weitere Gültigkeit der Anwesenheitsnorm anerkannt wird. Die Ankunft eines Zuspätkommenden im Klassenraum ist deshalb potentiell ein besonders peinlicher Moment. Die hereinkommende Schülerin wirkte zwar etwas unsicher und schien die Möglichkeit einer Entschuldigung in Erwägung zu ziehen, entschied sich dann aber spontan dagegen.
Auch in anderen Stunden habe ich ähnliche Situationen beobachtet, bei denen Zuspätkommende sich einfach wortlos an ihren Platz setzten, oft ohne dass die Lehrer darauf reagierten. Zwar gab es innerhalb der Galilei-Schule große Unterschiede im Umgang mit der Verletzung von Anwesenheitspflichten, die stark vom jeweiligen Lehrer-Schüler-Verhältnis beeinflusst waren, doch deutet allein die Möglichkeit dieses Verhaltens auf Brüche im Fundament des schulischen Normgerüstes hin. Wenn Fehlzeiten nicht mehr die Ausnahme sind, sondern zur Routine werden, verliert Schule an integrativer Wirkung. Normative Standards wir die Anwesenheitspflicht galten an der Galilei-Schule zwar offiziell weiterhin, doch die ausbleibende Peinlichkeit bei ihrer Verletzung verdeutlicht, dass in der Praxis Schule längst an Überzeugungs- und Bindungskraft verloren hatte. Stattdessen deuteten sich die Konturen eines alternativen Normsystems an – einer Norm der Devianz und der Absenz. Dabei handelte es sich nicht um eine Befreiung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen, denn, abgesehen von subkulturellen oder kleinkriminellen Anschlussmöglichkeiten, verbindet sich mit Schulverweigerung keine gesellschaftliche Anerkennung. Das Ausbleiben von peinlichen Gesten hatte dennoch eine selbstermächtigende und subversive Wirkung. Indem die Schüler auf eine unaufrichtige symbolische Unterordnung und eine unterwürfige Wiedereingliederung in den Unterricht verzichteten, bewahrten sie gewissermaßen ihr Gesicht. Indem sie die Schuldübernahme sowie Scham- und Peinlichkeitsgesten öffentlich ablehnten, verweigerten sie auch die damit verbundene moralische Entlastung der Lehrer für das vorherige Wegbleiben der Schüler. Die meisten Lehrer reagierten auf die damit verbundene Irritation zunächst mit einem Abwehrgestus, in diesem Fall mit der Aufforderung dem Unterricht auch weiterhin fernzubleiben, die einer pädagogischen Bankrotterklärung gleichkommt.
Doch es gab auch Schüler, die trotz aller widrigen Umstände, gerne zur Schule gingen. Zu ihnen gehörte Roberto. Er galt zwar als eher uncool, war aber auch nicht wirklich unbeliebt. Zwar verletzte er viele der für männliche Hauptschüler geltenden Verhaltensstandards, doch tat er dies auf eine so selbstverständliche Art, dass er als „schräger Vogel“ akzeptiert wurde. So war er deutlich übergewichtig, schien sich aber in seinem Körper wohl zu fühlen. Während bei der Sportstunde im Fitnessraum die anderen jungen Männer sich mit Kraftgesten zu überbieten versuchten, lief er gemütlich im Spaziertempo auf dem Laufband und führte dabei gutgelaunte Gespräche. Roberto gehörte zu keiner festen Freundesgruppe, konnte dadurch aber auch relativ problemlos mit verschiedenen Personen in Kontakt treten. Er schwänzte nicht und zog sich vor allem nicht zurück – im Gegenteil: Er war meist schon als einer der Ersten in der Schule. In der Regel kam er am Morgen bereits etwa 20 Minuten vor Unterrichtsbeginn in der Lobby an und unterhielt sich lebhaft mit Schülern und Lehrern. „Zu Hause ist mir langweilig“, meinte er dazu. Auch mich sprach er bei solchen Gelegenheiten immer wieder an, erzählte von Veranstaltungen oder schlug mir Titel für mein Buch vor (wie „Hauptschule ist überall“ oder „Das neue Neukölln“). Am Auffälligsten war sein damaliges politisches Engagement in der SPD, das er allerdings nach Ablauf seiner Schullaufbahn bald wieder beendete. Manchmal nahm er mich zu Veranstaltungen der Neuköllner Lokalpolitik mit, bei denen er in der Regel der einzige Hauptschüler war.
Roberto: „Schon als ich klein war, habe ich mich für Politik interessiert. Ich hätte eigentlich früher eintreten sollen, das wäre noch besser. Weil ich finde, die SPD ist eine super Partei, die helfen wirklich und die finden mich auch super. Vor kurzen war das Strohballrollen in Rixdorf. Da kann eigentlich jeder mitmachen. Wir waren schneller als die Jusos, aber nicht Sieger. Die Slowenen haben wieder gewonnen, die kommen extra deswegen hierher. Ich gehe noch überall hin, um die Partei kennenzulernen, heute ist der Arbeitskreis Stadt von den Jusos. Es gibt auch Arbeitsgruppen für Juden, für Christen, für Selbstständige oder für Verfolgte im Nationalsozialismus. Insgesamt habe ich so sechs, sieben Treffen im Monat. Da sind ganz unterschiedliche Leute, sehr bunt von Beruf und Alter, bei den Jusos sind fast alles Studenten, außer so drei, vier Schüler. […] Auf Landesebene rechne ich mir schon ein paar Möglichkeiten aus. Da hat jeder eine Chance, man muss sich nur anstrengen und bei Veranstaltungen blicken lassen. Sonst kennt dich keiner, dann hast du keine große Chance Bürgerdeputierter oder Bezirksverordneter zu werden. In zehn Jahren sind wieder Landeswahlen, dann werde ich vielleicht Bezirksverordneter von Berlin. Das wäre super. Da bekommt man ein bisschen Geld, aber nicht viel, vielleicht so 500 Euro. Als Bürgerdeputierter 20, da stelle ich mich nächstes Jahr schon auf. Das kann jeder.“
Roberts parteipolitischen Ambitionen galten zwar als ungewöhnlich, gelegentlich wurde er von Mitschülern etwas spöttisch als „unser Politiker“ bezeichnet, doch wurden sie nicht zu einem Ausschlussgrund gemacht. Neben der Lust am Kennenlernen neuer Menschen und Meinungen verband er damit auch konkrete Karrierepläne. Parallel dazu bemühte sich Roberto zielstrebig um einen Ausbildungsberuf im handwerklichen Bereich. Obwohl er nur als mittelmäßiger Schüler galt, konnte er durch seine Anwesenheit und seine positive Einstellung gegenüber der Schule bei den Lehrern viele Pluspunkte sammeln. Am Ende der zehnten Klasse gehörte er zu jenen ganz wenigen Schülern, die sich erfolgreich um einen Ausbildungsplatz beworben hatten. Dafür hatte er 32 Bewerbungen geschrieben, für die er jeweils einen ganzen Nachmittag benötigte, und die auf eine Vermittlung in den Arbeitsmarkt ausgerichteten Beratungs- und Hilfsangebote offensiv in Anspruch genommen. Teilweise war er selbst zu den Firmen gefahren, um die Bewerbungen persönlich in den Briefkasten zu stecken. Seine Nachmittage waren im Verlauf der zehnten Klasse folglich fast komplett mit politischem Engagement und Bewerbungsbemühungen ausgefüllt.
Andere Schülerinnen und Schüler wurden, wie gesehen, für deutlich geringeres Karriereengagement gemobbt, mussten wegen viel kleinerer Auffälligkeiten peinliche Bloßstellungen ertragen und litten erkennbar stärker unter ihrer Außenseiterrolle. Ohne Robertos Gefühlswelt vollständig vermessen zu können, so lässt sich in seinem Fall doch zumindest eine vergleichsweise vorteilhafte Konstellation von Einflussfaktoren skizzieren. Stabile familiäre Verhältnisse gaben ihm ein Gefühl der Sicherheit und der Bewerbungserfolg stärkte sein Selbstbewusstsein. Anders als Sila kam er nicht von einem höheren Schultyp und wurde deshalb weniger als Bedrohung etablierter schulinterner Hierarchien betrachtet. Anders als Camille hatte er seit der siebten Klasse kontinuierlich die Galilei-Schule besucht und konnte im Verlauf der Jahre ein Netz stabilisierender Kontakte zu Mitschülern sowie ein vertrauensvolles Verhältnis zu einzelnen Lehrern aufbauen. Und anders als Theo, der einem mit Coolness assoziiertem migrantischem Machismo nacheiferte, konkurrierte Roberto nicht mit den aggressiv auftretenden männlichen Meinungsführern. Allerdings gab es durchaus auch potentielle Stressfaktoren, so lebten seine Eltern in prekären Verhältnissen. Nachdem sie längere Zeit von „Hartz IV“ abhängig gewesen waren, gelang ihnen erst zu Beginn von Robertos letztem Schuljahr als Reinigungskraft und Küchenhilfe ein bescheidener sozialer Aufstieg. Dieser war jedoch durch ihren weiterhin ungesicherten Aufenthaltsstatus als Flüchtlinge aus dem Bosnienkrieg gefährdet. Die damit verbundenen Unsicherheiten werde ich im Kapitel zu sozialen Ängsten schildern.
Robertos eigenwillige Vorlieben und sein angesichts der Stigmatisierung als Hauptschüler außergewöhnlich erfolgreicher Start in das Berufsleben weisen auf eine gewisse Flexibilität von Strukturmechanismen und Normerwartungen hin. Zahlreiche Faktoren, neben den gegenwärtigen sozialen Konstellationen auch frühkindliche familiäre Prägungen und psychische Dispositionen, spielen bei der Herstellung und Erfahrung von „Ugly Feelings“ eine Rolle. Peinlichkeitsgefühle sind niemals vollständig berechenbar, sowohl ihr schwer kontrollierbares Eintreten als auch ihr unerwartetes Ausbleiben haben potenziell irritierende Wirkungen.
SCHLUSS: EMOTIONALE REGIME
Eine mit meinem Anliegen vergleichbare Verbindung von instabilen emotionalen Praktiken mit übergreifenden Strukturen versucht der Historiker William Reddy herzustellen. In seiner einflussreichen Studie „The Navigation of Feeling“ geht er einerseits von einem „disaggregierten Selbst“ aus, das von Diskursen geformt und von Praktiken transformiert wird und verweist andererseits am Beispiel der Französischen Revolution und ihrer Folgen auf übergreifende „emotionale Regime“ hin – eine historisch wandelbare normative Ordnung von Emotionen, die er als Grundlage politischer Herrschaft begreift. Dabei unterscheidet er zwischen diktatorischen Regimen, die eine strikte emotionale Disziplin einfordern und offeneren oder liberalen Regimen, die diese nur in bestimmten Institutionen wie dem Militär und der Schule verlangen, ansonsten aber ein relativ freies emotionales Navigieren ermöglichen. Mit seinem an Austins Sprechakttheorie angelehnten Konzept der „Emotives“ verschiebt er zudem die Perspektive von der Fragestellung, was Emotionen sind, hin zur Frage, was sie tun, wie sie Personen und Situationen verändern. 47
Versucht man Reddys Thesen kritisch weiterzudenken und seine Konzepte auf die Gegenwart zu übertragen, ergeben sich interessante Anschlussmöglichkeiten. In einem verwandten, gleichsam konkurrierenden Ansatz spricht Barbara Rosenwein von „emotionalen Gemeinschaften“ anstatt von dominanten emotionalen Regimen.48 „Emotional Communities“ begreift sie als weitgehend identisch mit sozialen Gemeinschaften wie Familien und Nachbarschaften oder mit Institutionen wie Fabriken und Universitäten. Doch wirkt ihr Konzept zu monolithisch, um es auf die Galilei-Schule anwenden zu können: Die dortigen Schüler bildeten weder im solidarischen Sinne eine emotionale Gemeinschaft, noch im analytischen Sinne, dass sich ein verbindendes Schul- oder Gruppengefühl ausmachen ließe. Die neoliberale Schule der Gefühle besteht vielmehr darin, dass die Bedingungen für gemeinschaftliches Handeln unterminiert werden und Formen eines kollektiven Klassenbewusstseins sich weitgehend zugunsten individualistischer Zuschreibungen und Wahrnehmungen auflösen. Dies würde wiederum eher für Reddys konzeptionellen Ansatz sprechen, doch auch dieser bleibt revisionsbedürftig. In neoliberalen Zeiten scheint das freie Navigieren von Emotionen deutlich eingeschränkt, in immer weiteren Lebensbereichen wird die Orientierung an einem relativ engen Set von als marktkompatibel geltenden Verhaltensweisen eingefordert. Neoliberalisierung bedeutet deshalb auch eine fortschreitende Kolonisierung und Missionierung von Emotionen unter dem Primat des Marktes. Gleichzeitig verlieren die von der herrschenden bürgerlichen Klasse etablierten Gefühlsnormen in der Hauptschule an Bindekraft. Mit Blick auf die Politik der Emotionen ergibt sich also ein umgekehrtes Bild als bei William Reddy: Das scheinbar offene liberale emotionale Regime wird im Alltag immer diktatorischer und gleichzeitig erodiert es in institutionellen Kernbereichen wie der Schule. Welche historischen Entwicklungen sich daraus ergeben werden, lässt sich noch nicht abschätzen. Geht man mit Reddy jedoch davon aus, dass in erster Linie ein Übermaß an emotionalem Leiden gesellschaftliche Veränderungen oder sogar Revolutionen hervorbringen, dann könnte die gegenwärtige Entpolitisierung von „Ugly Feelings“ auch in ihr Gegenteil umschlagen.
1Vgl. Karsunke/Michel/Spengler (Hg.): Die Neidgesellschaft.
2Vgl. Demmerling/Landweer: Philosophie der Gefühle, S. 197.
3Vgl. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit, S. 189.
4Vgl. Piketty: Das Kapital im 21. Jahrhundert; Boushey/DeLong/Steinbaum (Hg.): After Piketty.
5Vgl. Wehler: Die neue Umverteilung; Lessenich/Nullmeier (Hg.): Deutschland – Eine gespaltene Gesellschaft.
6Vgl. Ngai: Ugly Feelings.
7Scheve/Stodulka/Schmidt: Guter Neid, schlechter Neid?, S. 41.
8Vgl. Ngai: Ugly Feelings, S. 126-173; Wellgraf: Hauptschüler, S. 263-269.
9Vgl. Freud: Über infantile Sexualtheorien; Klein: A Study of Envy and Gratitude; Ngai: Jealous Schoolgirls.
10Vgl. Goffman: Interaction Ritual, S. 5-45.
11Kemper/Weinbach Klassismus, S. 7.
12Vgl. ebd., S. 22f.
13Vgl. Neckel: Blanker Neid, blinde Wut?
14Vgl. Bröckling: Das unternehmerische Selbst.
15Vgl. Hareß (Hg.): Neid; Epstein: Envy.
16Neckel: Blanker Neid, blinde Wut?, S. 147.
17Vgl. Neckel: Flucht nach vorn.
18Vgl. Buschkowsky: Neukölln ist überall; Sarrazin: Deutschland schafft sich ab.
19Vgl. Neckel: Flucht nach vorn, S. 142.
20Vgl. Demmerling/Landweer: Philosophie der Gefühle.
21Vgl. Solomon: On Emotions as Judgments; Solomon: True to our Feelings, S. 101-113.
22Steedman: Landscape for a Good Woman, S. 123.
23Vgl. McRobbie/Garber: Girls and subcultures.
24Vgl. Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion
25Vgl. Ahmed: The Promise of Happiness, S. 21-49.
26Zu Mobbing vgl. Cowie/Jennifer: New Perspectives on Bullying; Scheithauer/Hayer /Petermann: Bullying unter Schülern; Wöbken-Ekert: „Vor der Pause habe ich richtig Angst“; Lawson: Treibjagd auf dem Schulhof; Brinkmann: Mobbing, Bullying, Bossing.
27Vgl. Taylor: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung; Honneth: Kampf um Anerkennung.
28Ngai: Ugly Feelings, S. 6; Reckwitz: Ästhetik und Gesellschaft, S. 222ff.
29Vgl. Döring: Peinlichkeit.
30Vgl. Frevert: Die Politik der Demütigung.
31Vgl. Döring: Peinlichkeit, S. 171-225.
32Vgl. ebd.
33Vgl. Goffman: Interaction Ritual, S. 5-45.
34Vgl. ebd., S. 97-112.
35Vgl. Katz: How Emotions Work; Collins: Interaction Ritual Chains.
36Vgl. Mackert: Writing the History of Fat Agency; Farrell: Fat Shame.
37Vgl. ebd.
38Vgl. Max-Rubner-Institut (Hg.): Nationale Verzehrsstudie II.
39Vgl. Skeggs: Formations of Class and Gender.
40Vgl. Schiffauer: Schule, Moschee, Elternhaus; Fürstenau/Gomolla (Hg.): Migration und schulischer Wandel.
41Vgl. Scott: Sexularism; Asad: Formations of the Secular.
42Vgl. Nökel: Die Töchter der Gastarbeiter und der Islam; Laborde: Female Autonomy, Education, and the Hijab.
43Vgl. al-Quarni: Die glücklichste Frau der Welt.
44Ebd., S. 23, 26.
45Ebd., S. 31f.
46Vgl. Mühe: Managing the Stigma – Islamophobia in German Schools.
47Vgl. Reddy: The Navigation of Feeling; Cavell: Performative and Passionate Utterance.
48Vgl. Rosenwein: Worrying about Emotions in History.