Die Hauptschulnote. Zur pädagogischen Produktion von Minderwertigkeitsgefühlen
Die an der Galilei-Schule am häufigsten vergebene Schulnote war die Sechs. Hinter dieser Notengebung steckte keine prinzipielle Böswilligkeit vonseiten der Lehrer, sondern das System Hauptschule brachte diese Noten fast von selbst hervor. Die Lehrer reproduzierten dabei meist unfreiwillig gesellschaftliche Verhältnisse und sahen sich anschließend mit der pädagogischen Frage konfrontiert, wie sie mit einem Übermaß an Negativ-Noten umgehen sollten. Den Schülern wurde ihre gesellschaftlich produzierte Minderwertigkeit anhand von Schulnoten auf besonders deutliche Weise vor Augen geführt. Dauerhafte und extreme Abwertungen bedrohen massiv die Herausbildung eines positiven Selbstbildes. Sie führten bei den betroffenen Jugendlichen zu Scham- und Minderwertigkeitsgefühlen, die sie in Schule und Alltag auf verschiedenste Weisen artikulierten, verdrängten oder überspielten.
Schulnoten spiegeln größer werdende gesellschaftliche Spaltungen wider: Während am „oberen“ Ende der sozialen Leiter eine Inflation von Bildungszertifikaten und herausragend positiven Noten beobachtet wird, kommt es am „unteren“ Ende der Bildungshierarchie zu zahlreichen Schulabbrechern und einer Inflation von Negativnoten.1 Die soziale Ausgrenzung von Hauptschülern reproduzierte sich in Form einer kollektiven schulischen Abwertung. Hauptschüler konnten Schulnoten nicht einfach ignorieren, denn sie waren dem Notensystem ausgeliefert und in ihm emotional verfangen. Ausgeliefert, weil sie die asymmetrischen Machtverhältnisse der Notengebung mit ihrer eigentümlichen Mischung aus Willkür und Zwangsläufigkeit im Schulalltag täglich erfuhren und gleichzeitig um die möglichen Folgen von schulischen Bewertungen für ihren weiteren Lebensweg wussten. Emotional verfangen, weil sie das System der schulischen Notengebung prinzipiell anerkannten. Die symbolische Gewalt von Schulnoten liegt darin, dass in ihnen Machtbeziehungen nicht nur erfahren, sondern gleichzeitig auch von den Betroffenen internalisiert und reproduziert werden.2 Schulnoten sind mehr als nur eine numerische Evaluierung abgegrenzter Leitungsausschnitte, sie werden immer auch ein Stück weit auf Persönlichkeiten und Charaktereigenschaften bezogen. Noten sind in Bezug auf die in ihnen enthaltenen Wertungen besonders heimtückisch, denn sie suggerieren Objektivität, Neutralität und Fairness und sind doch maßgeblich durch gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse prädisponiert.
Durch pädagogische Formen von verweigerter Anerkennung entstehen Scham- und Minderwertigkeitsgefühle. Sighard Neckel beschreibt soziale Scham als Wahrnehmung, Deutung und Verfestigung von sozialer Ungleichheit, wobei er Anfang der 1990er Jahre bereits einen Strukturwandel der Unterlegenheit „vom kollektiven Status zur defizitären Individualität“ ausmacht.3 Diese Entwicklungstendenz westlicher Gegenwartsgesellschaften hat sich seitdem mit dem Aufstieg eines unternehmerischen, selbstverantwortlichen Subjektmodells weiter zugespitzt.4 Unterlegenheit wird demnach weniger als klassenspezifische gemeinschaftliche Erfahrung erlebt, sondern immer mehr als Zeichen persönlicher Defizite interpretiert und erfahren. Das Gefühl letztlich selbst für seine Schulnoten verantwortlich zu sein, war auch bei Hauptschülern weit verbreitet. Schamgefühle gingen daher oft mit Schuldgefühlen einher, teilweise auch mit Wut und Aggressivität gegenüber sich selbst und anderen. Doch an der Galilei-Schule passierte, wie wir noch sehen werden, darüber hinaus noch etwas Erstaunliches, für das es in der Soziologie der Ungleichheit bisher kaum hinreichende Erklärungen gibt. Das Notensystem verselbstständigte sich und es lief dabei Amok. Es produzierte einen Überschuss an Negativität, den die Lehrer kaum noch kontrollieren konnten und der sich mit gewöhnlichen Schamreaktionen vonseiten der Schüler nicht mehr beantworten oder bewältigen ließ.
Studien zu Hauptschule und Hauptschülern haben immer wieder eindringlich auf die enge Verbindung dieser spezifischen Schulform mit Minderwertigkeitsgefühlen hingewiesen.5 In drei wegweisenden jüngeren Studien wird die gesellschaftliche Konstruktion und die emotionale Erfahrung des Hauptschülerstatus noch einmal auf grundlegende Weise hinterfragt. Anke Clasen arbeitete in „Bildung als Statussymbol. Hauptschule und Schulstrukturen nach PISA“ sozialtheoretisch heraus, dass die Art und Weise, wie die Institution Schule eine Verinnerlichung und Übernahme der bestehenden Ordnung durch die Heranwachsenden vorantreibt, von grundlegenden Widersprüchen geprägt ist: zwischen der Betonung individueller Leistung und den nachweisbaren Wirkungen sozialer Schranken, zwischen einem pädagogisch integrierendem Bildungsverständnis und einer sozial ausgrenzenden Schulrealität sowie zwischen dem beständig hervorgehobenen Ziel der Berufsvorbereitung und der tatsächlichen Hinführung in die Arbeitslosigkeit.6 Matthias Völcker und Mareke Niemann beschäftigten sich empirisch mit den Folgen der Hauptschulzugehörigkeit auf das Selbstwertgefühl und das Selbstverständnis von Hauptschülern.7 Völcker veranschaulicht wie strukturell angelegte schulische Benachteiligung als individueller Makel wahrgenommen wird und dies zu Identitätsbeschädigungen führt. Neben den materiellen Auswirkungen der Exklusion auf dem Ausbildungsmarkt schreiben sich symbolische Formen der Ausgrenzung – die Fülle der über Hauptschüler kursierenden Negativbilder und abwertenden sozialen Zuschreibungen – in die Körper, Wahrnehmungem und Handlungen der Schüler ein, wobei selbst deren Verteidigungsversuche noch von einer generellen Verunsicherung geprägt sind. Niemann schildert wie die Selbstverortungen von Hauptschülern im Bildungssystem durch ambivalente Einstellungen gegenüber der Schule geprägt sind, bei denen einerseits die Notwendigkeit von Schule, Leistung und Noten anerkannt wird und gleichzeitig Distanz und Fremdheit gegenüber dem Bildungssystem vorherrschen. Dieses individuell unterschiedlich ausgeprägte Ambivalenzverhältnis birgt ein großes Enttäuschungspotenzial, denn es führt auch bei grundsätzlich motivierten Schülern zu negativen schulischen Erfahrungen. Solche Widersprüche und Zwiespälte bestimmten auch die schulische Bewertungspraxis an der Galilei-Schule und deren Wahrnehmung vonseiten der Schüler.
Es ist schwer über Schamgefühle zu schreiben, da diese häufig versteckt auftreten. Elsbeth Probyn empfiehlt ein Schreiben über soziale Scham, dass Gesellschaft nicht als abstraktes Konstrukt begreift, sondern als präzise zu beschreibendes konkretes Beziehungsgefüge, durch das Gefühle hervorgebracht werden und Affekte zirkulieren. Diese Emotionen betreffen auch den Schreibenden, weshalb eine ehrliche Sprache leidenschaftlich und interessegeleitet statt distanziert und scheinneutral sein muss.8 Autoren wie Michelle und Renato Rosaldo, Jeniffer Biddle und Didier Eribon zeigen in ihren Analysen der Scham, wie sich emotionale Normen der Beschämung in das Selbstverständnis von Gesellschaften eingelagert haben, wie Autoren selbst darin emotional verstrickt sind, und wie schwierig es folglich ist, scheinbar „natürlichen“ Gefühlsäußerungen ihre Selbstverständlichkeit zu nehmen.9 Um das weithin Unhinterfragte zu hinterfragen, beschreibe ich zunächst im Detail die schulische Produktion von Negativnoten und verfolge anschließend das soziale Fortleben dieser Noten in Schule und Alltag. Meine Beschreibung ist eine Anklage, aber eine auf Strukturen zielende, die sich nicht an einzelne Lehrer, sondern an uns alle richtet, die wir Benotungssysteme im Bildungssystem mittragen.
DIE HAUPTSCHULNOTE.
DISZIPLINIERUNG UND DEMÜTIGUNG
Die heutigen Schulnoten etablierten sich in Berlin um 1800 mit der Einführung des Abiturs auf der Grundlage älterer, meist textbasierter Bewertungsformen von unterschiedlichen Aspekten des Lernens wie Begabung, Fleiß, Sozialverhalten oder Lernfortschritt.10 Die Schulnote als pädagogisch-bürokratisches Doppel-Instrument preußischer Prägung verband von vornherein schulische Motivierung mit staatlicher Disziplinierung. Mit dem Aufstieg von Bildungsgerechtigkeit als normatives Ideal wurden diese inhärenten Spannungen der Schulnotengebung problematisch. Dennoch erhielt das Prinzip der über Schulnoten bewerteten, individuell zugerechneten Leistungserbringung zunehmende Bedeutung im deutschen Schulsystem. Die enge Verkopplung schulischer Zertifikate mit zukünftigen beruflichen Chancen entfaltete an Hauptschulen erst nach den Bildungsreformen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts allmählich ihre volle Wirkung.11
Ambivalenzen der Benotung werden mit dem Anschein von Objektivität kaschiert, mit einem naturwissenschaftlichen Verständnis von unvoreingenommenem und unparteiischem Wissen, dessen Aufstieg in der Mitte des 19. Jahrhunderts begann. Lorraine Daston und Peter Galison unterscheiden in ihrer wegweisenden Studie zur Herausbildung naturwissenschaftlicher Objektivität am Beispiel von illustrierten Atlanten drei miteinander konkurrierende und gleichzeitig miteinander korrespondierende Formen von Objektivität: truth to nature, bei der eine grundlegende Essenz eingefangen wird; mechanical objectivity, bei der möglichst unverstellte Detailtreue im Mittelpunkt steht; und trained judgment, bei der Daten von einem geübten Forscherauge geglättet und neu arrangiert werden.12 Die Schulnotengebung umfasst alle diese Aspekte von Objektivität: Sie produziert eine Art von Schüler-Essenz („Einser-Schüler“), die erst durch die Benotungspraxis selbst als naturgegeben erscheint. Dies geschieht gleichsam auf eine mechanische Weise, bei der komplexe Sachverhalte zu abstrakten Notenziffern komprimiert werden. Und schließlich entspricht die alltägliche Notengebung weitgehend der Form eines „trainierten Urteils“, durch welches sich Lehrer die Schülerleistungen vor dem Hintergrund ihrer pädagogischen Erfahrungen und persönlichen Neigungen zurechtlegen. Angelehnt an diese wissensgeschichtliche Herangehensweise begreife ich die in gegenwärtigen Benotungsprozessen beanspruchte Objektivität nicht als einen gegebenen Idealzustand, sondern als ein Konfliktfeld, dass sich über die Rekonstruktion von pädagogischen Rechtfertigungsordnungen und Bewertungsformen erschließen lässt. Die unterschiedlichen pädagogischen Perspektiven und situationsgebundenen Benotungspraktiken gilt es mitsamt ihren Widersprüchen aber auch ihren Geltungs- und Gerechtigkeitsansprüchen ernst zu nehmen und sie gleichzeitig mit übergreifenden gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen in Beziehung zu setzen.13 Durch die Verbindung einer komplexen Innen- mit einer komplexen Außenperspektive versuche ich zu einer ethnografisch fundierten Kritik der Hauptschulnote zu gelangen. Mit Blick auf die emotionalen Folgen von Schulnoten hebe ich hervor, dass Evaluierungspraktiken immer auch Valuierungspraktiken sind, durch die Höher- und Minderwertigkeit zugeschrieben werden.14
Objektivitätsanspruch im Zweifel: Variationen der Notengebung
Mit der Legitimationskrise der Hauptschule, unter anderem in Folge der PISA-Debatte um Ungleichheiten im Bildungssystem, wurde auch „die Illusion der Chancengleichheit im Bildungssystem“ und damit einhergehend der Objektivitätsanspruch von schulischen Bewertungen nachhaltig infrage gestellt.15 Dass schulische Benotungspraktiken einem naturwissenschaftlich standardisierten Messideal nicht entsprechen können, wird in der schulischen Praxis allgemein anerkannt, doch wird in der Regel zumindest das Prinzip und der Anspruch auf Objektivität verteidigt, da schulische Benotungen sonst ihre Legitimität verlieren würden.16 An der Galilei-Schule wurde auch dieser Objektivitätsanspruch teilweise bereits infrage gestellt. Eine reguläre Leistungsbewertung schien hier kaum noch möglich, da ein Großteil der Schüler ihrer Schule die Gefolgschaft verweigerten. Lehrer entwickelten in dieser pädagogisch schwierigen Situation unterschiedliche Versionen einer ihnen angemessen erscheinenden Benotung. Herr Steiß hielt weiterhin am Glauben an die Objektivität fest, für ihn als Mathematiklehrer waren Schulleistungen eindeutig messbar.
Herr Steiß: „Wir haben ja eine Messlatte, an die wir bei den Vergleichsarbeiten angeschlossen sind. Das sind an die 100 Aufgaben. Wir geben die Ergebnisse in so eine Computer-Maske ein, das geht bis 25 und ist dann nochmal bis zu vier Mal differenziert. Da werden alle Leistungen der Klasse, der Schule, in Neukölln, in Berlin und im Bundesgebiet erfasst – dadurch kann man dann die Schule genau einordnen. Die Galilei-Schule landet immer unter den letzten 16 Prozent. Das berechnet diese Maske innerhalb von wenigen Minuten, das wurde vom Institut für Schulqualität entwickelt. Damit sind wir an ein objektives Messsystem angeschlossen. Es hat ja auch keinen Zweck, wenn ich einem Schüler, der die Prozentrechnung nicht kann, eine Drei gebe. Wir hatten das schon, dass Betriebe bei uns angerufen haben: ‚Ihr Bewerber kann kein rechtwinkliges Dreieck zeichnen. Was ist bei Ihnen los?‘ Für den alten Hauptschulabschluss, der jetzt Berufsreife heißt, gibt es jetzt auch eine Vergleichsprüfung, früher war das nur ein schulinterner Abschluss, der war eigentlich nicht vergleichbar. Jetzt machen in Deutsch und in Mathematik alle das Gleiche. Das finde ich gut. Aber es hat eine Weile gebraucht, bis das Akzeptanz im Kollegium gefunden hat. Vom Wiegen wird das Schwein nicht fett. Unsere Schüler werden dadurch nicht besser, aber ihnen wird jetzt bewusst, wo sie tatsächlich stehen. Früher war das noch mehr ausgeprägt, diese irreale Selbsteinschätzung. Da findet bei den Schülern ein Stück Realitätsgewinnung statt, viele von ihnen sind ja gar nicht ausbildungsfähig.“
Computergestützte Messverfahren erhöhen in den Augen von Herr Steiß nicht nur die Messgenauigkeit, sie ermöglichen auch eine bessere Vergleichbarkeit des jeweiligen Leistungsstandes. Während der mit der Umwandlung von einer Haupt- in eine integrierte Sekundarschule zunehmende Prüfungsaufwand von anderen Lehrern eher skeptisch betrachtet wurde, hielt er diesen Schritt für notwendig, um die Benotungspraxis seinen positivistischen Vorstellungen von Schülerleistungen anzupassen. Herr Steiß konnte sich damit kurz vor der Rente noch einmal als Vorreiter bestätigt sehen und gegenüber Kollegen anderer Fachrichtungen profilieren. Seine selbst für Hauptschulverhältnisse außergewöhnlich schlechte Notengebung, die fast ausschließlich zwischen Vier und Sechs lag, fiel dadurch nicht auf ihn und seinen Unterricht zurück, sondern erschien ihm als objektive Wiedergabe der Realität. Vergleicht man die Selbstdarstellungen des Lehrers mit meinen Beobachtungen seines Mathematikunterrichts entsteht eine Diskrepanz, die Zweifel an der Realisierung des proklamierten Objektivitätsanspruchs aufkommen lassen. Ich hatte schon im Kapitel zu Langeweile eine Szene aus dem Unterricht von Herrn Steiß geschildet, in der die Schüler Liegestütze statt Mathematikaufgaben machten. Charakteristisch für seinen Unterricht waren in erster Linie lange Lehrermonologe, welche die Schüler weitgehend desinteressiert über sich ergehen lassen mussten.
Feldtagebuch: Herr Steiß stellt rhetorische Fragen, doch reagiert er nicht auf die sich anfangs noch gelegentlich meldenden Schüler, sondern gibt sich einfach selbst die Antworten, die er dann zu Geschichten ausschmückt. Zwischendurch kommt er auch zu mir, zeigt mir das Display seines Taschenrechners, auf dem die Zahl 142857 eingetippt ist. „Guck mal, meine Lieblingszahl. Die Zahlen bleiben immer gleich, wenn man sie mit geraden Zahlen multipliziert, sie verändern nur ihre Reihenfolge.“ Die Schüler schauen mich an und amüsieren sich. „Siehst Du, er ist irre“, kichert einer zu mir herüber. Doch der Lehrer lässt sich nicht beirren. Nach einer Weile meine ich, er solle jetzt lieber mit dem Unterricht fortfahren. Also erzählt er weiter Geschichten, die nur sehr vage etwas mit Mathematik zu tun haben: von seinem Nachbarn, dessen Auto abgeschleppt wurde; von seinem Bruder, der vor zehn Jahren bei einer Zwangsversteigerung ein Haus günstig erworben hat; von einem Rechnungsstreit mit seinem Zahnarzt, der ihn bei der Schufa anzeigen wollte; und von naiven DDR-Bürgern, die nach der Wende meinten, sie müssten ihre Kredite nicht wieder zurückzahlen. Ich erwartete schon die kriminellen arabischen Familienclans, von denen Herr Steiß seinen arabischen Schülern besonders gerne berichtet, doch stattdessen geht es nun zum Kölner Dom, „die meistbesuchte Stelle Deutschlands, […] für die man 800 Jahre gebraucht hat.“ Herr Steiß ist natürlich schon selbst heraufgeklettert, allerdings nur „etwa 75 Meter hoch“. Theo ruft zweimal „Dreck“ in den Klassenraum, aber auch „Ich brauche Mathe für meinen Beruf“ (er will Verkäufer werden). Später zieht er sich den Draht aus seinem Hefter, legt ihn sich um den Hals und simuliert einen Selbstmord. Der Draht wird dann zur kreativen Weiternutzug im Klassenraum herumgereicht. Einer probiert ihn als Gürtel. Khaled kitzelt Momo damit am Hinterkopf, danach machen beide ein Tauziehen. Theo ruft zwischendurch „Ich brauche Morphium“, und mit Blick aus dem Fenster: „Es schneit!“. Momo hat das Tauziehen gewonnen und stellt fest, dass man sich mit dem Draht auch sehr gut den Rücken kratzen kann. Dann kitzelt er seinerseits seinen Vordermann und als der etwa ein Meter lange Draht seinen Weg durch die halbe Klasse gemacht hat, wirft ihn Herr Steiß schließlich in den Mülleimer. „Das ist mein Draht, dafür habe ich 800 Jahre gebraucht“, ruft Theo. Schließlich folgt ganz am Ende der Stunde noch eine Beispielrechnung. „Nächste Woche dann Test zum Ratenkredit“, kündigt der Lehrer an. Theo ist erschrocken. „Wir haben nichts gelernt. Ich bin müde.“ Khaled beschwert sich nach der Stunde bei mir: „Siehst Du, er ist Klapse, keiner kapiert was und dann schreiben wir irgendwann eine Arbeit und kriegen alle eine Fünf.“
Dieser Auszug aus meinem Feldtagebuch verdeutlicht, dass in diesem Fall dem nach außen propagierten Objektivitätsanspruch keine adäquate schulische Objektivitätspraxis entspricht. Die Schüler wurden weder auf die kommende Mathematikprüfung noch auf mögliche Berufswege vorbereitet. Die schulischen Bewertungen wirkten angesichts der beschriebenen Lehrmethoden von vornherein als fragwürdig. Herr Steiß bezeichnete übrigens seinerseits die Schüler mir gegenüber als „irre“. Paradoxerweise beschuldigten sich also Lehrer und Schüler gegenseitig beim Forscher als verhaltensgestört und unzurechnungsfähig, um mich dadurch auf ihre Seite zu ziehen. Vor allem Theo und Khaled, die als die stärksten Schüler in Mathematik galten, waren Herrn Steiß gegenüber äußerst kritisch eingestellt. „Ich fühle mich jeden Tag von Ihnen beleidigt“, brachte Theo einmal im Unterricht seine negative Einschätzung auf den Punkt. Umgekehrt beschwerte sich auch Herr Steiß bei seinen Schülern, dass er ihr Verhalten im Unterricht „als eine Beleidigung“ betrachte. Wenn man nur ihr jeweiliges Unterrichtshandeln berücksichtigt – Monologe aufseiten des Lehrers, „Herumblödeln“ aufseiten der Schüler – lässt sich durchaus nachvollziehen, wie beide Seiten zu ihrer negativen Einschätzung kamen.
Auch andere Lehrer, denen unter schwierigen Bedingungen eine bessere Unterrichtsgestaltung gelang, hielten sich noch am Objektivitätsanspruch fest, da dieser ihnen als eine Art letzter Strohhalm zur Aufrechterhaltung ihres pädagogischen Selbstverständnisses erschien. Objektivitätsvorstellungen gehen mit spezifischen Modellen von Subjektivität einher, in diesem Fall mit einem historisch tradierten und in Lehramtsstudiengängen aktualisierten Ethos des Lehrerberufs.17 Mit dem Objektivitätsanspruch gerieten an der Galilei-Schule also auch die Selbstbilder von Lehrern in Bedrängnis, sie mussten verteidigt oder neu arrangiert werden. Frau Mitroglou sah sich beispielsweise in der Pflicht, den Schülern kein falsches Selbstbild zu vermitteln, um spätere Enttäuschungen zu vermeiden. Und Herr Dombrowski erklärte etwa hilflos: „Wir versuchen uns immer mit der Punktetabelle zu retten, um wenigstens einen Ansatz von Objektivität zu erreichen.“ Bei Notenvergaben holte er gelegentlich diese Notenrichtlinie hervor und hielt sie der Klasse entgegen. Auch wenn auf diese Distanz niemand die Zahlen erkennen konnte, so vermittelte diese symbolische Geste zumindest den Eindruck, die Benotungspraxis wäre objektiv und gerechtfertigt. Andere Lehrer orientierten sich in ihrer Notengebung eher an sozialen Kriterien und gerieten dadurch in Konflikte mit dem schulischen Benotungs- und Disziplinarregime.
Frau Herrmann: „Anwesenheit und Sozialkompetenz sind für mich die beiden Hauptsachen. Was ich an dieser Schule dazu gelernt habe, ist es Fünfen zu geben, für Leute die wirklich nur dasitzen, um andere abzulenken und zu ärgern – oder die mit Absicht nicht kommen. Also ich finde Notengebung nach wie vor einen Nachteil. Ich würde lieber einen Text schreiben. Ich habe so eine Liste mit Plus und Minus. Manche Schüler sind jederzeit ansprechbar, auch wenn sie zwischendurch quatschen. Andere sind null ansprechbar, die kommen nur damit sie keine Schulversäumnisklage bekommen. Aber einige sind ja schon ansprechbar. So ganz strikt kann ich es auch nicht machen, zumal ich vor Zensurenkonferenzen auch noch mit ihnen rede. Ich gebe auch insgesamt etwas bessere Noten. Die erste Fünf fiel mir wirklich schwer. Genau wie der erste Tadel hier. Das habe ich mein Leben lang nicht gemacht, sondern immer nur rumgedruckst, aber ein Kollege meinte dann: „Das musst du jetzt aber machen!“ Mittlerweile geht es relativ einfach und in absoluten Notfällen schicke ich sie auch in den Trainingsraum. Ich habe auch schon jemanden suspendiert, dann auch mit den Eltern gesprochen. Aber wirklich nur in absoluten Notfällen, wenn es wirklich nicht anders geht.“
In einer Lehrsituation, in der ein beträchtlicher Teil der Schüler gar nicht zum Unterricht erschien und viele der anwesenden Jugendlichen den Unterricht offen boykottierten, belohnte Frau Herrmann bereits Anwesenheit und Ansprechbarkeit mit einer relativ favorablen Benotung. Andere Lehrer berücksichtigten bei der Anwesenheit mitunter auch noch das Vorhandensein der Unterrichtsmaterialien. Ihre Leistungskriterien für eine aktive Teilnahme am Unterricht hatte sie soweit heruntergefahren, dass es bereits genügte, nicht übermäßig zu stören und halbwegs dem Unterricht zu folgen. Trotz dieser großzügigen Grundhaltung gewöhnte sich auch Frau Herrmann während ihrer Zeit an der Galilei-Schule an das Abwerten und Strafen. Sie fügte sich sukzessive in die Struktur der Strafbenotung ein, obwohl diese ihrem pädagogischen Selbstentwurf widerstrebte. Die institutionelle Überformung ihrer erzieherischen Leitbilder verdeutlicht, dass sich solche Benotungspraxen strukturell und nicht durch Böswilligkeit der Lehrerschaft verfestigen und verselbstständigen. In ihrem insgesamt empathischen Ansatz, mitsamt ihren Zweifeln am numerischen Prinzip der Notengebung sowie ihrem Unbehagen mit strengen Disziplinarmaßnahmen, sind unübersehbar auch traditionell weibliche Rollenbilder eingeschrieben, während umgekehrt in der rigiden Notengebung von Herrn Steiß möglicherweise auch ein männliches Selbstbild als Lehrer zum Ausdruck kommt. Zwischen diesen beiden Polen – der strikten Beharrung auf dem Objektivitätsprinzip auf der einen Seite und einer stärker am Sozialverhalten der Schüler ausgerichteten Notengebung auf der anderen Seite – gab es in der Galilei-Schule noch andere Varianten der Bewertung, von denen ich lediglich noch eine weitere exemplarisch vorstellen möchte.
Herr Busch: „Die Sportnoten sind sehr individuell. Ich mache das nicht so, wie es nach dem entsprechenden Leistungsschlüssel gefordert wird. Das ist völlig unsinnig und jeder Pädagoge weiß das eigentlich. Ich gucke einfach, wer strengt sich an und wer nicht. Wenn sich ein Schüler über alle Maße bemüht, der sonst nicht so in der Lage dazu ist, dann ist es durchaus möglich, dass er von mir für kleine Fortschritte eine Zwei bekommt, auch wenn er von der Leistung eine Fünf kriegen müsste. Das ist mehr eine Bewertung der Mitarbeit und der Bereitschaft. Ich halte sowieso unheimlich wenig von diesem Abmessen, wo man sagt, das ist genau das und so muss es unbedingt sein – egal ob in den Naturwissenschaften oder im Sport. Wenn ich mal eine Gruppe habe, die wirklich gut ist, unterrichte ich natürlich auch anders. Was wir aus dem Blick verlieren in unserem Schulsystem, auch durch PISA, die permanenten Prüfungen und das ganze Pauken für die Vergleichsarbeiten, ist die Schüler zu befähigen, das Ganze zu verstehen und als Person voranzukommen.“
Der Sport- und Chemielehrer Herr Busch sah die ihm als Lehrer auferlegten objektive Messvorschriften im Gegensatz zu Herrn Steiß als realitätsferne, technokratische Instrumente, die nachhaltiges Lernen eher behindern als befördern. In der Unterrichtspraxis entschied er sich sowohl gegen das Prinzip der Sachnorm, eine an vorher festgelegten Leistungsmaßstäben ausgerichtete Benotungspraxis, als auch gegen eine am Leistungsstand der restlichen Gruppe orientierte soziale Bezugsnorm. Für ihn zählte in erster Linie die persönliche Anstrengung und der individuelle Lernfortschritt, also eine individuelle Bezugsnorm. Welche Benotungsform auch gewählt wurde – Leistungsstandmessung, Sozialnoten oder Bewertung von Anstrengung und Lernfortschritt – jede Version war für sich plausibel und begründet. Wie unter den von Daston und Galison untersuchten Naturwissenschaftlern des 19. Jahrhunderts existierten auch unter den Lehrern der Galilei-Schule unterschiedliche, sich teilweise überschneidende und vermischende, aber auch in Konflikt und in Widerspruch stehende Versionen von pädagogisch angemessener Bewertung. Zwar entsprach nur die erste Variante dem offiziellen Leitbild der Institution Schule, doch bot der Direktor seinen Lehrern in den Jahren vor dem absehbaren Ende der Hauptschule weitgehenden Gestaltungsspielraum bei der Ausgestaltung von Benotungsvorgaben. Im Interview verteidigte er die langjährige Praxis des relativ selbstständigen schulischen Experimentierens mit Benotungssystemen, „die nicht hätte entstehen können, wenn wir in so einem engen Korsett mit großen Leistungsdruck gewesen wären – und die jetzt natürlich durch die Schulreformen auch in Gefahr ist.“
Mögen die Formen der Notengebung auch stark variieren und insgesamt wenig objektiv erscheinen, so sind die Folgen der Notengebung dennoch weitreichend, sowohl für die Schülerschaft insgesamt, denen mithilfe von Schulnoten und den darauf folgenden Zeugnissen und Schulabschlüssen ein Platz in der Gesellschaft zugewiesen wird, als auch für die einzelnen Schüler, die schulische Leistungsbewertungen emotional verarbeiten müssen. Das Schulsystem nimmt eine Schlüsselrolle bei der Einteilung der Bevölkerung in Klassen oder Schichten ein. Seine hierarchische Struktur basiert auf einer grundlegenden Trennung zwischen „Oben“ und „Unten“, die – vermittelt über eine Unterscheidung zwischen Kopfarbeit und Handarbeit – der Trennung zwischen Gymnasium und Hauptschule zugrunde liegt.18 Die unterschiedlich begründeten und praktizierten Kategorisierungen von Hauptschülern mittels Schulnoten sind somit auf eine grundlegende Weise sozial vermittelt und gesellschaftlich geprägt.
Ohnmachtsgesten: Straf- und Disziplinarnoten
Bei Strafnoten tritt der soziale Charakter der Notengebung besonders deutlich hervor. Die Noten an der Galilei-Schule waren auch deshalb so miserabel, da sie nicht nur als Leistungs-, Anwesenheits- oder Anstrengungsindikator dienten, sondern systematisch als Disziplinarmittel eingesetzt wurden. Für jede unentschuldigte Fehlstunde, für jede nicht gemachte Hausarbeit, für jede größere Störung im Unterricht drohte den Schülern die Note Sechs. Angesichts der dürftigen Disziplinarwirkung solcher Maßnahmen wirkte diese Form der Notenverteilung häufig wie eine Geste der Ohnmacht vonseiten der Lehrer. Die dadurch vergebenen Noten blieben dennoch nicht folgenlos, denn sie drückten die ohnehin belastete Stimmung an der Schule und den Notenschnitt der Schüler weiter in den Keller. Da Disziplinarnoten stark vom Verhältnis zum jeweiligen Lehrer abhingen, zeigten sich auch hier große Unterschiede in der Notengebung. Der ohnehin bereits angekratzte Objektivitätsanspruch brach nun gänzlich in sich zusammen und wurde durch subjektive Vorstellungen einer angemessenen Bestrafungspraxis ersetzt.
Frau Hille: Na ja, ich gucke dann im Klassenbuch nach. Ich bekomme da ja immer die Fehlzeiten mitgeteilt. Wer unentschuldigt ist, bekommt eine Sechs. Wer am Ende zu viele Sechsen hat, der kriegt halt keine Vier, sondern eine Fünf. Ich bin da halt auch gerecht. Wenn man nur einmal oder zweimal da war, dann gibt es halt keine Vier. Manche denken ja, nur wenn sie da sind, gibt es schon eine Vier. Zehn Prozent der Leistung sind eine Fünf. Die müssen sie erst einmal erbringen, das machen ja viele auch nicht.
Die Strafsechsen zählten einerseits weniger als anderen Noten, sie wurden eher verwendet, um am Ende bei der Festlegung der Zeugnisnote für ein Schulfach eine Notenstufe herunterzugehen. Andererseits zählten Strafsechsen doppelt, denn sie senkten nicht nur den Notenschnitt, sondern bestimmten darüber hinaus maßgeblich die Bewertung des Sozialverhaltens auf den Zeugnissen. Was gerecht ist oder nicht, entschied dabei eher das jeweilige „Bauchgefühl“, wobei Lehrer häufig die Schüler ungleich behandelten und teilweise inkonsistente Maßstäbe ansetzten. In der zitierten Interviewpassage wird zwar eine klare und gerechte Vorgehensweise suggeriert, doch letztlich bleibt unklar, was zu viel und was zu wenig ist, wie Anwesenheit und Leistung miteinander im Verhältnis stehen. Die Lehrerin verschaffte sich dadurch einen relativ großen Spielraum, um nach eigenem Ermessen im niedrigen Notenbereich zwischen Vier und Sechs, in dem sie fast alle ihre Schüler verortete, zu variieren. Wie stark Disziplinarnoten die Bewertung beeinflussten, verdeutlicht die Notentabelle von Frau Mitroglou.
Abbildung 7: Notentabelle Frau Mitroglou
Quelle: Galilei-Schule
Die Übersicht zeigt ihre selbst entworfene Notentabelle im Fach Deutsch in der Klasse 9c in den Monaten von September bis November 2012. Die Häkchen signalisieren die Anwesenheit des Schülers in den jeweiligen Unterrichtsstunden, der Buchstabe „f“ steht für das Fehlen im Unterricht, je nachdem, ob dieses entschuldigt („e“) oder unentschuldigt („ue“) war, zieht dieses die Strafnote Sechs nach sich. Allein durch diese Handhabung haben sich in einem Unterrichtsfach innerhalb weniger Wochen bereits rund 50 Sechsen angesammelt. Bei Zuspätkommenden wurde die Anzahl der verspäteten Minuten meist protokolliert. Die Sechsen hinter einem Häkchen stehen für nicht gemachte Hausarbeiten anwesender Schüler. Da Hausaufgaben gelegentlich aus mehreren Teilaufgaben bestanden, konnten Schüler auf diese Weise mehrere Sechsen pro Stunde ansammeln. Die in seltenen Fällen durchgestrichenen Sechsen deuten an, dass diese Noten durch nachgereichte Hausarbeiten prinzipiell auch wieder aufgehoben werden konnten. Die Noten vom 19.11. und 27.11. stehen für die Ergebnisse von Zwischenprüfungen im Unterricht, wobei im ersten Fall noch die Nummern des jeweiligen Arbeitsbuches notiert wurden. Die Schülerin, die beim Test am 19.11. die einzige Eins erreichte, die überhaupt auf dieser Notentabelle verzeichnet ist, hat in den übrigen Stunden mehrere Sechsen für Fehlzeiten oder nicht erledigte Hausarbeiten erhalten. Am 26.11., an dem lediglich vier von fünfzehn Schüler anwesend waren, machte sich die Lehrerin noch zusätzliche Plus- und Minuszeichen für positives beziehungsweise negatives Verhalten im Unterricht, wobei die Minuszeichen überwogen.
Strafsechsen kamen, wie gesehen, vor allem durch unentschuldigtes Fehlen und nicht erledigten Hausarbeiten zustande. Manche Lehrer verwendeten sie zusätzlich auch bei Störungen des Unterrichts, auch wenn dies laut Berliner Schulgesetz eigentlich nicht zulässig war. Diese Auslöser von Straf- und Disziplinarmaßnahmen waren im Schulalltag eng miteinander verflochten, da häufig schulabstinente Schüler in der Regel auch ihre Hausarbeiten vergaßen und bei Anwesenheit zu Störungen des Unterrichts neigten. Die Hauptursache für diesen Problemkomplex war eine unter den Galilei-Schülern weit verbreitete Schuldistanz, auf die ich im ersten Kapitel bereits eingegangen bin. Dies wird an Tagen wie dem 24. September besonders deutlich, an dem nur zwei Schüler anwesend waren, also fast die komplette Klasse unentschuldigt fehlte. Da manche Schüler mehr als dreißig unentschuldigte Fehltage pro Schuljahr ansammelten, für die sie bei konsequenter Handhabung bei jeder Fehlstunde eine Sechs erhalten müssten, kommen auf diese Weise theoretisch über das Jahr hinweg mehr als einhundert Sechsen pro Schüler zustande. Da praktisch auch die komplette Schülerschaft Hausaufgaben unerledigt ließ, drohte auch jede Hausaufgabenstellung zu einer Kollektiv-Sechs zu führen. Die dadurch entstehende Menge an Sechsen ließ sich pädagogisch nicht mehr sinnvoll handhaben, was auch dadurch belegt wird, dass Galilei-Lehrer manchmal selbst den Überblick verloren, für was sie die eine oder andere Sechser-Note vergeben hatten. Die Folgen dieser Inflation von Strafsechsen war eine Aushöhlung ihrer Disziplinarwirkung sowie eine Marginalisierung von auf Lehrinhalte bezogenen Noten. Wer bereits ein paar Dutzend Sechsen angesammelt hat, bekommt den Eindruck, ohnehin bereits verspielt zu haben. In solchen Fällen konnte auch die Androhung weiterer Strafnoten die Schüler nur noch eingeschränkt zum Erscheinen in der Schule bewegen. Intrinsische Motivationen (wie „Lernen macht Spaß“) oder Zukunftsversprechen („Lernen lohnt sich“) hatten ihre Überzeugungskraft aufgrund von schulisch reproduzierter Verachtung und verfestigter sozio-ökonomischer Marginalisierung bereits ohnehin verloren. Das Strafnotensystem lief ungeachtet dessen weitgehend selbstbezüglich weiter, da sich niemand mehr in der Lage fühlte, es wieder zu stoppen. Die Hauptschulnote wurde zu einer Farce, in der sich auf groteske Weise die Legitimationskrise dieser Schulform widerspiegelte.
Doch was geschah mit diesen zahlreichen Sechsen? Die Bedeutung der Strafnoten im Prozess der Zeugnisnotenfindung war zwiespältig, zwar wurde ihre Relevanz bei der Notengebung herabgestuft, doch einmal vergeben, ließen sie sich auch nicht mehr völlig ignorieren. Unter den Lehrern der Galilei-Schule überwog insgesamt ein pragmatischer Umgang mit Straf- und Disziplinarnoten:
Frau Hille: „Im Grunde müsste man für jede Stunde eine Sechs geben, aber meistens wird das nicht gemacht. Diese Strafsechsen spielen am Ende schon auch eine Rolle, sie können aber natürlich nicht das Bild bestimmen. Sonst müsste man ja Schülern, die viel stören, immer die Sechs geben, selbst wenn das ein guter Schüler wäre. Also, da muss man gucken, dass die nicht ein zu großes Gewicht bekommen. Aber eine richtig gute Note kann eben auch nicht mehr rauskommen. Wenn man streng nach Rahmenplan gehen würde, dürfte man hier sowieso niemandem eine gute Note mehr geben. Ich sitze da jetzt auch nicht mit dem Taschenrechner und addiere die Sechsen. Ich schaue mir die Fehltage an, berücksichtige aber auch, was jemand eigentlich kann. Die Fehlzeiten nivellieren sich ein bisschen, wenn der Schüler sonst halbwegs regelmäßig gekommen ist oder zumindest entschuldigt gefehlt hat. Wenn jemand ein paar Mal gefehlt hat, sagt man sich: Das ist jetzt nicht so ein Drama, andere sind ja nie dagewesen.“
Der insgesamt hohe Stand an Fehlzeiten relativierte zu einem gewissen Grad die Bedeutung der einzelnen Fehlzeiten. Auch die Vorstellung des Lehrers vom eigentlichen, aber aufgrund der Unterrichtsumstände nicht gezeigten Leistungsstand des jeweiligen Schülers machte sich bei der Notengebung bemerkbar, allerdings ließ sich dieser von den Lehrern meist nur erahnen. Hier dominierte ein Alltagsverständnis von Angemessenheit, demzufolge die Zeugnisnote auch das Leistungsvermögen eines Schülers kenntlich machen sollte, über ein enges Objektivitätsverständnis im Sinne von Leistungsstandmessung. Strafnoten wurden von den Schülern grundsätzlich als notwendig akzeptiert. Zwar wurde die eigene Bestrafung häufig als ungerecht und überzogen erlebt, doch nicht das Strafsystem selber infrage gestellt. Wie mit den Fehlzeiten umgegangen wurde, hing stark vom jeweiligen persönlichen Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern ab. Tendenziell wurde bei übermäßig erscheinenden Fehlzeiten oder Disziplinarvergehen hart durchgegriffen, während bei Schülern, die den Unterricht nicht offen boykottierten, über vieles hinweggeschaut wurde. Auch erschien der eigentliche Stand der Fehlzeiten, wie er sich anhand von Frau Mitroglous Unterrichtstabelle erahnen lässt, nicht in offiziellen Schulstatistiken. Die Schule, die im Zuge der Berliner Schulstrukturreform versuchte, ihr Negativimage abzustreifen, hätte sich damit gegenüber der Schulaufsicht in die Bredouille gebracht und interessierte Eltern von vornherein verschreckt. In der Aufmerksamkeit, die schulischem Selbst-Marketing mittlerweile zukommt, deuten sich die Effekte eines in den letzten Jahren stärker an Wettbewerbsprinzipien ausgerichteten schulischen Steuerungsmodells an. Dieses hat eine weitere Polarisierung der Bildungslandschaft zur Folge, damit einher gehen Prozesse der sozialräumlichen Segregation und ein verändertes, primär an messbarem Output orientiertes Verständnis von schulischer Bildung.19 Die bildungspolitische Elite-Orientierung produziert demnach systematisch auch ihr Gegenteil, nämlich sogenannte „Restschulen“ wie die Galilei-Schule.
Hier zeigt sich die Kehrseite des Objektivitätsanspruchs. Zunächst einmal gibt es eine weitreichende Allianz zwischen dem naturwissenschaftlichen Ideal der Unbestechlichkeit von Zahlen auf der einen Seite und bürokratischer Administration auf der anderen Seite, deren demokratisch kaum kontrolliertes Handeln als legitim und begründet erscheint, wenn es sich offiziell auf die Ergebnisse standardisierter Messverfahren stützt.20 James Scott versteht moderne Standardisierungsmaßnahmen, zu denen sich auch Schulnoten zählen lassen, als Instrumente staatlicher Kontrolle, als ein bürokratisches Projekt der Lesbarkeit des Sozialen. Aufgrund ihres Schematismus werden solche statistischen Abstraktionen zwar der Komplexität sozialer Verhältnisse kaum gerecht, sie versorgen aber dennoch die entsprechenden staatlichen Instanzen mit Autorität und Handlungsoptionen.21 Doch wenn die Messergebnisse als nicht vorzeigbar erscheinen, werden Statistiken im Schulbereich auf mitunter dreiste Weise politisch passfähig gemacht. Dabei sind auch die offiziell bekannten Zahlen schon erschreckend: Insgesamt verlässt laut der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie durchschnittlich jeder zehnte Berliner Schüler die Schule ohne Schulabschluss, im Schuljahr 2012/13 lag die Quote bei 9,2 Prozent, bis zum Jahr 2015/16 war sie trotz Schulreform auf 10,9 Prozent angestiegen, im Stadtteil Neukölln lag sie mit 15,4 Prozent noch einmal deutlich höher.22 Andere Statistiken werden verschwiegen oder geschönt. So verweigerte das Land Berlin zur Zeit meiner Forschung Auskünfte über die amtlich bekannten Schulabbrecherquoten einzelner Schulen, in ehemaligen Hauptschulen sollen diese bei rund 27 Prozent gelegen haben.23 Manipuliert wurde vor allem bei Angaben über den tatsächlichen Stand der erfolgreichen Vermittlungen in den Arbeitsmarkt, der über statistisch als „Ausbildung“ getarnte staatliche Weiterbildungsprogramme vor den Augen der Öffentlichkeit weitgehend verschleiert wird.
Die hier aufscheinende Verbindung von Macht und Wissen führt relativ direkt zu Michel Foucault und dessen Reflektionen über moderne Formen des Regierens. Foucault umschreibt mit seinen Begriffen der Biopolitik und der Gouvernementalität einen Wandel politischer Herrschaftslogiken seit dem späten 18. Jahrhundert, bei dem Bevölkerung als kollektive Entität und die Selbstmodellierung der Subjekte in den Fokus politischer Steuerungsprogramme rückten.24 Die damit verbundene moderne Form des Regierens löste das in der Frühen Neuzeit dominierende Disziplinarregime ab, griff jedoch weiterhin auf dessen repressive Instrumente zurück, wenn Subjekte nicht die „richtige“ Einstellung ausbildeten. Gouvernementale Regierungsformen prägten das sich im 20. Jahrhundert abzeichnende neoliberale Gesellschaftsmodell, in ihnen gewannen Kalküle ökonomischer Nützlichkeit an Gewicht und avancierten allmählich zum regulierenden Prinzip des Staates.25 Überträgt man dieses analytische Modell auf die Galilei-Schule, tritt die politische Dimension von bürokratischen Messinstrumenten wie Schulnoten hervor, hinter deren objektivistischer Fassade ein eng miteinander verflochtener gouvernementaler, biopolitischer und neoliberaler Machtmechanismus sichtbar wird. Das moderne deutsche Schulsystem entstand und etablierte sich in etwa parallel zum Gouvernementalitätsregime und übersetzte zentrale Elemente eines aktivierenden Herrschaftsstils in die alltägliche pädagogische Praxis, wobei besonders Schulnoten die Heranwachsenden zu einer konformen Selbstführung anregen sollten.26 Gleichzeitig wird mittels schulischer Bewertungen die Bevölkerung auf biopolitische Weise in höher- oder minderwertige Gruppen eingeteilt, wobei Hauptschüler in einem ökonomischen Sinne mittlerweile als weitgehend „überflüssig“ gelten.27 Schließlich wird den Schülern in einem neoliberalen Sinne auch noch selbst die Verantwortung für ihr Schulversagen zugeschrieben, da Schulnoten als meritokratisch und unparteiisch gelten.
Eine Ethnografie der Hauptschulnote bestätigt aber nicht nur Foucaults Thesen, sie fordert gleichzeitig zu deren Weiterentwicklung heraus, wobei ich mich hier auf einige kurze Bemerkungen zu Produktivität, Materialität und Affektivität beschränke.28 Hauptschulbenotungen funktionieren keineswegs reibungslos, vielmehr überraschte ihre Unproduktivität – sowohl in einem aktivierenden als auch einem disziplinierenden Sinne. Sie motivierten weder die Schüler selbstverantwortlich zu lernen noch hatten sie eine wirksame disziplinierende Wirkung. Auch zahlreiche verbeamtete Lehrer unterliefen eigenmächtig die staatlichen Benotungsvorgaben und lehnten die mit ihnen verbundenen Programmatiken offen ab. Anhand der von Lehrern verwendeten Notentabellen lässt sich der materielle Charakter der Notengebung verdeutlichen. Einmal etablierte Notationssysteme entfalteten eine Eigendynamik und präformierten auf diese Weise zu einem gewissen Grad die Hauptschulnote, gleichzeitig relativierten die Lehrer aber auch die ihnen erschreckend vorkommenden Ergebnisse dieser Bewertungssysteme nachträglich. Den affizierenden Charakter von Schulnoten werde ich im Verlauf dieses Kapitels noch genauer in den Blick nehmen, vorausgeschickt werden kann bereits, dass es sich um eine äußerst ambivalente und widersprüchliche Form der emotionalen Affizierung handelt, bei der negative schulische Bewertungen einerseits Scham- und Minderwertigkeitsgefühle produzieren, die weit über die Schule hinausreichen, gleichzeitig jedoch das enorme Ausmaß an Negativnoten eine emotionale Verarbeitung erschweren und eher grotesk-humoristische Reaktionsweisen hervorrufen.
Die Lehrer der Galilei-Schule schossen bei der Vergabe von Schulnoten weit über das offizielle Ziel einer objektiven Abbildung des Leistungsstandes der Schüler hinaus. Auch ihr Versuch Lernbereitschaft durch Strafnoten herzustellen, scheiterte größtenteils, da Strafnoten keine grundlegenden Legitimationsprobleme beheben und zudem ihre Disziplinarwirkung bei zu häufiger Anwendung nachlässt. Die schulische Benotungspraxis führte zu einem Hagelsturm von Sechsen, den die Pädagogen selbst kaum noch überblicken und kontrollieren konnten. Doch wie lässt sich eine dermaßen abstruse Notenverteilung verstehen, wenn sie weder objektiv noch effektiv ist?
Demütigung: Verachtung und Schuldzuweisung im Schulalltag
Die Note Sechs war in erster Linie eine Demütigung, ein alltäglicher pädagogischer Ausdruck der gesellschaftlichen Verachtung von Hauptschülern. In ihnen verbarg sich ein Überschuss von Negativität, der nicht auf einzelne Lehrer oder Schüler reduzierbar war, sondern gesellschaftlich produziert wurde und das Lehrer-Schüler-Verhältnis insgesamt belastete. Das an der Galilei-Schule dominierende, doch von einzelnen Lehrern unterschiedlich gehandhabte Strafnotenprinzip war Kernelement der Schulkultur, verstanden als die schulspezifische Art und Weise, in der historische und sozialstrukturelle Rahmenbedingungen, programmatische Bildungsvorgaben und grundlegende Ambivalenzen des Lehrerberufs symbolisch verarbeitet und in die alltägliche Praxis übersetzt werden.29 Die eigentliche Wirkung dieser Bewertungspraxis bestand in der Abwertung von Hauptschülern, die ungewollt auch von gutmeinenden Pädagogen mitgetragen wurde.
Die moralische und affektive Dimension des Klassensystems tritt in der beschriebenen schulischen Notengebung auf pathologische Weise hervor. Klasseneinteilungen sind nicht wertneutral, wer „unten“ steht, dem werden in unserer Gesellschaft auch negative Eigenschaften wie Faulheit, Dummheit oder Gewalttätigkeit vorgeworfen.30 Durch sozialmoralische Grenzziehungen dieser Art lassen sich Privilegien verteidigen und soziale Ausschlüsse legitimieren. Doch dieser abwertende Grundmechanismus sozialer Hierarchisierung wird weitgehend verdrängt und stattdessen das trügerische Selbstbild einer offenen, auf meritokratischen und demokratischen Prinzipien basierenden Gesellschaft aufrechterhalten. Die symbolische Gewalt dieser Vorstellung besteht darin, dass selbst viele Hauptschüler an die damit verbundenen Aufstiegsmythen glauben und Bildungsideologien auch dann noch von Lehrern verteidigt werden, wenn ihr pädagogisches Gewissen sie längst zweifeln lässt.31 Die Lehrer der Galilei-Schule waren selbst Gefangene im schulischen Notensystem, sie wussten sich in einer schwierigen Lehrsituation nicht anders zu helfen. Sie versuchten auf unterschiedliche Weise ihr berufliches Selbstbild notdürftig zu retten und entwickelten dabei eigenmächtige Verständnisweisen und individuelle Varianten von Notengebung. Manche arbeiteten sich daran ab, den Kreislauf der Verachtung mit Empathie zu durchbrechen, andere gaben die Verachtung, die ihnen selbst als Hauptschullehrern entgegentrat, an ihre Schüler weiter.
Herr Steiß hatte statt einer Unterrichtstabelle für die Vergabe der Mitarbeitsnoten die Fotos der Schüler auf ein Blatt geklebt und die jeweiligen Namen dazugeschrieben, um sich diese besser merken zu können. Die Schüler wirkten auf den Fotos noch halb wie Kinder, wahrscheinlich waren die Bilder nicht mehr ganz aktuell. Neben den Fotos wurden die Noten notiert – die beste eine Drei Minus, ansonsten standen neben den Jungengesichtern meist Vieren und Fünfen, neben den schüchtern lächelnden Mädchengesichtern ausschließlich Fünfen und Sechsen. Im Gespräch schweifte er resümierend einmal über das Übersichtsblatt der Klasse 10a im Fach Mathematik hinweg.
Herr Steiß: „Hier Anuschka, Mutterschaft, kommt gar nicht mehr. Eigentlich eine leistungsfähige Schülerin. Gestern seit drei Monaten das erste Mal wieder dagewesen. Ganz schlecht ausgesehen, ganz schwierige Verhältnisse. Mutter ist wohl abgerückt und kümmert sich nicht mehr. Familiäre Probleme en masse. Sie hier hält sich für eine Leistungsträgerin, total falsche Selbsteinstellung, kann nichts. Kann nichts! Hier auch noch eine ganz schwache Schülerin. Bei ihm hätte ich gedacht, er ist ein Dreier, hat jetzt aber eine Fünf geschrieben, bekommt am Ende wohl gerade noch eine Vier. Er ist 5er-Kandidat, kann gar nichts. Sie Schwänzerin. Und sie ist eigentlich eine Sonderschülerin, ganz schwache Schülerin, lernverzögert. Und der, ganz harter Fall, eigentlich auch Null Leistung, kriegt also eine Fünf. Khaled wurde von einer anderen Schule rausgeworfen, da habe ich noch kein Foto. Er ist eigentlich nicht so schlecht. Theo auch nicht, aber er kriegt auch nur eine Vier, hat gestern die Arbeit vergeigt. Zeinab ist schon 19 Jahre alt und in psychiatrischer Behandlung. Das ist also so das Leistungsbild. Das hier sind aber nur die mündlichen Noten, für die schriftlichen Ergebnisse habe ich noch ein anderes Blatt und die Anwesenheit wird auch nochmal extra erfasst. Das wird dann am Ende alles über ein Punktesystem zusammengerechnet. Insgesamt ist das natürlich eine Katastrophe. Das ist auch ein Zeichen dafür, dass hier kein kontinuierlicher Mathematikunterricht stattgefunden hat. Das schlägt sich auch in den Noten wieder. Da fehlen die Grundlagen, da wurde ganz viel versiebt. Wenn ich da vier Jahre lang Mathelehrer gewesen wäre, würde das ganz anders aussehen. Und dann noch die katastrophale Anwesenheit, aber das hat mit Mathematik nichts zu tun.“
Durch die häufige Bezugnahme auf soziale, psychische und familiäre Problemlagen machte der Lehrer deutlich, dass es sich um eine von vielen Stressfaktoren belastete Schülerschaft und somit um eine extrem schwierige pädagogische Ausgangslage handelt. Die Schüler und ihre Familien erscheinen als hauptverantwortlich für die miserablen Noten. Im Verlauf des Interviews berichtete er noch von „Hartz-IV-Eltern“, die den „halben Tag im Bett liegen“ und ihren Kindern auf diese Weise nicht die für eine erfolgreiche Schulkarriere notwendigen Tugenden vermitteln. Es wird zwar auch auf Versäumnisse der Institution Schule hingewiesen, der eigene Unterricht davon jedoch ausgenommen. Auffallend ist vor allem der abwertende Ton gegenüber den Schülern, der in verabsolutierenden persönlichen Einschätzungen wie „gar nichts“, „kann nichts“ oder „null Leistung“ zum Ausdruck kommt, wobei die Erwartungshaltung des Lehrers gegenüber Schülerinnen noch einmal besonders negativ gefärbt wirkt. So erscheint es nicht überraschend, dass Herrn Steiß auch vonseiten der Schüler wenig Sympathie entgegengebracht wurde.
Das negative Schulklima belastete nicht nur die Schüler, sondern auch die Lehrer. Um in dieser Situation als Pädagoge ein positives Selbstbild aufrechtzuerhalten, erscheint es fast notwendig, die Verantwortung für die Schulmisere weiterzureichen und sich auf diese Weise ein Stück weit emotional zu entlasten. Neben Schuldzuweisungen an die Schüler waren Klagen über die mangelnde Unterstützung vonseiten der Eltern besonders verbreitet:
Frau Tellmann: „Gerade bei der Anwesenheit, da haben wir schon so viel probiert, auch in dieser Klasse, aber irgendwie stoßen wir da nur an Grenzen. Wir haben ja auch schon morgens die Schultüren zugeschlossen. Dann wurden alle Namen aufgeschrieben, die fehlen und die hat dann die Sekretärin angerufen. Das Ergebnis war, dass sie sich Beschimpfungen anhören musste oder sie haben einfach das Telefon abgestellt, weil sie morgens nicht mehr gestört werden wollten. Es liegt ganz viel am Elternhaus, wenn das nicht mitzieht, sind die Schüler meist schon verloren. Viele Eltern haben auch die Meinung, die Schule hat meine Kinder zu erziehen. Ich schicke sie dahin und die sollen mal sehen, wie sie damit klarkommen und aus denen ordentliche Menschen machen. Ganz so funktioniert das nicht. Natürlich versuchen wir hier ein großes Stück mitzuerziehen und es gibt auch Schüler, die kommen gerne her – aber nicht um zu lernen, sondern um Freunde zu treffen.“
Die Fehlzeitenproblematik hatte verschiedene Ursachen, doch in erster Linie wurde sie durch die Hauptschule selbst produziert. Was immer die Pädagogen auch probierten, sie konnten die Fehlzeiten nicht in den Griff bekommen, solange die Institution Schule den Heranwachsenden keine Zukunftsperspektive bietet. Neben Strafnoten, gutem Zureden oder dem hier erwähnten Versuch, die Schultüren nach Unterrichtsbeginn zu versperren, den ich bereits im ersten Kapitel geschildert habe, wurden gegen Schüler mit besonders vielen Fehlzeiten teilweise Schulversäumnisanzeigen erstattet. Blieben diese – wie in den meisten Fällen – ohne dauerhafte Wirkung, führte dies oft zu einem Schulabbruch. Auf diese oder ähnliche Weise verließen im Verlauf der neunten und zehnten Klasse etwa ein Drittel der Schüler die Galilei-Schule, darunter viele als besonders problematisch und unmotiviert geltende Jugendliche. Rückblickend meinten die Lehrer deshalb manchmal, wie „relativ entspannt“ es in den zehnten Klassen zugehe, in der neunten Klasse sei es „viel schlimmer“ gewesen. Eine Bemerkung, die mich angesichts der von mir beobachteten Zustände ziemlich verdutzte.
Das ständige Scheitern pädagogischer Anstrengungen an den gesellschaftlichen Umständen führte zu Frust unter den Lehrern. Die alltäglichen Strafnoten gingen auch bei ihnen mit Negativgefühlen einher und provozierten Rechtfertigungsversuche, in denen sie mit dem System der Notengebung oder dem gesamten Schulsystem haderten.
Herr Steiß: „Ich habe dabei kein gutes Gefühl, insbesondere in der zehnten Klasse denke ich auch immer an die Zukunftswirkung einer Note. Ob so eine Note nicht den künftigen Weg verstellt und verbaut. Denn eine Note ist immer ein Urteil, nicht über eine Person, aber über die erbrachte Arbeitsleistung. Sie sagt nichts objektiv über die Fähigkeiten eines Schülers, denn sie beinhaltet ja stark eine Fleißkomponente. Und die Schüler müssen erkennen: Für nichts gibt es nichts. Wer keine Leistung bringt, dem können wir auch keine attestieren. Und diese ganzen Fünfen und Sechsen – das sind ja fast alles Verweigerungsnoten.“
Der Lehrer hatte sich durch sein Festhalten am Prinzip der objektiven Leistungsmessung in ein Dilemma gebracht: Um an seinen pädagogischen Grundeinstellungen festhalten zu können, sah er sich dazu gezwungen, die Schüler schlecht zu bewerten, was wiederum sein Gewissen belastete. Andere Lehrer reagierten, wie gesehen, flexibler und pragmatischer, indem sie ihre Benotungspraxis den Umständen anpassten. Für meine Argumentation ist die in dieser Interviewpassage aufgeworfene Frage zentral, ob die Hauptschulnote ein Urteil über eine Leistung oder eine Person ist. Ich würde im Gegensatz zu Herrn Steiß argumentieren, dass an der Galilei-Schule Leistung überhaupt nicht mehr adäquat gemessen werden kann. Die Hauptschulnote ist vor allem ein sozialmoralisches Urteil über eine Person oder eine Schülergruppe, über ihre angeblich defizitären Charaktereigenschaften und Lerneinstellungen, was in der erwähnten „Fleißkomponente“ sowie der monierten Verweigerungshaltung auch indirekt zum Ausdruck kommt. Da diese Benotungspraxis sowohl Ausdruck als auch Instrument einer über die Schulzeit hinausreichenden sozialen Hierarchisierung ist, wird sie nach Schulabschluss zum Ausgangspunkt weiterer Kategorisierungen, die im Fall der Galilei-Schüler häufig in das nicht minder demütigende „Hartz-IV“-System führten. Der in Deutschland besonders stark ausgeprägte bürokratische Noten- und Zeugnisglaube trägt zusätzlich dazu bei, dass Hauptschulabschlüsse zu einem langlebigen sozialen Stigma werden.
In einer schulischen Krisen- und Konfliktsituation, bei der der pädagogische Grundanspruch, den Schülern Zukunftsperspektiven zu eröffnen, mit der gesellschaftlichen Abwertung und Ausgrenzung von Hauptschülern kollidierte, wurden von den Akteuren unterschiedliche Rechtfertigungs- und Zuschreibungsordnungen formuliert.32 Manche Lehrer stellten aufgrund der desaströsen Zukunftsaussichten ihrer Schülerschaft die eigene Schulform insgesamt in Frage:
Herr Dombrowski: „Ich bin im Grunde der Meinung, dass diese neue Struktur mit der Sekundarschule auch schon wieder nicht funktioniert. Wir wollten ja so gut wie alle, die Hauptschule abgeschafft haben, weil sich hier die Probleme so geballt haben und die Leute – zumindest in Berlin und bis auf ganz wenige Ausnahmen – dann wirklich keine Perspektive mehr hatten. Aber das was jetzt unter Sekundarschule läuft, ist ja größtenteils die alte Hauptschule, da gibt es jetzt schon wieder eine Hierarchie zwischen Sekundarschule erster und zweiter Klasse. Und wir sind hier mit unserer sozialen Zusammensetzung eindeutig weiterhin eine Brennpunktschule. Da müsste jetzt was passieren. Eigentlich müssten wir für die neue Schulform ja individuelle Diagnoseinstrumente entwickeln und viel individualisierter unterrichten. Das ist enorm aufwendig und wird hier wahrscheinlich auch an den Umständen und an dem niedrigen Niveau scheitern.“
Die Abschaffung der Hauptschule hatte in den Augen dieses älteren Lehrers die grundlegenden Probleme einer schulischen Hierarchisierung lediglich auf eine andere Schulform übertragen. Dahinter stehen enttäuschte Hoffnungen an die Berliner Schulstrukturreform, die für die Galilei-Lehrer vor allem gestiegene administrative Anforderungen bei gleichzeitigen Verschlechterungen im Betreuungsverhältnis zwischen Lehrern und Schülern mit sich brachte. Die aus solchen beruflichen Erfahrungen erwachsende kritische Perspektive führte selbst gutwillige Landesbeamte zu Zweifeln an der Verwirklichung und dem politischen Willen zur Durchsetzung von grundlegenden Gerechtigkeitsansprüchen.
Nachdem ich bisher die Konstruktion der Hauptschulnote anhand der Rechtfertigungsordnungen und Benotungspraktiken vonseiten der Lehrer geschildert und gesellschaftlich eingebettet habe, steht als nächstes die emotionale Erfahrung von Schulnoten und Zeugnissen aufseiten der Schüler im Mittelpunkt.
SCHAMGEFÜHLE. ZUR EMOTIONALEN ERFAHRUNG
VON MINDERWERTIGKEIT
Über Jahre hinweg mit dem Stigma Hauptschüler und mit negativ bewerteten Schulleistungen konfrontiert zu werden, beschädigt das Selbstwertgefühl von Jugendlichen. Wenn die hegemonialen Bewertungsmaßstäbe, denen zufolge sogenannte „Bildungsverlierer“ mit einem Charakter- und Begabungsdefizit assoziiert werden, verinnerlicht werden, bringt dies emotionale Reaktionsweisen wie Scham- und Schuldgefühle, Selbsterniedrigung und Verunsicherung, aber auch Abwehrhaltungen und Aggressivität hervor.33 Scham entsteht, wenn ein negatives Fremdbild in das Selbstbild integriert wird. Soziologen wie Thomas Scheff und Sighard Neckel schreiben Scham in der Gegenwartsgesellschaft eine zentrale Rolle zu, sprechen aber gleichzeitig von einem „Scham-Tabu“, um zu betonen, dass Schamgefühle gleichzeitig weitgehend unsichtbar und unartikuliert bleiben.34 Dies gilt in besonderem Maße für Schulen, in denen institutionalisierte Bewertungspraktiken beständig Schamanlässe hervorbringen, in denen die allgegenwärtige Scham jedoch selten thematisiert wird.35 Dies hängt damit zusammen, dass Schamgefühle selbst als schambesetzt gelten, wobei ich mich hier auf schulbedingte Status-Scham beschränke und andere Schamformen, wie die unter postpubertären Jugendlichen ebenfalls weit verbreitete körperliche Scham, auf das folgende Kapitel zu „Ugly Feelings“ verschiebe. Die Hauptschulnote war ein Schamgenerator, sie produzierte systematisch Minderwertigkeitsgefühle. Die Schüler versuchten diese zu verdrängen und abzuwehren.
Das Hauptschulzeugnis.
Dokument des Scheiterns und der Beschämung
Angesichts der beschriebenen Benotungspraktiken verwundert es nicht, dass auch die Hauptschulzeugnisse tendenziell negativ ausfielen. Auf einer rangniedrigen Schule seine Schulzeit zu verbringen, führte folglich keineswegs zu besseren Schulnoten. Vielmehr wurden die Schüler doppelt gedemütigt: Sie erhielten von einer stigmatisierten Schule ein Zeugnis, mit dem sie bei der Suche nach Ausbildungsplätzen kaum Erfolgschancen hatten, und auf diesem Zeugnis standen auch noch deprimierende Noten, die ihre Berufschancen noch weiter schmälerten. Die negative gesellschaftliche Auslese wurde damit institutionell legitimiert, denn die Schüler erscheinen aufgrund ihrer Sozial- und Fachnoten gleichzeitig als undiszipliniert und untalentiert – im offiziellen Duktus als „nicht ausbildungsfähig“ und demnach als ungeeignet für den Arbeitsmarkt. Hauptschulzeugnisse sind Dokumente des Scheiterns, bei denen niedrige Bildungsabschlüsse als Folge von individuellem Versagen erscheinen.36
Wenn schon die Schulzugehörigkeit als Stigma gilt und dazu noch im Schulalltag negative Bewertungen dominieren, belastet dies die emotionale Befindlichkeit der Schüler nachhaltig. Verachtung und Scham stehen dabei in einem Wechselverhältnis zueinander – Verachtung ist das emotionale Vehikel gesellschaftlicher Hierarchisierung von „oben“, und Scham der Modus der emotionalen Erfahrung unterdrückender Klassenverhältnisse von „unten“.37 Zu Dokumenten der Beschämung werden verachtende Schulnoten und Schulzeugnisse, wenn die Jugendlichen die schulischen Evaluierungen anerkennen und die damit verbundenen Valuierungen in ihre Selbstwahrnehmungen und Selbstbewertungen integrieren. Pierre Bourdieu bezeichnet diese Übernahme der herrschenden Maßstäbe durch die Beherrschten als symbolische Gewalt.38 Diese Selbstunterwerfung geschieht vor allem emotional, in diesem Fall als Beschämung über Schulzeugnisse insgesamt oder als Enttäuschung über Zeugnisnoten in einzelnen Fächern, die für das Selbstbild oder die Zukunftspläne der jeweiligen Schüler von herausgehobener Bedeutung sind. Schamgefühle werden im Schulalltag sowohl durch den Inhalt von Schulzeugnissen als auch durch die Form ihrer Vergabe evoziert.
Am Ende des Schuljahres 2012/13 lag in den beiden zehnten Abschlussklassen der Galilei-Schule der Zeugnisdurchschnitt bei Vier plus, wobei die Spanne der Durchschnittsnoten von der der Note Sechs bis zur Note Zwei Minus reichte. Insgesamt erreichten drei Schüler des ursprünglich dreizügigen, in der zehnten Klasse nur noch zweizügigen letzten Hauptschuljahrgangs der Galilei-Schule am Schuljahresende 2012/13 den „Mittleren Schulabschluss“ (MSA). Ab der Zeugnisnote 4,0 erhielten die Schüler in der Regel einen erweiterten statt einen einfachen Hauptschulabschluss, wohl ein Grund dafür, dass genau dieser Notenschnitt überproportional häufig zustande kam. Allerdings verpassten auch manche Schüler mit einem besseren Notenschnitt aufgrund einer Sechs in Mathematik dieses Minimalziel. Ihr zehntes Schuljahr war demnach in Bezug auf den erreichten Schulabschluss umsonst gewesen. Der letzte Jahrgang der ablaufenden Hauptschule verabschiedete sich also relativ unrühmlich von der Berliner Schulbühne.
Schaut man exemplarisch auf das Zeugnis von Khaled – in diesem Fall allerdings das mir vorliegende Zeugnis der neunten Klasse vom Vorjahr – ergibt sich ein desaströser Eindruck, sowohl bei den Schülern selbst als auch bei ihren Eltern und potentiellen Arbeitgebern. In acht von 14 Schulfächern hatte er in eine Fünf bekommen, da in Deutsch und Englisch jeweils noch mündlich und schriftlich separat mit einer Fünf aufgelistet wurden, waren insgesamt 12 von 18 Noten eine Fünf. Hinzu kamen Vieren in Geografie, Ethik und Kunst, eine Drei in Biologie und eine Zwei in Sport. Khaleds Notenschnitt von Vier Minus lag nur leicht unter dem Klassendurchschnitt und auch die 25 unentschuldigten Fehltage kaum über dem offiziellen Fehlzeitenniveau. Es handelte sich also gewissermaßen um ein normal schlechtes Hauptschulzeugnis. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass Khaled von den Lehrern durchaus als leistungsfähig eingeschätzt wurde. In Mathematik galt er, wie gesehen, potentiell sogar als einer der Besten. Warum er auch hier ein Fünf erhalten hat, offenbart sich beim Blick auf das erste Zeugnisblatt – die „Informationen über das Arbeits- und Sozialverhalten“. Dort werden fünf soziale Schlüsselkompetenzen („Lern- und Leistungsbereitschaft“; „Zuverlässigkeit“; „Selbstständigkeit“; „Verantwortungsbereitschaft“ und „Teamfähigkeit“) anhand von vier Bewertungsstufen eingeschätzt („sehr aufgeprägt“; „ausgeprägt“; „teilweise ausgeprägt“ und „gering ausgeprägt“). Auf Khaleds Zeugnis sind ausschließlich die beiden letzteren Kategorien angekreuzt. Ein Zeugnis mit solchen Sozial- und Leistungsnoten bietet praktisch keine Chance auf dem regulären Arbeitsmarkt – es ist ein Direktticket zum „Jobcenter“. Die hohe Bedeutung von Sozial- und Disziplinarnoten in der schulischen Benotungspraxis spiegelte sich auch in einer Transformation von Zeugnisdisplays an der Galilei-Schule wider. Die Sozialkriterien wurden sukzessive erweitert und der Platz für die sogenannten „Kopfnoten“ ausgeweitet, bis diese schließlich ein Extra-Zeugnisblatt ausmachten. Zusätzlich konnten noch Bestrafungen wie Tadel oder Schulverweise aber auch absolvierte Praktika oder Schulprogramme notiert werden. Negative Sozialnoten haben ein besonderes Exklusions- und Beschämungspotenzial, da sie in Bewerbungsverfahren ein vorzeitiges Ausschlusskriterium sind und mit ihnen die Einstellungen und Charaktereigenschaften einer Person öffentlich abgewertet werden.
Auch die Art und Weise der Zeugnisübergabe kann zur Verstärkung von Negativgefühlen beitragen. Georg Breidenstein, Michael Meier und Katrin Zaborowski haben in einer vergleichenden Ethnografie von Leistungsbewertung im Unterricht an Hauptschulen eine starke Relativierung von Zeugnissen und Schulleistungen beobachtet.39 Zeugnisvergaben finden eher im informellen, klasseninternen Rahmen statt, die Zensuren erscheinen als etwas Äußerliches und ihr Zustandekommen wird nicht weiter thematisiert. In dieser Vergabepraxis artikuliert sich ein gebrochenes Verhältnis dieser Schulform zum Leistungsbegriff. Zwar wird das Leistungsprinzip weiter hochgehalten, doch werden den Hauptschülern selbst keine guten Leistungen zugetraut – sonst wären sie ja nicht an der Hauptschule. „Um die Handlungsfähigkeit an der Hauptschule aufrechterhalten zu können, muss eine Umdeutung der Situation der Schüler erfolgen. Der Fokus verlagert sich von einer Stigmatisierung schlechter Leistungen und negativer Schulverläufe hin zur Hauptschule als Ort der Anerkennung der Schülerpersönlichkeit und der individuellen Förderung.“40 Dies wäre sicher ein wünschenswertes Vorgehen, doch ist die Fokusverschiebung von Stigmatisierung zu individueller Förderung nur eine mögliche Reaktionsweise auf das Leistungsdilemma der Hauptschule, in meinem Forschungssetting ließ sich dagegen eher eine Perpetuierung von Negativerfahrungen durch die Notengebung beobachten:
Feldtagebuch: Im Vorfeld der Zeugnisvergabe steht ein kleines pädagogisches Fragespiel, bei dem die Schüler jeweils im Chor auf die rhetorischen Fragen der Lehrerin antworten:
Frau Tellmann: „Warum ist das Zeugnis so wichtig?“
Schüler: „Für Bewerbungen.“
Frau Tellmann: „Wie oft habe ich das euch erzählt.“
Schüler: „Tausendmal.“
Frau Tellmann: „Was hat es gebracht?“
Schüler: „Nichts.“
Frau Tellmann: „Bis auf zwei Schüler könnt ihr alle Eure Zeugnisse in die Tonne treten.“
Die bald darauffolgende Zeugnisverleihung im Klassenverband zeichnet sich durch ihren wenig feierlichen Charakter aus. Es scheint sich um eine Veranstaltung zu handeln, welche die Beteiligten möglichst rasch und ohne weitere Katastrophen zu überstehen hoffen. Dennoch sind die Schüler sichtlich angespannt und auch die Lehrer ziemlich aufgekratzt. Zunächst gibt es für jeden Schüler einen Brief von der IHK mit Beratungsangeboten und Urkunden von irgendwelchen Schulprogrammen. Die beiden Lehrerinnen verteilen anschließend ein altes Schultagebuch aus der siebten Klasse und ein persönliches Fotoalbum. An den alten Klassenfotos fällt auf, wie viele Schüler auf dem Weg bis zur zehnten Klasse verloren gegangen sind. In diesem persönlichen Teil der Veranstaltung pendeln die Stimmen der beiden Lehrerinnen manchmal euphorisch nach oben („Oh, ein Abschiedsgeschenk!“), im nächsten Moment wird Zuspätkommenden aber auch kühl die Teilnahme an ihrer letzten Unterrichtsstunde verweigert. In der zweiten Hälfte der Doppelstunde gibt es dann die eigentlichen Zeugnisse. Vier Schüler haben sich verbessert und zwei sind ohne unentschuldigte Fehlzeiten – sie alle bekommen als besondere Auszeichnung einen Lolli überreicht. Danach werden die Zeugnisse der Rangfolge nach vergeben, teilweise mit kleinen persönlichen Einschätzungen dazu, etwa das Schüler in sie gesteckte Hoffnungen „leider nicht erfüllen“ konnten oder sich durch Fehlzeiten ihre Noten „selbst vermiest“ haben. Beim öffentlichen Vorlesen der bei 6,0 beginnenden Zeugnisdurchschnitte müssen einige Schüler schlucken, andere bekommen von ihren Mitschülern aufmunternden Zuspruch („3,9 hört sich doch nicht so schlecht an“). Am Ende der Zeugnisvergabe schleichen die Schüler relativ schnell und schweigsam aus dem Klassenraum.
Die Zeugnisvergabe begann mit einer bereits ritualisiert wirkenden Schuldzuweisung an die Schüler vonseiten der Lehrerin, in welche die Schüler auf fatalistische Weise einstimmten. Die symbolische Gewalt der Schule bewirkte, dass die Schüler nicht gegen die zelebrierte kollektive Erniedrigung aufbegehrten. Zunächst schien jeder für sich viel zu sehr mit seinen eigenen Enttäuschungen beschäftigt zu sein, zudem waren die Bedingungen der Notengebung für sie kaum durchsichtig, weshalb sich eher ein deprimiertes „amorphes Gemeinschaftshandeln“ als ein Klassenbewusstsein im marxistischen Sinne beobachten ließ.41 In den anschließenden Schulhofgesprächen traten dann aber doch verschiedene, meist negative Gefühlszustände, wie Trauer, Wut, Erstaunen und Scham hervor: „Ich bin wütend auf mich selbst und auf Herrn Steiß“, meinte ein Schüler. Auch andere fügten selbstkritisch hinzu, sie seien „viel zu faul“ gewesen und dass sie nun „die Konsequenzen“ akzeptieren müssten. Manche wunderten sich auch, über ihre als relativ glimpflich empfundenen Noten: „Ich habe wirklich gar nichts gemacht und dafür sogar noch eine Vier bekommen.“ Doch selbst die Schüler mit den besten Noten, konnten sich nicht wirklich darüber freuen: „Ich habe zwar viele Zweien und Dreien, an dieser Schule müsste ich aber eigentlich Einsen haben.“
In seinen bereits erwähnten Studien über schulische Leistungsbewertung empfiehlt der Erziehungswissenschaftler Georg Breidenstein sich weniger auf den Selektionsauftrag der Schule zu fokussieren, da dieser seiner Ansicht nach mit der konkreten Praxis der Notengebung im Schulalltag erstaunlich wenig zu tun habe.42 Ich würde gegen eine solche entpolitisierende Sichtweise argumentieren, dass die beschriebenen alltäglichen Probleme bei der Notengebung an der Galilei-Schule sich nicht aus sich selbst heraus erklären. Die mit Strafnoten beantwortete Schuldistanz der Schüler steht in direktem Zusammenhang mit der Legitimationskrise der Hauptschule und die Verunsicherung der Lehrer ist eine Folge des Aufeinanderprallens von sozial-exkludierenden Praktiken mit pädagogisch-inkludierenden Leitvorstellungen. Es vergeht kein Schultag an der Galilei-Schule, an dem die Schüler nicht mittels schulischer Bewertungen an ihren sozialen Status und ihre Zukunftsaussichten erinnert werden. Ethnografen, die meinen, die Selektionsfunktion und sozialen Folgen von Schulnoten ausblenden zu können, arbeiten selbst an der Unsichtbarmachung sozialer Ausgrenzung mit.
Hauptschüler waren von sozialer Abwertung mittels Schulnoten besonders betroffen, da sie die normativen Ansprüche von Benotungen prinzipiell anerkannten und negative Schulnoten größtenteils als individuelles Versagen interpretierten. Schlechte Schulnoten und Schulzeugnisse produzierten deshalb systematisch Scham- und Minderwertigkeitsgefühle. Schamgefühle in Bezug auf Noten oder Zeugnisse zeigten an, dass Hauptschüler schulische Bewertungen in ihre Selbstwahrnehmung integrierten, was angesichts des Ausmaßes an Negativnoten zu gebrochenen und ambivalenten Selbstbildern führte. Ethnografische Studien müssen genau an diesem Punkt ansetzen und die Prozesse der gesellschaftlichen Unsichtbarmachung von sozialer Selektion sowie deren emotionale Folgen ins Zentrum einer kritischen Gesellschaftsanalyse rücken.
Scham-Angst: Minderwertigkeitsgefühle in Schule und Alltag
Scham hat einen versteckten und ansteckenden Charakter, sie verbreitet sich unter den sozial Deklassierten wie ein Virus.43 Besonders in neoliberalen Zeiten, in denen die Verlierer von Wettbewerbsprozessen selbst für ihre Lage verantwortlich gemacht werden, gilt auch die Scham als schamvoll. Wenn nicht mehr ein konkreter sozialer Anlass wie eine Normüberschreitung, sondern der soziale Status selbst als beschämend erlebt wird, werden auch auf eine Entschärfung von Schamsituationen zielende Verhaltensweisen erschwert. Scham tritt deshalb in Schule und Gesellschaft primär in Form der Scham-Angst und der Scham-Abwehr auf, bei der die negativen Reaktionen von Anderen bereits antizipiert und entsprechende Vermeidungsstrategien entwickelt werden.44 Doch je mehr auf sozialen Status bezogene Schamgefühle verdrängt und unterdrückt sind, je mehr dadurch die Exkludierten emotional vereinzelt und isoliert werden, umso tiefer kann sich die Scham in das soziale Gewebe der Gesellschaft einnisten.
Minderwertigkeitsgefühle machen nicht an den Schultoren halt, sie wirken auch in den Alltag der Schüler hinein und strapazieren soziale Interaktionen auf vielfältige Weise. Anhand von Jasha, sowie von Thomas und Jussuf gehe ich nun der Frage nach, in welchen Formen und zu welchen typischen Anlässen Schamgefühle in Schule und Alltag auftreten. Alle drei Schüler galten unter den Lehrern und ihren Mitschülern als besonders leistungsstark, weshalb sie sich für ihre Schulzugehörigkeit und ihre Schulnoten besonders schämten. Jasha war eine wortmächtige Schülerin, die mit ihren frechen Sprüchen schon so manchen Lehrer an den Rand der Verzweiflung gebracht hatte. Sie wirkte unberechenbar, an einem Tag konnte sie eine vorbildliche Schülerin sein und schon am nächsten Tag durch den Klassenraum wüten. Herr Dombrowski beschrieb ihren Familienhintergrund in folgender Interviewpassage:
Herr Dombrowski: „Jasha – das ist auch so eine ganz spezielle Geschichte. Als ich das erste Mal bei Ihrer Familie angerufen habe, das war wie im Film: „Herr Dombrowski, ich kann Sie jetzt nicht sprechen. Der Helikopter mit dem Notarzt landet gerade und die Feuerwehr ist auch schon da.“ Ich wusste gar nicht, was los war. Später erfuhr ich, der Vater hatte Hirntumor mit extremen epileptischen Anfällen. Er wurde zu Hause gepflegt und ist dann dort auch verstorben. Und in dem Moment war wieder so ein extremer Fall eingetreten. Die Familienverhältnisse waren aber auch schon vorher problematisch. Der Vater war wohl nie präsent. Im Grunde weiß die Mutter, dass beide Kinder eine psychologische oder gar psychiatrische, auf jeden Fall eine therapeutische Behandlung brauchen. Aber sie geht da nicht ran. Ihr Bruder hat ADS, aber den kenne ich nur vom Sehen. Jasha hat jetzt wieder ein paar Tage unentschuldigt gefehlt. Ich denke, das hängt damit zusammen, dass die Mutter wohl wieder mal in der Türkei war und Jasha noch eine ganz kleine Schwester hat, um die sie sich dann kümmern muss. Ansonsten ist sie wirklich sehr intelligent, aber vom Verhalten durchaus auffällig. Sie kommt ja nicht aus Neukölln, sondern wohnt in Steglitz, dort gab es aber wohl Probleme in der Schule – weshalb sie dann bei uns gelandet ist. […] Jasha hat ein unglaubliches Potenzial. Sie möchte ja eigentlich mal Lehrerin werden oder etwas Erzieherisches machen. Teilweise hat sie hier in der siebten und achten Klasse auch schon freiwillig geholfen, die Schüler zu betreuen – die Lehrer waren da ganz begeistert von ihr. Sie passt nie und nimmer an eine Hauptschule, sie könnte eigentlich Abitur machen. Man muss schauen, wie es bei ihr weitergeht.“
Wie einige andere Schüler – und so mancher Lehrer – wurde auch Jasha im Verlauf ihrer Schulkarriere von anderen Schulen verwiesen. Die Neuköllner Galilei-Schule war ein Auffangbecken für Schulbiografien dieser Art, wobei familiäre Problemlagen häufig eine zentrale Rolle spielten. Manche Lehrer berücksichtigten die soziale Situation ihrer Schüler bei der Bewertung von Fehlzeiten und Disziplinarverstößen. Sie verzichteten mitunter auf Strafmaßnahmen, wenn es sich wie in diesem Beispiel um ein gut begründetes unentschuldigtes Fehlen handelte. Wie Jasha waren die meisten Schüler nicht wegen mangelnder intellektueller Kapazitäten, sondern vor allem aus sozialen Gründen zu Hauptschülern geworden. Als besonders intelligent geltende Schüler hatten dabei keineswegs zwangsläufig auch bessere Noten. Vielmehr schienen leistungsfähige Schüler den alltäglichen schulischen Irrsinn und ihre eigene berufliche Zukunftslosigkeit besonders schwer zu ertragen und teilweise zu deviantem Verhalten zu neigen. Dadurch drohten ihnen zwangsläufig Strafnoten, die sie wiederum als zusätzliche Deprimierung erlebten.
Dass Schamgefühle angstvoll verborgen werden, bedeutet nicht, dass sie nicht vorhanden sind. Im Gegenteil, die latente Präsenz von Schamgefühlen prägte den sozialen Raum Hauptschule auf eine nachhaltige Weise. Schamgefühle artikulierten sich in der Galilei-Schule häufig unbemerkt in spontanen Zwischenbemerkungen und Selbsteinschätzungen. Jasha, die in Zwischenrufen sowohl die Schule und dessen Schülerschaft als auch sich selbst negativ bewertete, war dafür ein gutes Beispiel: Zur der von ihr besuchten Schulform urteilte sie einmal fatalistisch „Man ist schon mit Abitur nichts. Was soll man mit einem Hauptschulabschluss.“ Als eine Lehrerin fehlte, meinte sie in Bezug auf die Schülerschaft „Sie will Urlaub von uns“ und darauf, dass die Galilei-Schule statistisch die zweitmeisten Schulschwänzer in Berlin aufweist, reagierte sie sarkastisch: „Nicht mal bei sowas schaffen wir Platz Eins. Sind wir schlecht!“ Selbsteinschätzungen bezogen sich auch auf ihre eigenen Schulnoten und Schulzeugnisse. Mit Bemerkungen wie „Ich schaffe sowieso kein Gymnasium. Schauen Sie meine Noten an“ deutete sie Zweifel an der Realisierung ihrer Berufsziele an. Und als sie vergessen hatte, ihr Zeugnis unterschreiben zu lassen, und deshalb während der Schulzeit zurück nach Steglitz zu ihrer Mutter geschickt wurde, antwortete sie bei ihrer Rückkehr auf die unbedachte Frage des Lehrers, ob diese sich gefreut habe: „Ähm gefreut? Hat sich nicht gefreut!“ Jasha benutzte in diesen Beispielen sowohl die Ich- als auch die Wir-Form, sie offenbarte dabei ein hohes Stigma-Bewusstsein und einen gewissen Grad der Identifikation mit problematischen Rollenzuschreibungen. Es handelte sich um eine gebrochene und zutiefst ambivalente Form der negativen Selbstattribuierung, bei der untergründig mitschwang, dass die Schülerin von sich selbst das Gegenteil erwartete – dass sie eigentlich das Gymnasium schaffen wollte und berufliche Ambitionen hatte. Trotz widriger Umstände versuchte sie an ihrem Berufsziel Lehrer festzuhalten: „Ich finde es Scheiße, dass Hauptschüler immer sofort abgewertet werden. Wir haben auch Lehrer hier, die auf der Hauptschule waren und es trotzdem zum Lehrer geschafft haben. Hochgearbeitet!“
Attribuierungen von Minderwertigkeit mittels schulischer Bewertungen wurden nicht als isolierte Bewertung einzelner schulischer Performances wahrgenommen, die Betroffenen bezogen sie vielmehr auf die eigene Person oder Schülergruppe. Die dadurch produzierte schultypspezifische, niedrig-schwellige Scham betraf alle Galilei-Schüler, doch gingen die Schüler auf sehr individuelle Weisen damit um. Jashas offensiv-provozierende Selbstabwertungen und andere Formen des „schwarzen Humors“ waren eine Möglichkeit, den mit statusbedingter Unterlegenheit verbundenen emotionalen Belastungen ein Stück weit auszuweichen. Spielerische Kommunikationsformen unterlaufen das Scham-Tabu und machen Minderwertigkeitsgefühle überhaupt erst im schulischen Raum kommunizierbar. Eine andere Möglichkeit bestand darin, potentielle Schamsituationen von vornherein zu vermeiden, etwa indem der Kontakt mit statushöheren Gruppen gemieden oder die eigene Schulzugehörigkeit verschleiert wurde. Soziale Scham äußerte sich in diesen Fällen in der Angst, als Hauptschüler entdeckt oder entlarvt zu werden. Thomas und Jussuf verschwiegen ihre Schulzugehörigkeit vor allem im Umgang mit Schülern anderer Schultypen. Besonders beim Kennenlernen möglicher Partnerinnen wollten sie dadurch einen negativen ersten Eindruck vermeiden.
Thomas: „Ich sage ihren Freunden nicht, auf was für eine Schule ich gehe, nur dass ich auf einer Gesamtschule bin. Und wenn sie dann nachfragen, dann sage ich: ‚Auf der Galilei Galilei‘. Und falls sie dann fragen, was das für eine Schule ist, dann sage ich ‚Ja, eine ehemalige Realschule und jetzt so eine ISS‘ und ‚teilweise so eine Astronomieschule‘. Schließlich war ja hier auch irgendwann mal eine Sternwarte und ein Gymnasium drin. Aber der Begriff ‚Hauptschule‘, der ist so hässlich. Ende der sechsten Klasse hatte ich eine Realempfehlung und meine Eltern haben mich wegen meinem Bruder auf diese Schule geschickt. Ich meinte ‚Was soll ich auf einer Hauptschule mit einer Realempfehlung, ich werde ganz sicher unterfordert.‘ Und so war es dann auch.“
Jussuf: „Wenn mich ein Mädchen fragt, ‚Auf welche Schule gehst Du?‘, dann lüge ich immer und sage ‚Otto Hahn‘ oder ‚Heinrich Mann‘ – also irgendeine Realschule. Wenn ich das mit der Hauptschule zugebe, würde ich mich viel zu sehr schämen. Weil die Schule ist ja bekannt. Und vielleicht würden sie auch sagen ‚Du bist auf so einer Drecksschule, ich will nicht mit Dir befreundet sein.‘“
Thomas: „Weil sie denken, hier sind nur Ausländer und Kriminelle drauf.“
S.W.: „Stimmt denn der schlechte Ruf oder ist er übertrieben?“
Thomas: „Es stimmt teilweise. Hier werden Lehrer mit allem Möglichen beworfen und machen nichts dagegen. Einmal wurde ein Silvester-Böller im Unterricht gezündet. Und letztes Jahr wurden die Toiletten verwüstet. Angeblich wurde sogar der Hausmeister abgestochen. Manches ist aber auch übertrieben. Es gibt hier auch viele freundliche Schüler.“
Thomas galt mit einem Zeugnisnotenschnitt von 2,4 offiziell als der Klassenbeste, zudem wurde auch sein Sozialverhalten ausschließlich positiv bewertet. Er grenzte sich als einer der wenigen ethnisch Deutschen offen von seinen Mitschülern, vor allem von undiszipliniert auftretenden (post-)migrantischen jungen Männern ab, und strebte eine Karriere in der Bundeswehr an. Jussuf war über seine Familie und seine Hip-Hop-Aktivitäten stärker in migrantisch geprägte Freundeskreise involviert. Er konnte sich nur gelegentlich für die Schule motivieren, hatte aber immer noch überdurchschnittliche Noten im 3er-Bereich. Beide distanzierten sich von ihrer Schule und schämten sich für ihre Schulzugehörigkeit, da ihr positives Selbstbild als leistungsstarke Schüler nicht mit dem Negativimage ihrer Schule in Übereinstimmung gebracht werden konnte. Ihr Hauptschülerstatus erwies sich vor allem in von Unsicherheit geprägten Interaktionssituationen wie dem Flirten als hinderlich. In solchen Fällen assoziierten sie sich auf kreative Weise mit anderen Schulformen, da sie die Verachtung von Hauptschülern bereits einkalkulierten. Doch auch ihre Verschleierungsversuche hatten emotionale Risiken, sie gingen mit dem unangenehmen Gefühl des Lügens und der schamvollen Angst ertappt zu werden einher. Dies würde einen noch größeren Gesichtsverlust, ein Eingestehen von Schamgefühlen und von Unehrlichkeit bedeuten. In eine solche heikle Situation geriet Thomas beim ersten Gespräch mit den Eltern seiner neuen Freundin, als diese in Bezug auf seine Schullaufbahn und seine Berufspläne genauer nachfragten.
Ein meritokratisches Verständnis von schulischem Erfolg befördert eine Individualisierung der Erfahrung sozialer Ausgrenzung und erschwert die Kritik an der pädagogischen Produktion von Minderwertigkeitsgefühlen mittels Schulnoten und Schulzeugnissen. Das schulisch vermittelte gesellschaftliche Selektionsprinzip bringt an der Hauptschule eine untergründig von Schamgefühlen und Schamängsten geprägte Emotionskultur hervor. Evaluierende und validierende Hauptschulnoten führen zu „hidden injuries of class“, zu Gefühlen der Unfähigkeit und der Unwürdigkeit.45 Indem die Scham selbst stigmatisiert wird, wird gleichzeitig ein mit offen artikulierten Schamreaktionen verbundenes emotionales Verhaltensmuster diskreditiert. Die an gesellschaftlichen Erfolgskriterien und bildungsbiografischen Normalitätserwartungen ausgerichtete Scham-Angst führte bei Jasha zu einem Unterlaufen und Kontern, bei Thomas und Jussuf zu einem Verbergen und Verschleiern von statusgebundener Unterlegenheit mitsamt den sie begleitenden Minderwertigkeitsgefühlen. Diese Umgangsweisen hatten Folgekosten, sie gingen mit ambivalenten Selbstverortungen innerhalb der Schule sowie mit von Unsicherheit geprägten Interaktionen im Alltag einher.
Schamgesellschaft oder Schamverlust?
Solange die Scham selbst stigmatisiert ist, wird auch ein produktiver Umgang mit Schamgefühlen verhindert. Begrenzte Scham kann unter bestimmten pädagogischen Umständen auch positive Wirkungen haben, sie kann Motivation fördern und Entwicklungsimpulse anreizen.46 Doch die zahlreichen Sechsen an der Galilei-Schule waren eine Demütigung und Verurteilung ohne jeglichen konstruktiven Effekt. Durch ein Übermaß an schulischen Schamfaktoren entstand stattdessen eine pädagogisch unverantwortliche Ballung von Minderwertigkeitsgefühlen.
Die unvermeidliche Auseinandersetzung mit Schulnoten und schulischen Bewertungen war durch eine demonstrative Abwehr von Schamgefühlen bestimmt. Dies geschah zunächst dadurch, dass Schüler zwischen Schulnoten differenzierten und Noten unterschiedliches Gewicht beimaßen. Sie betonten zwar in Interviews, dass Noten prinzipiell große Bedeutung haben, unterschieden aber in ihrer alltäglichen Bewertungspraxis, welche Noten ihnen persönlich wichtig waren und welche weniger. Noten in Fächern, die den Jugendlichen gefielen, in denen sie sich als leistungsfähig einschätzten oder in denen sie die Lehrer mochten, hatten tendenziell ein größeres Gewicht. Noten in Fächern, auf die das weniger oder gar nicht zutraf, zählten entsprechend weniger. Für die meisten Schüler galt dies vor allem für das Fach Mathematik, dem am schlechtesten benoteten Schulfach beim unbeliebtesten Lehrer. Doch auch hier mussten die Schüler einen Weg finden, mit entmutigend schlechten Noten umzugehen:
Feldtagebuch: Am Ende der Stunde kramt Herr Steiß die benoteten Arbeitsblätter aus seiner Tasche heraus. Als die Schüler das allmählich bemerken, kommen sie angelaufen und bilden eine dichte Traube um den Lehrertisch. Ihre Köpfe sind nach unten gesenkt: „Was hab ich denn?“, „Nur ein Punkt?!“, „Auch eine Sechs, wa?“. „Sechs plus“, ruft einer der Schüler und richtet sich auf. „Wenigstens ein Plus!“, lacht er laut, macht einen Handshake mit seinem Nebenmann, pustet seinen Brustkorb auf und umarmt ihn mit einer theatralischen Geste, so dass dieser ein Stück zurückweichen muss. Die Umarmung dauert einen kleinen Moment zu lange, wodurch die Feiergeste kurz ein wenig ins Tröstende abdriftet. Danach noch mehrere demonstrativ amüsierte Handshakes. „Ich habe eine Vier, Stefan! Ja, ich bin der Beste!!!“ ruft ein anderer Schüler und kommt jubelnd zu mir in die letzte Reihe gerannt, um mich zu umarmen. Ich bin mir nicht sicher, ob das lediglich eine Showeinlage ist, möchte aber auch nicht genauer nachfragen. „Ih, bist du ein Streber,“ nimmt eine Schülerin die Jubelgeste scherzhaft-kritisch auf. Eine andere Schülerin wird bald darauf vom jubelnden Schüler in einen spielerischen Sparringskampf verwickelt. „Ich habe eine Drei“, hält sie ihn mit ausgestreckter Hand von sich fern. Wenig später, korrigiert sie „Fünf“ und hält dazu die ausgestreckten fünf Finger ihrer Hand den Mitschülern entgegen. Dann kreist sie spielend mit den Händen umher und läuft tänzelnd zurück zu ihrem Platz.
Wie lassen sich die kuriosen Reaktionen der Schüler deuten? Dass sie zum Lehrertisch gelaufen kamen und für einen Moment eine gewisse Spannung den Raum erfüllte, verdeutlicht zunächst, dass Noten auch in ungeliebten Fächern eine gewisse Wirkung entfalteten. Erst das Interesse und die Bedeutungszuschreibung macht die folgenden emotionalen Abwehrreaktionen notwendig.47 Nachdem die Schüler von ihren meist negativen Bewertungen erfahren hatten, löste sich ihre Anspannung und es entstand spontan eine fast partyhaft wirkende Szene. Die Jugendlichen überspielten ihre schlechten Noten mit Galgenhumor, bei dem üblicherweise selbst in ausweglos erscheinenden Situationen noch ein Grund zum Amüsement gefunden wird – in diesem Fall die ungewöhnlicherweise mit einem Plus versehene Sechs. Indem sie auf die eigentlich deprimierenden Noten mit demonstrativ guter Laune reagierten, verweigerten sie eine schamvolle Unterwerfung unter das Verdikt des ungeliebten Lehrers. Die Situation entfaltete eine Eigenwirkung, die Schüler fingen an, Fantasienoten zu erfinden und sich in ihren Jubelgesten zu überbieten. Dabei wurden allerdings keine Einsen oder Zweien imaginiert, selbst im Spiel wirkte das Realitätsprinzip also noch regulierend. Die Grenzen zwischen Jubel und Trost, zwischen Scherz und Schmerz verwischten. Die groteske Notengebung an der Galilei-Schule fand im makabren Schauspiel der Schüler ihre Entsprechung.
Das gegenseitige Abfeiern schlechter Noten lässt sich mit dem im Kapitel zu Provokationen beschriebenen ironischen und parodistischen Verhaltensweisen vergleichen. Zielte der dort besprochene „Trash Talk“ auf die jeweiligen Lehrkräfte und deren Unterrichtsgestaltung, so wurde der anwesende Lehrer in dem hier beschriebenen Schauspiel kaum adressiert. Durch die Verweigerung der erzieherisch eigentlich zu erwartenden schamvollen Reaktion auf miserable Noten sowie die Nichtbeachtung seines pädagogischen Anspruchs auf Autorität jeweils vor und nach der Notenvergabe wurde indirekt natürlich auch an ihn eine Botschaft gesendet. Dennoch schienen die Gesten insgesamt eher den Schülern untereinander zur kollektiven Trauerarbeit und demonstrativen Schambewältigung zu dienen. Die Theatralik der Situationen erinnert an Beschreibungen zu „queer performativity“, bei der gesellschaftlich produzierte Schamverhältnisse ebenfalls durch zelebrierende Selbstinszenierungen stigmatisierter Identitäten aufgebrochen und zumindest symbolisch überwunden werden.48 Die Verweigerung von als schamhaft verstanden Gesten sollte dabei nicht dahingehend verstanden werden, dass Minderwertigkeitsgefühle hier keine Rolle mehr spielen. Noten verschwinden durch emotionale Abwehrreaktionen nicht und auch die mit ihnen verbunden negativen Gefühle werden durch Versuche der Scham-Abwehr nicht dauerhaft gebannt. Negative Bewertungen hatten jedoch im Mathematik-Unterricht ein solches Ausmaß angenommen, dass eine den Noten entsprechende gewöhnliche Schamreaktion vonseiten der Schüler überhaupt nicht mehr möglich erschien.
Eine andere, eher rationale Form der Scham-Abwehr bestand in einer offenen Kritik des Bildungssystems. Eine solche politische Lesart, bei der Exklusionsmechanismen als Ursache für das individuelle Scheitern erkannt werden, war unter Galilei-Schülern insgesamt wenig verbreitet, wurde aber dennoch gelegentlich formuliert:
Jamil: „Wissen Sie, das Problem ist einfach, Deutschland wusste, dass Hauptschüler keine Ausbildung kriegen. Dass von denen, die von der Hauptschule kommen, vielleicht 100 oder 200 Schüler danach eine Ausbildung haben. Deshalb haben sie die Sekundarschule gemacht, damit sie wenigstens eine Chance haben. Aber wenn sie das wussten, weshalb haben sie es nicht von Anfang an gemacht? Das hätten sie schon längst ändern müssen!“
Jamil argumentierte aus einer Position des Reformverlierers, als Absolvent des letzten Berliner Hauptschuljahrgangs wird er von der erhofften Verbesserung der Ausbildungs- und Berufschancen durch die Berliner Schulreform nicht mehr profitieren. Die Mehrheitsgesellschaft wurde von ihm ambivalent bewertet: Einerseits wurde erkannt, dass die Zukunftsaussichten von Hauptschülern bei vollem Bewusstsein und klarer Kenntnisse der Situation auf dem Arbeitsmarkt zerstört wurden, andererseits anerkannt, dass die jüngsten Reformen aktiv auf eine Verbesserung zielten. Statt schamvoll die Schuld für die Bildungsmisere bei sich zu suchen, wurden Fragen nach der gesellschaftlichen Verantwortung formuliert. Zwar dominierte unter Hautschülern eine individualistische Lesart von schulischem Erfolg oder Misserfolg, doch mit der von den Lehrern begrüßten Abschaffung der Hauptschule wurden auch die strukturellen Probleme dieses Schultyps adressierbar. Scham drohte dann allerdings in Wut auf die Gesellschaft umzuschlagen.
Scham-Angst und Scham-Abwehr sind paradoxerweise die dominanten Artikulationsformen von Minderwertigkeitsgefühlen in der westlichen Gegenwartsgesellschaft. Scham wird durch eine Doppelstruktur von Entblößung und Verbergung bestimmt, wobei die emotionalen Abwehrmechanismen bereits auf einen mangelnden emotionalen Schutz, auf prinzipielle Verletzlichkeit und konkrete Verletztheit, hindeuten.49 Dabei lassen sich zwar kausale Beziehungen, aber keineswegs lineare und homogene Entsprechungen zwischen der gesellschaftlichen Produktion und der emotionalen Erfahrung von Minderwertigkeit beobachten. Die anhand von Schulnoten diskutierten Minderwertigkeitsgefühle verweisen eher auf einen „broken circuit“. Mit dieser Metapher eines unterbrochenen elektronischen Schaltkreises verweist der Psychologe Sylvan Tomkins auf die schambedingende Unterbrechung der emotionalen Bindung zwischen dem Subjekt und einem wertgeschätzten Objekt.50 Auf schulische Bewertungen übertragen, bedeutet dies, dass Schamgefühle gerade dadurch produziert werden, dass die Hauptschulnote weitgehend wertlos geworden ist und ihre arbiträre Vergabe eine wertschätzende Bezugnahme auf Schulnoten blockiert.
Mit dieser Diagnose lässt sich auch auf die Frage eingehen, ob wir in einer Schamgesellschaft leben oder ob die Gegenwart im Gegenteil durch ein Absinken der Schamschwellen geprägt ist. Autoren wie Ulrich Greiner attestieren angesichts des Abstiegs bürgerlicher Verhaltenskonventionen einen „Schamverlust“, bei der an die Stelle von älteren Scham- und Schuldkulturen eine außengeleitete Kultur der oberflächlichen Peinlichkeit getreten ist, wobei allerdings den „Unterschichten“ selbst Peinlichkeit nichts mehr bedeute, da ihnen der Stolz ohnehin abhandengekommen sei.51 Eine Behauptung, für deren Überheblichkeit es sich als Autor auch heute noch zu schämen lohnt. Ähnlich wie Greiner argumentiert auch die Historikerin Ute Frevert, die die Aufweichung sozialer Hierarchien und geschlechtlicher Rollenmuster für einen quantitativen und qualitativen Rückgang von Schamgefühlen im Verlauf des 20. Jahrhunderts verantwortlich macht.52 In diesen Zeitdiagnosen klingen ältere Positionen und Debatten an: Ruth Benedicts Unterscheidung zwischen japanischer Scham- und US-amerikanischer Schuldkultur53, David Riesmans These der Zunahme von außen- statt innengeleiteten Charaktertypen in den Mittelschichten der Konsum- und Wohlstandsgesellschaft54 sowie die gegenteiligen Thesen von Norbert Elias und Heinz Peter Duerr zur Frage, ob die „zivilisierte“ Gesellschaft immer kontrollierter oder immer enthemmter wird.55
Gegen die latent kulturpessimistische These von Greiner und Frevert, die Scham friste in modernen europäischen Gesellschaften nur noch ein Schattendasein, lässt sich mit Sighard Neckel entgegnen, dass die Individualisierung sozialer Ungleichheit zu einer Verbreitung und Verschärfung von Schamgefühlen führt.56 Diese Gegenthese lässt sich mit Blick auf die Galilei-Schule sogar noch stärker pointieren: Die neoliberale Verachtung gegenüber den Verlierern gesellschaftlicher Wettbewerbsverhältnisse bringt eine Schamgesellschaft hervor, die gleichsam von Widersprüchen und Spannungen geprägt ist. Die Widersprüche zwischen einem meritokratischen Verständnis von schulischem Erfolg sowie den damit verbundenen objektiven Ansprüchen an die Notengebung auf der einen Seite sowie der alltäglichen Praxis sozialer Selektion und schulischer Notengebung auf der anderen Seite können von den Lehrern nicht mehr überbrückt werden, weshalb einige von ihnen sich bereits vom Objektivitätsanspruch verabschiedet haben. Die Abwertung hat am unteren Ende der schulischen Bildungshierarchie zudem bereits so weit geführt, dass die Verbindung zwischen der mit der Schulnote Sechs üblicherweise verbundene soziale Ächtung nur noch bedingt mit konventionellen Formen emotionaler Beschämung korrespondierte und es zu stattdessen zu Formen der Subversion kam.
SCHLUSS: SOZIALE PATHOLOGIEN
Die schulische Praxis der Notengebung an der Galilei-Schule verfehlte nicht nur die von der Institution Schule selbst offiziell proklamierten Objektivitätsstandards, sie wurde zu einem verfehlten Instrument der Disziplinierung und zu einem wirksamen Vehikel der Demütigung – zu einem alltäglichen schulischen Ausdruck der gesellschaftlichen Verachtung von Hauptschülern. Die Inflation der Schulnote Sechs steht symptomatisch für einen pädagogisch unverantwortlichen Überschuss an Negativität, mit dem die neoliberale Gesellschaft den sogenannten „Bildungsverlierern“ gegenübertritt. Dies hat massive Folgen für die emotionale Erfahrung von Minderwertigkeit. Strafnoten werden pädagogisch wirkungslos, die gesellschaftlich tradierten emotionalen Reaktionsmuster auf negative schulische Bewertungen werden irritiert. Die Notengebung erscheint überzogen und die Reaktionen der Schüler mitunter befremdlich, doch in dieser chaotisch wirkenden Normalität werden gleichsam gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse institutionell und emotional reproduziert.
Meine Untersuchung der Hauptschulnote bestätigt Befunde der sozialwissenschaftlichen Ungleichheitsforschung, geht mit der Befremdung des Schulalltags jedoch noch einen Schritt weiter. In seiner praxistheoretischen Analyse von schulischen Bewertungen empfiehlt Herbert Kalthoff, Benotungen nicht an abstrakten normativen Idealen wie der Objektivität zu messen, sie weder als individuelle pädagogische Maßnahmen noch als neutrale institutionelle Prozeduren, sondern als kontingente und kontextuelle Praktiken der Bewertung zu untersuchen.57 Der dadurch ermöglichte Blick in die üblicherweise verschlossene „Black Box“ der Notengebung führt uns – um im Bilde zu bleiben – vor allem die dunklen Seiten unseres Klassensystems vor Augen. Eine konsequente Kontextualisierung bedeutet im Fall der Galilei-Schule, dass man nicht mehr wie die meisten Sozialwissenschaftler als Prämisse von einer geregelten Vermittlung von Lerninhalten sowie einer anschließenden Evaluierungsphase ausgehen kann. Auch die für den Normalfall angenommenen Kontrollmechanismen, die checks-and-balances der Notengebung, waren teilweise außer Kraft gesetzt. Lehrer ignorierten das wichtige pädagogische Warnsignal, das aufblinkt, wenn selbst als leistungsstark und motiviert geltende Schüler überwiegend schlechte Noten erhalten. Und die Schüler missachteten die roten Stoppschilder, die ihnen von den Lehrern entgegengehaltenen Sechsen, und fuhren trotzig weiter auf ihrem Weg in die schulische Sackgasse.
Angesichts dieser Verhältnisse scheint es nicht überzogen, die Hauptschulnote als Ausdruck einer sozialen Pathologie zu verstehen, einem sozialkritischen Begriff mit dem der Philosoph Axel Honneth im Anschluss an Rousseau und die frühe Frankfurter Schule gesellschaftliche Entwicklungsprozesse erfasst, die von Fehlentwicklungen oder Störungen derart beeinträchtigt sind, dass sie die Bedingungen individueller Selbstverwirklichung nicht mehr gewährleisten.58 Honneths Konzeptualisierung von sozialen Pathologien bringt einige theoretische Probleme mit sich – ein implizites universalistisches Normalitätsverständnis, eine zu rationalistische Vorstellung von Gesellschaft und sozialem Handeln sowie manche problematische Begriffsverwendung59 – doch ermöglicht sie gleichsam eine kritische Analyse von sozialen Missständen, die sowohl deren Ursachen in einer kapitalistischen Klassengesellschaft als auch deren negative Auswirkungen auf die Betroffenen im Blick behält. Die Institution Hauptschule ist ein pathologisches soziales Gefüge, das Lernprozesse nicht ermöglicht, sondern blockiert und deren Bewertungspraxis nicht auf Anerkennung, sondern auf Verachtung basiert.60 Schulnoten werden auf diese Weise inhaltlich entleert, dennoch haben sie weitreichende Folgen für den weiteren Lebensweg der Schüler. Da ihr Zustandekommen im Dunkeln bleibt, können sich Bewertungsprozesse auf eine Weise verselbstständigen, die weder im Interesse der Lehrer noch der Schüler sind. Um die Hauptschulnote als ein pathologisches pädagogisches Phänomen zu begreifen, bedarf es keiner philosophischer Reflektion zu gesellschaftlicher Vernunft oder individueller Freiheit. Es genügt die Institution Schule an ihren eigenen Maßstäben zu messen – nicht am ohnehin haltlosen Objektivitätsanspruch, sondern am minimalen Anspruch, überhaupt eine funktionierende Schule und ein Ort der Bildung zu sein.
1Vgl. Bosse: Die Krise der Abschlussnote.
2Vgl. Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie, S. 175-211.
3Vgl. Neckel: Status und Scham, S. 146ff.
4Vgl. Bröckling: Das unternehmerische Selbst.
5Vgl. Wellgraf: Hauptschüler, S. 100.
6Vgl. Clasen: Bildung als Statussymbol.
7Vgl. Völcker: „Und dann bin ich auch noch Hauptschule gekommen …“; Niemann: Der „Abstieg“ in die Hauptschule.
8Vgl. Probyn: Blush, S. 129-162.
9Vgl. M. Rosaldo: The Shame of Headhunters and the Autonomy of the Self; R. Rosaldo: Grief and a Headhunter’s Rage; Biddle: Shame, Eribon: Rückkehr nach Reims.
10Vgl. Bosse: Die Krise der Abschlussnote.
11Vgl. Helsper: Wandel der Schulkultur.
12Vgl. Daston/Galison: Objectivity.
13Vgl. Boltanski: Soziologie und Sozialkritik.
14Vgl. Lamont: Toward a comparative sociology of valuation and evaluation.
15Vgl. Geißler: Die Illusion der Chancengleichheit im Bildungssystem – von PISA gestört.
16Vgl. Breidenstein/Meier/Zabarowski: Leistungsbewertung im Unterricht.
17Vgl. Daston/Galison: Objectivity.
18Vgl. Douglas: How Institutions think.
19Vgl. Bellmann: Das Monopol des Marktes – Wettbewerbssteuerung im Schulsystem.
20Vgl. Porter: Trust in Numbers.
21Vgl. Scott: Seeing like a State.
22Vgl. Senatsverwaltung für Bildung Jugend und Forschung, (Stand: 1. Juni 2018).
23Vgl. Constanze von Bullion: Transparenz ungenügend. Berlin verweigert Auskunft über Schulabbrecher, In: Süddeutsche Zeitung, 31. Januar 2013.
24Vgl. Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung; Foucault: Die Geburt der Biopolitik.
25Vgl. Bröckling/Lemke/Krasmann: Gouvernementalität der Gegenwart; Folkers/Lemke (Hg.): Biopolitik.
26Vgl. Caruso: Biopolitik im Klassenzimmer.
27Vgl. Bude/Willisch (Hg.): Exklusion.
28Ausführlicher zum Verhältnis von Gouvernementalität und „New Materialism“ vgl. Barad: Meeting the Universe Halfways; Lemke: New Materialism. Zu sozio-materiellen Perspektiven auf Schule und Benotungspraktiken vgl. vor allem die Arbeiten von Estrid Sørensen und Herbert Kalthoff: Sørensen: The Materiality of Learning; Sørensen: STS goes to School; Kalthoff: Wohlerzogenheit; Kalthoff: Practices of Grading; Kalthoff: Observing – Treating – Classifying.
29Zum Begriff der Schulkultur und den grundlegenden Spannungen des Lehrerberufs vgl. Helsper: Schulkulturen; Böhme/Hummrich/Kramer (Hg.): Schulkultur; Helsper: Pädagogisches Handeln in den Antinomien der Moderne.
30Vgl. Sayer: The Moral Significance of Class, Sayer: Why Things Matter to People.
31Vgl. Wellgraf: Hauptschüler, S. 271-301.
32Vgl. Boltanski/Thévenot: Über die Rechtfertigung.
33Vgl. Goffman: Stigma.
34Vgl. Scheff: Shame in Self and Society; Neckel: Status und Scham.
35Vgl. Holodynski/Kronast: Shame and pride; Wertenbruch/Röttger-Rössler: Emotionsethnologische Untersuchungen zu Scham und Beschämung in der Schule; Marks: Scham im Kontext von Schule.
36Vgl. Solga: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher an den Normalisierungspflichten moderner Bildungsgesellschaften.
37Vgl. Sedgwick/Frank (Hg.): Shame and its Sisters, S. 139.
38Vgl. Bourdieu: Die konservative Schule; Schmidt/Woltersdorff (Hg.): Symbolische Gewalt. Für eine affekttheoretische Lesart von Bourdieus Ungleichheitstheorie vgl. Matthäus: Towards the Role of Self, Worth, and Feelings in (Re-)Producing Social Dominance.
39Vgl. Breidenstein/Meier/Zaborowski: Leistungsbewertung und Unterricht.
40Ebd., S. 312f.
41Vgl. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 533.
42Vgl. Breidenstein: Teilnahme am Unterricht; Breidenstein/Meier/Zaborowski: Leistungsbewertung und Unterricht; Breidenstein: Zeugnisnotenbesprechung.
43Vgl. Biddle: Shame.
44Vgl. Wertenbruch/Röttger-Rössler: Emotionsethnologische Untersuchungen zu Scham und Beschämung in der Schule.
45Vgl. Sennett/Cobb: The Hidden Injuries of Class; Eribon: Rückkehr nach Reims.
46Vgl. Marks: Scham im Kontext von Schule.
47Vgl. Sedgwick/Frank (Hg.): Shame and its Sisters; Probyn: Blush.
48Vgl. Sedgwick: Shame, Theatricality, and Queer Performativity.
49Vgl. Ahmed: The Cultural Politics of Emotions, S. 101-121.
50Vgl. Berlant: The Broken Circuit; Sedgwick/Frank (Hg.): Shame and its Sisters.
51Vgl. Greiner: Schamverlust, S. 76.
52Vgl. Frevert: Vergängliche Gefühle.
53Vgl. Benedict: The Chrysanthemum and the Sword; Ivy: Benedict’s Shame.
54Vgl. Riesman: The Lonely Crowd.
55Vgl. Elias: Über den Prozess der Zivilisation; Duerr: Der Mythos vom Zivilisationsprozess; Paul: Die Gewalt der Scham.
56Vgl. Neckel: Status und Scham.
57Vgl. Kalthoff: Practices of Grading; Kalthoff: Observing – Treating – Classifying.
58Vgl. Honneth: Pathologien des Sozialen; Honneth: Eine soziale Pathologie der Vernunft; Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit.
59Vgl. Freyenhagen: Honneth on Social Pathologies.
60Vgl. Jaeggi: Was ist eine (gute) Institution?